Leseprobe
Inhalt
I. Einführung
II. Intertextualität in der Literaturwissenschaft
1. Bachtin
2. Kristeva
3. Markierung von Intertextualität
III. Intertextualität in Tom Stoppards Travesties
1. Sekundäre Bezüge
2. Shakespeare - Tzara
3. Joyces Ulysses
4. Wildes The Importance of Being Earnest
IV. Bewertung der intertextuellen Bezüge
Literaturverzeichnis:
I. Einführung
Stoppard konfrontiert in seinen Dramen das Problem der Verselbständigung von >Textualität< als einer das Integrationsvermögen der Menschen überfordernden und ihre Wirklichkeitsansprüche dementierenden Metawelt kultureller Zeichen. Die einzelnen sind der Interpretationsmacht der Zeichen ausgesetzt, ohne ihren existentiellen Interessen kommensurable Bedeutungsmöglichkeiten in ihnen entziffern zu können.[1]
Mit diesen stark philologisch angehauchten Worten wird der thematische Gehalt des Stoppardschen Œuvres in Seebers Englische Literaturgeschichte beschrieben. Diese Definition bezieht sich im Besonderen auf das (bei Seeber) nachfolgend angesprochene Drama Rosencrantz and Guildenstern Are Dead aus dem Jahr 1966. Darin macht Stoppard zwei Nebenfiguren aus Shakespeares Hamlet zu Protagonisten, die sich in Anlehnung an Becketts Waiting for Godot in einer sinnentleerten Welt darum bemühen, die Zeichen, denen sie begegnen, zu entziffern in der Hoffnung, auf diese Weise ihrer Existenz Bedeutung zu verschaffen. Stoppard benutzt also in seiner Tätigkeit als Dramatiker etablierte literarische Texte und schafft mit ihrer Hilfe im Stil der postmodernen Pastiche und Collage eigenständige Werke, die jedoch den Bezug zu den Prätexten nicht verbergen können und wollen. Im Vergleich zum Schaffen eines Edward Bond, das bei Seeber „politisches Drama“ genannt wird, werden Stoppards Stücke als „spiel-ästhetische Dramen“ bezeichnet:[2] „[Stoppard] nimmt die Welt der Texte und den gesamten semiotischen Überbau der Kultur als Spielmaterial, mit dem er die Relativität von Wahrheitsansprüchen erkundet.“[3] Diese vermeintlichen Wahrheitsansprüche werden dann, wie im Falle von Rosencrantz and Guildenstern Are Dead, problematisiert und als bloßer Schein entlarvt: Es gelingt den beiden entlehnten Figuren nicht, die Zeichen richtig zu deuten und selbst da, wo sie augenscheinlich vernunftorientiert handeln, besiegelt der Zufall ihr Schicksal.
Auch in den späteren Werken greift Stoppard immer wieder auf literarische Quellen zurück und macht sie zu strukturellen und inhaltlichen Mustern für seine eigenen Dramen. Sehr exzessiv geschah dies bei der Abfassung von Travesties (1974), dessen Titel schon andeutet, daß es sich hier um eine Bearbeitung von Quellenmaterial handelt. Ursprünglich sollte sich das Stück lediglich auf die historische Tatsache stützen, daß sich der sowjetrussische Revolutionär Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, und der rumänische Dadaist Tristan Tzara im Jahr 1917 in Zürich aufhielten, ohne daß sie jedoch zueinander in Beziehung standen. Stoppard erfuhr dann aber, daß auch der irische Schriftsteller James Joyce infolge des Krieges seine Zelte in der schweizerischen Stadt aufgeschlagen hatte und dort an seinem Roman Ulysses arbeitete. Bald kam ein weiterer Umstand hinzu: Joyce war 1918 Geschäftsführer der in Zürich gegründeten English Players, die eine Aufführung von Oscar Wildes The Importance of Being Earnest vorbereiteten. Aus dem Engagement des britischen Konsularangestellten Henry Carr, der Algernon Moncrieff verkörperte, entwickelte sich ein Rechtsstreit, der sich auch auf Joyces Ulysses auswirkte. Carr erwarb nämlich ungebeten Kleider für seine Rolle, forderte den Kaufpreis bei den English Players ein und traf infolgedessen bei Joyce auf taube Ohren. Nach mehreren Gerichtsverhandlungen mit unterschiedlichem Ausgang beschloß Joyce, seinem nunmehr erklärten Feind Carr in seinem Roman ein literarisches Denkmal zu setzen und verewigte ihn als „Private Carr.“ Indem nun Stoppard das Wildestück und Henry Carr in sein Drama integrierte und mit dem anderen Material verband, entwickelte er ein Netz von Zitaten, Anspielungen, Querverweisen et cetera, das in der Weltliteratur seinesgleichen sucht.
Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, die intertextuellen Bezüge in Travesties möglichst vollständig zusammenzutragen. Zu diesem Zweck erscheint es ratsam, eine Definition des Begriffes „Intertextualität“ vorauszuschicken, da sowohl der Terminus selbst als auch ein dahinterstehendes Konzept nicht eindeutig zu bestimmen sind. „Intertextualität“ war von Beginn an nicht klar umrissen, hat in der Folge die verschiedensten Bedeutungsnuancen aufgenommen und hat, ausgehend vom Bereich der Literaturwissenschaft über die Semiotik bis hin zur Kulturwissenschaft, vielfach Beachtung gefunden. Es ist deshalb nötig, die zugrundeliegende Problematik kurz zu besprechen und ein einigermaßen vertretbares Fundament zu finden, von dem aus das Stopparddrama auf seine Intertextualität hin analysiert werden kann.
II. Intertextualität in der Literaturwissenschaft
Intertextualität, Sammelbez. für die Wechsel- und Referenzbeziehungen e. konkreten lit. Textes zu e. Vielzahl konstitutiver und zugrundeliegender anderer Texte, Textstrukturen und allg. semiot. Codes, auf die er durch Zitate, Anspielungen u.ä. verweist und damit e. enges Netz von textl. Beziehungen ausbreitet. Typ. Großformen lit. I. sind Plagiat, Imitation, Adaption, Parodie, Travestie und Übersetzung/Nachdichtung. Auch Wechselbeziehungen zur Bildkunst werden als I. verstanden.[4]
Dies ist die Definition von Wilperts, die sich auf den rein literaturwissenschaftlichen Gebrauch des Begriffes bezieht. Doch auch sie inkorporiert die Tatsache, daß „Text“ nicht nur als geschriebenes literarisches oder außerliterarisches Dokument verstanden werden muß, sondern eine Vielzahl anderer Zeichenstrukturen bedeuten kann. Das Problem, mit dem sich die Literaturwissenschaft der vergangenen Jahrzehnte konfrontiert sah, war die zunehmende Ausweitung des Textbegriffes, der schließlich alles als „Text“ ansah. Damit wurde „Intertextualität“ im ursprünglichen Sinn ad absurdum geführt, weil, wenn alles Text ist, alles theoretisch auf alles verweisen kann. Diese Problematik soll im Folgenden noch einmal näher erläutert werden.[5]
1. Bachtin
Das Phänomen Intertextualität in der Literatur ist keine Erfindung der Moderne. Es war schon in der Antike bekannt (zum Beispiel bei Vergil, der sein Epos in Anlehnung an Homer schrieb) und findet sich in allen Epochen und Kulturen, die Literatur hervorgebracht haben. Als wissenschaftliches Forschungsgebiet wurde es jedoch erst in unserem Jahrhundert entdeckt. Dies begann vor allem mit der Arbeit des Russen Michail Bachtin, der seine Schriften zur Literatur bereits in den zwanziger und dreißiger Jahren verfaßte. Seine gegen alle Ideologie ankämpfenden Theorien machten ihn jedoch zum Feind der Sowjetregierung, die ihn 1929 dann auch zum langjährigen Exil in Kasachstan verurteilte.
Bachtins zentrales Denkgebäude ist das der Dialogizität (er selbst verwendete den Begriff nie), den er in seiner Beschäftigung mit den Romanen Dostojewskijs und Rabelais’ entwickelte. Demnach setzt sich ein Autor neben der Wirklichkeit auch mit der vorgefundenen Literatur auseinander: Er kämpft für oder gegen sie, benutzt, kombiniert sie, überwindet ihre Widerstände oder läßt sich von ihr unterstützen. Letztlich entscheidend ist dann aber für das Werk „der primäre Kampf mit der Wirklichkeit von Erkennen und Handeln.“[6] Bachtin setzt Intertextualität im engeren Sinn also an die zweite Stelle. Viel wichtiger noch ist die antagonistische Auseinandersetzung zwischen den einzelnen Texten. Dialog bezeichnet in diesem Zusammenhang die offene Auseinandersetzung divergierender Standpunkte, während Monolog für die Bekräftigung von Tradition und Autorität steht. Diese beiden Begriffe überträgt Bachtin auf Gesellschaft, Sprache und Kunst.
Der Roman ist, so Bachtin, in einer Gesellschaft und Zeit entstanden, die dialogisch geprägt waren. Dialogisch sind auch Schaubuden, Jahrmarktsbühnen, Maskerade und Karneval, da es dort erlaubt ist, Sprachen, Dia- und Soziolekte nachzuäffen und Masken jeglicher Art zu tragen.
Bachtin entwickelte in seiner selbst erstellten „Metalinguistik“ das Konzept der Polyphonie in der Literatur. Dabei unterscheidet er grundsätzlich zwischen Erzähler- und Figurenrede. Daraus ergibt sich eine Auffächerung des literarischen Textes in verschiedene Arten des „Wortes“: So kann sich ein Satz direkt auf einen Zusammenhang beziehen (direkte Rede) oder aber auf ein anderes Wort (Erzählerkommentar). Bachtin definiert drei Arten des Prosawortes: (1) Das direkt und unmittelbar gegenständlich gerichtete Wort; (2) das dargestellte/objekthafte Wort (Erzähler) und (3) eine Überlagerung von (1) und (2), das zweistimmige oder polyphone Wort. Die dritte Form ist gegeben, wenn ein „Wort“ zwei Intentionen beinhaltet, die direkte Intention der sprechenden Person und die gebrochene Intention des Autors (die Rede, die ein Autor einer seiner Figuren in den Mund legt, ist „ fremde Rede in fremder Sprache “.[7] ). Polyphonie ist ein Kennzeichen ironischer Stilisierung, der Parodie, Polemik u. ä.
In diesem Konzept Bachtins äußert sich außerdem eine deutliche Sprachskepsis: Eine konkrete Aussage hat keine absolute Bedeutung mehr, da jeder außersprachliche Gegenstand verschiedene Bezeichnungen besitzt.
Mit Bezug auf Intertextualität ist festzustellen, daß Bachtins Untersuchungen zum Roman in der Hauptsache werkimmanent verlaufen. Er analysiert Polyphonie innerhalb einzelner Werke. Zwar enthält ein guter polyphoner Roman auch intertextuelle Bezüge zu bereits existenten Werken (da er ja idealerweise die Gesamtheit der sozioideologischen Stimmen seiner Epoche bündeln soll), doch sind diese lediglich Bestandteil des jeweiligen Kulturschatzes und verdienen keine besondere Beachtung. Bachtins Dialogizität ist damit eher intra- als intertextuell.
2. Kristeva
Julia Kristeva begeisterte sich hauptsächlich für die Rigorosität, mit der Bachtin Kritik an der Erstarrung der sowjetischen Kulturpolitilk und der Kanonisierung des sozialistischen Realismus übte. Der von ihr geprägte Begriff „Intertextualität“ ist generell eine Erweiterung dessen, was Bachtins Dialogismus ausmacht. Für Kristeva ist jeder literarische Text ein Mosaik aus Zitaten, denn das literarische Wort orientiert sich am Korpus der Vergangenheit und der Gegenwart. Zudem erfuhr der Textbegriff selbst eine enorme Ausweitung: alles, zumindest jedes kulturelle System und jede kulturelle Struktur, ist Text. Diese Auffassung von „Text“ steht auch hinter Kristevas Definition von „Intertextualität“:
Nous appellerons INTERTEXTUALITÉ cette inter-action textuelle qui se produit à l’intérieur d’un seul texte. Pour le sujet connaissant, l’intertextualité est une notion qui sera l’indice de la façon dont un texte lit l’histoire et s’insère en elle.[8]
Damit ist kein Text mehr nicht intertextuell und Intertextualität benennt somit kein besonderes Merkmal bestimmter Texte oder Textklassen, sondern ist allein mit der Textualität bereits gegeben. Daraus ergibt sich für Kristeva weiterhin eine Dekonstruktion der Subjektivität: „Der Autor eines Textes wird damit zum bloßen Projektionsraum des intertextuellen Spiels, während die Produktivität auf den Text selbst übergeht.“[9] Damit wird auch das Werk seiner Individualität beraubt, wird zum „bloßen Abschnitt in einem universalen, kollektiven Text entgrenzt.“[10] Es entsteht ein „Universum der Texte“, in welchem die einzelnen Texte in einem regressus ad infinitum immer auf andere und dadurch prinzipiell auf alle anderen Texte verweisen. Dies stellt eine Grundvorstellung des Poststrukturalismus und der Dekonstruktion dar. Diese kritischen Schulen haben sich insbesondere der Analyse von modernen und postmodernen Werken verschrieben, da diese die Krise der Subjektivität besonders deutlich reflektieren. Es ist außerdem nicht verwunderlich, daß zahlreiche postmoderne Texte im Horizont einer globalen Intertextualitätstheorie entstanden sind (so zum Beispiel Derridas Glas).
Kristevas Theorie sah sich schnell starker Kritik ausgesetzt, die vor allem auf die ideologischen Züge ihrer Arbeit abzielte. Man versuchte statt dessen, Intertextualität „als systematischen Oberbegriff für die verschiedenen Formen konkreter Bezüge zwischen Einzeltexten“[11] zu definieren, was einer Rückbesinnung auf traditionelle Termini wie Parodie, Travestie, Zitat, Anspielung, Übersetzung, Adaption gleichkommt. Aufgrund der entstehenden Diskussion sah sich Julia Kristeva gezwungen, den Begriff Intertextualität in ihrer Nomenklatur durch „transposition“ zu ersetzen.
[...]
[1] Hans Ulrich Seeber (Hrsg.), Englische Literaturgeschichte (Stuttgart: 1993), p. 373.
[2] ibid., p. 372.
[3] ibid., p. 372f.
[4] Gero v. Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur (Stuttgart 71989).
[5] Das Folgende ist stark an Ulrich Broich /Manfred Pfister, Intertextualität: Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien (Tübingen 1985), Kapitel I, „Konzepte der Intertextualität“, angelehnt.
[6] Michail Bachtin, Die Ästhetik des Wortes, ed. R. Grübel (Frankfurt/M. 1979); zit. nach Broich/Pfister, a.a.O., p. 2.
[7] Bachtin, a.a.O.; zit. nach Broich/Pfister, p. 4.
[8] Julia Kristeva, „Narration et transformation“, Semeiotica, 1 (1969); zit. nach Broich/Pfister, p. 7.
[9] Broich/Pfister, p. 8.
[10] ibid., p. 9.
[11] ibid., p. 10.