Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
Teil I: Migration und Kultur
2. Migration
2.1 Formen der Migration
3. Kultur und Identität
3.1 Independente und interdependente Kulturen
4. Sozialisation und Enkulturation
5. Akkulturationsprozess und deren Formen
6. Auffälliges Verhalten oder Kulturunterschiede?
6.1 Ursachen der Entstehung realitätsangepasster Verhaltensmuster
7. Erstes Fazit
Teil II: Menschliche Grundbedürfnisse
8. Störungen als Problemlösungen
8.1 Psychische Grundbedürfnisse
8.1.1 Bedürfnis nach Bindung und Zugehörigkeit
8.1.2 Bedürfnis nach Kontrolle und Orientierung
8.1.3 Bedürfnis nach Selbstakzeptanz und Selbstwert
8.1.4 Bedürfnis nach Freiheit und Autonomie
8.2 Arbeitsmodelle und Grundbedürfnisse
8.3 Das Erleben und Verhalten. Motivationale Schemata
8.4 Resümee
Teil III: Förderung der Grundbedürfnisse
9. Beziehungsgestaltung als heilpädagogischer Handlungskonzept
9.1 Bindungsrelevantes therapeutisches Vorgehen
9.1.1 Sicherer Bindungsmuster
9.1.2 Unsicher-vermeidender Bindungsmuster
9.1.3 Unsicher-ambivalente Bindungsmuster
9.1.4 Desorganisierte Bindungsmuster
9.2 Befriedigung des Bindungsbedürfnisses in Kindergartenalltag
10. Förderung von Orientierung und Kontrolle
11. Förderung der Autonomie
12. Förderung von Selbstakzeptanz und Selbstwert
13. Resilienzförderung in der Heilpädagogik
13.1 Begriffsdefinition Resilienz
13.2 Resilienz und Entwicklungsaufgaben
13.3 Risikofaktoren
13.4 Schutzfaktoren
13.5 Resilienzförderung
13.5.1 Förderung der Persönlichkeit des Kindes
13.5.2 Erziehungs-und Familienberatung
13.5.3 Prävention in Kindertageseinrichtungen
14. Fazit
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Migration und Integration sind heutzutage in aller Munde, viele gesellschaftliche und politische Debatten werden zu diesem Thema geführt. Rund 81 Mio. Personen leben zurzeit in Deutschland, knapp 16 Mio. Einwohner haben einen Migrationshintergrund, das entspricht einem Anteil von 19,7 % der Gesamtbevölkerung (vgl. Statistisches Bundesamt, 2014, S. 7). Laut Daten des statistischen Bundesamts weist mehr als jeder vierte junge Mensch eine Zuwanderungsgeschichte auf (vgl. BMFSFJ, 2013, S. 85). Der Anteil der Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund unter 15 Jahren lag in Baden-Württemberg je nach Gebiet im Jahr 2013 bei 30% bis über 42% (vgl. Statistisches Bundesamt, 2014, S. 18).
Die Ergebnisse der PISA-Studie schockten im Jahr 2004 die deutsche Öffentlichkeit. Auffallend waren die mangelhaften schulischen Leistungen der Schüler mit Migrationshintergrund. Deutlich wurden dabei überdurchschnittlich hohe Bildungsunterschiede, die sehr eng an die soziale Herkunft der Schüler gekoppelt sind. Aufgrund dessen setzen sich zahlreiche theoretischen Debatten und Forschungen mit vielfältigen Problemlagen der Familien mit Migrationshintergrund und den daraus entstehenden Risikobelastungen auf die Entwicklung der Kinder auseinander. Die Migration bringt jede Menge von Konflikten und sozialen Benachteiligungen mit und stellt somit laut zahlreichen Resilienzstudien ein höheres Risiko für die Entwicklung von psychischen und physischen Auffälligkeiten der Kinder dar. Die vielfältigen Probleme sind vorhanden und dürfen keinesfalls ignoriert werden, jedoch würde die Aufzählung der zahlreichen Problemlagen und Risikofaktoren der Migrantenkinder und deren Familien den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Die Lösung dieser Probleme ist eine wichtige politische Aufgabe und Herausforderung.
Der Staat hat seinerseits ein besonders starkes Interesse an einer gelungenen Integration der Migranten und stellt hohe Erwartungen an die Frühe Förderung, Bildung und Betreuung der Kinder. „Bildung ist der Schlüssel für die Zukunft jedes einzelnen Kindes und der bestimmende Faktor für die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft“ (BMFSFJ, 2013, S. 6). Eine wichtige Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe liegt nach §1 SGB УШ darin, die bestehenden sozialen Benachteiligungen abzubauen bzw. zu verringern und somit die Teilhabechancen der Kinder zu verbessern. Den Kindern mit Risikobelastungen sollen geeignete Gelegenheiten geboten und Voraussetzungen geschaffen werden, damit sie sich trotz zahlreicher Belastungen und Risikofaktoren gesund entwickeln können. Diese Tatsachen stellen hohe Anforderungen an alle Beteiligten, die mit Migrantenkindern und deren Familien arbeiten.
Meine zahlreichen Erfahrungen aus der pädagogischen Praxis bestätigen, dass die Zusammenarbeit mit Familien mit Migrationshintergrund sich oft als besonders schwierig und belastend für alle Beteiligten gestaltet. Die Ursachen vieler Spannungen liegen nicht nur bei den sprachlichen Barrieren, auch unterschiedliche kulturspezifische Erziehungserwartungen der Eltern sind oft die Ursachen vieler Missverständnisse und Konflikte, die auch auf die Kinder sehr stark verunsichernd wirken. Oft erscheinen dem pädagogischen Personal das Denken, die Einsichten und die Verhaltensformen der Familien aus anderen Kulturkreisen als sehr fremd und unverständlich und wird oft als „nicht richtig“ empfunden. Den Kindern vermittelt diese Haltung auf indirekte Art und Weise, dass mit ihrer Herkunft und ihnen etwas nicht stimmt und beeinflusst dadurch ihr Selbstwertgefühl.
Eine der heilpädagogischen Grundregeln nach Paul Moor lautet „Wir müssen das Kind verstehen, bevor wir es erziehen“ (Paul Moor, 1965, S. 15). Für eine gelungene pädagogische/ heilpädagogische Arbeit ist die Auseinandersetzung mit den Unterschieden zwischen der deutschen Kultur und der Kultur der Kinder von großer Bedeutung. Es reicht nicht nur die schönen Bräuche und Sitten anderer Kulturen zu kennen. Verstehen bedeutet, sich mit der Art der Menschen zu Denken und zu Leben auseinander zu setzen, diese mit Respekt und Empathie behandeln, sowie die Bereitschaft zu haben, voneinander lernen zu wollen. Leider gehört die interkulturelle Pädagogik in Deutschland noch nicht zu einem festen Bestandteil in der Ausbildung angehender /-den Erzieher/-innen. Zu dem heilpädagogischen Aufgabenfeld gehört neben der pädagogischen Entwicklungsbegleitung bzw. -förderung auch fachliche Unterstützung und Beratung der pädagogischen Kräfte wie Krippen- oder Kindergartenerzieher/-innen in Fragen der Erziehung und der Zusammenarbeit mit den Eltern. Somit erachte ich es als notwendig, dass die Heilpädagogen ihre interkulturelle Sensibilität erweitern, um im Sinne der Heilpädagogik das Verständnis der Situation, in der sich Migrantenkinder oft befinden, zu erlangen und fachlich kompetente Unterstützung dem pädagogischen Personal zu bieten.
Für die heilpädagogische Arbeit mit Migrantenfamilien ist es wichtig, über einige migrationsspezifische Themen Kenntnis zu haben. Im ersten Teil dieser Arbeit setze ich mich mit dem Thema Migration auseinander, dabei werden Formen und Gründe der Migration erläutert. Der kulturelle Einfluss ist für die Entwicklung eines Kindes sehr prägend, so wird im Weiteren die Auseinandersetzung mit dem Begriff „Kultur“ und deren Bedeutung für kindliche Entwicklung vorgenommen.
Kinder mit Migrationshintergrund stehen oft vor besonderen Herausforderungen, denn neben dem Erlernen der Muttersprache müssen sie auch die deutsche Sprache erlernen. Auch der Alltag der Kinder ist nicht selten durch ein Spannungsfeld zwischen ihrer Familie und Gesellschaft geprägt, deren Werte und Normen sich voneinander unterscheiden. Diese zusätzlichen Entwicklungsaufgaben stellen oft auch eine potenzielle Gefahr für die Kinder dar, Störungen bzw. Auffälligkeiten in sozial-emotionalen und/ oder kognitiven Bereichen zu entwickeln. „Nicht gegen die Fehler, sondern für das Fehlende“ lautet die zweite Grundregel der Heilpädagogik nach Paul Moor. Der Versuch, das auffällige Verhalten des Kindes aus seiner Perspektive zu sehen und zu verstehen, ist notwendig für die heilpädagogische Intervention. Das Verhalten eines Kindes ist ein Ausdruck seiner bisherigen Erfahrungen, seines Denkens und Fühlens und ist somit seine individuelle Lösung mit inneren Konflikten und Spannungen umzugehen. Aus diesem Grund erachte ich als notwendig, sich im zweiten Teil dieser Arbeit mit psychischen Grundbedürfnissen der Menschen auseinanderzusetzen, um nach primären Gründen des abweichenden Verhaltens zu schauen. Der dritte Teil dieser Arbeit beschäftigt sich mit der heilpädagogischen Fragestellung nach Voraussetzungen und Faktoren, die geschaffen werden müssen, um den Kindern mit Migrationshintergrund trotz erschwerter Bedingungen, ein gesundes und glückliches Aufwachsen zu ermöglichen, damit sie sich zu glücklichen, eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten entwickeln können.
Teil I Migration und Kultur
2. Migration
Das Wort Migration kommt aus dem lateinischen (migratio) und bedeutet „Wanderung“ (vgl. Meier-Braun/Weber, 2013, S. 16). J. Oltmer beschreibt Migration als „die auf einen längerfristigen Aufenthalt angelegte räumliche Verlagerung des Lebensmittelpunktes von Individuen, Familien, Gruppen oder auch ganzen Bevölkerungen“ (Oltmer, 2013, in MeierBraun/Weber, S. 31).
Als Migranten wird eine Gruppe von Menschen genannt, die eine eigene oder eine familiäre Zuwanderungsgeschichte hat. Das statistische Bundesamt zählt zu den Personen mit Migrationshintergrund „alle nach 1949 auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland Zugewanderten, sowie alle in Deutschland geborenen Ausländer und alle in Deutschland als Deutsche Geborenen mit zumindest einem zugewanderten oder als Ausländer in Deutschland geborenen Eltemteil“ (Statistisches Bundesamt, 2014, S. 6).
Der Anteil der deutschen Bevölkerung mit Migrationshintergrund liegt zurzeit bei 19,7 %. Die größte Gruppe der Bevölkerung mit Migrationshintergrund stammt aus der Türkei mit einem Anteil von 17,6%, gefolgt von Migranten polnischer Herkunft, mit einem Anteil von 9,6%, und russischer Herkunft mit 7,5%. Die viertgrößte Gruppe bildet die Personengruppe aus Kasachstan mit einem Anteil von 5,7 %. Weitere 4,9 % der Personen mit Migrationshintergrund haben italienische Wurzeln (vgl. Statistisches Bundesamt, 2014, S. 7 ff.).
Nach den Ergebnissen eines Vergleichs der Altersstruktur der Bevölkerung mit und ohne Migrationshintergrund im Jahr 2013 zeigte sich ein deutlicher Unterschied: die in Deutschland lebende Menschen mit Migrationshintergrund sind deutlich jünger als Menschen ohne Migrationshintergrund. So sind knapp 67% der Zuwanderer jünger als 45 Jahre, bei den Personen ohne Migrationshintergrund sind es 44,2%. Der Anteil der in Deutschland lebenden Kinder mit Migrationshintergrund unter fünf Jahren ist deutlich höher, als bei den Kindern ohne Migrationshintergrund (7,3% zu 3,4%) (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, 2013, S. 199).
2.1 Formen der Migration
Hinsichtlich der kulturellen Gruppen in Deutschland gibt es große Unterschiede. So befinden sich manche Migranten nur vorübergehend in Deutschland, meistens setzen sie sich dem Migrationsprozess freiwillig aus. Flüchtlinge sind häufig aufgrund ihrer Verfolgung oder Gewalt gegenüber ihrer Person dazu gezwungen, ihr Heimatland zu verlassen. Im Folgenden wird ein kurzer Überblick über die hierzulande lebende Migrationsgruppen gegeben (vgl. Planet-Wissen, ges. am 20.02.2015).
- Flüchtlinge und Asylsuchende
Im Artikel 16a des Grundgesetzes Bundesrepublik Deutschland steht „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“. Werden Menschen in ihrem Heimatland wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität oder ihrer politischen Überzeugung verfolgt oder müssen sie eine Verfolgung befürchten, so dass die Einschränkung persönlicher Freiheit oder Lebensgefahr besteht, so wird ihnen Asyl gewährt.
- Ausbildung/ Studium
Ausländische Studierende, die sich an den deutschen Hochschulen einschreiben und eine Zulassungsbescheinigung von der Hochschule vorweisen, erhalten für die Anreise nach Deutschland ein Visum. Studierende aus den Staaten der Europäischen Union sowie einiger anderer Staaten (Norwegen, die Schweiz, Australien, Israel, Japan, Kanada und die USA) können auch ohne Visum in Deutschland studieren.
- EU-Binnenmigration
Personen aus den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, die das Recht auf Einreise und Aufenthalt in den Staaten innerhalb der Europäischen Union haben. Sie werden wie deutsche Staatsangehörige behandelt und dürfen einen Arbeitsplatz annehmen. Gründe für Binnenmigration sind häufig ein Arbeitsplatz, Studium oder die Familiengründung.
- Erwerbstätigkeit
Arbeitsmigration in Deutschland hat eine etwas längere Geschichte: die ersten Arbeitsmigranten kamen durch ein Abkommen mit Ländern wie Italien, Türkei, Griechenland, Tunesien und Spanien bereits seit 1955 nach Deutschland. Auch Gast- und Saisonarbeiter aus EU-Ländern haben in Deutschland ein Recht auf Aufenthalt und Arbeitsplatzwähl. Internationale hochqualifizierte Fachkräfte aus Nicht-EU-Staaten erhalten in Deutschland ebenfalls eine Arbeitsgenehmigung.
- Spätaussiedlung
„Deutsche Volkszugehörige“, die infolge des zweiten Weltkrieges außerhalb der Bundesrepublik Deutschland lebten und wieder zurückkehren, werden als Spätaussiedler bezeichnet. Diese Personengruppe erhält bald nach ihrer Einreise die deutsche Staatsangehörigkeit.
3. Kultur und Identität
Deutschland ist durch die Einwanderung vieler Menschen aus unterschiedlichen Herkunftsländern multikulturell geworden. Multikulturalität gehört im Alltag besonders in unseren Städten bereits zur Normalität. Die Entscheidung, ob man abends indisch, italienisch oder mexikanisch essen geht fällt uns nicht immer leicht. Nach dem Feierabend gönnen wir uns eine wohlfühlende Thaimassage oder wir gehen Salsa tanzen. Wir richten unsere Wohnungen in einem skandinavischen, mediterranen oder afrikanischen Stil ein. Befasst man sich mit verschiedenen Kulturen, so stellt man sehr schnell eine Fülle von Unterschieden fest. Die Menschen verschiedener Kulturen unterscheiden sich voneinander nicht nur in ihrem Aussehen und ihrer Art sich zu kleiden, ihrer Herkunft, ihrer Religion und Sprache. Auch kulturell bedingte Vorstellungen vom Leben je nach Herkunft und Lebensbedingungen der Menschen sind unterschiedlich geprägt. Kultur wird nach Thomas als „ein Orientierungssystem, welches sich in der jeweiligen Gesellschaft entwickelt hat“ definiert (Helfrich, 2013, S. 21, zitiert nach Thomas, 2003). Jede Kultur pflegt ihre eigenen Lebens- und Umgangsformen und vertritt ihre kulturspezifischen Wertehaltungen und Normen, die allen Kulturmitgliedern sehr vertraut sind und das Denken und Handeln von jeder einzelnen Person beeinflussen. „Kultur ist sowohl die Basis für dauerhaftes Zusammenleben von Gruppen, Gemeinschaften als auch die Grundlage für das Selbstbild der Individuen, die innerhalb der jeweiligen Gruppe, Gemeinschaft oder Gesellschaft leben“ (Schneider & Lindenberger, 2012, S. 140).
Bereits mit der Geburt beginnt die Sozialisation des Kindes in die kulturelle Gesellschaft, in die es rein geboren wird und die seine soziale, emotionale und moralische Entwicklung beeinflusst. Für die pädagogische bzw. heilpädagogische Arbeit mit Familien anderer Kulturkreise ist es wichtig, sich ein Bild über deren kulturelle Hintergründe zu verschaffen. So werden die Zusammenhänge zwischen den Auswirkungen von Kultur auf die Verhaltensweisen und Einstellungen der Menschen deutlich.
3.1 Independente und interdependente Kulturen
Kulturvergleichende Psychologie untersucht und vergleicht das Erleben und Verhalten der Menschen in verschiedenen Kulturen und dessen Bedeutung für die Entwicklung der Menschen. Sie beschäftigt sich mit der Frage wie das menschliche Handeln, Fühlen und Denken von kulturellen Bedingungen geprägt wird. Es wird zwischen independenten und in- terdependenten Kulturen unterschieden.
Independente oder individualistische Kulturen werden durch die Betonung von Autonomie und Unabhängigkeit deren Mitglieder charakterisiert. Mit Autonomie wird ein „Zustand von Selbständigkeit, Entscheidungsfreiheit oder Selbstbestimmung“ bezeichnet (vgl. Lexikon online, ges. am 05.04.2012). In den individualistischen Kulturen wird das Individuum „als unabhängige, in sich geschlossene, autonome Einheit, mit der besondere Merkmale, die die Einzigartigkeit des Individuums ausmachen, verbunden sind“ gesehen (Leyende- cker & Schölmerich, zitiert nach Markus & Kitayama, in Führer/ Uslucan, 2005, S. 21). Das Individuum strebt in solchen Kulturkreisen mit seinen eigenen Zielen und Vorstellungen nach Eigenständigkeit, die Kompetenzen einer Person sind ausschlaggebend für ihren gesellschaftlichen Rang und ihre Autorität. Deutschland zählt als hoch industrielles Land zu den independenten Kulturen.
Viele nach Deutschland zugewanderte Familien haben ihre kulturellen Wurzeln in kollektivistischen Gesellschaften, in denen eine höhere Priorität der gesamten Gruppe und nicht dem Individuum zugewiesen wird (vgl. Tesch-Römer & Albert, in Schneider & Lindenberger, 2012, S.143). So liegt die Betonung in aus dem Mittelmeer stammenden Kulturen (beispielsweise türkische oder griechische Gesellschaften) auf Verbundenheit und Stabilität der Beziehungen und das Verhalten jeder Person wird „auf die Anderen und deren Einstellungen, Handlungen und Gefühle abgestimmt“ (Leyendecker & Schölmerich, zitiert nach Markus & Kitayama, in Führer/ Uslucan, 2005, S. 21). Die Gruppe ist wichtiger als die eigenen Interessen deren Mitglieder, denn sie bietet ihren Mitgliedern Schutz, Harmonie und Sicherheit. Als Verbundenheit wird in der Psychologie das Gefühl, „einer anderen Person oder einer Personengruppe zugehörig zu sein und in einer gegenseitig vertrauensvollen Beziehung zu stehen“ definiert (Enzyklo.de, ges. am 08.04.2015). Eine starke Verbundenheit und Loyalität der Familie gegenüber hat einen hohen Stellenwert, die hierarchi- sehe Gliederung spielt hier eine wichtige Rolle. Diese Hierarchierollen sind generationsabhängig und klar nach Geschlechtern getrennt. Die Erziehung der Kinder in den kollektivistischen Gesellschaften erfolgt oft im sozialen Umfeld der Familie und ist auf die Erlernung dieser sozialen Rollen gerichtet. Dabei dient die Beziehung der Eltern dem Rollenmodell für männlich-weibliche Beziehungen und der Verteilung der Geschlechterrollen in der Ehe. In industrialisierten Kulturen dagegen erfolgt der Erwerb der, für das Erwachsenenalter, notwendigen Kompetenzen weitestgehend in Institutionen wie Krippe oder Kindergärten (vgl. Helfrich, 2013, S 159).
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B.(männlich) lebt zusammen mit seinen Eltern und beiden Schwestern in einem Mehrfamilienhaus in der Stadt. Die Familie hält sich aus allen Kindergartenaktivitäten wie Elternabende, Elterncafe's oder Festen raus. Auch zu den anderen Familien aus dem Kindergarten pflegen sie keine Kontakte, die Geburtstagseinladungen seiner Kindergartenkameraden ignorieren sie. B. erzählt nie über seine Schwestern, stattdessen berichtet er oft, dass er viele türkische Brüder (Cousins) hat, die er auch mit Stolz als seine Freunde bezeichnet.
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A. (männlich) wird aus dem Kindergarten oft von seiner fünf Jahre älteren Schwester abgeholt. Er gibt ihr klare und deutliche Anweisungen: sie soll ihm seine Schuhe anziehen, sein Spielzeug aufheben etc. Die Erzieher beobachten mit Empörung, wie er seine Schwester immer wieder mit den Füßen tritt. Sie lässt es zu und begründet ihre Haltung mit Worten: „Er darf das, das macht mir nichts aus“.
Deutliche Kulturunterschiede bestehen an den Erwartungen Erwachsener den Kindern gegenüber. Der Wunsch der Familie nach vielen Kindern ist bei Mittelmeerfamilien oft funktional, Großfamilien bedeuten einen gegenwärtigen höheren Status in der Gesellschaft. Die hohe Anzahl der Kinder richtet sich ebenfalls auf die später zu erwartende Altersversorgung durch erwachsene Kinder (vgl. Kagitcibasi, Sunar, Georgas, in Nauck &Schönpflug, 1997, S. 145 ff.).
Ein weiteres Merkmal der interdependenten Kulturen ist der häufig praktizierte autoritäre Erziehungsstil. Durch direkte Anweisungen üben die Eltern ein starkes Maß an Kontrolle über das Verhalten des Kindes aus und erziehen es dadurch zum Gehorsam. Unter Berücksichtigung der Lebensumstände und Lebensbedingungen der, meistens aus dörflichen Gemeinschaften stammenden Kulturen, garantiert der familiäre Zusammenhalt das Überleben. Aus diesem Grund kann ein solcher Erziehungsstil, „in dem parentale Autorität sowie die Wertschätzung von Respekt und Hierarchie durch emotionale Wärme und Unterstützung balanciert sind, angemessen und entwicklungsfördernd sein“ (vgl. Leyendecker & Schöl- merich, in Führer/ Uslucan, 2005, S. 22-23). Kinder in individualistischen Kulturen werden bereits sehr früh zu Selbständigkeit und Autonomie erzogen. Bereits im Kleinkindalter werden die Kinder nach ihren Wünschen und Vorstellungen gefragt. Aus diesen Gründen sind bereits bei kleinen Kindern deutliche kulturellbedingte Verhaltensunterschiede vorhanden, die beispielsweise am Umgang Erwachsenen gegenüber oder an der Art und an den Inhalten ihrer Spiele zu beobachten ist (vgl. Helfrich, 2013, S. 155-159).
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Förderung der Autonomie und der Selbstbestimmung der Kinder ist im Kindergartenalltag sehr wichtig. Jeden Morgen treffen sich alle Kinder zu einer Kinderkonferenz. Auf die Frage „Was hast du heute vor?“ lernen die Kinder ihre eigenen Ideen und Vorstellungen zu formulieren, zu verhandeln und diese selbständig zu gestalten (Leitziel aus Kinderhauskonzeption)
Weitere Unterschiede zwischen den beiden kulturellen Prototypen lassen sich an Gefühlsregungen und Emotionen erkennen. Es wird zwischen „selbstbezogenen“ Emotionen, die individuelle auf die eigene Person gebundene Bedürfnisse und Fähigkeiten betreffen und „fremdbezogenen“ Emotionen, die sich auf das soziale Umfeld richten, unterschieden. So werden in kollektivistisch orientierten Kulturen besondere persönliche Leistungen eher als unangenehm und peinlich empfunden, und lösen weniger persönlichen Stolz aus (vgl. Helfrich, 2013, S. 112).
Somit unterscheidet sich eine Kultur nicht nur durch Länderzugehörigkeit, Sprache oder religiösen Orientierungen, auch die Einstellungen und Verhaltensweisen ähneln dem kulturellen Kontext, der als „zentraler Organisator“ für das Zusammenleben betrachtet wird. Zufriedenheit und das Wohlergehen der Mitglieder einer Kultur erfordert von jedem einzelnen Individuum bestimmte Anpassungsleistungen (vgl. Borke & Keller, 2014, S. 14). Kultur wird somit zur Basis „für dauerhaftes Zusammenleben von Gruppen, Gemeinschaften und Gesellschaften als auch die Grundlage für das Selbstbild der Individuen, die innerhalb der jeweiligen Gruppe, Gemeinschaft oder Gesellschaft leben“ (Tesch-Römer & Albert, in Schneider & Lindenberg, 2012, S. 140).
4. Sozialisation und Enkulturation
Sozialisation beschreibt den Prozess, in dem das Individuum lernt sich in seiner Umwelt zu orientieren und zu handeln. Dieser lebenslange Lernprozess ereignet sich in allen gesellschaftlichen Situationen, in denen der Mensch sich bewegt. Die Einflüsse verschiedener Sozialisationsinstanzen auf ein Individuum können sehr unterschiedlich und sogar widersprüchlich sein. Die im Laufe des Sozialisationsprozesses gemachten Erfahrungen beeinflussen sich gegenseitig und sind bedeutend für die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit (vgl. Joas, 2007, S. 140 ff.).
Die Primärsozialisation ist die intensivste Phase des kulturellen Lernens und findet überwiegend in der Familie statt. Während dieser Phase werden die Grundbausteine für die späteren Lernprozesse im sozialen Bereich gelegt, wie beispielsweise die Grundlagen für Werte und Normen, kulturspezifischen Einstellungen und Verhaltenserwartungen (vgl. Hobmair, 2012, S. 93). Diese kulturellen Modelle bestimmen die Sozialisationsziele der Eltern, also deren Vorstellungen bezüglich der Entwicklungsergebnisse ihrer Kinder. Hinter diesen Zielen verbergen sich teils bewusste, teils unbewusste kulturellbedingte Vorstellungen und Überzeugungen, die die Eltern für das Erreichen der Ziele haben. Diese Sozialisationsziele und Vorstellungen beeinflussen das Verhalten der Eltern und den Rahmen, den sie für ihre Kinder schaffen, mit dem Ziel, die Kinder auf das Leben in der Umwelt, in der sie aufwachsen, vorzubereiten.
So setzen beispielsweise afrikanische Mütter ihre Kinder bereits in den ersten Monaten in einen Plastiktopf, um auf diese Weise den Kindern so früh wie möglich das Sitzen und etwas später das Gehen beizubringen. So sollen die Kinder bereits früh in der Lage sein, ihre Familie zu unterstützen. Deutsche Mütter neigen eher dazu, ihr Kleinkind nach seinen eigenen Wünschen für die Gestaltung eines gemeinsamen Nachmittages zu fragen, um so ihr Kind zu einem eigenständigen Individuum mit eigenem Willen zu erziehen. Auf diese Weise übernehmen die Kinder im alltäglichen Austausch mit ihrer Umwelt unbewusst deren kulturelle Botschaften (vgl. Keller, 2011, S. 24 ff).
Die Normen und Wertevorstellungen, die für das Zusammenleben in einer Kultur notwendig sind, werden verinnerlicht, gemeinschaftsspezifische Verhaltensweisen und Regeln gelernt und in weiteren Instanzen der lebenslangen Sozialisation, wie Kindergarten, Schule, Arbeitsfeld immer wieder eingeübt, weiter verstärkt oder verändert. Dieser Prozess wird als Enkulturation bezeichnet. Enkulturation ist durch den alltäglichen Austausch innerhalb einer Kultur gekennzeichnet und wird im Laufe der persönlichen Entwicklung von einem
Individuum unbewusst und unsystematisch angeeignet (vgl. Schneider, Lindenberger, 2012, S. 141 f.).
5. Akkulturationsprozess und deren Formen
Die Familie hat für jeden einzelnen Menschen einen besonderen und sehr bedeutsamen Stellenwert, in der Familie werden einem Kind wichtige Werte und Normen vermittelt, nach denen der Mensch größtenteils auch im Erwachsenenalter lebt. Die kulturelle Heterogenität der Familien mit Migrationshintergrund ist sehr vielfältig. Die Familien unterscheiden sich nach den Herkunftsländern, nach religiösen und traditionellen Überzeugungen und Orientierungen, nach Bildungsstand, beruflichen Situation, nach Milieuzugehörigkeit und nicht zuletzt nach Familiengröße und ihrer Organisationsform. Auch die familiären Biographien, Migrationsgründe und -erfahrungen, Integrationsprozesse, sowie die Aufenthaltsdauer und die damit verbundene unterschiedliche Perspektiven in Deutschland sind für alle Familienmitglieder sehr prägend und familiär individuell. Jedoch teilen die Familien mit Migrationshintergrund auch mehrere gemeinsame Erfahrungen. Viele von ihnen haben ihre alte Heimat hinter sich gelassen, oft in der Hoffnung ihre Lebensumstände verbessern zu können und verloren dadurch ihr vertrautes Netzwerk. Aufgrund ihrer sprachlichen und finanziellen Barrieren ist der Aufbau neuer Netzwerke oft erschwert (vgl. Leyendecker & De Houwer in Keller, 2011, S. 183 ff.).
Wie bereits beschrieben, stellen kulturelle Unterschiede zwischen den Herkunftsländern und dem Aufnahmeland Deutschland, mit denen sich die Familien auseinandersetzen müssen, eine zusätzliche sehr große Herausforderung dar. Migration ist eine Chance für die Identitätsentwicklung der Menschen und deren interkulturellen Kompetenzen, sie ist aber auch mit vielen Verunsicherungen bezüglich der eigenen Werte Vorstellungen verbunden und verlangt viele Veränderungen vom Individuum ab. Für den Prozess des Hineinwachsens in eine fremde Kultur wird in der Wissenschaft der Begriff Akkulturation verwendet. Akkulturationsprozesse gestalten sich bei Menschen sehr individuell und sind oft von bereits oben beschriebenen Aspekten abhängig (vgl. Erll, Gymnich, 2013, S. 63 ff.).
Im Folgenden wird ein kurzer Überblick über mögliche Formen des Akkulturationsprozes- ses gegeben, deren Kenntnis in der Arbeit mit Familien mit Migrationshintergrund unverzichtbar ist (vgl. ebd., S. 69 ff):
- Integration
Das Individuum strebt nach der Herstellung einer Balance zwischen seiner kulturellen Identität und der neuen Kultur. So werden beispielsweise die Kommunikations- und Interaktionsregeln der neuen Kultur zunächst bewusst angeeignet (z.B. das Erlernen neuer Sprache oder neuer Begrüßungsformen). Die Konflikte aufgrund unterschiedlicher Normen und Werte Vorstellungen sind gleichzeitig auch eine Chance für beide Parteien eine eigene Identität weiterzuentwickeln.
- Assimilation
Die eigene kulturelle Identität wird verdrängt. Stattdessen wird versucht sich an die Wertevorstellungen der Aufnahmegesellschaft anzupassen bzw. diese nachzuahmen. Diese Form stellt eine potenzielle Gefahr für die Entwicklung innerer Konflikte und Spannungen dar, die im schlimmsten Fall eine Krise der Identität auslösen können.
- Separation
Das Individuum hält sich an seiner Ursprungskultur fest, die neue Kultur wird abgelehnt. Es bestehen kaum Kontakte außerhalb der eigenen Kultur, das Individuum weigert sich, die Sprache der Aufnahmegesellschaft zu lernen.
- Marginalität
Eigene kulturelle Identität geht verloren und es erfolgt kein Zugang zu der neuen Kultur. Diese Form entsteht durch eine sehr starke Verunsicherung aufgrund der Migrationserfahrungen.
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