Das Wagnis in der Jugendphase

Entwicklungstheoretische Überlegung zu einer pädagogisch initiierten Praxis des Wagens


Masterarbeit, 2012

90 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

ABBILDUNGSVERZEICHNIS

TABELLENVERZEICHNIS

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS

1 EINLEITUNG

2 BEGRIFFSBESTIMMUNG
2.1 BEGRIFFSBESTIMMUNG IN BISHERIGEN FORSCHUNGSARBEITEN
2.1.1 Abenteuer - Wagnis - Risiko im Sport (Schleske)
2.1.2 Das Wagnis im Sport (Neumann)
2.1.3 Sinnsuche im Wagnis (Warwitz)
2.1.4 Schlussfolgerungen für die Bestimmung des Wagnisbegriffs
2.2 ETYMOLOGIE DES WAGNISBEGRIFFS
2.3 HEUTIGES WORTVERSTÄNDNIS
2.4 ABGRENZUNG ZU SYNONYM VERWENDETEN BEGRIFFEN
2.4.1 Risiko
2.4.2 Abenteuer
2.5 DETERMINIERUNG DES WAGNISBEGRIFFS
2.5.1 Möglichkeit und Unmöglichkeit einer kontextübergreifenden Wagnisdefinition
2.5.2 Universelle konstitutive Wagnismerkmale der Grundbedeutung„kühnes Unternehmen“
2.5.3 Abschließende Bemerkungen

3 ENTWICKLUNGSTHEORETISCHE ÜBERLEGUNGEN ZUM WAGNIS INDER JUGENDPHASE
3.1 JUGEND
3.2 ENTWICKLUNG
3.2.1 Paradigmen zur Konzeptualisierung von Entwicklungstheorien
3.2.2 Auswahl einer geeigneten Entwicklungstheorie
3.3 DAS KONZEPT DER ENTWICKLUNGSAUFGABEN
3.3.1 Definition und Charakteristik von Entwicklungsaufgaben
3.3.2 Vernetzung von Entwicklungsaufgaben
3.3.3 Gültigkeit der Entwicklungsaufgaben
3.3.4 Kritik am Konzept der Entwicklungsaufgaben
3.4 WAGNIS UND ENTWICKLUNG - ERARBEITUNG EINER FRAGESTELLUNG
3.5 ARGUMENTATIONSRAHMEN ZUR FORMULIERUNG EINER THESE
3.6 UNTERSUCHUNGSVORGEHEN

4 STRUKTURMERKMALE DES WAGNISSES IM KONTEXT JUGENDSPEZIFISCHER ENTWICKLUNGSAUFGABEN
4.1 ABLÖSUNG VON DEN ELTERN
4.1.1 Deutung der Ablösung als Krise oder Entwicklungsaufgabe
4.1.2 Ergebnisdarstellung mit Bezug zum Strukturmodell des Abenteuers
4.2 PEER-GROUP
4.2.1 Neue Leute kennenlernen
4.2.2 Auswahl von Freunden und Aufrechterhaltung von Freundschaften
4.2.3 Jugendliches Risikoverhalten
4.2.4 Verortung jugendlichen Risikoverhaltens innerhalb der Entwicklungsaufgabe„Peer“
4.2.5 Risikoverhalten als spezifisches Bewältigungsmuster der Entwicklungsaufgabe„Peer“
4.2.6 Die Schattenseite jugendlichen Risikoverhaltens und der Bezug zum Wagnis
4.2.7 Zusammenfassung der Ergebnisse der Entwicklungsaufgabe„Peer“
4.3 VORBEREITUNG AUF EINE BERUFLICHE KARRIERE
4.3.1 Strukturelle Entwicklungslinien im Berufs- und Bildungssystem
4.3.2 Struktur der Entwicklungsaufgabe Berufsvorbereitung
4.3.3 Zusammenfassung der Ergebnisse der Entwicklungsaufgabe„Beruf“
4.4 UNTERSUCHUNGSFAZIT

5 DAS WAGNIS UND DIE PÄDAGOGIK
5.1 ALLGEMEINE GEDANKEN ZUR PÄDAGOGISCHEN RELEVANZ DES WAGNISSES
5.2 WERTZUSCHREIBUNG UND SELBSTREFLEXION
5.3 DAS ABWÄGEN IM KONTEXT PSYCHOLOGISCHER RISIKOFORSCHUNG

6 DISKUSSION UND AUSBLICK

LITERATURVERZEICHNIS

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Paradigmen der Konzeptualisierung von Entwicklungstheorien

Abbildung 2: Entwicklungsaufgaben nach Havighurst

Abbildung 3: Bedeutsamkeitseinschätzungen der Entwicklungsaufgaben von männlichen und weiblichen Jugendlichen im Vergleich 1985 und 1997

Abbildung 4: Der Prozess der Anforderungswahrnehmung und der Kompetenzentwicklung als Lösen von angenommenen Entwicklungsaufgaben

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Die Steuerung der Entwicklung durch das sich entwickelnde Individuum

Tabelle 2: Synopsis der Risikoverhaltensdimensionen

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1 Einleitung

Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. So lautet ein altes deutsches Sprichwort, welches auch noch in der heutigen Umgangssprache in verschiedensten Zusammenhängen gebraucht wird. In ihm kommt die Haltung zum Ausdruck, dass nur derjenige, der bereit ist einen Einsatz zu riskieren, auch eine Aussicht auf einen Gewinn hat. Was genau mit diesem Gewinn gemeint ist beziehungsweise worauf sich der Nichtgewinn bezieht, bleibt undefiniert.

Der Sportwissenschafter, Psychologe, Philologe und Pädagoge SIEGBERT A. WARWITZ (2001) konkretisiert den Sinngehalt des Sprichworts in seiner Theorie vom „Leben in wachsenden Ringen“. Ohne Wagnis gibt es keine (Weiter-)Entwicklung, so lautet seine These (ebd., S. 286; 2006, S. 101). Wer sich nicht wagt, der stagniert in seiner Entwicklung (2001, S. 286). Die Argumente für seine These bezieht WARWITZ (2001) überwiegend aus anthropologischen und teleologischen Betrachtungen zum menschlichen Dasein. Obwohl er den Entwicklungsbegriff explizit verwendet, begründet er seine These ohne entwicklungs- theoretische Bezüge. Insofern erscheint es interessant, den Wagnis-Entwicklungs- Zusammenhang aus entwicklungstheoretischer Perspektive zu überprüfen.

Die Neugier für eine Überprüfung dieses Zusammenhangs entspringt einem praxisbezogenen Interesse, wie auch schon der Titel dieser Arbeit vermuten lässt. Das Motiv dieser Arbeit ist ein praktischer Nutzen, die Anwendung des Wagnisses in einer pädagogischen Praxis mit Jugendlichen. Doch kann die Praxis, zumindest eine professionelle, ohne angemessene theoretische Begründungen nicht legitimiert werden. Dementsprechend soll das praktische Interesse in dieser Arbeit ein wenig an den Rand gestellt werden. Zwar wurde bereits von NEUMANN (1999) ein praktischer Ansatz vorgelegt, allerdings bezieht sich dieser ausschließlich auf den (Schul-)Sport. Die Begründungen beschränken sich jedoch überwiegend auf postulierte positive Persönlichkeitswirkungen, die bisher nicht hinreichend nachgewiesen wurden (NEUMANN 1999, S. 156).

Deshalb soll in dieser Arbeit der Versuch unternommen werden das Wagnis entwicklungstheoretisch zu begründen. Das Ziel dieser Arbeit ist, aus entwicklungstheoretischer Perspektive nachzuvollziehen, inwiefern das Wagnis in der Entwicklung Jugendlicher eine Relevanz besitzt.

In der vorliegenden Arbeit soll im ersten Schritt ein detaillierte und möglichst präzise Begriffsbestimmung erfolgen. Dabei soll der Begriff zum einen aus etymologischer Perspektive beleuchtet werden. Zum anderen sollen Bezüge zu bisherigen Veröffentlichungenhergestellt werden, welche den Themenbereich explizit enthalten oder aber tangieren.

Nachdem der Wagnisbegriff determiniert wurde, sollen die zwei Grundbegriffe Jugend und Entwicklung definiert und anschließend aufeinander bezogen werden. Besonders der Entwicklungsbegriff weist facettenreiche und unterschiedlich pointierte Bedeutungen auf und beherbergt teilweise kontradiktorische Theorien. Dementsprechend muss eine zum Wagnis kompatible Entwicklungstheorie ausgewählt werden, anhand welcher ein Zusammenhang zwischen jugendlicher Entwicklung und dem Wagnis untersucht werden soll.

Zur Praxis des Wagens soll am Ende ein knapper pädagogischer Bezug erfolgen. Eine fundierte pädagogische Begründung einer Praxis des Wagens kann in dieser Arbeit jedoch nicht realisiert werden. Dies müsste in Form einer gesonderten Fragestellung geschehen. Insofern soll diese Untersuchung als entwicklungstheoretische Begründungsvorlage für eine pädagogische Fundierung einer Praxis des Wagens dienen.

2 Begriffsbestimmung

Das Wagnis ist ein eher altertümlicher Begriff, der im heutigen Sprachgebrauch aber durchaus noch auftaucht. Sucht man nach Literatur, welche den Wagnisbegriff bzw. den selben Wortstamm enthält, so finden sich ganz unterschiedliche Sinnzusammenhänge mit denen das Wagnis verknüpft wird. Eine Auswahl verschiedener Titel literarischer Werke aus den unterschiedlichsten Literaturgattungen veranschaulicht deutlich die Verschiedenartigkeit der Wortverwendung: „ Das Wagnis der Liebe “ , „ Vom Wagnis, die Welt in Worte zu fassen “ , „ Neue Wege wagen: Ungewöhnliche Lösungen für gewöhnliche Krisen “ , „ Wagen, wägen, wirtschaften “ , Fremde Pfade - ferne Gestade: Wagnis und Abenteuer der großen Entdeckungen “ , „ Wagnis-, Risiko- und Extremsport “ , „ Risiko und Freiheit: Hazard - das Wagnis der Verwirklichung “ , „ Das Wagnis Mensch zu sein “ , „ Das Wagnis der Freiheit: Christen unter dem Halbmond “ , „ Wagnis 21: Visionen, Hoffnungen “ , „ Aller Glaube ist Wagnis “ , „ Erlebnis - Wagnis - Abenteuer: Sinnorientierungen im Sport “. Diese dargestellten Titel sind nur ein minimalistischer Auszug und keinesfalls als ein umfassendes Abbild der verschiedenen Gattungen, in denen der Wagnisbegriff auftaucht, anzusehen.

Weiterhin fällt allein schon durch die Betrachtung dieser Titel auf, dass der Wagnisbegriff oft in einem Atemzug mit den Worten Abenteuer und Risiko genannt wird. Eine synonyme Verwendung dieser Worte lässt sich nicht nur in der Alltagssprache, sondern auch vermehrt in älteren wissenschaftlichen Arbeiten, welche Themen innerhalb dieses Begriffsfeldes bearbeiten, feststellen (vgl. u. a. SEIDELMANN 1970, S. 298-302; RAAPKE o. J., S. 132-154; ANDRECS 1987, S. 124-126; HECKER 1989, S. 328). Aber auch in neueren Arbeiten findet teilweise noch eine bedeutungsgleiche Begriffsverwendung statt, obwohl die Begriffe Wagnis, Abenteuer und Risiko im Zuge sportpädagogischer und erlebnispädagogischer Untersuchungen vermehrt zum Thema gemacht werden (vgl. u. a. Koch 1994, S. 23-35; BRUCKMANN, K. & M. 1997, S. 244-254; GOERING 2007, S. 41; MEHR 2007, S. 53; KOLLER 2007, S. 99-103).

Um das Wagnis aus entwicklungstheoretischer und pädagogischer Perspektive zu beleuchten, ist es deshalb umso notweniger den Begriff vorerst präzise zu definieren. Theoretische sowie praktische Überlegungen zur Bedeutung und zum Nutzen wagenden Handelns in der Jugendphase machen erst dann Sinn, wenn der Wagnisbegriff vorab eindeutig determiniert wurde. Eine Klärung dessen, was genau ein Wagnis ist, durch welche Eigenschaften es charakterisiert wird und wie es sich von synonym verwendeten Begriffen abgrenzt, ist essenziell, um den Forschungsgegenstand zu konkretisieren und ihn unmissverständlich beschreiben zu können.

Bevor am Ende dieses Kapitels auf Grundlage differenzierter Betrachtungen ein möglichst präziser, verständlicher und abgrenzbarer Wagnisbegriff konstituiert werden soll, empfiehlt es sich, die Annäherungsweisen bisheriger Forschungsarbeiten, welche das Wagnis aus der Perspektive des pädagogischen Nutzens bzw. der entwicklungsbezogenen Sinnhaltigkeit untersuchen, zu betrachten. Es soll aufgezeigt werden, welche Untersuchungen den Begriffsbestimmungen der Autoren zu Grunde lagen, wie ihr Wortverständnis dementsprechend einzuschätzen ist und welche Schlussfolgerungen sich daraus für die Begriffsbestimmung in dieser Arbeit ergeben. Bezug genommen werden soll im Folgenden auf die Autoren Schleske, Neumann und Warwitz, welche als Wegbereiter der Wagnisforschung angesehen werden.

2.1 Begriffsbestimmung in bisherigen Forschungsarbeiten

2.1.1 Abenteuer - Wagnis - Risiko im Sport (Schleske)

SCHLESKE (1977, S.7), der sich vor nun mehr 35 Jahren als Pionier dem Begriffsfeld Abenteuer - Wagnis - Risiko zuwandte, ließ sich in seiner Arbeit vor allem von sportdidaktischen und sportpädagogischen Interessen leiten, welche sich gleichzeitig aber auch auf freizeit- und sozialpädagogische Fragestellungen richteten. In einer inhaltsorientierten Analyse des Erlebnis- und Handlungsfeldes betrachtet er die Begriffe Abenteuer, Wagnis und Risiko separat. Allerdings geht er schon von Anfang an von einem einheitlichen Erlebnisphänomen aus, durch welches sich die Begriffe undifferenziert denken lassen, da „[...] Wahrnehmungen, Handlungen, Empfindungen und Situationsmerkmale [..] in einem systematischen Zusammenhang bzw. in einem funktionalen Verhältnis [...]“ zueinander stehen (ebd., S. 32).

Den Wagnisbegriff determiniert SCHLESKE (ebd., S. 39) im ersten Schritt durch Bezugnahme auf drei ausgewählten Autoren. Zwei der drei (Heidegger und Jaspers) beschreiben das Wagnis aus philosophischer und einer (Schwarz) aus erziehungstheoretischer Perspektive. SCHWARZ (1968, S. 153-158) wendet sich in seiner Untersuchung zu den Kurzschulen Kurt Hahns in einem gesonderten Kapitel zum „Wagnis und Abenteuer“ gezielt dem Wagnisbegriff zu und grenzt diesen vom Abenteuerbegriff ab - allerdings ohne konkrete Bezugnahme zum etymologischen oder alltagssprachlichen Wortverständnis. HEIDEGGER (1950, S. 277-320) verwendet den Wagnisbegriff in seinem Aufsatz „Wozu Dichter?“, in welchem er eine existenzphilosophische Deutung eines Gedichtes von Rainer Maria Rilke vornimmt, sehrhäufig, fast schon exzessiv. SCHLESKE (1977, S. 39) erkennt in Heideggers Betrachtungen vor allem eine existenzielle Bedeutung sowie Charakteristika der Gefahr, Ungesichertheit und Offenheit im Wagnis. Auf weitere Merkmale des Wagnisses bei Heidegger geht er jedoch nicht ein (vgl. Kap. 2.5). Weiterhin lässt Schleske den etymologischen Bezug, den HEIDEGGER (1950, S. 281) zum Wagnis herstellt, unbeachtet, obwohl der Charakter des Wagnisses dadurch hätte weiter ausdifferenziert werden können. Schleskes kurzer Verweis auf Jaspers lässt den Wagnisbegriff nicht konkreter werden (SCHLESKE 1977, S. 39). Ohnehin erscheint der Bezug zu JASPERS (1956, S. 226-232) für die Begriffsbestimmung wenig dienlich, da dieser den Wagnisbegriff in seinen existenzphilosophischen Überlegungen nur beiläufig verwendet und nicht ersichtlich wird, was genau er unter einem Wagnis versteht.

Im zweiten Schritt bezieht SCHLESKE (1977, S. 39f.) sich auf Slusher, welcher existenzphilosophische Überlegungen auf sportliche Handlungen in Unsicherheit, Gefahr oder Angst überträgt und diesen eine „Tugend des Weges, nicht des Ziels“ zuschreibt. An dieser Stelle nimmt Schleske genau genommen aber keine Begriffsbestimmung mehr vor, da er auf Grundlage seines schon festgelegten Begriffsverständnisses (existentielle Bedeutung des Wagnisses), Risikosportarten und andere existenzbedrohende Bewegungshandlungen als Wagnisse beschreibt.

Im letzten Schritt versucht er im Verweis auf Bollnow eine semantische Trennung zwischen Wagnis und Risiko herzustellen (ebd., S. 41f.) Am Ende seiner Analyse des Begriffsfeldes „Abenteuer - Wagnis - Risiko“ kommt er aber zu dem Schluss „ [...] ,daß die Begriffe nicht hinreichend scharf unterschieden werden können, zumal verschiedene Autoren [...] dieselben Sportarten als Beispiele zur Illustration charakteristischer Handlungsstrukturen und Situationsmerkmale anführen“ (ebd., S. 44f.). Daraufhin verwendet SCHLESKE (vgl. u.a. ebd.,S. 48f.) die Begriffe in seiner weiteren Untersuchung auch nicht trennscharf, mitunter sogar synonym. Er legt sein Augenmerk primär auf den Erlebniswert und die motivationalen Aspekte und subsumiert wagnishafte, abenteuerliche und risikoreiche Handlungen unter den übergreifenden Begriff des Abenteuerverhaltens (ebd., S. 107f.). Er behält diese Perspektive auch in späteren Veröffentlichungen bei (ebd., 1996, S. 7).

So ist resümierend festzustellen, dass die Arbeit von Schleske auf einige spezifische Aspekte des Wagnisses hinweist. Allerdings bleibt der Wagnisbegriff unscharf und wenig ausdifferenziert. Schleskes Verständnis vom übergreifenden Abenteuerverhalten macht aber deutlich, dass auch in Arbeiten, welche den Risiko- oder Abenteuerbegriff als Leitbegriff verwenden, Erkenntnisse zu erwarten sind, welche auf das Wagnis bezogen werden können.

Nach der Begriffsdeterminierung sollen auch diese Arbeiten mit einbezogen werden.

2.1.2 Das Wagnis im Sport (Neumann)

NEUMANN (1999a, S. 9) definiert das Wagnis ausgehend vom Abenteuerbegriff, der sich im Deutschen Wörterbuch der Gebrüder Grimm auf den Wagnisbegriff bezieht. In einer knappen Abhandlung nimmt er eine Abgrenzung zum Risikobegriff vor, die fast ausschließlich auf eigenen Überlegungen beruht und den Wagnisbegriff letztendlich gegenüber dem Risikobegriff favorisiert (ebd., S. 10). Zur Bestimmung dessen, was genau ein Wagnis ist, bezieht NEUMANN (ebd.) sich lediglich auf den Duden sowie auf die Autoren Schwarz und Bollnow, auf welche sich auch schon Schleske bezog. Auch in späteren Veröffentlichungen (2002, 2003a, 2003b, 2011) baut NEUMANN auf dieser Definition auf. Da Neumann das Wagnis in seinen Arbeiten von Anfang an ausschließlich auf den sportlichen Kontext bezieht, bleibt auch sein Wagnisverständnis stark sportbezogen. Er grenzt sein Konzept vom „Wagnis im Sport“ gegenüber anderen Bezeichnungen wie Risikosport, Extremsport, Abenteuersport und Erlebnissport ab, da er diese Begrifflichkeiten für „unscharf“, „missverständlich“ oder „ungenau“ hält und hebt den „pädagogisch relevanten Kern“ hervor, welcher wagendem sportlichen Handeln zugrunde liegt (ebd. 2003a, S. 25f.). Der Sportsoziologe HÜBNER (2000,S. 131) kritisiert Neumann für die strikte Trennung von Risiko und Wagnis und unterstellt ihm das pragmatische Motiv, den Wagnisbegriff nur deshalb zu verwenden, um „[...] einen zu konkurrierenden Bezeichnungen und Ansätzen deutlich abgrenzbaren Begriff [..]“ zu besitzen. Auch wenn diese Unterstellung ein wenig überzogen klingt, so macht sie doch auch darauf aufmerksam, dass Neumann sein pädagogisches Konzept auf einen Begriff gründet, welcher scheinbar nicht ausreichend und nachvollziehbar definiert und begründet wurde. Neumann verengt den Wagnisbegriff, ohne Bezüge zur Etymologie des Wortes sowie zu Kontexten, in denen der Wagnisbegriff gebraucht wird, herzustellen. Sein Wagnis- Verständnis fußt auf dürftigen semantischen Bezügen und auf überwiegend eigenen Bedeutungszuschreibungen, die eine Pädagogisierung des Wagnisses sicherlich vereinfachen, jedoch nicht zwingend im Einklang mit einem differenzierteren Wagnisverständnis stehen.

NEUMANN (1999a, S. 63f.) betrachtet das Wagnis später auch noch aus anthropologischer Perspektive und bezieht sich, wie Schleske, auf Heidegger und Jaspers. Allerdings liest er die existenzphilosophischen Arbeiten eher mit der Brille der Begründbarkeit, Sinnhaftigkeit und Funktionalität wagenden Handelns, als mit dem Blick, welcher das Wagnis als solches in seiner Spezifik und Charakteristik zu erkennen versucht. Sein Wagnisverständnis hat er schon am Anfang seiner Arbeit festgelegt und so bezieht er Heideggers Ausführungen auch nicht in die Wagnisdefinition mit ein. Peter Wusts Gedanken zum Wagnis greift NEUMANN (1999a, S. 62) ebenfalls auf, jedoch bezieht er diese auch nicht in sein Begriffsverständnis mit ein. WUST (1937, S. 295) beschreibt das Wagnis der Weisheit1 als eine „[...] Tat, aber eine Tat, die ganz und gar von einer höheren Kraft getragen ist und sich willig von ihr tragen lässt.“ Er verwendet den Begriff unmissverständlich in einem religiösen Kontext und versteht das Wagnis zwar als eigenständige Entscheidung, nicht aber als eine selbsttätige, aus eigenem Vermögen zu bewerkstelligende Leistung. Für NEUMANN (1999a, S. 11) ist die Bewältigung der unsicheren Situation mit Hilfe der eigenen Fähigkeiten das konstitutive Element im sportlichen Wagnis. Dementsprechend versteht er Vertrauensaufgaben, bei denen man sich beispielsweise in die Arme der Gruppe fallen lässt, nicht als (sportliche) Wagnisse (ebd., S. 94). Eine Externalisierung der Kontrolle schließt NEUMANN (ebd.) für ein sportliches Wagnis aus, da das Kontrollgefühl eine wichtige Voraussetzung sportlichen Handelns ist.

Somit wird eine Diskrepanz deutlich. Wust, beschreibt die Abgabe der Kontrolle an eine höhere, göttliche Instanz. Selbst wenn eine Existenz dieser Instanz grundsätzlich abgelehnt wird, so werfen Wusts Überlegungen in Opposition zu Neumanns Wagnisverständnis doch eine Frage auf. Muss ein Wagnis immer die eigenständige Bewältigung einer unsicheren Situation beinhalten, oder kann die bewusste Entscheidung für die Unsicherheit in Kombination mit einer Externalisierung der Kontrolle (den Ausgang der Situation in die Hände anderer legen), auch als Wagnis bezeichnet werden? Spitzt man diese Unstimmigkeiten im Wagnisverständnis nun weiter zu, so ergibt sich eine Fragestellung, welche für die Begriffsbestimmung und -fixierung in dieser Arbeit von Bedeutung ist: Lässt das Wagnis sich kontextübergreifend definieren oder sind gewichtige Wagniselemente abhängig vom jeweiligen Bezugsrahmen?

Die Beantwortung der Frage soll an dieser Stelle noch einmal zurückgestellt werden. Vorerst soll die jüngste Arbeit zum Wagnis hinsichtlich der Art und Weise der Begriffsbestimmung untersucht werden.

2.1.3 Sinnsuche im Wagnis (Warwitz)

Wesentlich weiter gefasst nähert sich WARWITZ dem Wagnisbegriff an. Er stellt etymologische Bezüge her und betrachtet wagendes Handeln in unterschiedlichen gesellschaftlichen Handlungsfeldern (2001). Schlüssiger und umfassender als Schleske und Neumann, grenzt er das Wagnis vom Risiko ab und bezieht in seine Argumentation sprachliche Divergenzen in der erweiterten Wortbildung zwischen den Begriffen mit ein (ebd., S. 15-17). Die Semantik des Wortes leitet er aus der Entstehungsgeschichte des Wortes ab sowie über den Bezug zu Bollnow. Von der Wortbestimmung ausgehend entwickelt WARWITZ (2001, S. 22-25) eine eigene Wagnistheorie und illustriert diese im Strukturgesetz des Wagens, welches an das Prinzip der Superkompensation aus der Trainingswissenschaft erinnert.

Um die Charakteristik des Wagnisses weiter zu veranschaulichen beschreibt er „Wege des Wagens“ in unterschiedlichen Kontexten (ebd., S. 49-96). Mit Ausnahme eines Zitates von Albert Schweitzer, welcher seinen Entschluss als Urwaldarzt fernab jeglicher Zivilisation zu arbeiten als „Wagnis“ bezeichnet, geht Warwitz dabei nicht vom Wagnisbegriff selbst aus. Er definiert diese Handlungen vielmehr auf Grundlage seines etymologisch verwurzelten Begriffsverständnisses als Wagnisse. Alltagssprachliche Analysen zur Begriffsbestimmung bezieht er nicht mit ein, obwohl er beispielsweise feststellt, dass das Wort „Verwegenheit“ im Mittelalter noch als bewundernswerte Tugend galt. Heute hingegen stellt es vielmehr abfällige Bezeichnung für einen Draufgänger dar (ebd., S. 17f.). WARWITZ (2001, S. 14) sieht eine Begriffsbestimmung, welche sich an der Alltagssprache orientiert, als problematisch an, da beispielsweise „[...] mangels gedanklichen Unterscheidungsvermögens unterscheidungsfähige Nachbarbegriffe häufig zu gleichsinnigen Synonyma [...]“ verwandelt werden.

Trotz der ausführlichen und umfassenden Analyse des Wagnisbegriffs sind einige Unklarheiten und Diskrepanzen in seinem Wagnisverständnis erkennbar. Im ersten Kapitel seines Buches skizziert WARWITZ (2001, S. 1) das Handeln eines zehn Monate alten Kindes, welches sich „wagt“ die Handsicherung aufzugeben und einzelne Schritte frei zu gehen. Er bezeichnet diesen kindlichen Lernschritt als Wagnis (ebd.). Ein paar Seiten später betont er allerdings, dass sich der wagende Akteur „[...] bewusst und freiwillig einer Bedrohung aussetzt“ (2001, S. 16). Kritisch hinterfragt werden muss an dieser Stelle, ob ein Kind diesen Alters die Gefahr und Bedrohung eines potentiellen Hinfallens tatsächlich schon bewusst erkennen kann. Entsprechende Belege führt Warwitz nicht an und es wird auch nicht deutlich, ob er (Klein-)Kindern tatsächlich ein Bewusstsein für die Gefahren bei ihren

Explorationsschritten zuerkennt. Weiterhin ist fraglich, ob ein Kind bewusst eigene Gründe für das Wagnis in die Waagschale wirft und sie abwägt (WARWITZ 2001, S. 16). Das Vorhandensein einer Sinnperspektive, welche Warwitz dem Wagenden für das Eingehen einer bedrohlichen Situation zuschreibt, kann bei (Klein-) Kindern auch angezweifelt werden.

Am Ende seiner Darstellung verschiedener Wagnisbereiche weist WARWITZ (2001, S. 97) darauf hin, dass die Umgangssprache nicht zwischen „passiv erlittenen“ und „aktiv gestalteten“ Ereignissen unterscheidet. Er beanstandet eine Gleichsetzung von Free-Fall- Tower2 - und Fallschirmsprung-Erfahrung und betont, dass sich gerade der Sport durch eine „[...] eigenverantwortliche, bewusst initiierte und gesteuerte Selbstbewegung“ auszeichnet“ (ebd.). WARWITZ versteht das „Wagen“, als etwas aktiv, mit eigenen Fähigkeiten zu Bewältigendes. Allerdings legt er keine genauen Kriterien fest, anhand derer sich „echte“ aktiv gestaltete Wagnisse von passiv erlittenen „Scheinwagnissen“ unterscheiden lassen. In einem später veröffentlichten Beitrag, in dem er didaktische Anregungen für eine Wagniserziehung im Schulunterricht gibt, führt er zwei Praxisbeispiele an, welche ganz offensichtlich nicht durch die eigenverantwortliche, selbsttätige Bewältigung einer riskanten Situation gekennzeichnet sind (WARWITZ 2008, S. 35 f.).3 Der eigene Handlungsanteil des „Wagenden“ ist bei den angeführten Beispielen gering. Die Bewältigung der unsicheren Situation hängt zum größten Teil vom Handeln derjenigen Personen ab, denen sich der Akteur anvertraut.

Dieser auffallende Widerspruch in seinem Wagnisverständnis ist möglicherweise dadurch erklärbar, dass Warwitz die Praxisbeispiele innerhalb eines Konzeptes zur Wagniserziehung anbringt. Warwitz erwähnt in einigen Veröffentlichungen, dass gerade Kinder und Jugendliche zu einem kompetenten Wagnisumgang erst erzogen werden müssen (2001, S. 286; 2006, S. 111; 2008, S. 28). Vermutlich stellen die eben erwähnten Übungsbeispiele für Warwitz eine Art Vorstufe zu selbstverantwortlich aufgesuchten und durchgeführten Wagnissen dar, um die Wagniskompetenz der Kinder sukzessive aufzubauen. Ob dieser Erklärungsversuch zutrifft oder nicht, ist an dieser Stelle aber auch sekundär. Vielmehr wurde deutlich, welche Ambivalenzen sich in Verbindung mit den als Wagnis ausgelegten Handlungen ergeben können und wie diffizil eine exakte Begriffsbestimmung ist.4

2.1.4 Schlussfolgerungen für die Bestimmung des Wagnisbegriffs

In der kritischen Betrachtung der Vorgehensweisen verschiedener Wagnisforscher zur Definition des Wagnisbegriffs lassen sich sowohl quantitative und als auch qualitative Unterschiede erkennen. Die jüngste Arbeit zum Wagnis (Warwitz), hebt sich durch eine umfassendere und differenziertere Begriffsbestimmung von den vorangegangenen Werken (Schleske und Neumann) ab. Das Fundament für die Determinierung des Wagnisses soll deshalb, wie bei Warwitz, die etymologische Perspektive bilden. Zudem sollen in der Primärliteratur (Heidegger, Wust, Bollnow, Schwarz) verwendete Wagnisattribute dargestellt und diskutiert werden. Dies betrifft auch jene, welche im bisherigen Wagnisdiskurs noch keine Beachtung fanden. Aktuellere Veröffentlichungen zur Wagnisthematik sollen ebenfalls in die Begriffsbestimmung mit einbezogen werden, insofern neue Gedanken dem Wortverständnis dienlich sind. Um zusätzliche Trennschärfe zu erhalten, soll der Begriff auch von synonym verwendeten Begriffen abgegrenzt werden. Den Ambivalenzen und Unstimmigkeiten bei der Klassifikation bestimmter Situationen als Wagnis, soll außerdem nachgegangen werden. Am Ende des Kapitels sollen konstitutive Wagnismerkmale elaboriert und in Form einer Auflistung verdichtet dargestellt werden. Eine derartige Übersicht ist in bisherigen Untersuchungen zum Wagnis nicht enthalten.5

2.2 Etymologie des Wagnisbegriffs

Der Begriff Wagnis (älter auch Wagnuß oder Wagnüß) ist eine frühneuhochdeutsche Ableitung zu „wagen“ (GÖTZE & MITZKA 1957, S. 15). Das Wort „wagen“ (mhd. „wägen) wurde im Verlauf seiner Wortgeschichte in vier verschiedenen Bedeutungen verwendet (GRIMM & GRIMM 1922, S. 389-422). Die verschiedenen Verwendungen des Wortes erfolgten im Sinne eines:

a) sich hin und her Bewegens, Schwankens, Wackelns; Bsp.: „sam ain schef, daß hin und 2 Begriffsbestimmung her waget in dem waßßer.“ (K. v. Megenberg 108, 12),
b) Wiegens, als Ableitung von Wiege (ahd. „waga“); Bsp.: „do lag er in der wiegen, das ich in offt gewaget“,
c) Wägens, Schätzens; diese Bedeutung taucht erst im späteren mhd. Sprachgebrauch auf und stellt eine teilweise Vermischung mit der vorausgegangenen Sinnbedeutung dar; Bsp.: „dö hieg er sine schulde wagen“ (Kolmarer Handschrift 141, 37),
d) ungewissen Ausgangs, etwas aufs Spiel Setzens, kühne Unternehmens oder Gefahr Laufens.

Dadurch, dass dem Begriff das Wort „wäge“ (Waage) zugrunde liegt, hat sich aus seiner anfänglich physischen eine abstrakte Bedeutung entwickelt (GÖTZE & MITZKA 1957, S. 15). Über Wendungen wie „in die wäge setzen“ entstand später das Wort „wägen“ (ebd.).

Die zuletzt angeführte Wortbedeutung, welche vorwiegend dem heutigen Sinn des Wortes „wagen“ entspricht, fand vor dem 12. Jahrhundert keinerlei Verwendung. Der erste Beleg für diese Wortbedeutung ist in Konrads Rolandslied6 zu finden („ich will selbe den lip min wägen“). Allerdings ist das Wort anfänglich noch nicht allgemein verbreitet (GRIMM & GRIMM 1922, S. 394). Der Ursprung liegt in der mittelhochdeutschen Dichtersprache und der Begriff bezog sich zunächst nur auf die Bedeutung eines „ungewissen Ausgangs“ und „etwas aufs Spiel setzen“. Erst in der späten neuhochdeutschen Zeit stellten sich die Bedeutungen „kühn unternehmen“ und „Gefahr laufen“ ein. Die Bedeutungszusammenhänge in denen das Wort verwendet wurde, bezogen sich häufig auf etwas Existentielles. Campe verwendet in seinem Wörterbuch Beispiele wie: „sein Leben wagen“, „sich wagen“, „sich mitten unter die Feinde wagen“, „das Allerletzte wagen“, „sein Vermögen für jemand wagen“ oder auch den Ausdruck „Wagen sie nicht zuviel“ (CAMPE 1811, S. 537).

Der Ursprung des Substantivs „Wagnis“ wird in der Kanzleisprache vermutet (GRIMM & GRIMM 1922, S. 495). Mit Beginn des 16. Jahrhunderts ist ein vermehrter Gebrauch in der Prosasprache festzustellen, während sich in der Dichtersprache noch keinerlei Verwendung des Worts belegen lässt (ebd.). Es erscheint vielmehr und vorzugsweise in bestimmten fest ausgeprägten Wendungen (ebd.). Das Wort schloss sich im Gebrauch an die Hauptbedeutung von „wagen“ an und bedeutete „das aufsspielsetzen und, absolut gebraucht, das gefährdetsein, die unsichere lage, die gefahr“ (ebd.). Ein Beispiel für den absoluten Gebrauch findet sich bei RÜCKERT. : „wir aber wollen eben, wo auf dem spiele steht so viel, uns in die wagnis nicht begeben“ (ges. ged. 4, 371 zit. n. ebd.). Seit Mitte 17. Jahrhunderts wird das Wort in den Wörterbüchern angeführt (GRIMM & GRIMM 1922, S. 495). Eine Aufnahme in die allgemeine Sprache erfolgte allerdings erst um 1800 (GÖTZE & MITZKA 1957, S. 15). Goethe gebrauchte das Wort seit 1803 und scheint fortan eine besondere Vorliebe dafür entwickelt zu haben (GRIMM & GRIMM 1922, S. 496). Auch Schiller, Tieck, Körner bedienten sich des Wortes. Die Anwendung in der damaligen Dichtersprache war allerdings hauptsächlich an die Bedeutung eines „gefährliche[n] Unternehmen[s]“ gebunden (ebd.). Ältere Bedeutungen setzten sich fort (ebd.).

Die grobe Wortbedeutung ist klar und wurde von unterschiedlichen Sprachenwissenschaftlern übereinstimmend herausgearbeitet (vgl. u. a. CAMPE 1811; GÖTZE & MITZKA 1957; GRIMM & GRIMM 1922, S. 496). Trotzdem lassen sich bei der detaillierten Betrachtung der Begriffsverwendung differenzierte Attribute erkennen, welche mit dem Wagnis in Verbindung gebracht werden. Einige Beispiele aus der Sprachgeschichte sollen die Art und Weise der unterschiedlichen Wortverwendung zum Abschluss der etymologischen Betrachtung noch einmal illustrieren.

Rückert benutzt das Wort im Sinne einer unsicheren Lage: „ wir aber wollen eben, wo auf dem spiele steht so viel, uns in die wagnis nicht begeben “ (GRIMM & GRIMM 1922, S. 496). Schiller verbindet den Wagnisbegriff in Maria Stuart sogar mit einer Zwangslage oder - handlung: „ In welches Wagnis reiszt ihr mich hinein! “ (ebd.). Bei Körner erscheint das Wagnis zweckbezogen: „ und wohl erinnr' ich mich des einen tags, als ihr denältern bruder auf der jagd mit wagnisz eurer selbst gerettet “ (ebd.). Ein Wagnis, welches sich nicht nur auf eine Person bezieht, findet sich bei Schlosser: „ die Franzosen muszten sich also zu dem fast unmöglichen versuch entschlieszen, sich durch die feinde durchzuschlagen. kaum hatten sie dieses wagnisz zu unternehmen begonnen, als ... “ (ebd., S. 497). Ein Gebrauch im negativen Sinne findet sich beispielsweise bei Goethes „Italienischer Reise“: „ er war sicher, dasz jenes bild, welches eine phantastische liebe und sehnsucht hervorgerufen hatte, nun, durch das entgegenwirkende wagnisz von hasz und verachtung, unmittelbar in eine fratze sich verwandeln würde “ (ebd.).

2.3 Heutiges Wortverständnis

Um die heutige Wortbedeutung von „wagen“ und „Wagnis“ zu analysieren, soll zunächst der Duden als allgemein anerkanntes Normenwerk für die deutsche Sprache konsultiert werden.

Hier wird „wagen“ mit zwei Hauptbedeutungen beschrieben.7 Die erste Bedeutung bezeichnet ein Handeln, welches die Gefahr, das Risiko, den ungewissen Ausgang um einer bestimmten Sache oder Person willen nicht scheut. In der zweiten Sinngebung beinhaltet „wagen“ den Mut zu etwas zu haben, trotz der Möglichkeit des Misslingens, der Gefahr oder des Nachteils. Diese heutigen Bedeutungszuschreibungen sind im Hinblick auf die sprachgeschichtliche Entwicklung nachvollziehbar.

Das Substantiv „Wagnis“ hat nach dem Duden zum einen die Bedeutung eines gewagten, riskanten Vorhabens aber auch die Bedeutung von Gefahr und der Möglichkeit eines Schadens, welcher mit einem Vorhaben verbunden ist.8

Ein weiterer Sachverhalt wird außerdem durch den Blick in den Duden deutlich. Obwohl „wagen“ von „wägen“ abstammt, werden heute noch beide Worte verwendet. Auch wenn die Wörter keine identische Bedeutung haben, so werden die gemeinsamen wortgeschichtlichen Wurzeln im Sprichwort „Erst wägen, dann wagen“ sichtbar. Wagen hat in diesem Sinne etwas mit abwägen, abschätzen, überlegen oder prüfen zu tun (RÖHRICH 1999, S. 1688).

2.4 Abgrenzung zu synonym verwendeten Begriffen

An dieser Stelle soll eine Abgrenzung zu den am häufigsten synonym zum Wagnis verwendeten Begriffen „Risiko“ und „Abenteuer“ erfolgen. Es soll einerseits deutlich werden, in welchen Merkmalen die drei Begriffe übereinstimmen und dementsprechend ein übergreifendes Erlebnisphänomen darstellen. Andererseits sollen trennende Elemente herausgearbeitet werden, auf deren Grundlage letztendlich eine verständliche, notwendige und nützliche Abgrenzung zu pädagogischen Ansätzen erfolgen soll, welche Abenteuer oder Risiko als Leitbegriff verwenden.

2.4.1 Risiko

Die synonyme Verwendung zweier (oder mehrerer) Begriffe ist zunächst dadurch gekennzeichnet, dass den Worten übereinstimmende Bedeutungsmomente zugrunde liegen. So lassen sich mit dem Wagnis also auch mit dem Risiko Situationen, Handlungen und Vorgänge beschreiben, welche durch Unsicherheit9, Bedrohung oder Gefahr charakterisiert sind (WARWITZ 2001, S. 14). Beide Begriffe markieren bedeutsame Entscheidungen, deren Folgen durch gegensätzliche Möglichkeiten - Gelingen oder Misslingen, Erfolg oder Scheitern - charakterisiert sind (WARWITZ 2001, S. 14f.). Die Ungewissheit des Entscheidungsausgangs erzeugt eine „psychophysische Beanspruchung“ (ebd., S. 15).

Etymologisch geht das Wort Risiko wahrscheinlich auf das griechische Wort rhiza zurück und bedeutet Wurzel, Klippe oder Felsenriff (RITTER 2007, Bd. 8, Sp. 1045). Daraus entwickelte sich rischiare, was ursprünglich so viel bedeutet wie Klippen umsegeln, aber auch, sich in klippenreiche Seegebiete vorzuwagen (ebd.). Die ursprüngliche Bedeutung ist der des Wagnisbegriffs sehr ähnlich:

„ Man geht angesichts einer beachtlichen Gefahr - des Schiffbruchs - ein Wagnis ein und verbindet damit die Hoffnung, dass man dieser Herausforderung gewachsen ist. Das wiederum tut man, weil damit die Erwartung von Gewinn verbunden ist. Rischiare heißt also, sich auf Gefahren einzulassen, weil man sich von deren Durchschreiten etwas erhofft “ (MüNKLER 2010, S. 19).

Ab dem 14. Jahrhundert fand der Begriff im Seeversicherungswesen Verwendung und bezeichnete - im Sinne einer Gefahr - den zu vergegenwärtigenden Schaden bei misslichem Ausgang eines Handels (RITTER 2007, Bd. 8, Sp. 1045f.). Der Eingang in die Alltagssprache (deutschsprachiger Raum) erfolgte erst Mitte des 19. Jahrhunderts, in der Risiko als Synonym für Wagnis und Gefahr verwendet wurde (ebd.). Die alltagssprachliche Wortverwendung in diesem Sinne hält bis heute an. Außerdem wird dem Wort nach dem Duden eine eher negative Bedeutung zugesprochen: „möglicher negativer Ausgang bei einer Unternehmung, mit dem Nachteile, Verlust, Schäden verbunden sind; mit einem Vorhaben, Unternehmen o. Ä. verbundenes Wagnis“.10 Nach WARWITZ (2001, S. 15) gilt Risikobereitschaft in sicherheitsbeflissenen Gesellschaften sogar als unseriös.

HEBEL-SEEGER & LIEDTKE (2003, S. 110) erkennen, dass sich der Wagnisbegriff im alltagssprachlichen Verständnis häufig durch den Risikobegriff ersetzen lässt. So kann es sowohl als „Wagnis“, als auch als „Risiko“ bezeichnet werden, von einer Mauer zu springen (ebd.). Umgekehrt erscheint es in manchen Zusammenhängen jedoch nicht sinnvoll, „Risiko“ durch „Wagnis“ zu ersetzen (ebd.). Ein Raucher geht beispielsweise ein erhöhtes „Risiko“ ein, an Krebs zu erkranken. Die Verwendung des Wagnisbegriffs scheint an dieser Stelle jedoch seltsam, wenn nicht sogar unpassend (ebd.). Dem Grund für die inadäquate synonyme Verwendung des Wortes Wagnis in bestimmten risikobehafteten Situationen soll im Folgenden nachgegangen werden.

Im 20. Jahrhundert kam es zu einer wissenschaftlichen Begriffsbildung des Wortes Risiko, deren Wurzeln in der Wahrscheinlichkeitstheorie, der Volkswirtschaftslehre sowie dann in der Existenzphilosophie und der Entscheidungstheorie zu suchen sind (RITTER 2007, Bd. 8, Sp. 1046). Das wissenschaftliche Risikokonzept berücksichtigt vor allem die Wahrscheinlichkeit eines Schadens und eines Vorteils sowie das Ausmaß der unerwünschten Konsequenzen (HÜBNER 2000, S. 133). Dieser Risikobegriff betont deutlich den Aspekt der Berechenbarkeit einer Gefährdung, was sich einmal mehr in bestimmten Wortzusammensetzungen zeigt (WARWITZ, 2001, S. 15).11 Es gibt beispielsweise eine Risikokalkulation oder ein Restrisiko (ebd.). Derartige Wortschöpfungen existieren für den Wagnisbegriff nicht (ebd.). Das Wagnis „[...] legt seinen Bedeutungsschwerpunkt auf die Vorgänge innerhalb der sich gefährdenden Person“ (ebd., S. 16). Diesen Unterschied zwischen wagen und riskieren identifizierte bereits Bollnow. Er stellt das Risiko als etwas primär Sachbezogenes dar und das Wagnis demgegenüber, als einen die ganze Person betreffenden Einsatz (BOLLNOW 1959, S. 137). Seine Aussage: „ich riskiere immer etwas, aber ich wage im letzten mich“ bringt den Risiko- Wagnis-Kontrast auf den Punkt (ebd.).

Es macht jedoch wenig Sinn, Risiko und Wagnis zu polarisieren. „Risiko ist als Komponente an jedem Wagnis beteiligt“ (WARWITZ 2001, S. 16). Es kennzeichnet allerdings nur einen Teilaspekt der Unsicherheitssituation (ebd.). Die Bezeichnung eines Geschehens als Risikohandlung, obwohl bei diesem die inneren Vorgänge einer Person eine wichtige Bedeutung haben, kann deshalb auch nicht als vollends verfehlt, sondern eher als zu kurz gedacht gelten. Die Verwendung des Risikobegriffs bietet sich dann an, wenn der Sachaspekt bzw. ein bestimmter Teil des Geschehens betont werden soll, zum Beispiel: Mit dieser Aussage riskierte er seinen Job. Der Wagnisbegriff wiederum sollte dann verwendet werden, wenn das Geschehen umfassend, wertgerichtet oder die ganze Person betreffend betrachtet wird: Er wagte diese Aussage, trotz der Möglichkeit einer Kündigung. Aufrichtigkeit hatte für ihn einen höheren Wert als das geregelte Einkommen.

Ein weiterer Aspekt, der einen semantischen Unterschied zwischen Wagnis und Risiko aufzeigt, betrifft den Bezugsrahmen. HEBEL-SEEGER & LIEDTKE (2003, S. 111) betonen in ihren Begriffsbestimmungen, allerdings ohne konkreten Quellenbezug, dass Risiken individuelle, dingliche oder gesellschaftliche Unsicherheiten beschreiben können, wo hingegen sich das Wagnis stets nur auf eine Person bezieht. Eine Internetrecherche zeigt dem hingegen, dass „wagen“ auch im Plural verwendet wird.12 In der Etymologie finden sich ebenfalls Beispiele dafür (vgl. Kap. 2.2). Eine generelle Determinierung des Wagnisses als individuelles Unsicherheitshandeln ist auf Grundlage wortgeschichtlicher Betrachtungen somit nicht möglich. Erkennbar ist allerdings, dass das Wort wesentlich häufiger in individuellen als in kollektiven Zusammenhängen gebraucht wird. Bei der Beschreibung kollektiver Wagnisse stellt sich außerdem die Frage, inwiefern innere Vorgänge und Abwägeprozesse noch individuelle Bedeutung haben (vgl. WARWITZ 2001, S. 16).

2.4.2 Abenteuer

Das Wort „Abenteuer“ entstammt dem mittelalterlichen Wort „adventura“, welches in seiner Grundbedeutung Schicksalhaftigkeit, Zufälligkeit und das Mitspielen außermenschlicher Kräfte ausdrückt (REIDT 1958, S. 51 zit. n. SCHLESKE 1977, S. 26). Später entsteht das mitteldeutsche Wort „aventiure“ in Anlehnung an den französischen Begriff „adventure“ - „was einem zustößt“ (GÖTZE 1939, S. 6). Hatte der Begriff im Mittelalter, verbunden mit dem Rittertum, noch eine ehren- und heldenhafte Bedeutung, so fand bis zum 18. Jahrhundert eine Abwertung desselben statt (SCHLESKE 1977, S. 26f.). Der „Abenteurer“ wird zum Landstreicher oder Hochstapler degradiert und „abenteuern“ bedeutet soviel wie „sich herumtreiben“. (ebd., S. 27). Allerdings erfährt das Wort durch die Literatur der deutschen Klassik wieder eine Aufwertung und wird im positiven Sinn als „außerordentliches Erlebnis“ verwendet (SCHLESKE 1977, S. 27). Im heutigen Sprachgebrauch sind mit dem Abenteuer negative und positive Bedeutungen verknüpft, woraus sich eine begriffliche Ambivalenz ergibt (ebd.).13 In verschiedenen Wörterbüchern wird das Abenteuer außerdem mit dem Wagnisbegriff selbst erklärt.14

Auf wissenschaftlicher Ebene wurde der Abenteuerbegriff besonders aus philosophischer und pädagogischer Perspektive beleuchtet. Bevor diesen Überlegungen nachgegangen wird, soll vorab jedoch darauf hingewiesen werden, dass konkrete Abgrenzungen zum Wagnisbegriff fast ausschließlich in Beziehung zu bewegungsbezogenen Inhalten gesetzt werden. Bislang zeigten nur sport- und sozialpädagogische Ansätze Interesse daran, abenteuertheoretische Überlegungen auf eine bestimmte Praxis anzuwenden.

Analog zum Wagnis, lässt sich auch das Abenteuer grundsätzlich nicht bestimmten Inhalten zuordnen (SCHLESKE 1977, S. 32). SCHLESKE erkennt im Abenteuer (mit dem Verweis auf andere Autoren) in erster Linie „[...] eine bestimmte Modalität des Erlebens oder eine bestimmte Art des Handelns und Erlebens in bestimmten Situationen“ (ebd.). Diese Modalität trifft ebenfalls auf das Wagnis zu, denn Schleske fasst später abenteuerliche, wagnishafte und risikoreiche Handlungen „[...] als Grenzerfahrungen, die zugleich als gesteigertes Leben empfunden werden [...]“ zusammen (ebd., S. 150). Abenteuer und Wagnis stechen aus dem alltäglichen Erleben heraus.

Simmel beschreibt das Abenteuer als etwas Episonden- und Inselhaftes mit Ausnahmecharakter (1923, S. 22 zit. n. ebd.). Außerdem ist das Abenteuer bei Simmel „[...] deutlicher als andere Lebensinhalte durch Anfang und Ende gekennzeichnet [.]“ (ebd.). Diese Charakteristik lässt sich auch bei BECKER (2001, S. 10) erkennen, welcher das Geschehen zwischen Aufbruch und Heimkehr als abenteuerliches Unterwegssein15 beschreibt. Das Aufbrechen ins Abenteuer ist ein Hineintreten ins Ungewisse. Was genau sich im Abenteuer ereignen wird, bleibt für den Abenteurer vor dem Aufbruch noch ein nebulöses Konstrukt. Im Abenteuer treten dann „[...] widerständige, unvorhergesehene, schwierige, d. h. krisenerzeugende Situationen und Aufgaben [auf, die] bewältigt werden“ müssen (ebd.). Diese krisenerzeugenden Momente kennzeichnen den Kern des Abenteuers nach Becker. Der Abenteurer kann sich nicht für oder gegen die Bewältigung der konkreten krisenhaften Situation entscheiden: er wird „ungewollt“ mit dem Widerstand konfrontiert. Das Abenteuer selbst erzeugt den Zwang16, sich für eine Bewältigungsvariante zu entscheiden (ebd., S. 11).

An dieser Stelle lassen sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Wagnis und Abenteuer herausstellen. Beide Phänomene beinhalten einen Bewährungscharakter, welcher durch das spannungsreiche Überwinden von Widerständen charakterisiert ist. Das Abenteuer ist gegenüber dem Wagnis allerdings deutlicher durch schicksalhafte und unvorhersehbare Elemente gekennzeichnet (SCHLESKE 1977, S. 39). Welche konkreten Widerstände sich dem Abenteurer entgegenstellen werden, ist vor seinem Aufbruch noch unklar. Der Ausgang eines Wagnisses ist zwar ebenfalls unvorhersehbar, doch kommt im Wagnis das planerische Element des Abwägens klar zum Vorschein. SCHWARZ (1968, S. 152) formuliert den Unterschied zwischen Wagnis und Abenteuer in seiner Begriffsabgrenzung sehr treffend: „Das Wagnis erscheint uns somit in der Form eines Hindernisses, auf das man zugeht, um es zu bewältigen, das Abenteuer in der eines Hindernisses, das auf uns zukommt, um bewältigt zu werden“. Diese begriffliche Unterscheidung hat einen deutlichen etymologischen Bezug.

VOLLMAR (2007, S. 276) geht davon aus, dass Wagnisse unerlässlicher Bestandteil des abenteuerlichen Unterwegsseins sind. Diese Aussage erscheint eingängig, da das Wagnis, als kurzes intensives Erlebnis verstanden, in die länger andauernde Unternehmung (Abenteuer) integrierbar scheint (ebd.). Weiter gedacht wirft diese Integration des Wagnisses in das Strukturmodell des Abenteuers nach Becker jedoch eine Frage auf. Wenn ein Wagnis als etwas verstanden wird, „auf das man zugeht“, als ein spezifischer Widerstand, bei dem ich mich bewusst für oder gegen eine Bewältigung entscheide, wie kann das Abenteuer dann weiterhin durch den Charakter des Entscheidungszwangs gekennzeichnet sein? Ein Klärungsversuch soll an dieser Stelle nicht erfolgen, da das Wagnis in dieser Arbeit losgelöst vom Abenteuer betrachtet wird.

2.5 Determinierung des Wagnisbegriffs

Nach den vorausgegangenen differenzierten Betrachtungsweisen im Prozess der Begriffsbestimmung, soll zum Ende dieses Kapitels nun eine Festsetzung des Wagnisbegriffs erfolgen. Dabei gilt es vorerst, die in den vorangegangenen Abschnitten aufgetauchten Ambivalenzen und Unstimmigkeiten im Begriffsverständnis zu klären.

HEIDEGGER (1950, S. 279) bezeichnet das Sein, als das Wagnis schlechthin. „Die Natur wagt die Lebewesen [...]“, philosophiert er (ebd., S. 280). Egal, ob der Auslöser menschlichen Daseins in der Natur, in Gott, in den Eltern oder auch im bloßen Zufall gesehen wird - eins ist allen gemeinsam: in keinem Fall hat sich ein Mensch für das Sein - die Existenz auf diesem Planeten - selbst entschieden. Die Verwendung des Wagnisbegriffs erfolgt im Sinne des „Gewagt-werdens . Der Mensch wird ins Leben gewagt. Er wagt sich nicht selbst ins Leben.

WUST (1937, S. 60) verwendet den Wagnisbegriff doppeldeutig und legt dies auch offen dar. Als blindes Wagnis bezeichnet er die Situation der absoluten Ungewissheit (S. 56f.).

[...]


1 Das Wagnis der Weisheit steht bei WUST (1937, S. 285-300) in engem Zusammenhang mit dem Wagnis des Glaubens. Menschliches Dasein ist durch eine prinzipielle Ungewissheit (insecuritas humana) gekennzeichnet, sowohl hinsichtlich der Deutung des irdischen Seins, als auch in Bezug auf die vagen Vorstellungen möglicher Optionen eines jenseitigen Daseins (ebd, S. 29-50). Erst durch das Wagnis der Weisheit kann der Mensch die „eigentliche Wahrheit des Lebens“ erreichen und der Ungewissheit entfliehen (ebd., S. 288). Es beinhaltet als erstes das Akzeptieren des Zwischenzustands des „beständigen Unterwegsseins“ des Menschen auf dem „Wege zur Wahrheit“ (ebd., S. 286). Weiterhin ist es durch ein Hinstreben zur „absoluten Weisheit“, die aber nie erreicht werden kann charakterisiert (ebd., S. 290). Das Wagnis der Weisheit besteht deshalb darin „[...] auf das Minimum der menschlichen Sehfähigkeit das Maximum des Glaubens an die universale Ordnung“ zu wagen (ebd., S. 294f.). Das Wagnis der Weisheit bleibt trotz der Geborgenheit in Gott dennoch ein Wagnis, da der Mensch auch durch den Glauben nicht die absolute Weisheit, im Sinne einer rationalen Sicherheit erlangen kann (ebd., S. 290).

2 Der Free-Fall-Tower ist eine Vergnügungsattraktion, welche für Freizeitparks konzipiert wurde. Der Besucher kann auf den Ablauf des Fall-Erlebnisses keinen Einfluss nehmen. Er „wird gefallen“ (vgl. WARWITZ 2001, S. 81 f.)

3 Bei den Praxisbeispielen handelt es sich zum einen um die Vertrauensübung „Menschliches Pendel“, bei der die Gruppe um eine mittig stehende Person einen geschlossenen Kreis bildet. Die Person in der Mitte lässt sich dann mit geschlossenen Augen und unter voller Körperspannung in eine Richtung fallen und wird von den Personen im Kreis abgefangen und mit einem sanften Stoß in eine andere Richtung gestoßen.Bei der zweiten Übung bilden die Schüler auf jeder Seite eine enge Gasse. Die sich gegenüberstehenden Schüler fassen sich jeweils an den Handgelenken. Die außenstehende Person hechtet auf die ausgestreckten Arme und wird von der Gruppe gedreht oder durch die Gasse katapultiert.

4 Bei Warwitz sind noch weitere Unstimmigkeiten in seinem Wagnisverständnis erkennbar. Manche der dargestellten übereinstimmenden Merkmale von Spiel und Wagnis, treffen nicht auf alle Wagnishandlungen zu, wie z. B. die Merkmale Nutzenlosigkeit und Zweckfreiheit (WARWITZ 2001, S. 9-12). Warwitz meint, dass Wagnisse generell keinen Zweck zur Legitimation benötigen (ebd., S. 10). Für seine dargestellten Beispiele aus dem Feld des Sports mag diese Behauptung zutreffen. Manche Wagnisse werden aber nicht um ihrer selbst willen eingegangen und benötigen einen Zweck als Legitimation. So z. B. Handlungen, in denen die Unversehrtheit anderer Personen durch das Wagnis des Akteurs auf dem Spiel steht (vgl. Kap. 2.5.2).

5 STERN skizziert in seiner Untersuchung zwar konstitutive Merkmale, allerdings speziell für den Wagnissport (2003, S. 189-193). Diese lassen sich jedoch nicht pauschal auf außersportliche Wagnisse übertragen und haben somit keinen kontextübergreifenden Gültigkeitsanspruch (vgl. Kap. 2.5.1).

6 Das deutsche Rolandslied wurde um 1170 vom Geistlichen Konrad verfasst und stellt eines der großen Epen der vorhöfischen frühmittelhochdeutschen Literatur dar (RICHTER 1972).

7 Duden - Deutsches Universalwörterbuch, 7.

8 Aufl. Mannheim 2011 [CD-ROM] ebd.

9 Der Begriff „Unsicherheit“ bezieht sich in dieser Arbeit eher auf extrapersonale Gegebenheiten als auf ein intrapersonales Empfinden

10 Duden - Deutsches Universalwörterbuch, 7. Aufl. Mannheim 2011 [CD-ROM]

11 Luhmann unterscheidet Risiken und Gefahren hinsichtlich des Attributionsvorgangs (RAITHEL 2001b, S. 12). Diese Differenzierung berücksichtigt „[...] von wem und wie etwaige Schäden zugerechnet werden. Denn im Falle von Selbstzurechnung handelt es sich um Risiken und im Falle von Fremdzurechnung um Gefahren“ (Luhmann 1990, S. 148ff. zit. n. ebd.). RAITHEL schlussfolgert aus Luhmanns Überlegungen, dass Gefahren deshalb als „subjektunabhängige Bedrohungen“ verstanden und „prinzipiell negativ bewertet“ werden können (ebd.). Risiken hingegen können hingegen Chancen als auch Bedrohung bedeuten und somit positiv aber auch negativ bewertet werden (ebd.).

12 Die Eingabe „wagten uns“ (zusammenhängend) bei der Suchmaschine Google ergab ungefähr 12.100 Ergebnisse

13 SCHLESKE betrachtet die Semantik des Abenteuerbegriffs in verschiedenen Kontexten und veranschaulicht an Beispielen, die ambivalenten Wertzuschreibungen (1977, S. 27-32). Während „das Streben nach Wagnis und Abenteuer [.] als Hauptwesenzug der bergsteigerischen Expeditionsfähigkeit bezeichnet und auf tiefwurzelnde menschliche Instinkte zurückgeführt“ wird, hat der Abenteuerbegriff im politischen Kontext „[...] eine negative Bedeutung und steht für fragwürdige Unternehmungen, denen die solide Basis fehlt [...]“ (ebd., S. 29-31)

14 vgl. Duden, Herkunftswörterbuch (2004); Sanders Wörterbuch der Deutschen Sprache (1860); Campe,Wörterbuch der deutschen Sprache (1807); Grimm & Grimm, Wörterbuch der Deutschen Sprache (1854)

15 BECKER bringt den Abenteuerbegriff innerhalb seines Strukturmodels stets in Zusammenhang mit einer räumlichen Veränderung.

16 Der Aufbruch ins Abenteuer ist dem hingegen nicht durch Zwang oder Passivität des Abenteurers gekennzeichnet. „Der Grund des Aufbruchs zu einem Abenteuer liegt in einem Unbehagen an der Lebenssituation, in der sich der Aufbrechende befindet und die als ungenügend empfunden wird. Gesucht wird häufig etwas, das noch nicht exakt beschrieben werden kann. Auf jeden Fall ist etwas, das über die gegenwärtige Situation hinausweist“ (BECKER 2001, S. 10).

Ende der Leseprobe aus 90 Seiten

Details

Titel
Das Wagnis in der Jugendphase
Untertitel
Entwicklungstheoretische Überlegung zu einer pädagogisch initiierten Praxis des Wagens
Hochschule
Philipps-Universität Marburg  (Sportpädagogik)
Veranstaltung
Abenteuer- und Erlebnispädagogik
Note
1,3
Autor
Jahr
2012
Seiten
90
Katalognummer
V313703
ISBN (eBook)
9783668125827
ISBN (Buch)
9783668125834
Dateigröße
1518 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
wagnis, jugendphase, entwicklungstheoretische, überlegung, praxis, wagens
Arbeit zitieren
Thomas Baberowski (Autor:in), 2012, Das Wagnis in der Jugendphase, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/313703

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