Nietzsches Übermensch und Rilkes Engel der "Duineser Elegien"


Hausarbeit, 2009

13 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhalt

Einleitung

1 Der Übermensch bei Nietzsche

2 Der Engel der Duineser Elegien – „ zu Hause in der großen Einheit“

Schluss

Literatur

Einleitung

„Noch unbestimmbarer als bei Hofmannsthal […] ist das Verhältnis Rainer Maria Rilkes zu Nietzsche. Kaum etwas Konkretes ist auszumachen […]. Erst im Spätwerk, in den Duineser Elegien […] zeigt sich die Profilierung einer Denklinie, die Nietzsche vorgezogen hatte. Nimmt man hier die Suche auf, verdichtet sich die Fährte, drängt sich immer dringlicher eine Antwort auf.“[1]

In diesen Sätzen drückt sich prägnant aus, was aus der Lektüre der Duineser Elegien vor dem Hintergrund von Friedrich Nietzsches Philosophie des Übermenschen, die den Elegien vorausgeht, klar hervortritt: Sie sind Klage- und letztlich doch Hohelieder auf das menschliche Dasein. Sie sind lebens- und leidensbejahend auf eine radikale Weise, wie Nietzsche sie in Also Sprach Zarathustra verkündet hatte: Der Mensch muss seine eigene Überwindung werden, indem er seinen eigenen Untergang lebt. Die Überwindung des Menschen im Sinne eines Heraustretens aus seinen eigenen Bewusstseinsgrenzen ist auch für Rilke ein entscheidendes Thema. Das menschliche Drama, unentrinnbar gefangen zu sein in der „gedeuteten Welt“, der Welt des Sichtbaren, steht in den Elegien im scheinbar unüberwindbaren Gegensatz zum Daseinszustand der Engel, die als Motiv in dem Gedichtzyklus auftreten. Auch ohne von einem Einfluss der Texte Nietzsches auf Rilke auszugehen, erscheinen Engel und Übermensch sich auf den ersten Blick zu ähneln. Beide haben sie den Menschen hinter sich gelassen. Ihre höhere Daseinsform ist für den Menschen unbedingt erstrebenswert. In dieser Arbeit soll nicht eine Jagd auf Parallelen stattfinden oder einem „Einfluss“ Nietzsches auf Rilke nachgespürt werden. Stattdessen stellt sie den Versuch dar, durch Analyse der Figuren eine dem Umfang der Arbeit angemessene Gegenüberstellung ihrer vorzunehmen und anhand dieser eine historisch-anthropologisch bedingte Kontinuität[2] zwischen dem Denken Nietzsches und dem Dichten Rilkes aufzuweisen.

1 Der Übermensch bei Nietzsche

In Nietzsches Schrift Also sprach Zarathustra kommen alle wichtigen Lehren seiner Philosophie zum Ausdruck: der Wille zur Macht, die Umwertung aller Werte, der Tod Gottes, die ewige Wiederkehr des Gleichen und vor allem die Lehre des Übermenschen. Zugleich scheint es, als sei der Übermensch der Punkt am Horizont, auf den alle diese Lehren hinauslaufen, denn er ist ihr Bejaher und somit ihre anthropologische Entsprechung.[3]

In der Vorrede des Zarathustra findet sich der erste Hinweis auf den Übermenschen, als Zarathustra bei seinem Untergang vom Gebirge zum ersten Mal eine Stadt betritt. Die Menschen dort sind auf dem Marktplatz versammelt, um das Schauspiel eines Seiltänzers zu sehen. Hier predigt Zarathustra der Menge zum ersten Mal den Übermenschen. Seine Predigt wird durch einen Zwischenfall unterbrochen: der Seiltänzer, mitten auf dem Seil in seinem gefährlichen Balanceakt, wird von einem Possenreißer, der plötzlich hinter ihm auf dem Seil auftaucht, übersprungen. Der Seiltänzer gerät daraufhin aus dem Gleichgewicht und stürzt in die Tiefe. Zarathustras „Seht, ich lehre euch den Übermenschen“ wird von den versammelten Menschen zunächst vollkommen missverstanden. Sie glauben, Zarathustra wolle ihnen nur eine weitere Lehre bringen, wie sie sich in einem moralisch-religiösen Sinne verbessern und vervollkommnen könnten. Doch das Konzept des Übermenschen ist mehr. Zarathustra entwickelt es hier, indem er die Menschen in ihrem Glauben kritisiert, das Ende einer Entwicklung der Natur zu sein, die „Krone“ der Schöpfung, die keiner Weiterentwicklung bedarf:

„Was ist der Affe für den Menschen? Ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham. Und ebendas soll der Mensch für den Übermenschen sein: ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham.“[4]

Diese Worte richten sich scharf gegen eine anthropozentrische Sichtweise, die den Menschen als Endzweck einer teleologischen Welt betrachtet. Sie wenden sich auch gegen alle Versuche, das Ziel des Menschen in seiner relativen moralisch oder dergleichen gearteten Verbesserung zu sehen. Zarathustras Aussage „Der Mensch soll überwunden werden“ ist also in einer Totalität zu verstehen, die alle bis dahin für menschlich gehaltenen Eigenschaften negiert. Diese Totalität der Überwindung besteht nämlich eben nicht in einer Entwicklung in Richtung eines schon bestehenden Anderen, sondern das Andere soll vom Menschen selbst hervorgebracht werden. Die Überwindung des Menschen bedeutet faktisch das Ende des Menschen und den Beginn von etwas Neuem: dem Übermenschen.[5]

Genau hier liegt die Problematik einer Charakterisierung des Übermenschen: Wenn der Übermensch keine menschlichen Eigenschaften mehr hat, welche hat er dann? Dass er als Ersatz für den Gott gelten soll, dessen Tod Zarathustra verkündet, erweist sich als unplausibel, denn es ist auch Gott und sogar das ganze Konzept Gott, das der Übermensch zusammen mit dem Menschen hinter sich lässt. Zarathustra bleibt nicht beim Tod Gottes stehen, sondern steigt über Mensch und Gott hinweg zum Übermenschen. Die vollkommene Neuartigkeit des Übermensch-Gedankens macht es fast unmöglich, sein Wesen positiv abzugrenzen und ihm bestimmte – letztlich doch immer wieder menschliche – Eigenschaften zuzusprechen. Ernst Benz hat in seinem Buch „Der Übermensch“ darauf aufmerksam gemacht, dass sich bei Nietzsche tatsächlich nur wenige positive Bestimmungen zum Übermenschen finden und ihm in einem Zuge vorgeworfen, den Übermenschen ausschließlich durch die Exklusion christlicher Werte und die krampfhafte Heroisierung entgegengesetzter Eigenschaften zu definieren.[6] Dieser Vorwurf mag berechtigt sein. Doch auch wenn dem Übermenschlichen bei Nietzsche eine genaue Inhaltsbestimmung abgehen mag, ist der Übermensch doch Wesensausdruck eines allem Leben innwohnenden Dranges, etwas über sich hinaus zu schaffen, sich selbst in einer höheren Form zu realisieren. Er ist die Realisierung des Willens zur Macht und Symbol für eine an der Zukunft orientierten Anthropologie.[7] A. Pieper bringt dies mit folgendem Zitat auf den Punkt:

„Im Übermenschen […] bringt sich das Prinzip des Willens zur Macht auf einer höheren Stufe zum Ausdruck. Der seiner selbst bewusst gewordene Mensch erstrebt den Sinn seines Lebens nicht mehr wie der Affe instinktiv, sondern als potenzierter, in sich reflexiver Wille […] Übermensch ist überhaupt keine Person, kein Individuum, sondern der Name für eine Tätigkeit, eine Aktivität des Individuums.“[8]

Hier eröffnet sich ein Blick auf den Übermenschen, der das Problem einer Charakterisierung löst. Der Übermensch ist keine reale Größe. Er ist keine Person, sondern ein Bild für die personifizierte Konzentration aller Lehren Zarathustras. Er ist in höchstem Grade autonom und auf sich selbst bezogen; er braucht keine Überwelt, keinen Gott, kein Jenseits, er hat die Verleugnung und Vernachlässigung des Leibes zugunsten der „Seele“ überwunden und ist wieder mit der Erde verwurzelt. Erst Zarathustra gibt der Erde, dem Irdischen, dem Leiblichen, nach Jahrtausenden der Entleibung[9] ihren Sinn zurück, indem er den Übermenschen zum Sinn der Erde macht.[10] Die Verkündigung des Übermenschen ist ein Aufruf, ein Weckruf. Zarathustras Anliegen ist viel mehr als destruktive Kritik am christlichen Menschen. Es ist gerade nicht ein unerreichbares Ideal, gerade nicht ein Gottesersatz und eine Abwertung des Menschen, die durch eine konstruierte moralische oder anders geartete Aufwertung des Ideals entsteht. Im Gegenteil ist der Übermensch ein starkes Bekenntnis und Ja-sagen zum Menschen, seiner Sonderstellung unter allen Lebewesen, die er durch seine Fähigkeit zur Selbstreflexion hat, aber auch seiner irdischen, tierischen Seite. Er ist sich seiner genealogischen Herkunft – dem Tier – bewusst und bejaht diese Herkunft ebenso, wie er deren Bewusstsein bejaht, die ihn als einziges von allen Tieren auszeichnet. Das Paradigma von Diesseits und Jenseits, der Leib-Seele-Dualismus der traditionellen Metaphysik, der moralische Gegensatz Gut-Böse, alle diese Gegensätze werden überwunden, indem sie durch ein neues Paradigma abgelöst werden: den Übermenschen, der den Willen zur Macht als Triebkraft aller alten Paradigmen erkennt und ihn selbstbewusst an deren Stelle setzt.[11]

[...]


[1] Hillebrand, Bruno: Nietzsche. Wie ihn die Dichter sahen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000. S. 78

[2] Kontinuität meint hier nicht die ununterbrochene Fortdauer eines einmal Bestehenden oder die bloße Wiederholung eines Gedankens, sondern ein produktives Weiterführen eines Gedankens in anderer Form.

[3] Vgl. K. Joisten: Die Überwindung der Anthropozentrizität durch Friedrich Nietzsche. S. 34. Joisten verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff „transanthropologisch“, um zu verdeutlichen, dass Nietzsche nicht nur den Theozentrismus, sondern auch den Anthropozentrismus seiner Zeit durchstößt, um in eine „neue Dimension“ zu gelangen, in deren Zentrum der Übermensch stehen soll.

[4] Nietzsche: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen. Erster Teil. S. 14.

[5] Vgl. Joisten S. 39

[6] Ernst Benz [Hrsg.]: Der Übermensch. Eine Diskussion. Stuttgart: Rhein-Verlag 1961. S. 132: „Nietzsche ist hauptsächlich bemüht, ihn [den Übermenschen] möglichst gründlich […] gegenüber der von ihm zu überwindenden gegenwärtigen Form des Menschen negativ abzugrenzen. Diese Abgrenzung geschieht also gerade nicht in Form einer Beschreibung der neuen Gaben und Fähigkeiten, die Nietzsche von diesem Übermenschen erwartet, sondern in der Subtraktion all derjenigen Eigenschaften, die ihm aufgrund seiner spezifisch antichristlichen Affekte verhaßt sind.“

[7] Vgl. Benz, S. 130

[8] Pieper, Annemarie: „Ein Seil geknüpft zwischen Tier und Übermensch“. Philosophische Erläuterungen zu Nietzsches erstem „Zarathustra“. Stuttgart: Klett-Cotta, 1990. S. 56

[9] Das Wort Entleibung erhält hier eine neue Bedeutung: es ist im Sinne eines Versuchs der Abtötung alles Leiblichen und Sinnlichen im Menschen gemeint.

[10] Vgl. Pieper, S. 57

[11] Vgl. Pieper, S. 63

Ende der Leseprobe aus 13 Seiten

Details

Titel
Nietzsches Übermensch und Rilkes Engel der "Duineser Elegien"
Hochschule
Universität Münster  (Germanistisches Institut)
Note
1,7
Autor
Jahr
2009
Seiten
13
Katalognummer
V310305
ISBN (eBook)
9783668086456
ISBN (Buch)
9783668086463
Dateigröße
453 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
nietzsches, übermensch, rilkes, engel, duineser, elegien
Arbeit zitieren
Sophia Artmann (Autor:in), 2009, Nietzsches Übermensch und Rilkes Engel der "Duineser Elegien", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/310305

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