Das ungenutzte Potential des Kunstunterrichts. Pädagogisch-therapeutisches Handeln durch plastisches Gestalten mit verhaltensauffälligen Schülerinnen und Schülern


Bachelorarbeit, 2014

58 Seiten, Note: 1,7

Anna Em (Autor:in)


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Begriffsbestimmungen
2.1. Ästhetische Bildung und Erziehung in der Grundschule / exemplarisch am Land Brandenburg
2.2. Kunsttherapie
2.3. Zusammenfassung

3. Ein pädagogisch-therapeutischer Kunstunterricht für verhaltensauffällige Schüler in Anlehnung an Hans - Günther Richters „Pädagogische Kunsttherapie“ (im Folgenden: PK)
3.1. Die ästhetische Erziehung - eine Grundlegung
3.2. Die besonderen Merkmale des „ästhetischen Stoffes“
3.3. Chancen einer allgemeinen ästhetischen Erziehung für einen therapeutisch orientierten Kunstunterricht
3.4. Therapeutische Aspekte
3.4.1. Die Offenheit der ästhetischen Sache
3.4.2. Der Synkretismus der ästhetischen Erfahrung
3.4.3. Sublimierung (nach Kramer)
3.5. Didaktische Ansätze zur Umstrukturierung des Unterrichts bei verhaltensauffälligen Schülern in therapeutischer Absicht
3.5.1. Exkurs: Grundzüge einer lebensweltorientierten Fachdidaktik für den Bereich Verhaltensgestörtenpädagogik nach Joachim Bröcher
3.5.1.1. Lebensweltorientierung und Entwicklungsaufgaben
3.5.1.2. Zugang über Bilder und Alltagsästhetisches
3.5.1.3. Chancen und Probleme einer lebensweltlichen Didaktik
3.5.2. Zusammenfassung der didaktischen Überlegungen

4. Praktischer Teil am Beispiel der Arbeit mit Ton
4.1. Das Material
4.2. Grundlagen plastischen Gestaltens unter pädagogisch-therapeutischen Gesichtspunkten
4.2.1. Die Daumenschalentechnik
4.2.2. Das Modellieren
4.2.3. Die Aufbautechniken
4.2.4. Tonschlagen und -kneten
4.3. Unterrichtsbeispiele und Fördermaßnahmen
4.3.1. Entspannung & Lebensweltanalyse / Phantasiereise mit anschließendem freien Modellieren
4.3.2. Märchen als Verarbeitungshilfe / Gestalten von Märchenfiguren in Aufbautechnik
4.3.3. Ich - Identität / Das „Wunsch - Ich“ in Tierform
4.3.4. Exkurs: Arbeit am Tonfeld nach Heinz Deuser (2004)

5. Die Rolle des kunsttherapeutisch arbeitenden Sonderpädagogen

6. Diskussion

7. Literaturverzeichnis

8. Anhang
8.1. Zum Umgang mit dem Material Ton
8.1.1. Vorkommen und Zusammensetzung
8.1.2. Materialauswahl für den schulischen Bereich
8.1.3. Rahmenbedingungen
8.1.4. Arbeitsraum und -platz
8.1.5. Technische Voraussetzungen
8.1.6. Zeitliche Bedingungen
8.2. Phantasiereise als Einstieg in den Gestaltungsprozess
8.2.1. Körperwahrnehmungsübung als Vorbereitung
8.2.2. Phantasiereise ans Meer

1. Einleitung

Ausgangspunkt der Überlegung ist die Frage nach Möglichkeiten der Unterstützung und Förderung von verhaltensgestörten Kindern im schulischen Bereich. Die Relevanz und Aktualität der Themenstellung erschließt sich bei eingehender Betrachtung der rechtlichen und institutionellen Rahmenbedingungen für den Förderschwerpunkt Emotionale und Soziale Entwicklung. Der pädagogische Auftrag für diesen Förderschwerpunkt wird in den Empfehlungen der Kultusministerkonferenz wie folgt formuliert: „Voraussetzung für pädagogisches Handeln ist eine tragfähige Schüler - Lehrer - Beziehung. Sie zeichnet sich durch ein hohes Maß an Verständnis, durch besondere persönliche Zuwendung und pädagogisch - psychologische Unterstützung aus. Hierzu gehört auch, dass Grenzen gesetzt und Normen und Regeln vereinbart werden. Unterrichtliche und erzieherische Hilfen zur Orientierung im sozialen Umfeld und zur Selbststeuerung dienen der Verarbeitung von belastenden Lebenseindrücken und sollen zu einer individuell und gesellschaftlich akzeptierten Lebensführung beitragen“ (KMK 2000, 14). Pädagogische Arbeit mit verhaltensauffälligen Schülern stellt demnach erzieherische Aufgaben bei der Beschulung in den Vordergrund. Interventionen für Kinder mit Förderbedarf in der emotionalen und sozialen Entwicklung können in zwei sich wechselseitig austarierende Bereiche eingeteilt werden, zum Einen die pädagogisch - therapeutischen und zum Anderen die unterrichtlichen Interventionen. Bezogen auf die Frage nach der Indikation für einen der beiden Bereiche liefert Myschker eine auf den Störungsgrad der Kinder bezogene Leitidee: Ist die Symptombelastung des Kindes hoch, werden verstärkt pädagogisch - therapeutische Verfahren eingesetzt, bei zurückgehender Symptombelastung verringert sich der Anteil pädagogisch - therapeutischer Maßnahmen zugunsten zunehmender unterrichtlicher Intervention (vgl. Myschker 2009, Abb. 30). Trotz dieser von der Regelschule abweichenden Ausgangslage werden die Schüler grundsätzlich nach deren Rahmenlehrplänen unterrichtet (vgl. KMK 2000, 23). Nach Willmann kann das scheinbare „Paradoxon, soziale Lernprozesse und Beziehungsarbeit in den Mittelpunkt zu stellen und trotzdem Anschluss an den Lehrplan der Stammschule halten zu müssen, um die Rückschulung nicht zu gefährden“ (Willmann 2007, 51),nur durch das grundlegende Verständnis für Erziehung und Bildung als Einheit aufgelöst werden (vgl. ebd.).

Eine weitere, für die Umsetzung der KMK-Empfehlungen eher ungünstige Bedingung stellt das in der deutschen Schullandschaft bundesweit dominierende Modell der Halbtagsschule dar. Für die Beschulung im Förderschwerpunkt „Emotionale und soziale Erziehung“ gilt es für rund Dreiviertel der Förderschulen. Intensive Beziehungsarbeit zu leisten und Aufmerksamkeit gegenüber den individuellen Bedürfnissen aufzubringen erfordert jedoch ein erhöhtes Maß an zeitlichen und personellen Ressourcen, das in der Halbtagsschule nicht im erforderlichen Umfang zur Verfügung steht (vgl. Willmann 2007, 25). In Anbetracht dieser Tatsachen ist das Erschließen möglicher sonderpädagogischer Ressourcen innerhalb der bestehenden Strukturen notwendig.

Wichtig für die Begründung der Themenwahl dieser Arbeit ist jedoch außerdem die Einschätzung der gegenwärtigen Ausrichtung bei der Auswahl pädagogisch- therapeutischer Maßnahmen an deutschen Sonderschulen. Bei der Erziehung und Bildung verhaltensauffälliger Kinder und Jugendlicher ist ein zunehmender Rückgriff auf lerntheoretische Verfahren zu beobachten, deren Einsatz durchaus begründet, aber auch kritisch zu sehen ist (vgl. Ahrbeck 2009). Lerntheoretisch begründete Verhaltensmodifikation wird legitimiert durch wissenschaftliche Anerkennung und eine vergleichsweise hohe Wirksamkeit. Aufgrund dessen wurden für die Schnittstelle zwischen Verhaltensgestörtenpädagogik und Verhaltenstherapie eine Vielzahl von verhaltenstherapeutischen Methoden und Trainingsprogrammen entwickelt, die auch für Nicht-Psychologen gut umsetzbar sind (vgl. Myschker 2009, 232 ff.). Bei verhaltensauffälligen Schülern, die zum größten Teil ungünstigen psychosozialen Entwicklungsbedingungen ausgesetzt waren (und/oder sind) und unter einer Vielzahl von ungelösten inneren Konflikten leiden, muss sonderpädagogisches Engagement stärker auch diese innerpsychischen Konflikte wahrnehmen und im ersten Schritt auf eine tragfähigen Beziehung ausgerichtet sein. Die eher technisch - instrumentellen, stark symptomorientierten Interventionen aus dem Bereich der Verhaltenstherapie können dem kaum gerecht werden, wohingegen psychodynamisch orientierte Therapieansätze als bedeutsame Ergänzung fungieren können (vgl. Ahrbeck 2008, 497).

Kunsttherapeutische Angebote scheinen wertvolle Chancen zu bieten aufgrund ihres Anspruchs auf Ganzheitlichkeit im Erleben, aber auch in Anbetracht der theorieübergreifend nutzbar zu machenden Erkenntnisse.

Die Fragestellung für diese Arbeit lautet daher:

Kann das Unterrichtsfach Kunst bei verhaltensauffälligen Grundschülern unter den bestehenden institutionellen Rahmenbedingungen in Richtung eines pädagogisch - kunsttherapeutischen Unterrichts modifiziert werden und welche besonderen Chancen und Grenzen bietet die kunsttherapeutische Ausrichtung für Schüler und Pädagogen?

In Form einer Literaturarbeit werden theoretische Grundlagen für eine Modifikation des Unterrichtsfaches Kunst erschlossen und durch einige praktische Handlungsbeispiele für den Unterricht im Bereich des plastischen Gestaltens mit Ton illustriert. Diese Abschlussarbeit soll (tätigen Sonderpädagogen) ein potentielles Handlungsfeld eröffnen, Begründungen liefern, Chancen und Problemfelder herausstellen und mit dem praktischen Handlungsbeispielen zur Umsetzung anregen.

Basis der theoretischen Hintergründe bilden vorwiegend die für den Bereich Kunsttherapie und Pädagogik fundierten Konzepte von Hans - Günther Richter (1984, 1987) und Joachim Bröcher (1997, 1999a/b). Diese werden in ihrer Essenz dargestellt, durch spezifische theorieübergreifende Erkenntnisse erweitert und diskutiert. Grundlage des praktischen Leitfadens für den Bereich „Ton“ bilden die eigene langjährige praktische Tätigkeit als grundständig ausgebildete Keramikerin und Dozentin und die damit verbundenen berufsbedingten Kenntnisse, die um (sonder-)pädagogische und kunsttherapeutische Einsichten aus der Fachliteratur erweitert wurden.

2. Begriffsbestimmungen

Um die These in Bezug auf einen „kunsttherapeutischen Kunstunterricht“ für verhaltensauffällige Schüler zu begründen, ist es notwendig, Aufgabenbereich, Ziele, Arbeitsweisen und Rahmenbedingungen von schulischer Kunsterziehung denen der Kunsttherapie gegenüberzustellen. Dies kann im Rahmen dieser Arbeit nur überblicksartig geschehen, wobei sich hier der Bereich der schulischen ästhetischen Bildung und Erziehung aufgrund der länderrechtlich geregelten Rahmenlehrpläne auf die Rahmenbedingungen für das Fach Kunst im Land Brandenburg beziehen wird.

2.1. Ästhetische Bildung und Erziehung in der Grundschule /exemplarisch am Land Brandenburg

Im brandenburgischen Grundschullehrplan heißt es: „Grundanliegen des Kunstunterrichts ist die Entwicklung des individuellen Wahrnehmungs- und Ausdrucksvermögens des handelnden Kindes“ (GSLK 2004, 17). Vordergründige Ziele sind dabei der Erwerb von Sach- und Methodenkompetenz sowie sozialer und personaler Kompetenz. Kunstunterricht soll Schüler in ihrer Gesamtpersönlichkeit fördern, indem „er Kopf, Herz und Hand herausfordert und miteinander in Beziehung bringt“ (ebd.). Im Zusammenspiel von Produktion, Rezeption und Reflexion sollen Schüler ihre Position zu sich selbst und zu ihrer Umwelt bestimmen lernen. Wesentlich für die Schüler des Förderschwerpunkts ist die Chance auf Förderung der Empathie, Urteilstoleranz und Perspektivwechsel in gemeinsamen Gestaltungs- und Lernprozessen. Ebenso wichtig erscheint der fachimmanente „Freiraum für individuelle ästhetische Erfahrungen, Erkenntnisse und Verhaltensmöglichkeiten“ (ebd., 18), der Selbstwirksamkeitserfahrungen ermöglicht und zur Stärkung des Selbstvertrauens beitragen kann. Ästhetisch - künstlerische Prozesse wirken förderlich bei der Entwicklung von Frustrationstoleranz, da sie „Such- und Erkundungsprozesse mit offenem Ausgang“ (ebd.) sind und Irritationen und Misserfolge in der Reflexion als Lernchance angenommen werden können.

Zeitgenössische Kunst und die Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit sollen größte Beachtung erfahren, wobei vielfältige sinnliche Materialien und Verfahren zum Einsatz anzubieten sind. Lehrkräfte sollen „produktive Verstöße zulassen, sie über gemeinsame Reflexion als positive Bereicherung herausarbeiten und als eigensinnige Beiträge fördern“ (ebd., 21). Deutlich herausgestellt wird die Forderung nach einer neuen Lehr - Lernkultur, in der Pädagogen im Kunstunterricht „ihre traditionelle Dominanz aufgeben“ (ebd., 22) und statt dessen individuelle Erfahrungen, Such- und Experimentierprozesse durch Beobachtung und anregende Dialoge unterstützend begleiten. Es gibt in Anbetracht der Heterogenität der Schülerschaft unterschiedliche Möglichkeiten, sich die Welt künstlerisch zu erschließen. Eine davon, die ästhetische Art der Erschließung, knüpft an der Lebenswirklichkeit der Schüler an - ein Aspekt, der im Verlauf dieser Arbeit nähere Betrachtung finden wird. Die inhaltlichen Schwerpunkte können hier nur grob umrissen werden. Sie beziehen sich auf Dinge und Phänomene aus der Lebenswelt der Schüler (Mensch und Zusammenleben, Räume, Träume, Phantasien, Natur etc.), eine Vielfalt künstlerischer Strategien, Verfahren und Materialien (neben den „klassischen“ auch Gebrauchsgegenstände, Fundstücke etc.), Künstler verschiedener Epochen und Kulturen etc. (vgl. ebd., 25ff.).

2.2. Kunsttherapie

Kunsttherapie gründet auf der Annahme, dass der Mensch sein eigenes Selbst und seine Gefühlswelt auf nonverbale, künstlerische Weise ausdrücken kann. Die Annahme von der „heilenden Kraft des Gestaltens“ (Schuster 2003) hat historisch gesehen schon sehr alte Wurzeln, wohingegen das Theoriegebäude der Kunsttherapie noch recht jung ist. Kunsttherapie stellt eine „zusammengesetzte“ Disziplin dar, wobei sowohl erstere Bezugswissenschaft Kunst, als auch die der Psychotherapie verschiedenste Referenzrahmen besitzen (vgl. Mechler-Schönach 2012, 21). So bieten für den Bereich Therapie v.a. psychoanalytische, aber auch humanistische, kreativitätstherapeutische, gestaltpsychologische Theorien die Zugänge (vgl. Bröcher 1999b, 26 ff.). Insbesondere im Lauf der letzten 30 Jahre entstand eine Vielzahl von Entwicklungsrichtungen. Kunsttherapeutische Verfahren finden in schulpädagogischen, sozialpädagogischen und klinischen Arbeitsfeldern Anwendung, werden präventiv und rehabilitativ bei Menschen in verschiedensten psychischen, sozialen oder gesundheitlichen Problemlagen eingesetzt. Auf den ersten Blick paradox erscheint jedoch, dass einer allgemein zunehmenden Anerkennung in diesen Praxisfeldern eine recht mangelhafte wissenschaftliche Forschungslage gegenübersteht. So lässt sich derzeit immer noch nicht sagen, „bei welcher Symptomatik unter Einsatz welcher künstlerischer Medien welche Erfolge zu erzielen sind“ (Goetze 2010, 282 f.).

Ein innerdisziplinäres Problem der wissenschaftlichen Fundierung ist die Tatsache, dass sich innerpsychische Vorgänge schwer unter den Kriterien der wissenschaftlichen Forschung beurteilen lassen. Ahrbeck stellt die Probleme evidenzbasierter Forschung für den psychotherapeutisch - psychoanalytischen Bereich als eine nicht nutzbringende Komplexitätsreduktion klar heraus (vgl. Ahrbeck 2009, 5ff.). Trotz der Schwierigkeiten in Bezug auf wissenschaftliche Beweisbarkeit wird die Kunsttherapie unter einem eher optimistischen Blickwinkel betrachtet, was nicht zuletzt auf überzeugende Berichte aus der Praxis von Kunsttherapeuten und kunsttherapeutisch arbeitenden Pädagogen zurückzuführen ist. Goetze verweist auf „vielversprechende Ansätze, die diesen für die empirische Forschung etwas sperrigen Gegenstand wissenschaftlich aufzuklären“ (Goetze 2010, 282) trachten. Die Tatsache, dass Kunsttherapie als wissenschaftlich lehr- und lernbares Studienfach mittlerweile auch an Hochschulen Eingang gefunden hat, deutet ebenfalls auf steigende wissenschaftliche Anerkennung hin und birgt die Chance auf weitere Forschung.

In der Kunsttherapie mit Kindern werden unterschiedliche expressive, kreativ - ästhetische Verfahren, wie Malen, Collagieren, Plastizieren, Puppenspiel, kreatives Theaterspiel etc. eingesetzt (vgl. Goetze 2010, 281 f.). Als Vorzug künstlerischer Therapien gilt die starke Ressourcen-, Handlungs-, Erlebnis- und Beziehungsorientierung. Nach von Spreti bestehen „besondere und zusätzliche Chancen des Ausdrucks, der Kommunikation, der Wahrnehmung, der Form- und Symbolbildung und des symbolischen Handelns, der Erkenntnis und insbesondere der Aktivierung von Ressourcen“ (von Spreti 2012, 24). Da künstlerisches Tun vom Sprachgebrauch entbindet, gehören kunsttherapeutische Verfahren zu bevorzugten Interventionen für Kinder, die unter seelischen Belastungen und traumatischen Erfahrungen leiden und rücken somit auch in den Möglichkeitsrahmen der Verhaltensgestörtenpädagogik. Im künstlerischen Prozess werden Kinder dabei unterstützt, versteckte und verschlossene Emotionen auszudrücken, verlorengegangene Gefühle und Teile ihres Selbst wieder erfahren zu können“ (Goetze 2010, 281).

Im diagnostischen Prozess werden die Art der Darstellung, Besonderheiten und Übertreibungen mit dem Entwicklungsstand des Kindes in Beziehung gesetzt. Die Gestaltungen können Aufschluss über Persönlichkeitsmerkmale, emotionale Bedürfnisse, Konflikte und Potentiale geben, wobei herausgearbeitet wird, ob es sich um die Darstellung eines real erlebten Ereignisses, eines Wunsches oder um Ängste und Befürchtungen handelt. Im Laufe des kunsttherapeutischen Prozesses können (und sollen) sich die Darstellungen ändern. Bspw. beginnt das Kind mit der Gestaltung eines realen Erlebnisses und modifiziert diese im Laufe der Therapie in Richtung eines Wunsches (vgl. Melches 2012, 213 f.). Im Gegensatz zur Kunstpädagogik liegt der Schwerpunkt in der Kunsttherapie nicht auf einer hohen Qualität des künstlerischen Endproduktes, sondern auf der Chance, das eigene Selbst im künstlerischen Prozess auszudrücken (vgl. Goetze 2010, 282). Endprodukte stehen somit, sofern sie überhaupt relevant sind, unter viel stärker subjektbezogenen Bewertungsmaßstäben als dies in der Kunstpädagogik der Fall sein kann. Dem Kunsttherapeuten kommt die Rolle des Beobachters und unterstützenden Begleiters zu, der die Gestaltungsprozesse und Produkte des Kindes wertschätzt, spiegelt und in Worte fasst, um beim Kind Prozesse des Verstehens, der Integration und Bewältigung anzubahnen (vgl. Melches ebd.).

2.3. Zusammenfassung

Schule ist im Alltag vieler verhaltensauffälliger Kinder ein konfliktbehafteter Bereich, da eigene Belastungen und schulische Anforderungen kompensiert werden müssen. Kunsttherapeutische Angebote im Unterricht könnten diesen Schülern helfen, Fähigkeiten bei sich zu entdecken, belastende Inhalte auf nonverbale und kindgerechte Weise auszudrücken und über künstlerisch - spielerische Prozesse den Brückenschlag zu stärker curriculabezogenen Inhalten zu realisieren. Sie können ein Weg sein, sich selbst besser zu verstehen,Selbstvertrauen zu entwickeln und adäquate Bewältigungsstrategien zu entwickeln. Die pädagogisch - kunsttherapeutische Begleitung dieses Prozesses birgt auch die Chance, positive Beziehungserfahrungen zu machen, die v.a. für verhaltensauffällige Schüler von essentieller Bedeutung sind. Kunsttherapeutische Angebote bieten sich besonders für das Grundschulalter an, da mit Beginn der Pubertät nicht mehr alle Jugendlichen künstlerisch ansprechbar sind, diese Ausdrucksformen teilweise als unreif oder schambesetzt ablehnen. Für jüngere Kinder hingegen stellt die Gestaltungsarbeit in Form von Bildern, Figuren etc. und symbolischem Spiel als frühe präverbale Äußerung eine natürliche und direkte Ausdrucksform dar (vgl. Melches 2012, 211 f.).

Ein pädagogisch-therapeutischer Kunstunterricht müsste dem allgemeinen schulischen Erziehungs- und Bildungsauftrag und dem Rahmenlehrplan gerecht werden, Sonderpädagogen wiederum den Anforderungen an sonderpädagogische wie therapeutische Professionalität. Gerade da zeigt sich aber oft Verunsicherung betreffs der Legitimation, inwieweit Sonderpädagogen „Pädagogik oder Therapie betreiben müssen, sollen, dürfen oder können“ (Bröcher 1997, 25). Mit dem Verweis auf eine abschließende Diskussion dieser Frage am Ende dieser Arbeit, soll zunächst ein Ansatz vorgestellt werden, der beide Bezugsfelder für die sonderpädagogische Arbeit mit verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen für das Fach Kunst erschließt und wissenschaftlich begründet. Es handelt sich hierbei um Hans-Günther Richters „Pädagogische Kunsttherapie“ (Richter 1984), einem Standardwerk in der universitären Kunsttherapeutenausbildung, das zum Ausgangspunkt einer umfassenden Theoriebildung im kunsttherapeutisch- kunstpädagogischen Bereich wurde. Richters Ansatz ist als ein pädagogisches Rahmenkonzept zu sehen, das Grenzüberschreitungen zu benachbarten Disziplinen zulässt und sogar als nötig erachtet. Er liefert in dieser Arbeit somit die konzeptionelle Grundlage für einen pädagogisch - kunsttherapeutischen Unterricht und wird durch Beiträge von Fachvertretern wie Joachim Bröcher, Karin-Sophie Richter-Reichenbach, Edith Kramer u.a. noch stärker auf die Bedürfnisse von verhaltensauffälligen Schülern ausgerichtet.

Joachim Bröcher, Fachvertreter für den sonderpädagogischen Bereich „Emotionale und soziale Entwicklung“ und viele Jahre als kunsttherapeutisch arbeitender Sonderpädagoge in Erziehungshilfeschulen praktisch und forschend tätig, erarbeitete auf der Grundlage von Richters Konzept und unter Einbeziehung seiner eigenen kunsttherapeutischen Tätigkeit eine spezielle Fachdidaktik für den Unterricht bei verhaltensauffälligen Schülern. Die von ihm entworfene „Lebensweltorientierte Didaktik“ (Bröcher 1997) zielt vor allem auf den Unterricht bei älteren Kindern und Jugendlichen.

Karin-Sophie Richter-Reichenbach, Professorin für Kunstdidaktik und Kunsttherapie an der Universität in Gießen, fokussiert das Fach Kunst und die ihm immanenten kompensatorischen und therapeutischen Funktionen vor dem Hintergrund krisenhafter gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse und deren Auswirkungen auf die Identitätsbildung. Sie begründet didaktisch - methodische Ansätze für den Bereich der schulischen Bildung einschließlich des sonderpädagogischen Bereichs (vgl. Richter-Reichenbach 2011).

Edith Kramers Beiträge erscheinen für diese Ausarbeitung besonders wertvoll und geeignet, da sie als psychoanalytisch orientierte Kunsttherapeutin und -pädagogin innerpsychische Prozesse in den Mittelpunkt stellt, dies aber in einer Weise, die die Kunsttherapie klar von der Psychotherapie abgrenzt und für den pädagogischen Kontext erschließt. Kramer fokussiert nicht das für die Psychoanalyse charakteristische Bewusstmachen und Deuten unbewusster Vorgänge, sondern die Potentiale des künstlerischen Prozesses in Bezug auf die Stärkung des Ichs und die Förderung der Identitätsbildung (vgl. Kramer 2004).

3. Ein pädagogisch-therapeutischer Kunstunterricht für verhaltensauffällige Schüler in Anlehnung an Hans - Günther Richters „Pädagogische Kunsttherapie“ (im Folgenden: PK)

Im Gegensatz zur rein psychologischen Kunsttherapie erklärt die PK die angeführten Grundsätze der ästhetischen Erziehung und damit erkenntnistheoretische und kunstphilosophische Begründungen der Wirkungen von Kunst als konstituierendes Element und verankert sie damit unverrückbar auf der kunstpädagogischen Ebene. Der bedeutsame Unterschied zwischen PK und allgemeiner ästhetischer Erziehung besteht nach Richter in der modifizierten Verbindung zwischen Auswahl der bildnerischen Schaffensformen und der Erziehungs- und Bildungsziele: Diese müssen in pädagogisch- kunsttherapeutischen Überlegungen immer im Hinblick auf bestimmte Personen ausgewählt und entwickelt werden - im Rahmen dieser Themenstellung auf die (heterogene) Gruppe verhaltensauffälliger Schüler (vgl. Richter 1984, 15).

Um dieser Arbeit die Funktion einer basalen Handlungsgrundlage für kunsttherapeutisch orientierte Sonderpädagogen zuweisen zu können, erfolgt einführend eine Bestimmung des Gegenstandsbereiches und der wesentlichsten Grundlagen der ästhetischen Erziehung, auf denen auch Richters Ansatz basiert.

3.1. Die ästhetische Erziehung - eine Grundlegung

Die Ästhetische Erziehung in pädagogischer Absicht kann ihre Begründung nur vor dem Hintergrund einer (philosophischen) Anschauung von der Konstitution und den Wirkungen der Kunst finden. Kunsttheorien beruhen auf erkenntnistheoretischen Fundamenten, wie beispielsweise den Theorien von Kant, Schiller und Hegel. Einen ersten ganz allgemeinen Schluss über die Wirkung der Kunst auf die Entwicklung des Heranwachsenden lässt Dewey zu, der Kunst „als die universalste und freieste Form der Kommunikation“ (Dewey 1988, 319) und damit als einzigartiges Mittel in pädagogischen Prozessen charakterisiert. Diese allgemeine kunstphilosophische Aussage muss jedoch näher bestimmt werden, um sie auf einer kunstpädagogischen Ebene anzusiedeln. So umfasst der Begriff der ästhetischen Erziehung für den Bereich Erziehung und Bildung zum Einen kunsttheoretische und kunstgeschichtliche Inhalte, also Einsichten über Kunstrichtungen und -gattungen. Zum Anderen sind ihm pädagogische Vorgaben, bspw. Feststellungen über die Ziele der Erziehung und Bildung (abgeleitet von der Allgemeinen Pädagogik und Erziehungswissenschaft), immanent.

Notwendigerweise schließt die schulische ästhetische Erziehung auch die Ebene der Kunstdidaktik mit ein, die jedoch in diesem Rahmen nicht weiter erörtert werden soll. (vgl. Richter 1984, 12 ff.)

3.2. Die besonderen Merkmale des „ästhetischen Stoffes“

Eine erste allgemeine Beschreibung der Beschaffenheit des ästhetischen Stoffes in Bezug auf Lehr - Lernprozesse muss neben kunsttheoretischen Annahmen auch psychologische und lerntheoretische Aspekte einbeziehen und so finden in der von Richter aufgestellten thesenhaften Darstellung der besonderen Kennzeichen sowohl emotional - affektive, als auch kognitive Komponenten Berücksichtigung.

Nach Richter handelt es sich bei ästhetischen Produkten (bis auf wenige moderne Kunstformen, wie bspw. Happenings) um Objektivationen, d.h. die künstlerische Idee erscheint in einem „sinnlich-materialen Gebilde“ (Richter 1984, 28). Bezogen auf die ästhetischen Produkte im Rahmen des Kunstunterrichts ist also von einer weitestgehenden Materialität auszugehen.

Als besonders charakteristische Kennzeichen des ästhetischen Stoffs sind seine Symbolizität und Mehrdeutigkeit anzusehen. Bildhafte, oder besser, ikonische Darstellungen beinhalten, im Unterschied zu zeichenhaften, „digitalen“ sprachlichen Mitteilungen, eine Mehrwert, der über den Begriff des Bezeichneten hinausgeht. Merkmale des Symbolischen sind das Bildhaft - Anschauliche (der Eindruck), die Verdichtung und die Bedeutungsübertragung (vgl. ebd., 28 f.). Letzteres folgt aus dem Moment der Verdichtung und zeigt sich beispielsweise an der Interpretation der barocken Darstellung einer Sanduhr als Zeichen für die Vergänglichkeit des Seins, einem Mehrwert, der der reinen Objektivation nicht zukäme. Diese (an einem sehr einfachen, konventionalisierten Beispiel erläuterte) Bedeutungsübertragung ist als das dominante Merkmal der Symbolizität anzusehen.

Nach Richter beruht die Mehrdeutigkeit ästhetischer Produkte auf einer, in der Bildsprache deutlicher als im normalsprachlichen System ausgeprägten, vielschichtigen Analogiebildung zwischen Objektivation und bezeichnetem Inhalt. Richter - Reichenbach bekräftigt dies durch den Verweis auf das weitestgehend konventionalisierte und von Normen geprägte sprachliche Symbolsystem einschließlich der Metaphern, die „bekannte Bilder mit bekannten Bedeutungen verbinden“ (Richter - Reichenbach 2011, 127). Im Gegensatz dazu „birgt das ästhetische Medium einen großen individuellen form- und sinngebenden Spielraum für den eigenen Ausdruck und für die Darstellung vieldimensional erlebter und erfahrener Sachverhalte“ (ebd.). Bedeutungsträger, bzw. den Ausdrucks- und Darstellungsgehalt beeinflussende Variablen sind die auftretenden Formen und Materialien. Nach Richter - Reichenbach geben „Form - Akzentuierungen (Größenverhältnisse, Farbgebung, Strichführung, Strichstärke usf.), Abweichungen von gewohnten visuellen Schemata,Gegenstandsgruppierungen, Detailbehandlung, Weglassungen, Deformationen und Überzeichnungen von Details Hinweise auf bewusst oder unbewusst vorgenommene Bedeutungsgebungen“ (ebd.).

Ein weiteres Merkmal des ästhetischen Stoffs zeigt sich darin, dass der ästhetische Gegenstand in einem vielschichtigen Gestaltungsprozess entsteht, der sowohl emotional - affektive, als auch kognitiv - rationale Momente einschließt. In diesem Sinn ist der symbolische Gehalt des künstlerischen Äußerungsproduktes als Vermengung beider Bereiche aufzufassen und wird von Richter daher durch den Begriff der Irrationalität charakterisiert (vgl. Richter 1984, 30).

Als letztes Kennzeichen des ästhetischen Gegenstandes sieht Richter dessen Struktur und Geschichtlichkeit an. Kunstwissenschaftlich gilt die Annahme einer historischen Entwicklung von Kunststilen, die jedoch nicht als einfache Abfolge zu verstehen ist. Stärker noch als bei der Betrachtung von sprachlichen Entwicklungen sind in der Kunstgeschichte jedoch die zeitlichen Überschneidungen und parallelen Existenzen verschiedener Paradigmen, also Kunststile, zu beobachten. Der umfassende Zugang zu einem ästhetischen Werk kann demnach nur durch eine wechselseitig synchron - diachronen Betrachtungsweise ermöglicht werden (vgl. ebd., 31 f.).

Zusammenfassend lassen sich die Besonderheiten des ästhetischen Stoffes insofern bestimmen, als dass es sich um materialisierte Gegenstände mit symbolischem Charakter handelt, die mehrdeutig interpretierbar sind und ein besonderes, im weitesten Sinne nicht - sprachliches Mitteilungssystem darstellen.

[...]

Ende der Leseprobe aus 58 Seiten

Details

Titel
Das ungenutzte Potential des Kunstunterrichts. Pädagogisch-therapeutisches Handeln durch plastisches Gestalten mit verhaltensauffälligen Schülerinnen und Schülern
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin  (Institut für Rehabilitationswissenschaften / Verhaltensgestörtenpädagogik)
Note
1,7
Autor
Jahr
2014
Seiten
58
Katalognummer
V313909
ISBN (eBook)
9783668128644
ISBN (Buch)
9783668128651
Dateigröße
801 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Pädagogische Kunsttherapie, Ton, Förderschwerpunkt emotionale-soziale Entwicklung, Kunstunterricht, Verhaltensstörungen, Arbeit mit Ton
Arbeit zitieren
Anna Em (Autor:in), 2014, Das ungenutzte Potential des Kunstunterrichts. Pädagogisch-therapeutisches Handeln durch plastisches Gestalten mit verhaltensauffälligen Schülerinnen und Schülern, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/313909

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