Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Arthur Schnitzler
3. Dramen von Arthur Schnitzler
3.1 Anatol
3.2 Liebelei
3.3 Reigen
3.4 Der einsame Weg
3.5 Das weite Land
4. Frauenbilder in Schnitzlers Dramen
4.1 Das „süße Mädel“
4.2 Die „Ehebrecherin“
4.3 Die „Künstlerin“
4.4 Die „Dirne“
5. Schluss
1. Einleitung
Die Zeit von 1890 bis 1910 wird auch Fin de Siècle genannt. Der französische Begriff bedeutet übersetzt „Ende des Jahrhunderts“. Er fasst Strömungen wie Décadence (französisch für Verfall, Niedergang, Entartung; „Vorliebe für das künstlich Verfeinerte mit Hang zum Morbiden unter Verwendung von Verfalls- und Untergangsmotiven“; Friedrich 2007:352), Symbolismus (Gegenbewegung zum Realismus) und der Neuromantik (Abwendung von der Gegenwart, Hinwendung zu Sagen und Mythen; Friedrich 2007:356) zusammen und lehnt den Naturalismus (psychischen Zustände des Menschen als Form seiner psychosozialen Natur; Friedrich 2007:334) und Positivismus (die Quelle aller Erkenntnisse sind die durch Beobachtung gewonnenen „positiven“ Tatsachen; Friedrich 2007:337) ab.
Die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg ist geprägt durch den voranschreitenden Zerfall der Donaumonarchie und die Veränderung des Alltags der Menschen: Durch technische und kulturelle Entwicklungen verändert sich das Lebensgefühl nachhaltig. Neue Medien, der Ausbau der Stadtbahnen, die ansteigende Anzahl von Fuhrwerken und Autos, die Errichtung von Fabriken und die damit verbundene Automatisierung der Arbeit beschleunigen das Leben und stürzen viele in eine Sinnkrise (Schlicht 2013:13): Die Zwänge der Gesellschaft stehen dem Streben nach Autonomie und Selbstverwirklichung im Weg. Den Menschen wird bewusst, dass sie austauschbar wären. Die Zeit ist bestimmt durch Zukunftsangst, Resignation, Untergangsstimmung, Melancholie, aber auch Euphorie, Dekadenz und Lebenslust. Aufgrund der Industrialisierung können nun auch Frauen arbeiten; sie emanzipieren sich zunehmend, fordern ihr Recht auf Bildung, Selbstbestimmung und bürgerliche und politische Mitbestimmung ein und stoßen damit auf starken männlichen Widerstand. Diese Zeit wird auch „Krise des Patriarchats“ oder „männliche Identitätskrise“ genannt (Ackerl 1999:18). Die Frauen werden als Bedrohung gesehen: Otto Weininger, ein österreichischer Philosoph, behauptet in seinem Buch Geschlecht und Charakter (1903), dass Frauen geistliche, charakterlose und amoralische Wesen seien; dies unterstellt er auch Juden und Homosexuellen (Haupt et al. 2008:249). Die Frauen wollen aber nicht nur hübsch anzusehen sein, sondern auch selbstständig tätig werden. Doch Frauen, die kreativ sind, werden als Gefahr Frauenbilder in Arthur Schnitzlers Dramen angesehen und ihre Arbeit und Leistung minimalisiert.
In der Literatur werden sie zu „sexuellen Geschöpfen reduziert“ (Ackerl 1999:19). Die Frauenbilder um 1900 teilen sich hauptsächlich in zwei Figuren: Die Femme fatale bezeichnet die sexuell attraktive, dämonische Verführerin, die die Männer beherrscht und sie zu ihren Opfern macht. Der Mann scheint wehrlos gegenüber der Dominanz und Ausstrahlung der Frau, die sich ebenfalls im Zwiespalt zwischen Vernunft und Verlangen befindet. Lassen sie sich auf die Reize der Femme fatale ein, so wird sie dies ins Verderben stürzen. Doch nicht nur die Männer leiden unter den verhängnisvollen Folgen, auch die Frau selbst stürzt sich ins Unglück. Ihr Gegenstück, Femme fragile, wird als rein, schwach und zerbrechlich beschrieben. Der Mann empfindet keinerlei sexuelle Pflichten und verspürt keinen Leistungsdruck. Doch dadurch wirkt sie noch attraktiver ihn. Diese Frauentypen entsprechen nicht der Realität, sondern entspringen der männlichen Phantasie und stellen „die Angst vor der sinnlichen Liebe einerseits, andererseits aber auch das Verlangen nach Erotik und Sexualität“ (Trösch 2011:25) dar. Im Folgenden werden diverse Dramen von Arthur Schnitzler im Hinblick auf Frauenbilder untersucht.
2. Arthur Schnitzler
Arthur Schnitzler wird am 15. Mai 1862 als ältester Sohn des jüdischen Mediziners und späteren Leiters der Allgemeinen Wiener Poliklinik Johann Schnitzler und seiner Ehefrau Luise in Wien geboren. Von 1871 bis 1879 besucht er das Akademische Gymnasium in Wien, woraufhin er auf den Wunsch seines Vaters Medizin studiert. Nach einer Reise nach Amsterdam, die er im Sommer 1879 mit seinem Vater unternimmt, veröffentlicht er seine Eindrücke in der Wiener Medizinischen Presse unter dem Titel „Von Amsterdam bis Ymuiden“. Während seiner Studienzeit erscheinen in der Zeitschrift Der Freie Landesbote das Gedicht „Liebeslied der Ballerine“ und der Aufsatz „Über den Patriotismus“. Nach seinem abgeschlossenen Studium arbeitet Schnitzler ab September 1885 im k.k Allgemeinen Krankenhaus, in der Poliklinik in Wien als Assistenzarzt und später als Assistent in der Klinik seines Vaters. 1886 lernt er die verheiratete Olga Waissnix kennen, die seine Vertraute, Freundin Frauenbilder in Arthur Schnitzlers Dramen und Unterstützerin wird. Von da an publiziert Schnitzler regelmäßig, bis sein Vater ihn in seiner selbst gegründeten Zeitschrift Internationale Klinische Rundschau als Redakteur einstellt. Nach dessen Tod 1893 verlässt sein Sohn die Poliklinik, eröffnet eine Privatpraxis und widmet sich zunehmend der Literatur.
Arthur Schnitzler gilt als einer der Mitbegründer des Zirkels Jung Wien. Hier lernt er u.a. die Schriftsteller Hugo von Hofmannsthal, Felix Salten, Richard Beer-Hofmann, Peter Altenberg und Hermann Bahr, der zusammen mit E.M. Kafka die für den Zirkel wichtige Zeitschrift Moderne Dichtung bzw. Moderne Rundschau gründete, kennen. Zur selben Zeit arbeitet er am Einakter-Zyklus „Anatol“ (1888-1892), den er auf eigene Kosten drucken lässt. Dieser wird stückweise in den Jahren zwischen 1893 und 1916 in Deutschland und Österreich uraufgeführt. Seinen Durchbruch erfährt Schnitzler mit der Uraufführung des Dramas „Liebelei“ am 9. Oktober 1895 im Wiener Burgtheater. Weitere Werke sind: „Reigen“ (Uraufführung 1920 in Berlin), „Der einsame Weg“ (Uraufführung 1904 in Berlin) und „Das weite Land“ (Uraufführung am 14. Oktober 1911 gleichzeitig in Berlin, Breslau, München, Hamburg, Prag, Leipzig, Hannover, Bochum und Wien). Ersteres erregt viel Aufsehen. Durch die für diese Zeit skandalösen Schilderungen, wird Arthur Schnitzler mit antisemitischen Angriffen konfrontiert, woraufhin die Buchausgabe in Deutschland 1904 verboten wird. Das Schauspiel darf erst nach dem Ersten Weltkrieg am 23. Dezember 1920 in Berlin und am 1. Februar 1921 in Wien aufgeführt werden. Doch auch jetzt bleiben die Auseinandersetzungen nicht aus: National-konservative und völkische Gruppierungen hetzen gegen das Stück, den Autor und andere Beteiligten. „Reigen“ sei eine „Sauvorstellung“ und die Zuschauer „menschliche Schweine, Schieber und Dirnen“, die wie die „flüchtenden jüdischen Zuschauer […] Spießruten“ laufen sollten (Schnitzler „Reigen“ 2012:138). Nach diesen Tumulten werden weitere Aufführungen verboten und die Direktion des Berliner Theaters, der Regisseur und Darsteller wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses angeklagt, aber schließlich doch freigesprochen.
Mit seinen diversen Affären, vor allem aus der Künstlerszene, geht Schnitzler offen um. Seine Geliebte Jeanette Heeger prägt den Typus des „süßen Mädels“, Marie „Mizi“ Reinhard nimmt auch nach Ende ihrer Beziehung eine wichtige Position in Schnitzlers Leben ein. 1897 bringt sie den gemeinsamen Sohn tot zur Welt. Im gleichen Jahr stirbt seine Vertraute Olga Waissnix an Krebs. Letztendlich lernt er seine spätere Frau Olga Gussmann im Sommer 1899 kennen, als diese als Patientin in seine Praxis kommt. Zunächst haben sie nur eine Affäre, bis sie ein Jahr nach der Geburt ihres Sohnes Heinrich am 26. August 1903 heiraten; Schnitzler ist bereits 42 Jahre alt. Dem Sohn folgt Tochter Lili 1909. Nach der Scheidung 1921 leben sie bei ihrem Vater in Wien. Am 26. Juli 1928 nimmt sich Schnitzlers Tochter in Venedig mit nicht einmal 19 Jahren das Leben; ein Jahr nach ihrer Hochzeit mit einem zwanzig Jahre älteren italienischen Hauptmann. Seine Trauer zeigt er in Tagebucheinträgen und Briefen u.a. an Clara Katharina Pollaczek (1875-1951; seit 1923 Schnitzlers Geliebte) und seine französische Übersetzerin Suzanne Clauser (1898-1981). Im Alter von 69 Jahren stirbt Arthur Schnitzler am 21. Oktober 1931 an einer Gehirnblutung.
3. Dramen von Arthur Schnitzler
3.1 Anatol
Das Drama Anatol ist zwischen 1888 und 1891 entstanden und enthält einen Prolog von Hugo von Hofmannsthal (1874-1929), den er unter dem Pseudonym „Loris“ verfasst hat. Der Einakter-Zyklus hängt zeitlich nicht zusammen, nur der Protagonist Anatol und dessen Freund und Ratgeber Max spielen in jedem Akt eine Rolle; die weibliche Figur wird stetig ausgewechselt (Schlicht 2013:72).
Der im Juni 1888 entstandene Akt Anatols Hochzeitsmorgen schildert, wie dieser sich von seiner Geliebten Ilona losreißen muss, um noch am gleichen Tag eine andere Frau zu heiraten und damit sein Junggesellendasein zu beenden. Trotz der Hochzeit wird er nicht monogam leben; sein Freund Max macht Ilona Hoffnungen auf eine Weiterführung ihrer Beziehung („Zu ihnen kann er zurückkehren, jene kann man verlassen!“, Schnitzler „Anatol“:88). In Episode (Ende 1888) bittet Anatol Max, seine Erinnerungen an vergangene Liebschaften bei sich zu verwahren. In dessen Anwesenheit öffnet er ein Paket mit Erinnerungsstücken an die Zirkustänzerin Bianca, von der er glaubt, dass sie ihn innig liebte. Als sie zufällig in der Stadt ist und Max besucht, erkennt sie Anatol nicht. Im Sommer 1889 schreibt Schnitzler den Akt Frage an das Schicksal. Hier hat der eifersüchtige Anatol die Möglichkeit seine Geliebte Cora zu hypnotisieren, um ihr ein Treuebekenntnis zu entlocken. Aufgrund seiner Angst vor der Wahrheit, flüchtet er sich lieber in die Illusion ihrer Liebe. Im Juni 1890 folgt Denksteine: Anatol durchwühlt den Schreibtisch von Emilie und findet zwei Edelsteine, die sie von vergangenen Liebhabern bekommen hat. Als Anatol fordert, die Steine wegzuwerfen, weigert sich Emilie, da sie diese aufgrund ihres Wertes und nicht wegen der Erinnerung behalten möchte. Für ihn macht sie sich dadurch zu einer „Dirne“ (Schnitzler „Anatol“:48). In Agonie (Ende 1890) möchte er das Verhältnis zu der verheirateten Else beenden, will aber die Wahrheit über diese Beziehung nicht sehen. Erst als Max ihm erklärt, dass er in der Rolle des Geliebten seine Sehnsucht nicht stillt und Else keine Flucht aus ihrer Ehe sucht, sondern nur eine vergnügliche Zeit mit ihm verbringen will, deutet Anatol durch einen angeekelten Abschiedskuss das Verhältnis um: Else wird von der „Einen“ zu „ irgendeiner“. Auch im Abschiedssouper (November 1891) wird Anatol von einer Geliebten überrascht, als er gerade deren Verhältnis beenden möchte: Er inszeniert den Abschied (er hat bereits eine neue Liebschaft) von Annie in einem Restaurant, da er in seiner Selbstüberschätzung glaubt, dass sie unglücklich sein wird. Doch Annie kommt ihm zuvor und trennt sich ihrerseits wegen eines neuen Liebhabers. Um sich nicht die Blöße zu geben, gesteht Anatol ihr den Betrug mit einer anderen Frau. Tief getroffen beichtet Annie, ihn ebenfalls betrogen zu haben, aber Rücksicht auf ihn nehmen wollte. Bei seinen Weihnachtseinkäufe(n) (21.November 1891) trifft Anatol auf eine ehemalige Geliebte, Gabriele, die inzwischen verheiratet ist und ein bürgerliches Leben führt. Sie hört neidisch den Geschichten über das „süße Mädel“, Anatols momentaner Geliebten, zu. Gabriele beneidet sie, leidet unter ihrem jetzigen Leben und möchte wissen, was die Vorstadtmädchen so attraktiv macht. Anatol antwortet: „[...] man liebt mich nur da draußen […] in der kleinen Welt werd ich nur geliebt; in der großen - nur verstanden [...]“ (Schnitzler „Anatol“:22). Neben Anatols Hochzeitsmorgen hat der Einakter-Zyklus einen alternativen Schluss: In Anatols Größenwahn (Mitte 1891) blickt dieser als alter Mann melancholisch und voll Selbstüberschätzung auf seine Liebschaften zurück und glaubt, noch die gleiche Wirkung auf Frauen zu haben, wie zuvor.
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