Wenn Schwule Vater werden...

Der Umgang mit Geschlechternormen zwischen Reproduktion und Subversion


Tesis (Bachelor), 2015

52 Páginas, Calificación: 1,7


Extracto


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Sexuelle Identität und Familienvorstellungen im Kontext heteronormativer Sozialisation
2.1 Sozialisationstheorien
2.1.1 Hurrelmanns Sozialisationstheorie
2.1.2 Gender-kritische Erweiterung der Sozialisationstheorie
2.1.3 Der Subjektbegriff in der Sozialisationsforschung
2.2 Queer-Theorie und Judith Butler
2.3 Theoretische Synthese: „Queer-Sozialisations-Theorie“

3. Forschungsstand

4. Methoden

5. Erfahrungen und Familienvorstellungen von Schwulen
5.1 Rekonstruktion der Interviews
5.1.1„Männer küssen sich auf die Stirn“
5.1.2„Es war das miserabelste Geschäft meines Lebens“
5.1.3„Meine konservativen Eltern“
5.2 Handlungsstrategien der Befragten im Vergleich
5.2.1 Familiäre Sozialisation/Subjektivation
5.2.2 Inneres undäußeres Coming-Out
5.2.3 Eigenes Familienbild
5.3 Heteronormative Sozialisation / Subjektivation
5.3.1 Subjektivation in den diskursiven Grenzen der Heteronormativität
5.3.2 Sprache als Medium der Reproduktion und Subversion
5.3.3 Umgangsweisen mit der Heteronormativität zwischen Reproduktion und Subversion
5.4 Fazit

6. Schwul und Vater
6.1 Subjektivation
6.2 Bedeutung von Sprache
6.3 Aushandlung von Normen
6.4 Fazit

7. Schlussbetrachtung

9. Literaturverzeichnis.

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Theoriegeleitete Generierung der Forschungsfragen

Tabelle 2: Sprache als Medium der Reproduktion und Subversion

Tabelle 3: Umgangsweisen mit der Heteronormativität zwischen Reproduktion und Subversion - Vor der Familiengründung

Tabelle 4: Umgangsweisen mit der Heteronormativität zwischen Reproduktion und Subversion - Nach der Familiengründung

Tabelle 5: Familienbild vor dem Coming-Out

Tabelle 6: Familienbild nach dem Coming-Out

1. Einleitung

In der öffentlichen Diskussion werden vermehrt die Rechte von Homosexuellen thematisiert. Dabei fällt auf, dass die Forderung nach mehr Rechten für Homosexuelle (z.B. Adoption, „Homo“-Ehe) nicht überwiegend auf offene Ohren trifft. Am rechten Rand der Gesellschaft macht sich zwar Unmut über die immer weitgehendere Gleichstellung homosexueller und heterosexueller Partnerschaften breit, aber im allgemeinen scheint es doch gesellschaftlicher Konsens zu sein, dass Diskriminierung von Homosexuellen gänzlich abgebaut werden sollte.

In einem Bereich reagieren allerdings viele Menschen, die sich im selben Atemzug als Freunde von Homosexuellen ausgeben, recht ablehnend, nämlich dann, wenn Homosexuelle Kinder adoptieren oder auf anderem Wege eine Familie gründen möchten. Es wird der Versuch unternommen, andere und sich selbst glauben zu lassen, dass dies kein diskriminierender Akt sei, denn den Homosexuel- len ginge es doch gut und sie hätten doch viele Rechte. Dem Tenor nach soll Familie ein Privileg der heterosexuellen Gemeinschaft bleiben. Dennoch ist der diskriminierende Charakter solcher Äu- ßerungen und Haltungen nicht zu übersehen. Die Argumentation stützt sich dabei häufig auf das vermeintlich gefährdete Kindeswohl1 in homosexuellen Familien. Damit wird deutlich, dass wir in einer heteronormativen Gesellschaft leben, in der die heterosexuelle Orientierung als Maß der Din- ge herangezogen wird. Neben anderen Sozialisationsinstanzen ist die Familie der Ort, an dem Ge- schlechternormen erlernt und damit Heteronormativität reproduziert wird.

In dieser Arbeit soll der Frage nachgegangen werden, wie Menschen, die in ihrer sexuellen Identität 2 dem heteronormativen Ideal nicht entsprechen, mit der sie umgebenden Heteronormativität umgehen, ihre Identität ausbilden und welche Vorstellungen von Familie sie entwickeln. Dabei konzentriert sich die Untersuchung auf die Erfahrungen schwuler Männer, da diese in der Forschung zu queeren Familien unterrepräsentiert sind (siehe Forschungsstand).

Als theoretischer Rahmen zum Verständnis der Subjektbildung bietet sich die Sozialisationstheorie an, die den Prozess des gesellschaftsfähigen Menschwerdens beschreibt und erklärt. Jedoch soll in dieser Arbeit die Sozialisation innerhalb einer heteronormativen Gesellschaft erklärt werden, wes- halb die Sozialisationstheorie erweitert werden muss, damit auch Machtverhältnisse in den Fokus genommen werden können, welche die Sozialisationstheorie unberücksichtigt lässt. Wie im Theo- rieteil dieser Arbeit gezeigt wird, lässt sich die Sozialisationstheorie sinnvoll durch die Theorie der Subjektivation erweitern, um dem Forschungsanliegen dieser Arbeit nachzugehen.

Mit Hilfe der Theorien kann untersucht werden, wie junge heranwachsende schwule Männer in ei- ner heteronormativen Gesellschaft aufgewachsen sind und wie sie mit dem hegemonialen Konzept der heteronormativen Familie umgehen. Wie kommt es, dass ein Mensch Normen vertritt? Wie er- lernt er sie? Wie erhalten sie sich? Es ist von Forschungsinteresse, zu untersuchen, welche Strategi- en Menschen, die gleichgeschlechtlich begehren/lieben, entwickeln, um mit den vorherrschenden heteronormativen Vorgaben (z.B. innerhalb der Herkunftsfamilie) umzugehen. Dabei soll in Teil 1 insbesondere untersucht werden, welche familiäre Sozialisation die Interviewpartner erfahren, wel- chen Umgang sie mit der heteronormativen Lebensumwelt gewählt haben und wie sie sich vor die- sem Hintergrund ihre eigene Familie vorstellen. Dies wird mit Hilfe von Interviews ermittelt, wel- che mit drei schwulen Männern, die (noch) keine Familie gegründet haben, durchgeführt werden. In Teil 2 wird untersucht, auf welche Art und Weise schwule Väter mit der vorherrschenden heterose- xuellen Norm und deren Folgen für das eigene Familienleben umgehen und inwiefern die eigene Familie hinsichtlich Rollenverteilung, Arbeitsteilung, die Erziehung der Kinder etc. von der Hetero- normativität betroffen ist (Reproduktions- bzw. Subjektivationsstrategien).

2. Sexuelle Identität und Familienvorstellungen im Kontext heteronormativer Sozialisation

Die Familie ist neben staatlichen Institutionen und Peer-Groups eine der zentralen Sozialisationsin- stanzen. In der Sozialisationsforschung wurde viel darüber herausgefunden, wie die familiäre Sozia- lisation die Identitäten, Werte und Zielvorstellungen von Heranwachsenden prägt. Insbesondere der Ansatz Hurrelmanns, der Sozialisation als Aushandlungsprozess zwischen Individuum und Gesell- schaft beschreibt, hat großen Einfluss erlangt. Er kann als Erklärungsansatz dienen, wie homosexu- elle Männer mit dem an sie u.a. durch familiäre Sozialisation herangetragenen heteronormativen Fa- milienbild umgehen. Allein setzt die Sozialisationsforschung ein heteronormatives Familienbild (Vater-Mutter-Kind_er) voraus und lässt damit unreflektiert, inwiefern auch dies durch Sozialisation vermittelt und hervorgebracht wird. gender-bewusste Ansätze, wie der von Henslin (1996), zeigen zwar auf, wie Geschlechternormen durch Sozialisation hervorgebracht werden, die auch z.B. die Rollenteilung in der Familie prägen, bleiben aber der heteronormativen Annahme der Zweige- schlechtlichkeit verhaftet. Hier leistet die konstruktivistische Theorie Butlers einen bedeutenden Beitrag, da sie aufdeckt, wie die sozial konstruierte Zweigeschlechtlichkeit naturalisiert und mate- rialisiert wird. Dabei bietet Butlers Konzept der Subjektivation Anschlussmöglichkeiten an die So- zialisationstheorie, so dass sich beide sinnvoll miteinander verbinden lassen, um den Erkenntnisin- teressen dieser Arbeit nachzugehen. Nach einer Darstellung der einzelnen Theorien wird eine Syn- these beider vorgestellt, die am Forschungsinteresse dieser Arbeit orientiert ist. Aus dieser theoreti- schen Synthese werden Forschungsfragen abgeleitet, welche die empirische Arbeit leiten.

2.1 Sozialisationstheorien

Im Folgenden wird zuerst ein Vertreter einer modernen Sozialisationstheorie namens Klaus Hurrelmann dargestellt. Im Anschluss wird seine Theorie mit Henslin erweitert.

2.1.1 Hurrelmanns Sozialisationstheorie

Hurrelmanns Modell geht von der Annahme eines des produktiv Realität verarbeitenden Subjekts aus. Vorrangig ist hierbei, „wie sich der Mensch zu einem gesellschaftlich handlungsfähigen Sub- jekt bildet“ (ebd.: 15). Mit diesem Ansatz grenzt er sich klar von traditionellen Sozialisationstheori- en ab, nach denen das Individuum lediglich den gesellschaftlichen Normen unterworfen sei, ohne die Normen, die an es herangetragen werden, mitzugestalten. In einer heute stärker globalisierten und veränderten Welt können „Gesellschaften nur mit selbstständigen Persönlichkeiten funktionie- ren. Entsprechend wird von jedem Gesellschaftsmitglied nicht die mechanische und »außengeleite- te« Internalisierung von sozialen Regeln verlangt, sondern eine flexible, sensibel auf soziale Bedin- gungen Rücksicht nehmende »innengeleitete« Selbstorganisation der eigenen Wertvorstellungen und Handlungen.“ (Hurrelmann 2002: 14) Sozialisation sei „der Prozess der Entstehung und Ent- wicklung der Persönlichkeit3 in wechselseitiger Abhängigkeit von der gesellschaftlich vermittelten sozialen und materiellen Umwelt“.

Das Modell spricht dem Subjekt Autonomie zu. Im Vergleich zu älteren Sozialisationstheorien meint dies, dass Normen von Subjekten nicht nur passiv übernommen werden, sondern dass diese auch umgekehrt Normen beeinflussen, verändern und gestalten. Hurrelmann argumentiert auf Basis „biologischer Erkenntnisse“, dass das Gehirn nicht nur passiv Informationen verarbeite, sondern auch Raum für eigene Handlungen lasse - d.h., dass das Individuum die Realität produktiv verarbei- te. Von Interesse sei primär das Spannungsverhältnis von Fremdbestimmung und Selbstbestimmung sowie die „sozialen Strukturen“ (ebd.: 21), die einem autonomen Subjekt entgegentreten und ihm die eigene Gestaltung seiner Persönlichkeit (nicht) ermöglichen. Eine erfolgreiche Sozialisation er- folge demnach, wenn ein Subjekt in konflikthaltiger Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Normen seine eigene Subjektivität/Identität behauptet. Die Persönlichkeitsentwicklung bestehe le- benslang aus einer nach Lebensphasen spezifischen Bewältigung von Entwicklungsaufgaben. Hier- bei könne die Gründung einer Familie, deren heteronormative Konzeptualisierung von Hurrelmann nicht reflektiert wird, als Zielprojektion angeboten werden, die eine Entwicklungsaufgabe darstelle.

Hurrelmann distanziert sich von konstruktivistischen Ansätzen, die davon ausgehen, dass die Reali- tät und auch die Subjektivität Produkte sozialer Konstruktion sind. Seinem Verständnis nach 'er- zeugt' das Subjekt in der Auseinandersetzung mit einer vorgefundenen, d.h. nicht-konstruierten Rea- lität, sein eigenes „Bild von der Welt“ (ebd.: 23) - nicht jedoch die Realität der Welt selbst. Diese 'Erzeugung' und 'Verarbeitung' der Realität sei indes auf ein Material der Realität angewiesen. So ar- gumentiert er, dass sich die Sozialisation in einem Wechselspiel von Anlage, Umwelt und eigenem Handeln vollziehe. Als Beispiel benennt er den biologischen Unterschied von Mann und Frau, der sich auf unterschiedliche, geschlechtsspezifische Verhaltensmuster auswirke (ebd.: 25).

Trotz anderer etablierter Sozialisationsinstanzen wird der Familie eine wichtige Bedeutung einge- räumt. Dabei setze eine gelingende Persönlichkeitsentwicklung eine den individuellen Anlagen an- gemessene soziale und materielle Umwelt voraus (ebd.: 30). Er konstatiert, dass die Familie - sozia- lem Wandel zum Trotz - ihre Kernfunktionen, darunter die der Sozialisation, heute unter veränder- ten Bedingungen neu erfülle (ebd.: 128). Er stellt fest, dass heute „verschiedene Formen der Fami- lie“ nebeneinander bestünden, aber geht nicht auf die Existenz von Familien mit gleichgeschlechtli- chen Eltern ein (ebd.:135). Er hätte exemplarisch Regenbogenfamilien oder auch alleinerziehende, queere Eltern benennen können. Die Nichtbenennung alternativer Familienformen kommt einer Nicht-Anerkennung gleich. Gleichwohl bietet er eine neuere Definition von Familie4 an, indem er Familie als eine soziale Lebensform definiert, die durch das dauerhafte Zusammenleben von min- destens einem Elternteil und einem (nicht-)leiblichen Kind charakterisiert ist, in der die Beziehun- gen durch Solidarität, persönliche Verbundenheit und Betreuung geprägt sind (ebd.: 130). Diese De- finition bezieht soziale Elternschaften mit ein. Demgemäß wird die Familie als ein soziales System beschrieben, welches viel Verantwortung trägt, womit gleichgeschlechtliche Partnerschaften als mögliche Familienform zwar nicht ausgeschlossen sind, von ihm aber auch nicht explizit benannt werden.

Durch unpassende Erziehungsstile würden es einige Eltern nicht schaffen, ihre Kinder zu selbstän- digen, sozial verantwortlichen und leistungsfähigen Subjekten heranzuziehen (ebd.: 161). Er be- hauptet, dass eine gute Erziehungsunterstützung der Eltern vor allem auch deshalb wichtig sei, weil Handlungsmuster, die während der familiären Sozialisation erlernt werden, an die kommende Gene- ration vererbt würden (ebd.: 170). Seinem Modell zufolge werden Kinder von den Erziehungsstilen der Eltern nicht einfach geformt, sondern können Widerstand leisten (ebd.:159). Unthematisiert lässt er jedoch, wie Subjekte an der Veränderung von Normen mitwirken können. Er ist sich zwar bewusst, dass Normen gesellschaftlichem Wandel unterliegen, legt aber keinen Erklärungsansatz vor.

2.1.2 Gender-kritische Erweiterung der Sozialisationstheorie

Der Konstruktionscharakter des sozialen Geschlechtes wird von Hurrelmann nur ansatzweise the- matisiert, wenn er davon spricht, dass das soziale Geschlecht (gender) zwangsläufig aus dem biolo- gischen Geschlecht (sex) hervorginge. Er vernachlässigt dabei die Benennung konkreter Abläufe, wie das soziale Geschlecht durch Sozialisation hervorgebracht (doing gender) wird. Der gender-be- wusste Ansatz Henslins der gender socialisation bringt an dieser Stelle etwas Licht ins Dunkle.

Im Gegensatz zu Hurrelmann geht Henslin auf die Konstruktion des sozialen Geschlechts (gender) ein und benennt in schriftlicher und in visueller Form andere Lebensentwürfe. Dadurch erhalten diese eine Form der Anerkennung, die im wissenschaftlichen Diskurs an anderer Stelle fehlt. Unter Bezugnahme diverser Studienergebnisse5 ist Henslin der Auffassung, dass Geschlechternormen vor allem von der Familie auf die eigenen Kinder übertragen werde. Diese Übertragung geschehe meistens unbewusst und ohne konkrete Anweisungen, sondern nonverbal (Henslin 1996: ebd.). Des Weiteren bezieht er sich auf den Einfluss von Massenmedien (Film, Musik, Videospiele) auf die Sozialisation der sozialen Geschlechterrolle (Henslin 2001: 77).

Andererseits macht ebenso Henslin die Unterscheidung zwischen sex und gender deutlich, wenn er darauf eingeht, wie das soziale Geschlecht durch familiäre Sozialisation, Massenmedien und andere Sozialisationsinstanzen hervorgebracht wird. Dabei wird das biologische Geschlecht als gegeben bzw. natürlich angenommen, wenn er unreflektiert die Kategorien „Mann“/„Vater“/“Junge“ bzw. „Frau“/„Mutter“/„Mädchen“ verwendet (Henslin 1996: 62f.). Henslin geht dabei nicht auf den Normbegriff ein, wenn er von der „ Socialization of gender “ schreibt (Henslin 2001: 74). Nach in- tensiver Lektüre beider Sozialisationstheoretiker bleiben folgende Fragen offen: Wie werden Nor- men ausgehandelt und wie sind Veränderungen derselben möglich? Wie etabliert sich eine ehemali- ge Abweichung zu einer Norm? Auf das Thema dieser Arbeit bezogen kann konkret formuliert wer- den: Mittels welcher Theorie kann erklärt werden, wie die binäre Geschlechternorm aufrecht erhal- ten wird und welche Möglichkeiten des Auswegs es aus ihren Fängen gibt? Beide Sozialisations- theoretiker ziehen nicht in Erwägung, dass das scheinbar biologische Geschlecht (sex) selbst ein Produkt konstruktivistischer Leistung sein kann. Es soll untersucht werden, wie sowohl gender als auch sex als Ausdruck von konstruierten Geschlechtsidentität durch Sozialisation hervorgebracht wird.

2.1.3 Der Subjektbegriff in der Sozialisationsforschung

Der Subjektbegriff in der Sozialisationsforschung unterlag seit den 70er Jahren u.a. auch mit Hur- relmann einen Paradigmenwechsel, so dass das Subjekt nun nicht mehr passiv, sondern aktiv und autonom gedacht wurde (Bauer 2004: 63). Hurrelmann kann sofern den modernen Sozialisations- theoretikern zugeordnet werden. Seinem Autonomieverständnis nach bildet der Mensch angesichts seiner Anlagen und in Auseinandersetzung mit der Umwelt seine eigene Realität. Wenn der Subjekt- begriff innerhalb der Sozialisationstheorie einer Analyse unterzogen wird wird, dann ist der Mensch immer ein Subjekt, das über vordiskursive Fähigkeiten (Denken, Fühlen, Vorstellen) verfügt, die gleichwohl einer Kultivierung benötigen, die auch Sozialisation genannt wird. Es würden dem Men- schen Normen und Werte der Gesellschaft näher gebracht. Beispiele zeigen, dass der Autonomiebe- griff der modernen Sozialisationstheoretiker allerdings problematisch erscheint und überdacht wer- den muss: Wenn ein Neugeborenes auf die Welt kommt, muss es sich unterwerfen, um autonom sein zu können, denn ein Neugeborenes muss z.B. die etablierte Sprache erlernen, um sich überhaupt ausdrücken zu können, um gehört und anerkannt zu werden. Das Neugeborene hat nicht die Mög- lichkeit, seine eigene Sprache zu wählen/zu erfinden. Ein anderes Beispiel ist die Zuordnung zu ei- nem Geschlecht, wenn ein Kind das Licht der Welt erblickt: „Es ist ein ...“. Es wird zwangsweise einem Geschlecht (Mädchen/Junge) zugeordnet, ohne selbst Einwände gegen diese Selektion erhe- ben zu können. Das Ausmaß des Zwangscharakters erreichen Operationen von intersexuellen Neu- geborenen, um ihnen ein eindeutiges Geschlecht zu verleihen. Die Uneindeutigkeit wird problema- tisiert und nicht akzeptiert, aber es muss hinterfragt werden, dass die Uneindeutigkeit als Produkt der konstruierten, verallgemeinerten Eindeutigkeit von männlich-weiblich zu werten ist. Wenn eine Auseinandersetzung um die Aussage „Es ist ein Junge!“ geschieht, dann fällt auf, dass Sprache nicht nur eine Abbildung ist, sondern das, was sie benennt, ebenso entwirft, an dieser Stelle eben den „Jungen“. Gegner dieser Herangehensweise werden äußern: Und was ist mit dem Geschlechts- organ? Die Sprache bildet doch nur ab, was die Realität vorzuweisen hat. Es wäre in Ordnung, wenn sich die Bezeichnungen Mann und Frau nur auf die Abbildung von Körpermerkmalen be- schränkten. Aber weshalb benötigt der Mensch diese Form der Unterscheidung? Und hat sie nicht Folgen, die jenseits der Abbildung reichen? Wenn es ein „Mädchen“ ist, dann ist sie schwach, schön etc. D.h., dass der Sprache nicht nur eine Abbildungsfunktion zukommt, sondern eine Interpretati- onsfunktion mit realen Effekten darauf, wie der Mensch lebbar ist. Wer entscheidet, mit welchen Begriffen wir was bezeichnen und mit welchem Effekt? Und hat dieser Körper nicht andere Eigen- schaften, auf die Bezug genommen werden könnte? Warum rückt der „Unterschied“ des Organs zwischen den Beinen dermaßen in den Vordergrund der Beobachtung? Das Beispiel zeigt noch et- was, was tiefgreifender ist und den Begriff der Autonomie angreift, denn in dem angeführten Bei- spiel hat das Neugeborene keine Autonomie, denn es muss sich der Geschlechtszuweisung unter- werfen. Die Sprache gibt dem Individuum demnach ein Geschlecht, es gibt dem Individuum Identi- täten. Dies deckt auf, dass das Individuum nicht qua Geburt autonom ist, da um erst Subjekt zu wer- den, es der Unterwerfung unter gesellschaftlichen Normen bedarf. Dafür muss der Autonomiege- danke nicht verworfen werden, aber es ist sinnvoll zu hinterfragen, ob autonome Handlungsfähig- keit Bedingungen stellt. Diese Frage führt zu Judith Butler, die nicht von einem vordiskursiv auto- nomen Subjektbegriff ausgeht. Mit ihrer Unterstützung kann an dieser Stelle ein Umdenken gesche- hen, das Normen, Werten, aber auch den Diskursen selbst einen größeren Stellenwert und einen pro- duktiven Charakter einräumt, der Subjekte erst konstituiert. Hinzu kommt, dass sie Antworten dar- auf hat, wie sich Normen erhalten und wie und wo Möglichkeiten von Normverschiebungen gege- ben sind.

2.2 Queer-Theorie und Judith Butler

Verglichen mit der Sozialisationstheorie ist sich die Queer-Theorie ihrer politischen Rolle gewahr und versucht m.H. der Wissenschaft auf gesellschaftliche Verhältnisse einzuwirken. Sie beschäftigt sich mit der Analyse von Machtstrukturen, insbesondere im Zusammenhang von Sexualität und Ge- schlecht. Im Unterschied zur Sozialisationstheorie beschäftigt sich die Queer-Theorie mit konstruk- tivistischen und post-strukturalistischen Ansätzen.6 Butlers Theorie der Subjektivation bietet Be- zugspunkte zur Sozialisationstheorie und vermag, diese im Hinblick auf die ihr innewohnende He- teronormativität zu kritisieren, indem sie Machtstrukturen offenlegt, welche die Sozialisation durch- ziehen. Damit ist eine fruchtbare Symbiose zwischen Sozialisations- und Queer-Theorie umsetzbar.

Die Theorie der Subjektivation weist Parallelen zu der Sozialisationstheorie auf, da beide den Pro- zess nachzeichnen, wie aus Individuen gesellschaftsfähige Menschen werden. Butler macht deut- lich, dass die Restriktionen, denen jedes Subjekt unterliege, es nicht nur einschränken, sondern sei- ne Subjektwerdung erst ermöglichen (Butler 2001: 82). Wer den gängigen Subjektformen nicht ent- spricht, der bleibt für die Gesellschaft nicht intelligibel bzw. verständlich, „in jedem Fall aber pa- thologisch und veränderungsbedürftig“ (Reckwitz 2008: 86). Butlers Pendant zu Hurrelmanns So- zialisationsbegriff ist die Subjektivation, die Subjektwerdung des Individuums. Sie stützt diese Theorie interdisziplinär, indem sie neben der Theorie Foucaults, die Psychoanalyse, die Sprechakt- theorie und die Derrida'sche Dekonstruktion miteinander verknüpft. Von Foucault übernimmt sie die paradoxe Doppelbedeutung des Subjektbegriffs, der sowohl Unterwerfung als auch Selbststän- digkeit bedeutet und beide Bedeutungen in folgendes Verhältnis setzt: Erst durch die Unterwerfung unter Macht, Diskurse, Normen etc. könne der Mensch Subjekt sein. Der Unterschied zu Foucault besteht in der Einbeziehung anderer Theorien und im Anliegen ihrer Arbeit, „die performative kon- tinuierliche Selbstarbeit und Selbstpräsentation des Subjektes >at work<“ (Reckwitz 2008: 82) zu untersuchen. Das Individuum könne sich erst mitteilen, wenn es als Subjekt auftritt. Dafür müsse es erst den Prozess der Subjektivation durchlaufen (Butler 1997b: 10). Butler denkt das Subjekt nicht autonom, sondern betrachtet es in seiner Eingebundenheit in diskursive Vorgaben. Demnach kann Butlers Autonomieverständnis wie folgt lauten: Erst die Unterwerfung, dann die Autonomie, die durch Verwerfungen, Verbote, Einschränkungen gekennzeichnet ist.

Butler begreift den Diskurs als den Ort, an dem soziale Wirklichkeit geschaffen wird. Innerhalb der Diskurstheorie nimmt die Sprache eine zentrale Rolle ein, denn sie ist nicht unschuldig und nicht frei von der produktiven Macht. Aber der Diskurs selbst ist mehr als die gesprochene Sprache, son- dern ein Denk- und Sprechsystem, dessen Funktion darin besteht, die Welt in einer veränderten, konfigurierten Form wahrzunehmen und ihr eine Ordnung zu verleihen. Wenn wir uns auf die Rea- lität beziehen, dann ist dies immer ein „linguistischer Rekurs“ (Butler 1995: 11), d.h. dass wir uns auf die Welt nur mittels der Sprache beziehen können. Zwischen uns und der Welt, deren Materiali- tät manchmal durch Naturalisierungspraktiken als natürlich gedacht wird, stehen immer Diskurse, in die wir mittels der Sprache eintreten. Die Diskurse, die zwischen uns und dem Ding/der Welt ste- hen, bringen die Dinge erst selbst hervor, die für uns dann verständlich werden. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf die Geschlechterfrage richten, dann meint dies, dass zwischen uns und dem scheinbar natürlichen Sachverhalt (weibliches, männliches „biologisches“ Geschlecht) von Men- schen gemachte Bedeutungen stehen: alltägliche, medizinische, sozial-kulturelle Diskurse etc. But- ler bestreitet die Existenz der Materialität nicht, aber sie argumentiert, dass wir sie erst über die Dis- kurse wahrnehmen, die die ursprünglichen Dinge formieren und konfigurieren (Villa 2012: 19-35). Butler erläutert, dass die Materialität/das Wesen der Dinge für uns nicht wahrnehmbar seien. „Es ist unmöglich (…), außerhalb der diskursiven Gepflogenheiten zu stehen, durch die >wir< konstituiert sind“ (Butler 1993: 126). Die Diskurse sind jedoch umgekehrt auch an das sprechende Subjekt ge- bunden, denn erst durch das Aufgreifen der Begriffe aus dem Repertoire wird die produktive Macht durch soziales Tun performiert. Gleichzeitig besteht in der wiederholten Verwendung der Sprache die Möglichkeit der Subversion. Damit das Gesprochene indessen performativ ist, muss es auf so- zialen/sprachlichen Konventionen7 beruhen, die Verständlichkeit und Legitimität garantieren: Das „Subjekt spricht konventional, d.h. mit einer Stimme, die niemals völlig einzigartig ist.“ (Butler 1998: 43).

Die Norm erhält in Butlers Ausführungen einen großen Stellenwert. Sie versteht darunter ein Ideal, dem nicht jeder entsprechen kann, das bestimmte Praktiken und Denkweisen ermöglicht, aber auch begrenzt. Ein Normensystem, mit dem sich Butler besonders beschäftigt ist die heterosexuelle Ma- trix8, innerhalb derer das biologische Geschlecht (sex), die soziale Geschlechterrolle (gender) und das Begehren (desire) klar aneinander gebunden seien. In dieser heterosexuellen Matrix werde die Einordnung in ein binäres Geschlechtersystem von „Mann“ und „Frau“ erzwungen, wobei ein als männlich definierter Körper (sex) an eine soziale Rollenerwartung (gender) gekoppelt sei, die eben- so das Begehren auf den Körper einer Frau beinhalte (desire). Auf diese Weise werde „die Identität eines Geschlechtssubjekts, von Männern und von Frauen, eine scheinbar natürliche und allgemein- gültige Voraussetzung jeder Personalität“ (Reckwitz 2008: 82), die im Rahmen eines „bestimmten, historischen kontingenten Naturalisierungsdiskursen“ (Reckwitz 2008: 85) getätigt wurden, „die den Körper und seine Eigenschaften (Formen, Körpersäfte, Organe, Gene, Hormone etc.) auf sehr spezifische Weise klassifizieren“ (Reckwitz 2008: ebd.).

Ein zentraler Aspekt ihres Normbegriffs zielt auf den Mechanismus ab, wie sich Normen erhalten und verändern können, nämlich durch Performativität. Diese steht für die Kraft, dass eine Äuße- rung dasjenige, was sie benennt, auch hervorruft. Auf Grundlage von Austin und Derrida arbeitet sie ein Performativitätsverständnis aus, das Sprechen sowohl als Handlung (illokutionäre Sprechakte) betrachtet, als auch als durch sprachliche, inszenierte Wiederholungen wirklichkeitskonstituierend.

Butlers Normverständnis nach sind Normen von Subjekten abhängig und vice versa. Normen wer- den des Weiteren in Filmen, Büchern, Werbeplakaten zitiert und fortgesetzt. Für die Geschlechts- norm bzw. die Norm der gesellschaftlich legitimierten Familienvorstellung hieße das konkret: Die heterosexuelle Matrix ist darauf angewiesen, dass Subjekte auf diese Norm zurückgreifen. Das Ge- schlecht ist performativ hergestellt, d.h. es besteht aus einer Unzahl von Akten, Gesten und Äuße- rungen. Dies bedeutet andererseits auch, dass alle anderen Geschlechter, die scheinbar neu erfunden werden, Effekte ebendieser Normen/Diskurse sind. Männlichkeit und Weiblichkeit werden erst da- durch konstruiert, dass Menschen sich als Mann oder Frau definieren und dies durch ihr Verhalten deutlich machen. Auch der Begriff der Heterosexualität wird erst durch 'abweichende' Sexualitäten möglich. Die heterosexuelle Matrix produziert zum Zweck der eigenen Stabilität Varianten des Ge- schlechts, die abgewertet und mit dem sozialen Tod bedroht werden. So z.B. definiert sich die Hete- rosexualität in Abgrenzung zu anderen Lebensweisen/Identitäten9, wie z.B. der Homosexualität, und wird damit zur Norm. Das bedeutet bzw. führt dazu, dass homosexuelle Identitäten nicht anerkannt werden und mit ihnen anders umgegangen wird als mit heterosexuellen weiblichen/männlichen Identitäten. Gleichzeitig sind sie wichtig, um die Spielregeln deutlich zu machen, nach dem Motto: Ich bin normal und du bist abnormal.

Butler erachtet das Geschlecht als Effekt der Performativität, welches erst, „als das radikal Nichtkonstruierte“ (Butler 1991: 24), durch Sprechakte hervorgebracht werden muss. Hierbei werde das biologische Geschlecht dem Diskurs vorgelagert und als von Natur gegeben ausgewiesen. Sie hält dagegen, dass auch das Argument der Natur eine kulturelle diskursive Praxis sei (Butler 1991: 66). Die Heteronormativität bzw. „Zwangsheterosexualität“ (Butler 1991: 50) erhalte sich in Wiederholungen, die ein Handlungsspielraum für eine Subversion zulassen, die erkannt und genutzt werden müsse, um das heteronormative Herrschaftssystem abzulösen. Dabei sei der Widerstand nicht außerhalb des Diskurses denkbar, sondern muss in ihm und mit ihm geschehen, indem z.B. mit vorgegebenen, scheinbar natürlichen Geschlechterrollen gespielt werde (z.B. Travestie-Performances). Damit äußert sich auch eine politische Zielsetzung, die darauf abzielt, Normen durch Brüche zu verändern und damit ebenso bestehende Machtverhältnisse10.

„In welchem Sinne ist die Geschlechtsidentität ein »Akt«? Ähnlich wie andere rituelle gesellschaftliche Inszenierungen erfordert auch das Drama der Geschlechtsidentität eine wiederholte Darbietung. Diese Wiederholung ist eine Re-Inszenierung und ein WiederErleben eines bereits gesellschaftlich etablierten Bedeutungskomplexes - und zugleich die mundane, ritualisierte Form seiner Legitimation.“ (Butler 1991: 206)

D.h., dass Butler das Geschlecht nicht als Ausgangspunkt des Sprechens betrachtet, sondern als Produkt der wiederholten geschlechtlichen Selbstdarstellung. Dabei ist das Repertoire des Diskurses auf die Kategorien 'Mann' und 'Frau' beschränkt. Die Performativität entfaltet sich durch den Rückgriff auf etablierte Identitätskategorien, die im eigenen Sprechen und Handeln reproduziert werden. Bezüglich Normen meint dies, dass sie sich dadurch erhalten, dass sie von Subjekten regelmäßig zitiert, d.h. zur eigenen Identifizierung verwendet werden. Demnach sei die Heteronormativität auf Äußerungen angewiesen, die sprachlich bzw. körperlich wiederholt werden11.

Butler geht der Frage nach, wie ein Subjekt innerhalb des Subjektivationsprozesses Widerstand leisten kann. Sie äußert, dass die Möglichkeit von Verschiebungen in den Wiederholungen körperli- cher und diskursiver Akte bestehe (Reckwitz 2008: 89f). Diese Wiederholungen bzw. Zitationen würden „zwangsläufig immer wieder Verfehlungen, Inkohärenzen, Brüche und Risse einer Subjekt- form“ (Reckwitz 2008: ebd.) auftun.12 Butler erklärt unter Berufung auf die Psychoanalyse, dass es ein ,leidenschaftliches Verhaftetsein' an die eigene Subjektform gibt, aus der sich auch ableiten lässt, weshalb bestimmte Subjektformen, wie z.B. die des Mannes oder der Frau so langlebig sind. Da die Normen Subjekten die Möglichkeit geben, zu existieren, werden sie begehrt. Zusätzlich gäbe es eine ,melancholische Identifizierung' mit einem Objekt, das einst begehrt wurde. Diese ,melan- cholische Identifizierung' ist in einem psychischen Rest, der nicht ausgelebt werden kann, weil er als das ,Andere', als das nicht-akzeptierte konstituiert wurde. Sie kann die Subjektordnung zum Bröckeln bringen. Sie wird als nicht vordiskursiv gegeben verstanden, sondern als Produkt der Sub- jektivierungsweisen, in deren Ausgang erst bestimmt wird, was lebbar und was nicht lebbar ist. Da durch die Konstituierung des Subjektes mit einhergeht, dass ein „eigenständig denkendes, fühlendes Subjekt entsteht“, ist die Möglichkeit gegeben, dass dieses diskursiv autonome handlungsfähige Subjekt den etablierten Normen zu widersprechen vermag. Demnach ist hier einerseits die Chance gegeben, Normen und Diskurse schlagartig zu verändern, aber andererseits besteht zugleich die Ge- fahr, dass es als Subjekt nicht mehr existieren kann, weil es riskiert, den Normen nicht mehr zu ent- sprechen, also unlesbar bzw. unverständlich wird. Demnach lokalisiert sie im Unbewussten13 einen Ort des möglichen Widerstands, in dem die Normierungen nicht wirken. Sie denkt die Unterwer- fung performativ (ebd.: 90). Im Prozess der Wiederholung bzw. der Zitation besteht demnach die Möglichkeit der Subversion14 von (vorherrschenden) Normen.

Ihr Ziel ist es, etablierte Hierarchien zwischen als natürlich und als unnatürlich angenommenen Subjektformen abzubauen. Statt des Begriffs der Materialität schlägt Butler den Begriff der Mate- rialisierung vor. Damit möchte sie deutlich machen, dass Performativität und diskursive Regulie- rung nicht auf einer vorkonstruierten Materialität fixer Körper beruhe, sondern der Körper vielmehr „durch intelligible Handlungsakte fortwährend (gebildet bzw.) materialisiert (Reckwitz 2008: 89) wird. Butler macht darauf aufmerksam, dass ein Mensch sein Geschlecht, auch wenn dieses kon- struiert ist, sich nicht einfach aussuchen und es verändern kann, denn das Subjekt müsse - wie schon erwähnt - nicht als autonomes Individuum, sondern als Zwängen, Verboten und der Macht unter- worfen verstanden werden. Sie will den Körper nicht negieren, sondern zeigen, dass er ein Ort der Möglichkeiten ist und dass ein neuer Rückgriff auf ihn stattfinden müsse: „Während es jene Femi- nistinnen gibt, die argumentieren würden, dass Frauen ihren Körpern von Grund auf entfremdet werden, wenn sie die biologische Basis ihrer Besonderheit in Frage stellen, würde ich auch deutlich machen, dass dieses >Infragestellen< durchaus ein Weg zu einer Rückkehr zum Körper sein kann, dem Körper als einem gelebten Ort der Möglichkeit, dem Körper als einem Ort für eine Reihe sich kulturell erweiternder Möglichkeiten.“ (Butler 1995: 11) Menschen, die den Geschlechtsnormen nicht entsprechen, sind nicht intelligibel - d.h. nicht, dass es sie nicht gibt, aber dass sie nicht aner- kannt werden. Diese Nicht-Anerkennung kann ebenso als Gewalt15 verstanden werden. Es ist wich- tig, sich mit dem Körper-Begriff auseinanderzusetzen. Stellen wir uns vor: Wir erkennen von Wei- tem eine Subjektgruppe, die auf uns zukommt. Während sie sich uns nähern, erkennen wir, dass es sich hierbei um eine Familie handelt, denn sie verhalten sich und interagieren auf eine Weise, die wir nur aus Familien kennen. Danach erkennen wir, dass die Körper der beiden Erwachsenen als männlich eingeordnet werden können. Während eine der heterosexuellen Norm entsprechende Fa- milienkonstellation wenig fragwürdig wäre, wirft die beobachtete Konstellation Fragen auf: Ist es also doch keine Familie, die sich uns nähert? Wer von beiden ist der Vater? Wo ist die Mutter? Sind die beiden Männer ein Paar? Der Betrachter gibt den Familienmitgliedern Identitäten der heterose- xuellen Matrix und erkennt möglicherweise gar nicht die Realität der Familienkonstellation Va- ter-Vater-Kind, weil ihm hierzu der Begriff fehlt. Aber vielleicht sind diese Körper nicht männlich und weiter werden die als „Väter“ definierten Subjekte (Fremdzuweisung) auch nicht nach ihrer Identität gefragt, derer es viele gibt. Die Kombination von Vater-Vater wird als Abweichung von der heterosexuellen Norm wahrgenommen. Es ist wahrscheinlicher, dass diese Familienform nicht (an)erkannt wird. Die Nicht-Anerkennung kann sich durch böse Blicke, beleidigende Worte, physische Gewalt oder Ignoranz (s. Hurrelmann) ausdrücken. Es stellt sich also die Frage, welche Körper wie lebbar sind und auf welche Weise wir erreichen können, dass Subjekte aufgrund ihrer „Körper“ nicht unter ihren Möglichkeiten leben müssen und ihre „Körper“ sie nicht auf bestimmte Identitäten und Lebensformen festlegen, die im Voraus eine Abwertung erfahren.

Im Hinblick auf die gesellschaftlich allgemein akzeptierte Zweigeschlechtlichkeit bedeutet dies, dass sie bzw. das Geschlechtssubjekt (hier: männlich und weiblich) nicht natürlich, sondern diskur- siv16 konstruiert sind. Dies geschehe Butler zu Folge „durch die Wiederholung von innerhalb einer diskursiven Ordnung als männlich oder weiblich zurechenbaren körperlichen Akten - der körperli- chen Bewegungen, der Kleidung, der Sprache, des sexuellen Interesses etc. - entsteht ein männli- ches oder weibliches Subjekt.“ (Reckwitz 2008: 88) Entgegen der Auffassung Hurrelmanns und Henslins, dass das konstruiert soziale Geschlecht (gender) auf der Materialität des biologischen Ge- schlechts (sex) beruhe, versteht Butler auch Letzteres als konstruiert. Es gäbe eine Materialität des Körpers, aber es sei der Konstruktion geschuldet, dass bestimmte Körpermerkmale herangezogen werden, um Menschen zwei-geschlechtlich zu kategorisieren. D.h. weiter, dass es keine Ge- schlechtsidentitäten ohne die Subjektivation gäbe, denn erst in diesem Prozess entsteht die männli- che bzw. weibliche Identität, die gemacht wird: Es gibt keine Täter vor der Tat. Es könnten genauso gut andere Körpermerkmale, wie z.B. die Länge des Ellbogens, herangezogen werden, um Men- schen zu kategorisieren. Die Konstruktionsleistung bestehe darin, dass bestimmte Körpermerkmale als relevant erachtet und mit bestimmten kulturellen Bedeutungen versehen werden.

Aus der Auseinandersetzung Butlers mit dem (Kollektiv-)Subjekt der ,Frau' können wichtige Er- kenntnisse abgeleitet werden: Butler kritisiert den dominanten westlichen Feminismus, weil er mit dem Begriff der ,Frau' Identity Politics praktiziere, die verdecke, dass es nicht die ,Frauen' gibt, sondern die ,Frauen' sehr unterschiedlich sind, wenn der Begriff intersektional gedacht wird, also u.a. mit den Begriffen race, sex und class, die die Identitäten der ,Frauen' unterschiedlich stark prä- ge. Aber der feministische Diskurs erschaffe erst die Feministin (Butler 1991: 15ff.). Auf diese Ar- beit bezogen würde es heißen, dass es den ,Schwulen' nicht gäbe und der Diskurs über Homosexua- lität diesen erst hervorrufe. Der Homosexuelle materialisiert sich durch den Diskurs erst, wird also zu einem real gelebten Subjekt. Der Begriff des Schwulen wird dennoch weiterhin insbesondere auch in der queeren Community verwendet.17 Ziel ist die Anerkennung, vor allem auch die rechtli- che Form der Anerkennung von schwulen, lesbischen, intergeschlechtlichen etc. Menschen, ihnen Schutz und Anerkennung zu bieten, auch wenn sie sich etablierten Normen widersetzen/ihnen nicht entsprechen. An dieser Stelle ist auch interessant die Frage aufzuwerfen, ob trotz der zunehmenden Anerkennung von homosexuellen Lebensentwürfen, die jedoch noch nicht die Familiengründung erfasst, alle homosexuellen Subjektformen lebbar sind oder nur bestimmte Lebensweisen erlaubt sind.

In Bezug auf das Familienbild ist zu erwarten, dass die Vorstellung darüber, was eine Familie ist, diesem Zwangsregime der Heteronormativität18 untergeordnet ist. Die Auseinandersetzung mit dem Familienbegriff verdeutlicht, dass in der soziologischen Familienforschung wiederholt vor allem heterosexuelle Elternschaften genannt wurden und erst recht spät eine offenere Definition erfolgte, die ebenso gleichgeschlechtliche Elternschaften berücksichtigte. Ein Beispiel ist hier Hurrelmann selbst, der durch seine Arbeiten zum Erhalt der heteronormativen Familie beiträgt, indem er ein Re- pertoire an Erziehungsratgebern zitiert, nach denen Kinder sowohl eine 'männliche' als auch eine 'weibliche' Bezugsperson benötigen, um eine erfolgreiche Sozialisation zu durchlaufen (Hurrel- mann: 134). Zusätzlich muss auch die Rolle des staatlichen Narrativs genannt werden, das durch Gesetzgebung (z.B. zum Adoptionsrecht) wiederholt eine Geschichte erzählt, aus der hervorgeht, was lebbar bzw. nicht lebbar ist.19

2.3 Theoretische Synthese: „Queer-Sozialisations-Theorie“

Eine Zusammenführung beider Theorien ist auch aus strategischer Hinsicht als wichtig einzustufen, da unter Heranziehung beider gelingen kann, der Subjektivationstheorie mehr Gehör zu verschaffen und gleichzeitig die neuen Sozialisationstheorien um postmoderne Perspektiven zu erweitern, um der komplexen Realität gerecht zu werden.

In diesem Abschnitt werden die Inhalte der beiden Theorien in ihren zentralen Aussagen tabella- risch gegenübergestellt, um in einer dritten Spalte eine Synthese bestehend aus ihren Inhalten zu bilden.20 Die Synthese bildet den theoretischen Rahmen dieser Arbeit. Aus ihr werden allgemeine Forschungsfragen abgeleitet, welche die empirische Arbeit anleiten, indem aus ihnen Leitfragen für die Interviews in Teil 1 und ein Fragebogen für die Umfrage in Teil 2 generiert werden. Einige Aspekte der theoretischen Synthese (z.B. Macht, Unterscheidung von sex und gender) sind für das konkrete Forschungsinteresse dieser Arbeit unwesentlich und werden deshalb nicht näher diskutiert, sollen aber doch in der Tabelle genannt werden, da sie für die theoretische Synthese von Queer- und Sozialisationstheorie wichtig sind.

[...]


1 Studien widerlegen diese These, wie z.B.: Rupp, Marina (2009): Die Lebenssituation von Kindern in gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften.Köln

2 Sexuelle Identität wird hier mit Butler als eine Konfiguration von biologischen Geschlecht (sex), sozialen Geschlecht (gender) und der sexuellen Orientierung (desire) verstanden. Die Heteronormativität bewirkt, dass nur Identitäten, in denen männliche Körpermerkmale an eine männliche soziale Rolle und das Begehren von Frauen gekoppelt sind, als normal wahrgenommen werden, andere mögliche Konfigurationen jedoch als Abweichung.

3 „Mit Persönlichkeit wird das unverwechselbare Gefüge von Merkmalen, Eigenschaften, Einstellungen und Handlungskompetenzen bezeichnet, das sich auf der Grundlage der biologischen Ausstattung als Ergebnis der Bewältigung von Lebensaufgaben eines Menschen ergibt.“ (Hurrelmann 2002: 16)

4 Die offene Familiendefinition Hurrelmanns entspricht dem Familienverständnis dieser Arbeit.

5 Folgende Studien werden genannt: Mitchell, G., Obradovich, S., Herring, F., Tromborg, C., & Burns, A. L. (1992). Reproducing gender in public places: Adults' attention to toddlers in three public locales. Sex roles, 26 (7-8), 323- 330./Goldberg, S., & Lewis, M. (1969). Play behavior in the year-old infant: Early sex differences. Child development, 21-31.

6 Eine gute Einführung in die Queer-Theorie gibt der Artikel von Woltersdorf (2003).

7 „Die (performativen) Äußerungen (…) sind nicht bloß konventional, sondern, in Austins eigenen Worten, >rituelle oder zeremoniell<. Sie funktionieren als Äußerungen nur, insofern sie in Form eines Rituals auftreten, d.h., in der Zeit wiederholbar sind und damit ein Wirkungsfeld aufrechterhalten, das sich nicht auf den Augenblick der Äußerung selbst beschränkt. Der illokutionäre Sprechakt vollzieht die Tat im Augenblick der Äußerung. Da dieser jedoch ritualisiert ist, handelt es sich niemals bloß um einen einzelnen Augenblick. Der ritualisierte Augenblick stellt vielmehr eine kondensierte Geschichtlichkeit dar: Er überschreitet sich selbst in die Vergangenheit und in die Zukunft, insofern er ein Effekt vorgängiger und zukünftiger Beschwörungen der Konvention ist, die den einzelnen Fall der Äußerung konstituieren und sich ihm zugleich entziehen.“(Butler 1998: 11)

8 „Der Begriff heterosexuelle Matrix steht in diesem Text für das Raster der kulturellen Intelligibilität, durch das die Körper, Geschlechtsidentitäten und Begehren naturalisiert werden.“ (Butler 1991: 21, Fußnote 6)

9 Wird der Identitätsbegriff beider Theorien vergleichend gegenübergestellt, so kann festgestellt werden, dass er bei den Sozialisationstheorien als eine bestimmte Persönlichkeit mit einer Art Wesenskern verstanden wird und in der Subjektivationstheorie nun Identitäten im Plural verbunden mit Machtstrukturen, wie z.B. dem Geschlecht, gedacht werden.

10 Da die Macht einen produktiven Charakter hat, also Menschen nicht nur unterdrückt, sondern sie als solche mit einem bestimmten Geschlecht, einer bestimmten Sprache, einer Perspektive auf die Welt, einem spezifischen Verständnis des Möglichen hervorbringt, ist sie nicht einfach abzuschaffen. Aber es könne danach gefragt werden, wie die Macht organisierbar wäre und welchen Diskurs sie transportieren sollte, um die Verhältnisse zu ändern. (Distelhorst 2009: 37)

11 „Das ,Geschlecht' wird immer als eine unentwegte Wiederholung vorherrschender Normen hergestellt. Diese produktive Wiederholung kann als eine Art Performativität gedeutet werden. Die diskursive Performativität produziert offenbar das, was sie benennt, um ihren eigenen Referenten zu inszenieren, um zu benennen und zu tun, zu benennen und zu machen.“ (Butler 1997a: 154).

12 Reckwitz (2008: 89f .) kritisiert, dass Butler nicht genauer untersucht, wann eine verfehlte Handlung von der Norm als Abweichung wahrgenommen wird oder als Ausdruck einer nicht mehr geltenden Norm.

13 Butler versteht unter dem Unterbewussten jedoch kein diskursives Außen, sondern betont, dass auch das Unbewusste von Diskursen hergestellt werde (Butler 2001: 82).

14 Von Redecker fasst zusammen, dass der Widerstand durch Parodie, durch Verschiebung von Bedeutungen (s. das Wort 'queer' selbst) und von Symbolerweiterungen geleistet werden kann, der hegemoniale Normen in ungewöhnlichen Kontexten wiederholt und somit vorhandene Identifikationsvorlagen umdeuten bzw. vervielfältigen kann. ( von Redecker 2011: 79-85).

15 Hier könnten als Beispiele Hassverbrechen gegen sexuelle Minderheiten oder die öffentliche Diskussion darüber, wie stark genderkritische Theorien an Schulen gelehrt werden dürfen, genannt werden.

16 Die Auseinandersetzung mit dem Diskursbegriff zeigt, wie uneinheitlich er gebraucht wird. Allen Äußerungen hierzu ist gemein, dass sie sich auf Foucault beziehen. Auch Judith Butler tut dies in modifizierter Form: Sie schreibt, dass der Diskurs den menschlichen Körper erst forme und wahrnehmbar mache. Ihr Konzept der Materialität und Performativität erklärt diesen Prozess. (Bublitz 2010: 17/B) Der Diskurs habe ebenso einen produktiven Charakter, der das Subjektsein erst ermögliche (Butler 1993: 129).

Butler selbst schreibt zum Thema Diskurs: „ >Diskurs< ist nicht bloß gesprochene Wörter, sondern ein Begriff der Bedeutung; nicht bloß, wie es kommt, dass bestimmte Signifikanten bedeuten, was sie nun mal bedeuten, sondern wie bestimmte diskursive Formen Objekte und Subjekte in ihrer Intelligibilität ausdrücken. In diesem Sinne benutze ich das Wort >Diskurs< nicht in seiner alltagssprachlichen Bedeutung, sondern ich beziehe mich damit auf Foucault. Ein Diskurs stellt nicht einfach vorhandene Praktiken und Bedeutungen dar, sondern er tritt in ihre Ausdrucksformen ein und ist in diesem Sinne produktiv“. (Butler 1993: 129)

17 Hier fordert eine Gruppe, die sich auf Grundlage ihrer gemeinsamen schwulen Identität zu einer (nicht-)politischen Gruppe zusammen gefunden hat, mehr Rechte ein. Aufgrund dieses Merkmals werden sie attackiert und systematisch benachteiligt. Die Abschaffung des Begriffs würde bedeuten, dass diese Gruppe keine Identität mehr hätte und in die Unsichtbarkeit verbannt wäre. Es kommt darauf an, den Begriff als Selbstbezeichnung zu verwenden, aber nicht andere Menschen von ihm auszuschließen oder gar einen Homonationalismus zu etablieren, indem z.B. arabisch-, kurdisch-, türkischstämmigen etc. Schwule aus dieser Definition ausgeschlossen werden. Ziel soll eher sein, viele Identitäten lebbar zu machen und sie nicht durch Verbote zu kriminalisieren und unsichtbar zu machen.

18 Sie beschreibt die Heterosexualität als ein zentrales Machtverhältnis, dass neben kulturellen Bereichen selbst die Subjekte durchzieht. Der Begriff verweist darauf, dass die Beziehung zwischen Geschlecht und Sexualität dem Diktat der Heterosexualität unterworfen ist. Dabei wird das heterosexuelle Begehren als Norm gesetzt und alles, was der Norm nicht entspricht als abnormal abgewertet. ( Klasse/Hartmann 2007: 9)

19 Hier kann das eingangs erwähnte Youtube-Video genannt werden, welches deutlich den Diskurs aufzeigt, der bestimmt, was in Bezug auf die Familienwünsche Homosexueller (nicht-) lebbar ist.

20 Im weiteren Verlauf steht die Beschreibung „gender-bewusste Sozialisationstheorie“ für die Zusammenkunft von Hurrelmann und Henslin.

Final del extracto de 52 páginas

Detalles

Título
Wenn Schwule Vater werden...
Subtítulo
Der Umgang mit Geschlechternormen zwischen Reproduktion und Subversion
Universidad
Humboldt-University of Berlin  (Sozialwissenschaften)
Calificación
1,7
Autor
Año
2015
Páginas
52
No. de catálogo
V310235
ISBN (Ebook)
9783668087330
ISBN (Libro)
9783668087347
Tamaño de fichero
817 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
Judtith Butler, Sozialisationstheorie, Hurrelmann, Schwul, Schwule Väter, Queer Theorie
Citar trabajo
Mahir Bektas (Autor), 2015, Wenn Schwule Vater werden..., Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/310235

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