Altenpflegepolitik in Deutschland und Schweden im Vergleich


Thesis (M.A.), 2004

120 Pages, Grade: 2,0


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Die vergleichende Wohlfahrtsstaatsforschung, Veränderung und Transformation

Das Konzept der sozialen Pflege

Pflege und Wohlfahrtsstaatsregime

Schlüsselelemente des Wandels des sozialen Pflegeangebots

Methodik

1. Von der Armenpflege zu sozialen Rechten
1.1 Soziale Rechte und deren Entwicklung
1.2 Das Primat der Familie – Die Familienideologie der sozialen Pflegepolitik

2. Der lange Weg zur Pflegeversicherung – Altenpflegepolitik in Deutschland
2.1 Pflegerische Dienste für Ältere im Siegel der politischen Entwicklung
2.1.1 Die Sozialstaatstradition und das Erbe der Wohlfahrtsverbände
2.1.2 Altenpflege vor der Pflegeversicherung
2.1.3 Die Reformpolitik
2.2 Die Pflegeversicherung - Prinzipien, Bestimmungen, Daten
2.2.1 Stationäre Pflege für Ältere
2.2.2 Häusliche Pflege für Ältere
2.2.3 Nebeneffekte des Angebots
2.2.3.1 Transformation des freigemeinnützigen Sektors
2.2.3.2 Die Beschäftigungssituation im Pflegebereich
2.3 Resümee

3. Soziale Dienstleistungen – Der Schlüssel zum schwedischen Wohlfahrtsstaatsmodell
3.1 Das Konzept der sozialen Dienstleistungen in der schwedischen Sozialpolitik
3.1.1 Die frühen Ideen der sozialen Pflegedienstleistungen
3.1.2 Die Periode des Aufbaus der sozialen Pflegedienstleistungen
3.1.3 Die Stufe der Erosion: soziale Pflegedienstleistungen während der Restrukturierung des Wohlfahrtsstaates
3.2 Soziale Pflegedienstleistungen
3.2.1 Stationäre Pflege für Ältere
3.2.2 Dienstleistungen der Haushaltshilfe für Ältere
3.2.3 Nebeneffekte des Angebots
3.2.3.1 Mehr Pflege durch Familie, Markt und freigemeinnützigen Sektor?
3.2.3.2 Veränderungen der Lebens- und Arbeitsbedingungen im Pflegebereich
3.3 Resümee

4. Deutschland und Schweden im Vergleich
4.1 Staatsausgaben und private Kosten – Unterschiede und Trends
4.2 Erwerbsbeteiligung der Frauen
4.3 Die Variationsbreite der Dienstleistungsanbieter
4.4 Das recht der Älteren auf pflegerische Dienstleistungen
4.5 Die Rolle der Politik
4.6 Resümee

5. Resümee: Wohlfahrtsstaatliche Regime sozialer Pflegedienstleistungen

Bibliographie

Einleitung

Das Thema ‚Pflege für Ältere’ ist in allen zeitgenössischen Gesellschaften zu einer bedeutenden politischen Angelegenheit geworden und wird deshalb auch immer häufiger Gegenstand der vergleichenden Sozialforschung. Westliche Gesellschaften erleben derzeit eine radikale Umschichtung der Bevölkerungsstruktur. Dieser demographische Wandel ist oft beschrieben worden und in den Grundzügen heute relativ bekannt. Das vielen als Schreckensszenario geltende ‚Ergrauen der Gesellschaft’ kennzeichnet als Entwicklungstrend die westlichen Länder in ähnlicher Weise. Das Verhältnis der über 65-Jährigen zur Bevölkerung im Erwerbsalter wird sich im europäischen Durchschnitt von gegenwärtig 22 auf 39 zu 100 im Jahr 2030 erhöhen. Die Geburtenziffern haben sich im EU-Durchschnitt gegenüber 1960 fast halbiert und in jüngster Zeit auf dem verhältnismäßig niedrigen Niveau von 1,5 Kindern pro Frau eingependelt (Eurostat 2003). Für die nahe Zukunft wird daher eine rückläufige bis stagnierende Gesamtbevölkerung in der EU prognostiziert (Alber 2002, S. 7; vgl. ferner 2001/4). Die deutsche Bevölkerung erreichte vor kurzem mit knapp 40 Jahren das höchste Durchschnittsalter aller Länder in der Europäischen Union. Deutschland und Schweden wiesen 1990 einen der höchsten Bevölkerungsanteile der Senioren auf. Auch der Hochbetagtenanteil übertrifft in keinem Land der EG das deutsche Ausmaß (Alber/Schölkopf 1999, S. 227). Dennoch nehmen Deutschland und Schweden im internationalen Vergleich keine Sonderstellung, im Sinne einer außergewöhnlichen demographischen Belastung, ein, vielmehr gehören beide Länder einer Gruppe von Ländern an, die in besonderem Maße mit Problemen des demographischen Wandels zu kämpfen haben (werden).

Weitgehend gemeinsam sind allen Ländern Europas zwei grundlegende Trends des Strukturwandels der Altenbevölkerung: die Alterung und die Feminisierung (ebd.). Von einer Alterung der Seniorenbevölkerung ist zu sprechen, da mehr und mehr Ältere zu den Hochbetagten über 80 Jahren zählen. 1970 stellten die Hochbetagten im europäischen Durchschnitt nur 11 Prozent der Altenbevölkerung, 1991 waren es 17 Prozent, und für 2020 werden zwischen 19 und 22 Prozent erwartet[1] (ebd., S. 229 ff.). Mit der Alterung der Altenbevölkerung sind in der Regel steigende Anforderungen an die Pflegesysteme des Sozialstaats verbunden, so nimmt bspw. Pflegebedürftigkeit im hohen Alter stark zu. Die Feminisierung des Alters ist ein zweiter Trend, der den europäischen Ländern aufgrund der höheren Lebenserwartung von Frauen gemeinsam ist. Während das Verhältnis von Frauen und Männern unter den 45- bis 49-Jährigen in etwa gleich groß ist, so stehen im Alter von 70 bis 74 vier Frauen drei Männern gegenüber. Unter den 80- bis 84-Jährigen gibt es bereits doppelt so viele Frauen wie Männer, und bei den über 95-Jährigen übersteigt das Verhältnis 3:1 (Alber/Schölkopf 1999, S. 229).

Moderne Wohlfahrtsstaaten sind zu einem größeren Ausmaß als jemals zuvor ‚pflegende Staaten’ – um das von Leira (1999) eingeführte Konzept zu verwenden. Lange Zeit etablierte Formen der pflegerischen Versorgung Älterer werden von wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen unterminiert. Insbesondere hat die Ausweitung der weiblichen Erwerbstätigkeit die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern verändert. Unbezahlte Pflegearbeit, die von Frauen in den Haushalten ausgeführt wird, kann folglich nicht länger als frei verfügbare Ressource behandelt werden. Jede postindustrielle Gesellschaft sieht sich demzufolge mit Fragen der Unterstützung von Familien und Individuen bei der Organisation von Pflege konfrontiert. Darüber hinaus treten viele soziale Institutionen in Erscheinung, die anstreben, in diesem Bereich zu intervenieren. Kirchen, Kommunen und Arbeitgeber nehmen Stellung zu informeller oder dienstleistungsorientierter Pflege (Anttonen/Sipilä 2002).

Beim Vergleich sozialer Pflegearrangements muss betont werden, dass Pflege ein kulturell gebundenes Phänomen darstellt (vgl.: Pfau-Effinger 2001). Die Formen, die Pflegearrangements annehmen, sind demnach tief in sozialen und kulturellen Kontexten verwurzelt. Es treten große Variationen unter Normen, die den Inhalt der Pflege und deren Hauptverantwortlichkeit regeln, in Erscheinung. Die Normen und Werte, welche die Sozialpolitik leiten, sind ebenso Produkte kultureller Normen. Historisch betrachtet tendiert die öffentliche Meinung dazu, zwischen zwei Positionen zu schwanken – einerseits wird die Verantwortlichkeit der Individuen und Familien für ihre eigene Wohlfahrt, andererseits die Erwartung gegenüber der Gesellschaft, zumindest für einige Aspekte der Pflege Verantwortung zu übernehmen, betont (Anttonen/Sipilä 2002).

Verankert in ihren nationalen und normativen Kontexten können soziale Pflegearrangements in Zeiten massiver sozialer und politischer Veränderungen zu den ersten Bereichen der wohlfahrtsstaatlichen Versorgung gehören, die einer Reformierung unterzogen werden. Nicht nur ideologische Veränderungen in den Bereichen der Wirtschaft und Politik sondern auch Veränderungen, die aus strukturellen Anpassungen an den wirtschaftlichen Wettbewerb erwachsen, nehmen Einfluss. Einige ideologische Veränderungen zumindest scheinen jedoch von materiellen Veränderungen in der Wirtschaft und in den Beschäftigungsmustern relativ isoliert, so z.B. die nicht enden wollenden moralisch orientierten Debatten über Familienverantwortlichkeiten. Andere sind klarer in den Modifikationen des täglichen Lebens verwurzelt, wie bspw. die Diskrepanzen zwischen sozialpolitischen Hypothesen und der wachsenden Arbeitsmarktbeteiligung der Frauen (z.B. Pfau-Effinger 2000).

Der Verlauf des Wandels, dem europäische Wohlfahrtsstaaten unterliegen, ist zweigeteilt. Nahezu alle Regierungen sind bestrebt, Sozialausgaben zu kürzen (vgl.: Alber 2002); bei der Umsetzung zeigen sich dabei einige erfolgreicher als andere. Die lebenslangen Absicherungsgarantien, die für die Bürger zur Gewohnheit wurden, erscheinen in vielen Nationen nicht länger sicher. Berücksichtigt man zusätzlich die verschärften Auswahlkriterien und die Zielgerichtetheit der Transferzahlungen, wird der momentane Trend ersichtlich. Ausgabenkürzungen in Bezug auf das System der Beihilfen erweisen sich als schwer konstruierbar und politisch heikel, doch das Gebiet der Altenpflege scheint manipulierbarer und poröser. Pflege bietet der Politik eine Vielfalt von Reformmöglichkeiten – im privaten Bereich der Familie, dem staatlichen Sektor als auch in Organisationen auf Freiwilligenbasis (Daly/Lewis 1998). Wohlfahrtsstaaten verschieben mehr und mehr die Grenze zwischen Öffentlichem und Privaten bei ihrer Suche nach neuen Arrangements in prekären Perioden. In diesem Kontext sollen auch die Veränderungen rund um die Pflege gesehen werden.

Ein zweiter Trend, der sich als mindestens genauso, wenn nicht als noch folgenreicher für das europäische Sozialmodell erweist, schließt Altenpflege mit ein, sowie deren lange Zeit prekäre Stellung zwischen Staat und Familie. Die Entwicklung der Altenpflege in europäischen Wohlfahrtsstaaten zeigt sich heute komplex und verfügt über zahlreiche Facetten: sowohl wirtschaftliche Veränderungen in Bezug auf Dienstleistungen als auch Veränderungen in der Balance zwischen finanziellen Transferzahlungen und Dienstleistungen werden miteingeschlossen. ‚Privatisierung’ beschreibt das Geschehen nicht auf adäquate Weise, auch wenn in vielen Ländern sich der Schwerpunkt vom Staat hin zum Freiwilligensektor und zum Markt – in unterschiedlichem Ausmaß – verschoben hat. Dieser Prozess wird als ‘ Marketisation’ bezeichnet: „’Marketisation’ has meant more than simple ‚privatisation’ for even where services have continued to be provided by the state, there have been efforts to simulate the operations of the market in the public sector” (ebd., S. 3).

In Hinsicht auf finanzielle Transferzahlungen scheinen Wohlfahrtsstaaten der Altenpflege (der Pflegearbeit sowie dem Erhalt von Pflege), einige der Charakteristiken eines sozialen Rechts zuzuschreiben. In den Ländern, in denen pflegerische Tätigkeiten in der Vergangenheit fast vollständig ohne Bezahlung erfolgten (was die Mehrheit ausmachte), erhalten pflegebedürftige Individuen oder diejenigen, welche die Pflege übernommen haben, heute dagegen z.T. finanzielle Unterstützungen. In der Praxis sind die staatlichen Autoritäten gewillter, private, individuelle Pflege finanziell zu unterstützen. Dies resultiert auch aus der neuen Betonung des Konsumentenstatus der Klienten (zu Klienteldimensionen sozialer Pflegedienstleistungen: Ketola et al. 1997) sowie aus der anwachsenden Kritik an staatlichen Dienstleistungen, oft inflexibel und bürokratisch zu sein. Teil der Argumentation für eine Ausweitung finanzieller Transferzahlungen für Altenpflege ist, dass dem/der Empfänger/in größere Freiheit gewährt wird bei der Entscheidung zur Erfüllung der pflegerischen Bedürfnisse. Auch wenn diese Entwicklungen einheitlich als positiv interpretiert werden können, bleibt es wichtig zu betonen, dass Zahlungen für Pflege fast immer ein bescheidenes Ausmaß annehmen. Dennoch verändern in der Praxis Transferzahlungen zur Pflege fast jedes System, in das sie eingeführt werden. Daly und Lewis (1998, S. 4) gehen soweit zu sagen: „ [...] it is not too far-fetched to claim that benefits for caring may well herald a new type of welfare state citizenship.” Im Gegensatz zu anderen finanziellen Transferzahlungen kaufen Pflegebedürftige mit den Zahlungen für Pflege Arbeit und Dienstleistungen ein; werden die Regelungen für finanzielle Transferzahlungen abgeändert, so verändert sich auch die Verteilung der Pflegearbeit zwischen Staat, Markt und Familie.

Die Pflege für Ältere ist darüber hinaus ein Bereich der ‚ gender studies’ (Rauhala et al. 1997), denn die Gruppe der formellen als auch informellen Pflegepersonen ist überproportional weiblichen Geschlechts, und Frauen stellen auch die Mehrheit der Pflegebedürftigen aufgrund ihrer höheren Lebenserwartung. Soziale Dienstleistungen sind von überaus großer Wichtigkeit für Frauen aufgrund der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, die Frauen den Großteil unbezahlter Pflegetätigkeit zuschreibt; sie sind also eine wichtige Grundlage der Hilfestellung. Im Verlauf der Zeit kam es zu einer rasanten Umverteilung der Arbeit zwischen den Geschlechtern. Im EU-Durchschnitt ist die Beschäftigungsquote der Männer zwischen 1979 und 1999 von 79 auf 71 Prozent gesunken, die der Frauen jedoch von 44 auf 53 Prozent gestiegen (Alber 2002, S. 10). Die geschlechtsspezifische Differenz der Quote hat sich damit halbiert. Für die Mehrheit der Frauen gehört die Berufstätigkeit heute zum Alltag. Auch zukünftig wird die stark gestiegene Bildungsbeteiligung der Frauen das weibliche Arbeitskräfteangebot erhöhen. Um die schrumpfende Rolle der Frauen in der Wohlfahrtsproduktion der Privathaushalte zu kompensieren, werden vermehrt soziale Pflegedienstleistungen erforderlich sein. Der starke Anstieg der weibliche Erwerbsarbeitsbeteiligung hat zum Resultat, dass die geschlechtsspezifische Teilung der entlohnten Arbeit nicht länger derart drastisch wie die ungleiche Verteilung von unbezahlter Arbeit ist. Dennoch sind die Einkommen von Frauen noch immer geringer als die der Männer, und oft arbeiten sie verkürzt auf Teilzeitbasis. Dies reduziert ihre Kapazität, Dienstleistungen auf dem Markt zu kaufen. Folglich sind staatliche Subventionen zur Kompensation der reduzierten Kaufkraft der Frauen entscheidend (Daly/Lewis 1998). Soziale Dienstleistungen für die Familie befreien nicht nur Frauen, zumindest zu einem gewissen Maße, von deren Pflegeverpflichtung sondern bieten darüber hinaus auch Möglichkeiten zur Erwerbsarbeit und fördern somit die wirtschaftliche Unabhängigkeit von Frauen.

Soziale Pflegearrangements erlangen also zunehmende politische Bedeutung. Sie nehmen insbesondere auf das Leben der Frauen, Älteren und Mittellosen Einfluss. In allen westlichen Gesellschaften unterlaufen Pflegesysteme derzeit einer Neubewertung und Neuorganisation. Die wirtschaftliche Globalisierung und die andauernde Krise im öffentlichen Sektor generieren einen wachsenden Druck, wettbewerbsfähigere doch auch politisch akzeptierbare Pflegelösungen zu finden. Dennoch kommt es im Verlauf der Zeit und zwischen Ländern zu großen Variationen hinsichtlich der Organisation der pflegerischen Versorgung der Älteren. Entwicklungen in der Pflege sind heute nicht nur einige der herausforderndsten Aspekte der Sozialpolitik, sondern die Beschäftigung mit der Pflege kann sich sehr wohl als Schlüssel zum Verständnis der wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung erweisen. Ob Pflegearbeit bezahlter oder unbezahlter Natur ist und zu welchem Ausmaß diese innerhalb des Staates, des Marktes, der Freiwilligen- oder Familiensektoren ausgeführt wird, sind bedeutsame Fragen, die v.a. die Position der Frauen als erwerbstätige Töchter betreffen. Moderne Wohlfahrtsstaaten haben die Bedürfnisse und Rechte sowohl der Pflegenden als auch der Pflegebedürftigen geformt (Knijn/Kremer 1997). Die Ausgrenzung des Dienstleistungsangebots aus der Entwicklung von wohlfahrtsstaatlichen Typologien (besonders Esping-Andersen 1990) stellt folglich ein gravierendes Manko dar. Das Dienstleistungsangebot überschreitet die Grenzen von Typologien, die auf Arrangements finanzieller Beihilfen gegründet sind. Die Aufnahme sozialer Pflegedienstleistungen in die Domäne der vergleichenden Sozialpolitikforschung ist somit von größter Bedeutung, da diese ein sich ausweitendes Element der Wohlfahrtsstaaten repräsentieren.

Die vergleichende Wohlfahrtsstaatsforschung, Veränderung und Transformation

„As is true of other fields, welfare state scholarship is more assured in its treatment of continuity than of change” (Daly/Lewis 1998, S. 18).

Obwohl weithin diskutiertes Thema, wurde der wohlfahrtsstaatlichen Veränderung und Transformation nicht genügend Aufmerksamkeit zuteil. Übergänge und Wandel als Elemente des Wohlfahrtsstaates wurden in der Theoriebildung und Forschung nicht automatisch berücksichtigt. Unter Kritik stehen auch die Eingeschränktheit der Wahl der zum Vergleich herangezogenen Methoden und Konzepte angesichts der zunehmenden Komplexität der Wohlfahrtsstaaten. Dennoch lassen sich mittlerweile Anfänge eines Konsenses in der vergleichenden Literatur über Wohlfahrtsstaaten erkennen. In Rekurs auf Daly und Lewis (1998) sollen drei Aspekte dieses Konsenses beleuchtet werden.

1. Institutionen sind von (größter) Bedeutung.

Folglich sind die Form, die Qualität und das Ausmaß der Institutionalisierung sozialer Rechte die Grundsteine der aktuellen vergleichenden wohlfahrtsstaatlichen Analysen. Die sogenannten ‚Mainstream-Analysen’ vergleichen Staaten auf der Basis ihrer institutionellen Charakteristika per se oder hinsichtlich ihrer Beziehung zur Politik, dem Ausmaß und der Form der Institutionalisierung sozialer Rechte. Auch feministisch orientierte Analysen bevorzugen einen institutionellen Zugang zum Vergleich der Wohlfahrtsstaaten, ziehen jedoch andere empirische Indikatoren heran. Sie konzentrieren sich zum Großteil auf das Ausmaß, zu dem die Rollen der Frauen innerhalb der Familie angesichts des Zugangs zu sozialen Rechten bewertet werden. Den Horizont der Ausgaben und Programmgröße, der lange Zeit im Fokus stand, wurde überschritten, indem Programmstruktur und -Inhalt ins Licht der Analysen rückten.

2. Die Beziehungen zwischen Staat, Markt und Familie stellen den konzeptionellen Rahmen der Analyse.

Auch wenn die meisten Theoretiker heute ihre Überlegungen in diese Trilogie einbetten, tendieren sie in der Praxis dennoch dazu, eine oder höchstens zwei Achsen auf Kosten der anderen und des Gesamtbildes zu betonen. Das ‚Vergessen’ der Familie durch ‚Mainstream-Theoretiker’ hat feministisch orientierte Forscherinnen auf den Plan gerufen; diese wiederum können jedoch für das Privilegieren der Familie-Staat oder Familie-Markt Verbindungen kritisiert werden. So wie die Dinge heute stehen, müssen die drei Beziehungsrelationen noch umfassend untersucht werden. Beide Schulen müssen sich dem Vorwurf der Unvollständigkeit stellen: die ‚Mainstream-Arbeiten’ dafür, dass sie der Klasse den Vorrang geben und die feministisch orientierten Arbeiten dafür, dass sie ihren Fokus ausschließlich auf Geschlechterbeziehungen legen. Im Endresultat wird die potentielle Dynamik, die dieser Trilogie innewohnt, nicht adäquat erschöpft. Durch den Fokus auf die Aktivität – im Gegensatz zu einem bestimmten Bereich – erlangen soziale Pflege und deren Anwendungen die Kapazität, diese Unterteilungen zu überschreiten (Daly/Lewis 1998).

3. Der Fokus liegt auf Regimen, die sich auf die nationalen Konfigurationen institutioneller Arrangements um Arbeit und Wohlfahrt beziehen.

Natürlich gibt es nicht nur einen Weg der vergleichenden Analyse. Heute scheint es fast selbstverständlich, dass Wohlfahrtsstaaten auf der Basis ihrer Charakteristiken in Typen unterteilt und in Cluster gruppiert werden. Die Arbeit von Esping-Andersen „Three Worlds of Welfare Capitalism“ (1990) stellt den klassischen Bezug für Typologien. Basierend auf einer Methodologie der Idealtypen (siehe dazu: Weber 1922), knüpft der Autor an die von Titmuss (1974) bekannt gemachte Aufteilung in institutionelle, achievement-performance und residuale Sozialpolitikmodelle an. Esping-Andersen (1990) entwickelte ein dreidimensionales Maß zur Beurteilung der Reife der westlichen Wohlfahrtsstaaten: ‚De-Kommodifizierung’ der Arbeitskraft meint die Befreiung vom Marktzwang, also die Großzügigkeit des Lohnersatzes im Falle von Risiken durchschnittlicher Arbeiter. Soziale Rechte sind nach Esping-Andersen (1990) „ exit out of work “-Rechte (Anttonen/Sipilä 1996, S. 88), mit denen es möglich wurde, die Arbeitskraft nicht länger als Ware charakterisieren zu müssen, wie bspw. die Abhängigkeit der Lohnempfänger vom Markt. ‚De-Statifizierung’ fasst das Ausmaß universalistischer wohlfahrtsstaatlicher Versorgung und egalitärer Lohn- und Steuerpolitik im Kontext der sozialen Strukturierung. Das Verhältnis zwischen Staat, Markt und Familie beschreibt die Integration des familiären Sektors in den Staat oder in das öffentliche Dienstleistungsprofil des Wohlfahrtsstaates. Feministisch orientierte Wissenschaftlerinnen benannten letzteren Faktor „Defamilialization“ (einen Überblick bietet Ostner 1998, S. 111).

Die unterschiedlichen Kombinationen dieser drei ‚Ds’ resultierte in liberalen, konservativen und sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaatsregimen. Die liberalen Regime, zu denen bspw. Großbritannien, die USA und Kanada gezählt werden können, gewähren lediglich zwei Wege der Wohlfahrt: Arbeit und arbeitsbezogene Wohlfahrt auf der einen Seite, die Familie auf der anderen. Dualismus ist ihr Leitprinzip. Der De-Kommodifizierungseffekt ist niedrig, und Eigenverantwortung steht im Vordergrund. Die freie Marktwirtschaft gesteht nur denjenigen Hilfe zu, die unverschuldet vom Markt ausgeschlossen wurden. Das liberale Konzept folgt der Bedürftigkeitsprüfung. Die Leistungen werden auf geringe Transferleistungen der Sozialhilfe und bescheidene Sozialversicherungsprogramme reduziert, eine sehr niedrige Grundsicherung soll als ‚Arbeitsanreiz’ dienen. Im Rahmen der Stratifizierung wird keine Umverteilung angestrebt, was zum Dualismus zwischen ausgegrenzten Sozialhilfeempfängern und Marktteilnehmern führen kann. Die sozialen Strukturen werden polarisiert. Das Primat des Marktes hat zur Folge, dass nur in Notsituationen auf die Zuständigkeit des Staates verwiesen werden kann (Kohl 1999).

Die konservativen Länder (z.B. Deutschland, Frankreich und Italien) verbinden soziale Ansprüche mit dem Status der Erwerbstätigkeit der Arbeiter und bieten Familien finanzielle Transferzahlungen anstelle von Betreuungs- oder Pflegedienstleistungen. Soziale Rechte sind also an die Erwerbsarbeit geknüpft. Der De-Kommodifizierungseffekt ist mittleren Ausmaßes. Die soziale Marktwirtschaft birgt die Verpflichtung der Arbeitgeber, Verantwortung gegenüber den Beschäftigten zu übernehmen. Dieses Ländercluster ist von konservativen und katholischen Leitgedanken geprägt und folgt dem Prinzip der Subsidiarität: im Falle, dass Selbsthilfe nicht mehr möglich ist, tritt die nächste Instanz, die Familie, ein. Es herrscht das Primat der Familie. Der Staat greift nur beim Versagen anderer Mechanismen ein. Die Bismarcksche Sozialversicherung ist ein prägendes Charakteristikum; Einzahlungen reflektieren zukünftige Leistungen, letztere sind also beitrags- und einkommensbezogen. Ziel ist die Lebensstandardsicherung. Der in der Gesellschaft erworbene Status soll bestätigt werden. Die Stratifizierung wird durch statusbezogene Sozialleistungsprogramme gefördert, hierarchische Strukturen werden somit reproduziert. Es kommt zu keinem Eingriff in die Einkommensverteilung, vielmehr findet eine Umverteilung auf mittlerem Niveau nur innerhalb der Berufsgruppen sowie zwischen Generationen statt (Generationenvertrag) (Kohl 1999).

Ausschließlich das von Arbeiterbewegungen und sozialdemokratischen Parteien geprägte sozialdemokratische Cluster, dem die skandinavischen Länder zugeordnet werden können, „de-familisiert“ (Ostner 1998, S. 111) allgemein und schafft somit Dienstleistungsberufe (für Frauen) sowie Dienstleistungen für Ältere. Der Leitsatz lautet egalitärer Universalismus, und die keynesianistisch geprägte Marktwirtschaft ist ausschlaggebendes Charakteristikum. Soziale Rechte fungieren als Bürgerrechte, Bürgerversicherung und soziale Dienste seien als Beispiele in diesem Kontext genannt. Der De-Kommodifizierungseffekt ist hoch. Die Finanzierung erfolgt über hohe Steuern. Folglich entstand das vorherrschende Doppelverdienermodell auch aus einer wirtschaftlichen Notwendigkeit heraus. Gleichheit wird auf hohem Niveau angestrebt und durch auf Statusausgleich beruhenden Sozialleistungsprogrammen vermittelt. Das Primat des Staates schließt auch zuvor familienbezogene Funktionen der Wohlfahrtsproduktion mit ein (ebd.).

Esping-Andersens (1990) Arbeit hat beträchtlich zum Verständnis des „europäischen Wohlfahrtsstaatsphänomens“ (Daly/Lewis 1998, S. 20) beigetragen und hat darüber hinaus verholfen, die Merkmale einzelner Wohlfahrtsstaaten kenntlich zu machen und die Beziehung nationaler Wohlfahrtskonfigurationen zueinander besser zu verstehen. Doch auch diesem Ansatz sind Grenzen gesetzt: Vergleiche einer großen Anzahl von Ländern droht die Gefahr einer unadäquaten Themenbearbeitung; es besteht die Tendenz, Elemente der Variation in sehr allgemein gehaltene Kategorien zu zwingen. Die Kritik an Esping-Andersens (1990) Modell ist daher vielfältig. Es ist zu Differenzen gekommen, was die Regimeplatzierung einiger Länder anbelangt. Eine ganze Reihe von Beiträgen ist erschienen, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, zu bewerten, ob spezifische Wohlfahrtsstaaten tatsächlich den jeweiligen Regimetypen entsprechen und ob es Fälle gibt, die mit keiner der politischen Logiken konform gehen (einen guten Überblick über die verschiedenen Ansätze liefern: Arts/Gelissen 2002; Castles/Mitchell 1993 und Lessenich/Ostner 1998). Dabei bilden Esping-Andersens (1990) „drei Welten“ oft die Grundlage neu entstehender Typologien.

Ein weiterer wichtiger Kritikpunkt liegt in der Vernachlässigung der Rolle der Familie im Hinblick auf Pflege und Versorgung von Kindern und Pflegebedürftigen sowie der Frauenfrage in Esping-Andersens (1990) empirischen Analysen. Feministisch orientierte Wissenschaftlerinnen kritisieren den Autor und andere ‚Mainstream-Theoretiker’ für deren Konzentration auf die Einkommenssicherung von Lohnempfängern in regulärer Erwerbstätigkeit in ihren Klassifizierungen. Sowohl die theoretische Konzeptionalisierung als auch die empirischen Analysen des Wohlfahrtsstaates beziehen sich zu einem großen Teil auf die Sozialversicherung, wie bspw. das Rentensystem. Antonnen und Sipilä (1996) verweisen in diesem Rahmen auf die Vernachlässigung der Analyse sozialpolitischer Transferzahlungen und Dienstleistungen, die für Frauen von großer Bedeutung sind. Die vergleichende Forschung schenkt der Beziehung zwischen Staat und Arbeitsmärkten viel Aufmerksamkeit, ignoriert dabei jedoch die Beziehung zwischen Staat und Familie. Esping-Andersen (1999) widmete sich erst später explizit der Familie in seinem Werk „Social Foundations of Postindustrial Economies“. Darüber hinaus ist das eng gefasste Verständnis von sozialen Rechten und Staatsbürgerschaft (im Sinne von ‚ citizenship’) problematisch.

Weiterhin ist es bezüglich des großen Vertrauens der Theoretiker in Idealtypen zu Fragen über den zulässigen Grad der Divergenz zwischen dem konkreten Fall einzelner Wohlfahrtsstaaten und den Idealtypen gekommen (dazu ausführlich: Abrahamson 1999; Rieger 1998 und Wincott 2001). Esping-Andersen (1990) betont in seiner vergleichenden Analyse von Wohlfahrtsstaatsregimen also die Wichtigkeit der Beziehung zwischen Arbeit und Wohlfahrt. In seinem Werk erhält die Familie und unbezahlte Arbeit jedoch leider nur relativ geringe Aufmerksamkeit. Angesichts des begrenzten Rahmens dieser Arbeit sei nur so viel gesagt, dass die vom Autor (1990) entwickelten Klassifizierungsmerkmale der Wohlfahrtsstaatsregime mittlerweile mehr und mehr in Frage gestellt werden. Daher bietet Esping-Andersens (1990) Theorie nicht alle notwendigen Werkzeuge für eine Analyse. Insofern Frauen betroffen sind, beinhalten entscheidende soziale Rechte diejenigen Rechte, die sie weniger abhängig von Familie und Heirat machen – und somit einen „ exit out of family “ (Anttonen/Sipilä 1996, S. 89) ermöglichen. Soziale Pflegedienstleistungen für die Älteren sind bei dieser Diskussion (neben der Kinderbetreuung) von entscheidender Relevanz.

Ein weiteres bekanntes Konzept bei internationalen Vergleichen ist das der so genannten ‚Wohlfahrtsmischform’ (‚ welfare mix’). In wohlhabenden Gesellschaften basiert Pflege auf Kombinationen formeller und informeller Versorgung. Verschiedene Typen von Dienstleistungsanbietern sowie verschiedene Arten von Finanzierungsleistungen prägen das Bild (Anttonen/Sipilä 2002). Pflege kann in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft organisiert sein. Die unterschiedlichen Angebots- und Finanzierungsmischformen, die als Basis für einen Ländervergleich der Pflegesysteme herangezogen werden können, fußen auf der Analyse folgender grundlegenden Dimensionen (Roostgard/Lehto 2001):

- Familie

Altenpflege hat ihren Ursprung in der Familie. Die Familie kann zur Kostenerstattung beitragen, indem sie Nutzergebühren oder private Versicherungspremien zahlt, oder indem ihr die Produktionskosten für die informelle Pflege innerhalb der Familie zugeschrieben werden.

- Nicht gewinnorientierter Sektor

Dieser Bereich schließt eine Vielzahl von Anbietern ein; die Bandbreite variiert hier zwischen Selbsthilfegruppen bis hin zu großen nationalen, nicht-staatlichen Organisationen mit einer Fülle professioneller, bezahlter Arbeiter.

- Markt

Der Markt bietet Pflegeleistungen an, so wie jede andere kommerzielle Dienstleistung.

- Staat

Angebot und Finanzierung erfolgen durch die zentrale, regionale und/oder kommunale Behörde.

- Arbeitgeber

Arbeitgeber können Dienstleistungen für Arbeitnehmer und deren Familienangehörige anbieten oder als zusätzliche Vergünstigung offerieren. Sie können Dienstleistungen indirekt finanzieren, indem sie bspw. Arbeitnehmer auf freiwilliger Basis versichern. Arbeitgeber können darüber hinaus auch Beiträge zur Pflichtversicherung leisten – entweder über staatliche oder über private Versicherungsunternehmen.

Dennoch hat diese idealtypische Aufteilung immer weniger mit der empirischen Wirklichkeit der tatsächlichen Versorgung in den einzelnen Ländern gemein. Eine einfache Kategorisierung von Dienstleistungsanbietern und –Finanzierungsformen in Typen lässt die Variationen zwischen den Dienstleistungsmustern nicht deutlich werden. So ist es wichtig zu betonen, dass die Akteure im Feld der Altenpflege keine Idealtypen repräsentieren, sondern auf kreative Weise die genannten Prinzipien miteinander vermischen. Das wahre Bild gestaltet sich also komplexer. Die Klassifizierung leistet vielmehr einen Beitrag zum Aufzeigen der Vielfältigkeit der Anbieter sozialer Pflege (Anttonen/Sipilä 2002).

Es kommt zu überraschend großen nationalen Unterschieden in Umfang und Zielsetzung von Pflegedienstleistungen. Ein und dieselbe Funktion kann durch einen der fünf Anbieter oder von verschiedenartigen Kombinationen dieser öffentlichen und privaten Ressourcen gestellt werden. Der Zugang der Wohlfahrtsmischform zeigt, dass ein Grund für die ‚Undurchsichtigkeit’ der Altenpflege in der hohen Substituierbarkeit deren Produktion zwischen verschiedenen Sektoren der Gesellschaft liegt – auf eine Art und Weise, die der Produktion der sozialen Sicherung fern liegt. Die vielfältigen Formen der Pflege Älterer werden von einer größeren Komplexität von Ressourcen produziert und von einer weiteren Vielfalt von Anreizen geleitet. Jede Produktionsweise verfügt über ihre eigene Logik und grenzt sich klar von anderen Formen ab (Roostgard/Lehto 2001).

Das Konzept der Wohlfahrtsmischform behandelt darüber hinaus die Frage, wie die pflegerische Versorgung sich im Verlauf der Zeit und über Ländergrenzen hinweg verändert. Stellt Modernisierung in diesem Kontext einen relativ uniformen, weltweiten Prozess dar, in dessen Verlauf mit Traditionen gebrochen wird, und die Gesellschaften sich zunehmend im Sinne Parsons’ (1970) einander angleichen, nicht nur in ihren Ökonomien, sondern auch in ihren institutionellen Strukturen und kulturellen Orientierungen? Oder kann im Sinne von Eisenstadt (1979), Rokkan (2000), Therborn (2000) und Pierson (2001) davon ausgegangen werden, dass sich moderne Gesellschaften pfadabhängig entwickeln? Demnach haben sich in den verschiedenen Gesellschaften historisch differierende institutionelle und kulturelle Traditionen herausgebildet (vgl.: Pfau-Effinger 2000). Ausgehend vom familialen Sektor, der Pflege in Form informeller Arbeit bietet, vollzieht sich der Prozess der Formalisierung der Pflege in Richtung der drei Bereiche Staat, Markt und nicht gewinnorientierter Sektor. Welchem der drei Bereiche dabei größeres Gewicht zukommt, variiert von Land zu Land. Häufig wird argumentiert, dass die Produktion von Wohlfahrt am besten gewährleistet wird, wenn viele Anbieter eine nachhaltige Arbeitsteilung betreiben (Anttonen/Sipilä 2002).

Das Konzept der sozialen Pflege

Pflege ist eines der ursprünglichen Konzepte, die der feministischen Schule entstammen. Sein Ausgangspunkt liegt im Versuch, die Arbeit zu definieren, die Pflege für andere konstituiert, und zu analysieren, wie diese Einfluss auf die Position der Frauen nimmt. Im Verlauf der Zeit wurde der Fokus auf die Pflegearbeit durch Inbetrachtnahme einer breiter angelegten Vorstellung über die soziale Verteilung der Pflegearbeit und der staatlichen Rolle darin ergänzt. Die Wurzeln des Konzepts der sozialen Pflege lassen sich zur Beschäftigung mit der tagtäglichen reproduktiven Arbeit der Haushalte und der Bedeutung der Hausarbeit der Frauen zurückverfolgen. Pflege wurde zu Beginn in Verbindung mit unbezahlten häuslichen und individuellen Dienstleistungen im Kontext sozialer Beziehungen wie Heirat und Verwandtschaft gesehen. Aufgrund dieser Definition richtete das Konzept Augenmerk auf materielle und ideologische Prozesse, die Frauen in ihrer Rolle als – zum größten Teil unbezahlte – Pflegerinnen bestätigten. Erste Arbeiten über Pflege in den frühen 80er Jahren fokussierten hauptsächlich auf unbezahlte, informelle Pflege in der Familie (einen Überblick bieten: Daly/Lewis 1998). Die Familie hat sich als konstantester Anbieter von Pflege erwiesen; das Angebot von Seiten der Wohlfahrtsverbände, Arbeitgeber, des Staates und Marktes ist weitaus größeren Schwankungen ausgesetzt. Einer der frühesten Beiträge feministischer Analysen der Sozialpolitik war es also aufzuzeigen, dass Pflege in der Familie zum größten Teil weibliche Pflegearbeit meinte.[2]

Mittlerweile hat sich das Pflegekonzept ausgeweitet und reflektiert nun sowohl die komplexe Natur der Vereinbarungen über Pflege in der Praxis als auch den zunehmend vergleichenden Charakter der Theorieansätze. In der Realität hat sich das Pflegen zwischen den Bereichen bezahlter und unbezahlter Arbeit verlagert, dabei sowohl in die eine als auch in die andere Richtung. Mehr noch, die Interpretation der Bedeutung der pflegebezogenen Politik für Frauen verläuft nicht geradlinig. Frühe feministisch orientierte Analysen der Sozialpolitik argumentierten, dass der Eintritt der Frauen in Berufe in Kindertagesstätten, Schulen, Krankenhäusern und Altenheimen, also in den Dienstleistungssektor des Wohlfahrtsstaates, eine Form des „Patriarchats“ darstelle (Daly/Lewis 1998, S. 5 in Rekurs auf Siim 1987[3] ). Frauen führten nun im öffentlichen Raum die Arbeit aus, die sie traditioneller Weise bereits im Haushalt erledigten. Andere wiederum stuften diese Entwicklung als eindeutigen Gewinn ein (Rauhala et al. 1997). Während dieser Zeit der Veränderungen wuchs Pflege zu einem akademischen Konzept heran.

Aus theoretischer Sicht betrachtet kann meine Perspektive auf soziale Pflegedienstleistungen für Ältere als ‚skandinavisch’ oder ‚emanzipatorisch’ beschrieben werden: ich verstehe soziale Pflegedienstleistungen, die im Zentrum meiner Analyse stehen, als Mittel zur Stärkung der Autonomie der Pflegebedürftigen als auch der Pflegepersonen, nicht als Mittel der Unterordnung und Kontrolle. Angelehnt an Esping-Andersens (1990) Konstrukt der Abhängigkeit vom Markt ist die Idee der ‚Abhängigkeit von Pflege’. Die Anstrengungen der Frauen, ihre persönliche Autonomie durch Erwerbstätigkeit zu stärken als auch die Erwartungen älterer Menschen bezüglich eines angemessenen Lebens haben Pflegeabhängigkeit zu einem sozialpolitischen Anliegen gemacht. Besonders die Frauenbewegungen appellierten bezüglich der Versorgung mit sozialen Dienstleistungen an die Gesellschaft. Soziale Pflegedienstleistungen stellen einen Weg dar, Pflegeabhängigkeit zu reduzieren (Anttonen/Sipilä 1996).

Das Konzept der Pflege ist sowohl ambivalent als auch umstritten (vgl. dazu: ebd.). Es ist nur in begrenztem Maß definiert und wird auf derart unterschiedliche Weise genutzt, dass es Gefahr läuft, seine Kernbedeutung zu verlieren. Bei der Nutzung des Konzepts versuche ich spezifisch vorzugehen und es als Kategorie zur Analyse ‚pflegender Wohlfahrtsstaaten’ anzuwenden. Angelehnt an Daly und Lewis (1998) verwende ich die heuristische Kategorie der „sozialen Pflege“, um die politische Ökonomie sowie die Rolle des Staates, die beide im Konzept integriert sind, zu fassen. Somit ergibt sich ein multidimensionales Konzept, von dessen verschiedenen Dimensionen v.a. drei näher beleuchtet werden sollen.

1. Pflege als Arbeit[4]

Diese Dimension betont die Natur der involvierten Arbeit. Darüber hinaus ist es ebenso wichtig, sich mit den Bedingungen, unter denen diese Arbeit ausgeführt wird, auseinander zu setzen. Die Berücksichtigung der Rolle des Wohlfahrtsstaates ist in diesem Kontext unabdingbar. Die Betonung des arbeitsspezifischen Aspekts akzentuiert Pflege als Tätigkeit und Pflegende als Akteure.

2. Pflege im normativen Rahmen der moralischen Obligation

Pflege unterscheidet sich von anderweitiger Arbeit, da sie oft unter Bedingungen der sozialen und/oder familiären Verantwortlichkeit erbracht wird. Diese Betrachtungsweise beleuchtet die sozialen Beziehungen von Pflege, die Motivationen, die unterliegen, sowie die Rolle des Staates bei der Schwächung oder Stärkung bestehender Normen über Pflege.

3. Pflege als Aktivität mit finanziellen und emotionalen Belastungen

Diese Belastungen übersteigen öffentliche als auch private Grenzen. Die wichtigen analytischen Fragen in diesem Kontext betreffen die Verteilung der anfallenden Kosten auf Mikro- oder Makroebene.

Daraus ergibt sich ein multidimensionaler Zugang zur Definition von sozialer Pflege: soziale Pflege umfasst die Aktivitäten, die bei der Erfüllung der täglichen sozialen, psychologischen, emotionalen und physischen Bedürfnisse abhängiger Erwachsener anfallen. Dies kann in Form bezahlter oder unbezahlter Arbeit, auf Basis einer Übereinkunft oder auf Freiwilligenebene geleistet werden, als auch auf professioneller Ebene oder auf Basis einer moralischen Obligation (Knijn/Kremer 1997). Auch die normativen, kostenspezifischen und sozialen Rahmen, innerhalb derer diese Arbeit ausgeführt wird, finden Beachtung. Daly und Lewis (1998) verweisen im Kontext des Definierens und Konzeptualisierens auf einige Unzulänglichkeiten. Ungeachtet einiger Fortschritte in Richtung einer integrierteren Konzeptualisierung ist die Literatur von einigen Dichotomien gekennzeichnet. Eine dieser Dichotomien ist bspw. die zwischen Pflege in formeller Umgebung und Pflege, die im informellen Sektor geleistet wird. Unbezahlte und bezahlte Pflege voneinander zu separieren, zeigt eine zweite dichotome Tendenz. Diese Fragmentierungen können umgangen werden, wenn Pflege als soziales Phänomen untersucht und gleichzeitig Pflegepersonen als soziale Gruppe Beachtung geschenkt wird. Folglich ergibt sich aus der Verbindung des strukturierten sozialen und wirtschaftlichen Phänomens der Pflege zusammen mit dem Handeln der Pflegenden ein neues Bild (Day/Lewis 1998).

Das analytische Potential des Konzepts der sozialen Pflege ist dementsprechend sehr breit gefasst. Dies führt sicherlich zu einigen Nachteilen: das Konzept könnte für analytische Zwecke zu diffus sein. Aber auch Vorteile zeichnen sich ab: eine breit gefasste Definition von Pflege dazu befähigt, die Unterschiede im Pflegeangebot in spezifischen Wohlfahrtsstaaten zu analysieren. Pflege für Ältere ist nicht per Definition bezahlter oder unbezahlter Natur. Vielmehr ist dies Folge politischer Entscheidungen, geteilter kultureller Überzeugungen und geschlechtsspezifischer Strukturen. Darüber hinaus bietet eine breite Definition die Grundlage zum Verständnis und zur Analyse der Verbindungen zwischen Entwicklungen in verschiedenen Bereichen der Pflege. Häufig wird Pflege in der Familie getrennt von Entwicklungen der bezahlten formellen Pflege analysiert: Familiensoziologen setzen sich mit ersterem und Wohlfahrtsstaatsanalysten mit letzterem auseinander (Knijn/Kremer 1997).

Viele Arbeiten über Pflege konzentrieren sich auf Details von Sozialprogrammen, die Natur der Pflege als Aktivität und Netzwerk von Beziehungen und darauf, wie beide Dimensionen die Erfahrung von (Un)Abhängigkeit und Wohlbefinden bedingen.[5] Der Stellenwert der Pflege in der politischen Ökonomie des Wohlfahrtsstaates wurde zu wenig erforscht, daher gibt es nur wenig Konzeptualisierung auf diesem Gebiet. Aus diesem Grund wurde die Makro- und dynamische Struktur des Konzepts unterbewertet, oder sogar ganz außer Acht gelassen. Die Eigenschaften und Potentiale von Pflege auf Mikro- und Individualebene sind bekannt; es ist deren Kapazität, Beziehungen und Aktivitäten zu umschließen, die für lange Zeit die Hauptentwicklungslinie des Konzepts definierten. Weniger bekannt ist, dass das Pflegekonzept auch über ein Potential verfügt, Beziehungen und Systemeigenschaften auf Makroebene zu umfassen (Daly/Lewis 1998). Folglich sollten soziale Dienstleistungsmodelle in die Debatte über Wohlfahrtsstaatsregime integriert werden.

Laut Anttonen und Sipilä (1996) eröffnet die Perspektive sozialer Dienstleistungen neue Sichtweisen für die vergleichende Wohlfahrtsstaatsforschung. Erstens kann diese zu einem tieferen Verständnis des Wohlfahrtsstaates und dessen Funktionsweisen verhelfen. Zweitens liefert die Aufnahme der sozialen Dienstleistungen in die fortlaufende Debatte eine Form der Reaktion auf feministisch orientierte Kritik der Wohlfahrtsstaatstheorie. Und drittens ist die vergleichende Analyse sozialer Dienstleistungen ein herausforderndes Projekt: deren enorme Vielfalt scheint viel über religiöse, politisch-ideologische und administrative Unterschiede auszusagen. Es ist also zu betonen, dass die Dynamik, die diesem Konzept innewohnt, es nützlich für die Analyse wohlfahrtsstaatlicher Veränderung und Transformation macht.

Demnach findet das Konzept sowohl auf Mikro- als auch auf Makroebene Anwendung. Beim Fokus auf die Makroebene betrifft die Anwendung die pflegerische Arbeitsteilung, Verantwortlichkeit und Kosten im Verhältnis zwischen Familie, Markt, Staat und Freiwilligensektor. Die Kernidee liegt nahe an der des Konzepts der Wohlfahrtsmischform (welfare mix). Auch auf der Mikroebene findet das Pflegekonzept Anwendung und klärt über den Inhalt und Kontext eines Kernelements weiblicher Arbeit auf. Die aussagekräftigsten Indikatoren sind an dieser Stelle die Verteilung der Pflegeerbringung zwischen Frauen und Männern sowie die Bedingungen, unter denen Pflege ausgeführt wird. Um zwischen privaten und öffentlichen Räumen eine Brücke zu spannen, sollte das Konzept als nützliche Kategorie zur Analyse dienen, die Natur und Grenzen der wohlfahrtsstaatlichen Versorgung sowie die Variationsformen im Verlauf der Zeit und über nationale Grenzen hinweg zu untersuchen.

Its dynamic lies in the idea of boundaries as applicable at both macro- and micro-level. At the macro-level, change may be identified by virtue of alteration in the distribution of care among sectors. At the micro-level the trajectory of change embraces the distribution of care among individuals and alteration in the conditions under which care is carried out and received (Daly/Lewis 1998, S. 8).

Da die jeweiligen Autoren zum größten Teil das Konzept sozialer Pflege verwenden, das in ihrem Land vorherrscht, soll die gewählte breite Konzeptualisierung von Pflege auch so gesehen werden, dass sie den Kontext für die Analysen der jeweiligen Länder stellt. Das Konzept hat also das Potential, Hypothesen über Pfade, die Transformationen beschreiben, abzubilden. Inwiefern es möglich ist, mit Hilfe der Pfadtheorie das momentane Geschehen in Wohlfahrtsstaaten zu fassen und wie bedeutsam sich diese bei der Analyse der Beziehung zwischen Wohlfahrtsstaaten und der Geschlechterfrage zeigt, sind Themen, die sich durch meine Arbeit ziehen werden.

Pflege und Wohlfahrtsstaatsregime

Das starke Element der De-Zentralisierung in der Organisation, dem Angebot und der Finanzierung von Dienstleistungen verkompliziert das Verständnis des Systems der finanziellen Transferzahlungen für Pflege. Kulturelle, wirtschaftliche und politische Unterschiede innerhalb eines Landes tragen zu einer Vielfalt von lokalen ‚Wohlfahrtspaketen’ bei (Rostgaard/Lehto 2001). Die beiden ausgewählten Länder Deutschland und Schweden profitieren davon, gut entwickelte wohlfahrtsstaatliche Systeme aufweisen zu können. Diese Wahl ermöglicht Vergleiche zwischen einem Land, das für gewöhnlich als Archetyp des ‚Bismarckschen’ konservativen Wohlfahrtsstaates angesehen wird, mit einem Land, das bisher ein typisches Beispiel eines sozialdemokratischen Regimes darstellt.

Wird das Dienstleistungsangebot in Wohlfahrtsstaaten analysiert, werden die Faktoren Arbeit und Wohlfahrt bzw. unbezahlte Arbeit und Familie zu zentralen Elementen der Analyse. Als die Kernprogramme moderner Wohlfahrtsstaaten, größtenteils in Form von Renten und Sozialversicherung, verabschiedet wurden, basierten diese auf dem Modell eines männlichen Versorgers und Ernährers sowie einer Hausfrau und Pflegerin. Dieses Modell würde deshalb in seiner Reinform davon ausgehen, dass Frauen Abhängige im privaten Raum pflegen und dass Männer sowohl die finanzielle Versorgung als auch Ansprüche auf Beihilfen durch ihre Erwerbstätigkeit aufbringen würden. Die Realität stimmte für eine große Anzahl von Familien nie mit derartigen Annahmen überein, v.a. nicht in der Arbeiterschicht. Nichtsdestoweniger arbeiteten die meisten Regierungen der Nachkriegszeit mit der Annahme, dass Vollzeitbeschäftigung der Männer und stabile Familien die Norm darstellen. Vorstellungen über geschlechtsspezifische Rollen entwickelten eine bemerkenswerte Eigendynamik und blieben zum größten Teil unausgesprochen. Vielmehr war es die Verantwortungsaufteilung zwischen Familie und Staat als Geschlechterrollen per se, welche die Politik beschäftigte. Die Tendenz der ‚stillschweigenden Annahmen’ blieb bestehen (ebd.). Für das auf der Sozialversicherung basierende System Deutschlands lässt sich festhalten, dass angesichts beträchtlicher Veränderungen der Familienstruktur das stark ausgeprägte männliche Versorgermodell während der 90er Jahre an Bedeutung verlor. Die Politik der Regierung Schwedens hatte in Anbetracht der Beschäftigungsknappheit während der 70er Jahre zum Ziel, ein duales Versorgermodell zu schaffen und somit alle erwachsenen Bürger zu entlohnten Beschäftigten werden zu lassen.

Die Bestimmung des Übergangs zwischen Familie und Staat hat sich in Bezug auf Altenpflege, Transferzahlungen und Dienstleistungen als kompliziert erwiesen. Daly und Lewis (1998) verweisen in diesem Kontext darauf, dass es sich historisch als schwierig für Regierungen erwies, die staatliche Gewährung von Pflege mit der Familienverantwortlichkeit in Einklang zu bringen. Es wurde befürchtet, dass die staatliche Bereitstellung von Pflegedienstleistungen die Pflege in der Familie überlagert. Folglich sollte es nicht verwundern, dass die Entwicklung der staatlichen pflegerischen Versorgung gegenüber der Ausweitung von finanziellen Beihilfen nur zweitrangigen Stellenwert innehatte, auch wenn im Falle der Älteren Systeme nach Gestaltung des Amengesetzes für lange Zeit sowohl Lebensgrundlage als auch Pflege in Institutionen gewährten.

Angesichts der Faktoren, die das staatliche Angebot der Altenpflege lenken, variiert die Entwicklung der Formen von Pflege beträchtlich. Institutionelle Pflege allgemein hat sich sehr schleppend im Vergleich zu anderen Dienstleistungsformen entwickelt. Dieser Fakt steht zweifellos in Verbindung mit der Erwartung, dass Frauen ältere Verwandte pflegen würden. Nachweise für derartige Erwartungen nehmen viele Formen an. In der Bundesrepublik wird die Pflege der eigenen Eltern durch eine gesetzliche Regelung untermauert. Die ansteigende Berufstätigkeit verheirateter Frauen und sich verändernde Familienstrukturen haben die Pflege für Ältere auf die politische Agenda gebracht. Bereits 1976 wurde vor dem Absinken der Gesamtheit potentieller weiblicher Pflegerinnen gewarnt. Währenddessen stieg in nahezu der gesamten westlichen Welt der Anteil älterer pflegebedürftiger Menschen drastisch an. Darüber hinaus wuchs auch der Anteil der Älteren, die allein im eigenen Haushalt leben (Daly/Lewis 1998).

Als Erwachsene haben ältere Menschen die Möglichkeit, ein ‚Recht’ auf Pflege zu beanspruchen. Doch nur in Schweden haben diese Ansprüche Anerkennung erfahren. Lediglich zu einem geringen Ausmaß haben weibliche Pflegepersonen als Interessengruppe einen entscheidenden Einfluss auf die Politik ausüben können. Dies macht die komplizierte Natur der Pflege von einer geschlechtsspezifischen Perspektive aus deutlich. Frühe Arbeiten über informelle Pflege betonen das Ausmaß, zu dem diese sowohl als Arbeit, als Tätigkeit motiviert von Liebe und Zuneigung aber auch als Pflicht verstanden wurde. Es konnte gezeigt werden, dass Frauen ältere Verwandte pflegen möchten (ebd.). Doch zu welchem Preis? Es stellt sich die Frage, inwiefern die informelle, unbezahlte Pflegearbeit frei gewählt wurde.

Die Balance zwischen informeller und formeller Pflege ist schwierig. Doch größtenteils ist die Befürchtung, dass ein staatliches Pflegedienstleistungsangebot die informelle, familienbezogene Pflege ersetzen wird, historisch unbegründet. Die informelle Pflegeperson, der die Maßnahme einer formellen Pflege zugestattet wird, mag aufgrund dieser Möglichkeit der Ruhepause und Entlastung befähigt werden, auch weiterhin Pflegearbeit zu leisten. Doch die Pflegearbeit, ob bezahlt oder unbezahlt, wird sehr ungleich zwischen den Geschlechtern geteilt und deren Stellenwert fernerhin verkannt. Aus diesen Gründen ist es unmöglich, informelle von formeller Pflege zu trennen.

Schlüsselelemente des Wandels des sozialen Pflegeangebots

Der Wandel des sozialen Dienstleistungsangebots vollzog sich in Teilen von Schweden beginnend in den frühen 1980er Jahren und bestand hauptsächlich in einer stärkeren Betonung von Marktprinzipien. Das auf der Sozialversicherung basierende deutsche Modell wurde 1996 mit der Einführung der Pflegeversicherung auf den Bereich der sozialen Pflege ausgeweitet. Logische Schlussfolgerung marktbezogener Dienstleistungen ist der Wechsel von Dienstleistungsangeboten zu Transferzahlungen (vgl. dazu auch: Alber 2002). Transferzahlungen machen den Nutzer der Dienstleistungen zu deren Käufer und sind möglicherweise zur Sicherung der Entscheidungsfreiheit daher effektiver. Die Vorteile des Wechsels zu finanziellen Transfers können mit einer stärkeren Orientierung auf den/die Konsumenten/in begründet werden. Darüber hinaus erscheinen Vielfalt und Fragmentierung unausweichlich in pluralistischen Gesellschaften. Folglich stellen finanzielle Beihilfen den besseren Weg zur Garantie gleicher Rechte dar, was natürlich wiederum von der Höhe des Geldes abhängt, das der Dienstleistungsnutzer erhält und auf den Markt investiert (Daly/Lewis 1998). In Deutschland war das Angebot von Pflegedienstleistungen des staatlichen Sektors schon immer schwach im Vergleich zum Angebot von Transferzahlungen; doch diese haben die Form einer zusätzlichen Sozialversicherung, der Pflegeversicherung, angenommen, die automatisch den zu empfangenden Zahlungen ein Limit setzt.

Diese Trends nehmen Einfluss auf die Qualität der Pflege und die Rolle des Staates. Übernimmt der Staat weiterhin die Finanzierung, setzt jedoch dem Ausmaß des Angebots neue Grenzen, so mag dies das Argument stärken, dass der Staat seine regulierende Rolle ausweitet. Derzeit scheint die Qualität der Dienstleistungen für Empfänger ausschlaggebend zu sein (ebd.). Beide Faktoren – das Angebot relativ geringer Transferzahlungen, die Nutzer befähigen, eine Pflegeperson ihrer Wahl einzusetzen, als auch die Unterteilung in Kauf und Angebot, was bedeutet, dass das Angebot vom Sektor des Markts ausgeht, wo Bezahlung und Bedingungen schlechter sind als im staatlichen Sektor – können in einer minderen Dienstleistungsqualität resultieren. Die Veränderungen nehmen auch Einfluss auf die informelle, familienbasierte Pflege. Dieser vernachlässigte Aspekt des Wandels des formellen Angebots ist umso mehr von Bedeutung, bedenkt man, dass eine der zugrundeliegenden Befürchtungen bezüglich Veränderungen die Auffassung war, dass das staatliche Angebot von Pflegedienstleistungen das der privaten Haushalte verdrängen würde (Daly/Lewis 1998).

Methodik

Entgegen dem Typologisierungstrend möchte ich mich der länderspezifischen Fallstudie zuwenden. Viele Vorteile ergeben sich aus der Fallstudie: eine detaillierte Analyse der nationalen Muster wird möglich, der Fokus liegt auf der Komplexität der Variationen. Ein erstes Prinzip dieser methodischen Herangehensweise ist es deshalb, Variationen zu beleuchten. Die beiden Länder Deutschland und Schweden wurden auch gewählt, um eine möglichst große Variationsbreite hinsichtlich der Möglichkeiten der Erbringung von Pflegedienstleistungen zu erhalten. Ein zweites Prinzip beschreibt den Einfluss des Kontexts. Kürzungen oder Ausweitungen von Transferzahlungen oder Dienstleistungen können in einem universalistischen Wohlfahrtsstaat im Vergleich zu einem von Subsidiaritätsvorstellungen geprägten Staat von ganz anderer Bedeutung sein. Auch die Geschlechtsspezifik der Arbeitsteilung muss an dieser Stelle erwähnt werden. Drittens steht diese Methode bei einer Analyse von Veränderungen außer Konkurrenz. Ihre Stärke liegt in der Interpretation der Vielgestaltigkeit spezifischer Fälle als auch in ihrer Kapazität, limitierte Generalisierungen zu entwickeln, die sowohl die historische Chronologie als auch den spezifischen Kontext berücksichtigen. Mehr noch, die Fallstudie legt ihr Augenmerk ebenso auf die Variationen zwischen nationalen Systemen. Als Ausgangspunkt der Analyse dient ein umfassendes Verständnis der sich momentan vollziehenden Veränderungen, was ein Bedürfnis nach größerer Komplexität der Rahmungen und Konzepte weckt. Um mit den Worten von Daly und Lewis (1998, S. 21) zu schließen:

To be persuasive, accounts of welfare state transition must be able to comprehend continuity as well as change, diversity as well as similarity and gender as one of a number of fault-lines along which welfare states operate and change.

Dennoch ist eine quantitative Analyse der sozialen Dienstleistungen der Altenpflege von Deutschland und Schweden nicht einfach: zuverlässige vergleichende Daten sind nur schwer verfügbar. Vergleichende und kategorisierende Arbeiten über das Dienstleistungssystem verschiedener Länder aus weiter gefasster Perspektive sind die Ausnahme. Es gibt einige vergleichende Studien über einzelne Dienstleistungssektoren, wie bspw. ambulante Betreuung für Ältere, jedoch kaum Arbeiten, die verschiedene soziale Dienstleistungen behandeln. Folgende Hauptprobleme treten bei einem Vergleich auf: erstens können dieselben Dienstleistungen für Ältere in verschiedenen Ländern verschiedenen Bereichen der Administration angehören, sie können unter sozialen Pflegedienstleistungen oder Gesundheitsfürsorgedienstleistungen kategorisiert sein. Zweitens kann die Trennungslinie zwischen ‚freiwilliger’ und ‚unfreiwilliger’ Nutzung von Dienstleistungen niemals eindeutig gezogen werden: in einigen Ländern werden alte Menschen in Heime ‚abgeschoben’, in anderen gibt es lange Warteschlangen um aufgenommen zu werden. Drittens verursacht auch die variierende Intensität der Dienstleistungen Probleme. Und viertens variieren statistische Prinzipien hinsichtlich der Standardisierung sozialer Pflegedienstleistungen. Die Statistiken unterscheiden nicht notwendigerweise zwischen privaten und staatlichen Dienstleistungen (Daly/Lewis 1998).

Formelle Pflege eignet sich aufgrund deren allgemeinen Berücksichtigung in finanziellen Budgets weitaus besser für Vergleiche. Die limitierte Datengrundlage über die informelle Versorgung schränkt die Analyse sozialer Pflegesysteme ein. Grund hierfür ist, dass die Forschung kein fundiertes Wissen über die Nutzung der Zeit in den Privathaushalten aufweisen kann. Auch wenn bekannt ist, dass der größte Teil der Pflegearbeit in informeller Umgebung ausgeführt wird, so erweist es sich doch als schwierig, das Ausmaß dieser Arbeit zu messen. Die vergleichende Forschung über Pflegesysteme für Ältere ist daher dürftig, und klare Modelle wurden nur selten präsentiert (Roostgard/Lehto 2001). Modelle, die veröffentlicht wurden, behandeln häufig eher Charakteristika der Kinderpflege und -Betreuung als Systeme der Altenpflege.

Vier Dimensionen der Pflege werden in dieser Arbeit diskutiert: Pflege als staatliche oder private ‚Zuständigkeit’, Pflege als bezahlte oder unbezahlte Arbeit, Pflege als Form der Abhängigkeit oder Unabhängigkeit und Pflege als Recht der Pflegebedürftigen und Pflegepersonen. Diese Dimensionen liegen im Kern des Wohlfahrtsstaates begründet. Die Analyse umfasst empirische Vergleiche zwischen den Ländern Deutschland und Schweden. Die beiden spezifischen Länder wurden auch gewählt, weil sie die konservative und sozialdemokratische Regimelogik des Modells Esping-Andersens (1990) ergänzen und modifizieren können, denn beide Länder verfügen über verschiedene Regime sozialer Pflegedienstleistungen; wobei die staatlichen Administrationen ohne Zweifel eine zentrale Rolle bei der Schaffung dieser Unterschiede inne haben (vgl.: Anttonen/Sipilä 1996). Ich stelle mich der Frage, wie die quantitativen Unterschiede im Angebot dieser Dienstleistungen anhand der historischen Entwicklung zu erklären sind.

In meiner Arbeit werde ich Altenpflege als einen speziellen Teil der Seniorenpolitik analysieren: ich beschäftige mich mit unterstützenden Leistungen, also Leistungen, die Personen dazu befähigen, das alltägliche Leben zu meistern. Beide Formen sozialer Versorgung – Dienstleistungsangebote sowie Transferzahlungen[6] – als auch die dritte Maßnahmenoption der Altenpflegepolitik – die sozialen Rechte sollen berücksichtigt werden. Im Besonderen konzentriere ich mich auf das Konzept der sozialen Pflege in beiden Ländern, also auf deren länderspezifische Stellung. Die z.T. historisch angelegte Analyse der Komplexität und Vielfalt der sozialen Pflegemuster dient einem besseren Verständnis der Entwicklung sozialer Pflegdienstleistungen und der Art und Weise, wie diese in ihren nationalen Kontexten operieren. Darüber hinaus werde ich den Wandel der Pflegearrangements untersuchen und damit die Vielgestaltigkeit der wohlfahrtsstaatlichen Transformation aufzeigen. Weiterhin soll die Erwerbstätigkeit der Frauen in Verbindung mit sozialen Pflegedienstleistungen untersucht werden, diese scheinen auf Länderebene eng miteinander verknüpft zu sein. Der Wandel der formellen sozialen Pflegedienstleistungen soll im Hinblick auf deren Bedeutung für die weitere Beziehung der Frauen zum wohlfahrtsstaatlichen Angebot als unbezahlte und bezahlte Anbieter von Pflegedienstleistungen beleuchtet werden. Die in diesem Kontext entwickelten Modelle offerieren ganz unterschiedliche Alternativen bezüglich der Frauenerwerbstätigkeit und Pflegelösungen außerhalb der Familie. Ziel ist es, herauszustellen, ob die Integration sozialer Dienstleistungen die Resultate der vergleichenden sozialpolitischen Forschung Esping-Andersens (1990) entscheidend verändert, oder treffen dessen entwickelte Wohlfahrtsstaatsregime auf den Bereich der Pflege zu?

Ich beginne die Analyse mit einer Betrachtung der sozialen Rechten, deren Entwicklung und der Familienideologie der Sozialpolitik, die – den sozialen Rechten gegenübergestellt – die moralischen Verpflichtungen (der Frauen) im Bereich der Pflege deutlich machen soll. Für die Gegenüberstellung von Deutschland und Schweden habe ich eine jeweils ähnliche Struktur gewählt: das erste Kapitel beschreibt die historische Herausbildung der Leistungen. Im zweiten Abschnitt analysiere ich den Kontext der betreffenden Wohlfahrtsgesellschaft anhand der Diskussion der herausstechenden Themen der Sozialpolitik und Wohlfahrtspraxis. Im vierten Kapitel wird ein Vergleich der beiden Länder angestellt, der über die Dimensionen der vorangegangenen Kapitel hinausgehen soll. Kommt es zu einer Annäherung zwischen den beiden Ländern, oder folgt die Entwicklung weiterhin verschiedenen Pfaden? Und im schließenden Kapitel stelle ich mich der grundlegenden Frage, ob der jeweilige Fall des Pflegesystems Regimekonsistenz aufweist oder nicht. Ist es legitim, von Regimen sozialer Pflegedienstleistungen zu sprechen?

1. Von der Armenpflege zu sozialen Rechten

Im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts wurde das Thema ‚Pflege für ältere Menschen’ Teil der staatlichen Agenda. Trotz einer Vielzahl von Pflegearrangements in einzelnen Wohlfahrtsstaaten ist die Anerkennung der Pflege als bedeutsamer Faktor der Wohlfahrt der Bürger und damit der sozialen Stabilität ein gemeinsames Charakteristikum der Nachkriegsperiode (Knijn/Kremer 1997). Doch dieser Anspruch ist nur wenig gefestigt, denn die Infrastruktur der Pflege steht aufgrund der momentanen Transformation der Wohlfahrtstaaten unter Druck. Einerseits ist die staatlich organisierte pflegerische Versorgung, wie die Heimpflege oder ambulante Pflege der Älteren, Kürzungen ausgesetzt. Andererseits werden auch neue Formen des Pflegens, wie bspw. privatisierte Pflegedienstleistungen, eingeführt. Diese Transformationstendenz der Wohlfahrtsstaaten, die über nationale Grenzen hinausgeht, betrifft im besonderen staatlich organisierte Pflege, wenn auch nicht in allen Ländern zu gleichem Maße.

Auch wenn die Bedeutung des Pflegens und Gepflegt-werdens für das individuelle und soziale Wohl in der Nachkriegsperiode akkreditiert wurde, führte dies selten zu der Auffassung, dass Pflegen und Gepflegt-werden Elemente der grundlegenden Bedürfnisse von Bürgern darstellen. Zudem wurde der Bereich der Pflege in Marshalls (1948/1992) einflussreicher Konzeptionalisierung über Bürgerrechte, politische und soziale Rechte lediglich insoweit anerkannt, inwiefern medizinische Pflege betroffen war. Sein drittes ‚Bürgerrecht’, die soziale Staatsbürgerschaft (neben der zivilen und politischen), beinhaltet viele Menschenrechte, wie das Recht auf Wohnen, Bildung, Arbeit und Einkommen, lässt jedoch das Recht auf das Ausüben oder den Erhalt von Pflege außen vor. Zu Marshalls Lebzeiten wurde Pflege als Teil der gemeindlichen Pflicht angesehen, es wurde vorausgesetzt, dass diese Aufgabe von der Familie oder sozialen Netzwerken übernommen wird. Dies vermag kaum zu überraschen, da zu dieser Zeit eine starke geschlechtsspezifische Segregation für selbstverständlich gehalten wurde. Diese „Domestifizierung“ von Pflege bildet jedoch die Basis für deren Ausschluss aus Rechten der Staatsbürgerschaft (Knijn/Kremer 1997, S. 331). Die Individualisierung war Ausgangspunkt für Ansprüche auf staatsbürgerschaftliche Rechte in Bezug auf den Staat. Da Pflege zum Aufgabenbereich der nicht-individualisierten Bürger, der Frauen, gehörte, schien es nicht notwendig, die Rechte der Pflegebedürftigen zu verankern, da es von Frauen erwartet wurde, deren Pflege zu übernehmen. Es mangelte an einem Konzept der Staatsbürgerschaft, das die Wichtigkeit der Pflege für die Gesellschaft anerkennt (ebd.).

[...]


[1] Die Werte variieren je nach Modellvariante.

[2] Auch als Umfragen Mitte der 80er Jahre zeigten, dass Männer zu einem größeren Anteil als erwartet (12 Prozent – im Gegensatz zu 15 Prozent der Frauen) Pflege übernehmen, so konnte auch herausgestellt werden, dass Frauen mehr Stunden für die Pflege investieren und darüber hinaus persönlichere Pflegeaufgaben ausführen. (Daly/Lewis 1998, S. 5 ff.)

[3] Siim, B. (1987): The Scandinavian welfare states – towards sexual equality or a new kind of male domination? In: Acta Sociologica, vol. 30 (3/4), S. 255-270.

[4] Bezahlter oder unbezahlter Natur.

[5] Z.B. Anttonen und Sipilä (1996), die informelle Pflege und Dienstleistungen des Marktes ausschließen.

[6] Pflegeleistungen vollziehen sich in der Interaktion zwischen Pflegeperson und Empfänger/in, folglich werden Einkommenstransfers nicht als Leistungen angesehen.

Excerpt out of 120 pages

Details

Title
Altenpflegepolitik in Deutschland und Schweden im Vergleich
College
http://www.uni-jena.de/  (Institut für Soziologie)
Grade
2,0
Author
Year
2004
Pages
120
Catalog Number
V31421
ISBN (eBook)
9783638324380
ISBN (Book)
9783668105157
File size
949 KB
Language
German
Keywords
Altenpflegepolitik, Deutschland, Schweden, Vergleich
Quote paper
Christiane Landsiedel (Author), 2004, Altenpflegepolitik in Deutschland und Schweden im Vergleich, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/31421

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Title: Altenpflegepolitik in Deutschland und Schweden im Vergleich



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