Ibsens und Jelineks Nora-Stücke und der Mythos der Emanzipation

Warten auf das Wunderbare


Tesis de Máster, 2014

71 Páginas, Calificación: 1,7


Extracto


Inhalt

1. Einleitung

2. Henrik Ibsen: Nora (Ein Puppenheim)
2.1. Ibsens Stück, der historische Kontext und die Rezeption
2.2. Ibsens ästhetisches Verfahren
2.3. Männlichkeit und Weiblichkeit bei Ibsen
2.3.1. Die Konstruktion von Geschlecht
2.3.2. Figurenkonzeption

3. Elfriede Jelinek: „Was geschah nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen
der Gesellschaften“
3.1. Jelineks gesellschaftskritische Position
3.2. Jelineks ästhetisches Verfahren
3.2.1. Intertextualität und Struktur
3.2.2. Sprache und Körper
3.2.3. Die Dekonstruktion von Alltagsmythen
3.3. Männlichkeit und Weiblichkeit bei Jelinek

4. Warum Nora in ihr Puppenheim zurückkehren musste

5. Fazit

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Mit dem Theaterstück Nora (Ein Puppenheim) gelangte der bereits über 50jährige norwegische Autor Henrik Johan Ibsen im Jahr 1879 zu Weltruhm. Er verursachte mit seinem Schauspiel viel Aufruhr und Unmut und wurde doch kräftig gefeiert und vor allem für sein emanzipatorisches Engagement (auch wenn Ibsen dies stets leugnete) von der damaligen Frauenbewegung geschätzt. Ähnlich erging es knapp hundert Jahre später der österreichischen Schriftstellerin und Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek mit ihrem Theaterdebut Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaften. Mit ihrer Fortsetzung von Ibsens Stück, welches direkt an dessen Ende anknüpft, gelang sie zwar auch zu hohem Ansehen, vermehrt von Frauen der dritten Welle der Frauenbewegung in den 70er Jahren, aber die Autorin machte sich mit ihrer Ästhetik und ihrer politischen Kernaussage nicht nur Freunde.

Ibsens Nora wartet auf das Wunderbare, sie wartet darauf, dass sich etwas in ihrem Leben zum Positiven ändert und schafft es zum Schluss, diese Veränderung aus eigener Kraft heraufzuführen, sich von ihren Fesseln in ihrem Puppenheim, der Männerherrschaft, zu befreien und in ein selbstbestimmtes Leben aufzubrechen. Diesen Optimismus führt Jelinek allerdings nicht fort. Sie zeichnet ein sehr pessimistisches Bild von dem, was Nora in der Gesellschaft, in die sie Ibsen entlässt, erwartet. Noras Befreiungsversuch hat bei Jelinek nichts mit dem erhofften Wunderbaren zu tun, sondern wird zu einer herben Desillusionierung. Gefangen in einem kapitalistischen System, lässt sie sich ausbeuten und zum Spielball einer in ökonomische Interessen verstrickten Männerherrschaft machen, die sie am Ende ironischerweise zurück in die Arme ihres Ex-Mannes aus Ibsens Stück, Torvald Helmer, treibt. Elfriede Jelinek lässt keinen Raum für Illusion und schönen Schein, sie demontiert Ibsens Theaterstück und zerschlägt seine verheißungsvolle Intention und den in ihren Augen von Ibsen unterstützen Mythos der Emanzipation. Wie sie dabei vorgeht, soll im Laufe dieser Arbeit geklärt werden.

Zunächst muss dafür die Grundlage für Jelineks Stück, also Ibsens Nora (Ein Puppenheim) genauer betrachtet werden. Um herauszufinden, wieso das Schauspiel des Norwegers überhaupt als Emanzipationsstück berühmt geworden ist, bietet der historische Kontext, in dem Ibsen gestaltete, und die Rezeptionsgeschichte näheren Aufschluss. Danach soll sein ästhetisches Verfahren, also die Art und Weise der Schauspiel-Konzeption, unter dem Aspekt, ob hier auch ein Hinweis auf die Mythos Entstehung gegeben ist, genauer untersucht werden. Anschließend findet eine detailliertere Analyse des Inhalts statt. Den Schwerpunkt bildet dabei die Betrachtung der Figurenentwürfe, es soll gezeigt werden, wie die Männer- und die Frauenfiguren des Stückes, insbesondere Nora und Helmer, angelegt sind. Die sorgfältige Untersuchung des Stückes von Ibsen soll vor allem die Voraussetzung für ein profunderes Verständnis der Stoffumsetzung bei Elfriede Jelinek schaffen.

Der zweite Teil dieser Arbeit beschäftigt sich mit Jelineks Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaften, welches zunächst unabhängig von Ibsens Original betrachtet werden soll. Auch hier ist für das genauere Textverständnis eine Einführung in Jelineks politische Lebensanschauung und ihre Arbeitstechnik notwendig. Danach richtet sich der Fokus auf den Inhalt, wie bei Ibsen speziell auf die Analyse von Männlichkeits- und Weiblichkeitsdarstellungen. Dabei soll immer wieder deutlich werden, wieso es Jelinek für erforderlich hielt, den eher hoffnungsvollen Ausgang des Stückes von Ibsen durch ihre spezielle Weiterführung seines Endes in einen unbedingten Pessimismus zu verkehren. Hierbei findet die Dekonstruktion des Mythos der Emanzipation besondere Beachtung und dieser soll anhand von Textbeispielen immer wieder belegt werden. Diesem Mythos widmet sich auch der letzte Teil der Arbeit, in welchem Ibsens und Jelineks Stück unter dem Aspekt der Emanzipationsthematik zusammengefasst verglichen werden sollen, um Jelineks Motivation und Intention deutlicher herauszustellen. Das Ende dieser Arbeit liefert ein kurzes Fazit, in welchem die gewonnenen Erkenntnisse noch einmal knapp dargestellt werden.

2. Henrik Ibsen: Nora (Ein Puppenheim)

Das Schauspiel Et dukkehjem des norwegischen Autors Henrik Ibsen, welches in Deutschland durch seinen Übersetzer Wilhelm Lange unter dem Namen Nora (Ein Puppenheim) bekannt wurde, erschien im Jahr 1879 und zählt bis heute zu Ibsens berühmtesten und beliebtesten Stücken. Es wurde am 21. Dezember 1879 am Königlichen Theater in Kopenhagen uraufgeführt und da Ibsens Werk in Deutschland großen Anklang fand, erfolgte die deutsche Erstaufführung bereits kurze Zeit später, im Februar 1880 in Kiel. Bis heute dient Ibsens Nora immer wieder als Vorlage für moderne Theateraufführungen oder Texte, die das Schauspiel oder wenigstens Teile daraus verarbeiten. Ob diese Beliebtheit des Autors etwas mit Ibsens Ästhetik, der Konzeption seiner Stücke, oder den damals und heute vorherrschenden gesellschaftlichen Strukturen und ihrer Reflexion innerhalb des Theaterstückes zu tun hat, soll in den folgenden Kapiteln anhand einer näheren Inhalts- und Formanalyse erläutert werden. Dies geschieht vorrangig im Hinblick auf den emanzipatorischen Ansatz innerhalb des Werkes Nora (Ein Puppenheim). So lässt sich schon an dieser Stelle sagen, dass ein großer Teil seines ersten Erfolges sicherlich durch den historischen Kontext der ersten Frauenbewegung erklärbar ist, andererseits muss wohl auch konstatiert werden, dass Ibsen in der Gestaltung seiner Stücke von den politischen Umbrüchen seiner Zeit deutlich beeinflusst wurde. Denn nicht nur das bestehende Klassen- und Ständereglement wurde am Ende des 19. Jahrhunderts vor allem in den Metropolen Europas aufgebrochen, sondern die bis dahin vorherrschende Geschlechterordnung wurde erstmals umfassender hinterfragt. Innerhalb dieser Zeit wurde Nora aus Ibsens gleichnamigem Stück zum Sinnbild der modernen Frau, die ihr Schicksal in eigene Hände nimmt und den Schritt wagt, sich von alten Werten und Normen loszusagen, die bestehenden Strukturen in Frage zu stellen und für eine persönliche Veränderung und Selbstverwirklichung einzutreten. Die Frage, ob die Darstellung von der Möglichkeit weiblicher Emanzipation eine verklärende oder eine realistische ist, soll dabei in den Mittelpunkt der Analyse rücken. Diese Auseinandersetzung wird in Kapitel drei, bei Elfriede Jelinek, wieder aufgenommen und weitergeführt, denn gerade in der Fortsetzung des Nora-Stoffes durch Jelinek stellt sich die Frage nach geglückter Emanzipation unter den gegebenen gesellschaftlichen Voraussetzungen noch eingehender.

2.1. Ibsens Stück, der historische Kontext und die Rezeption

Ibsens Nora (Ein Puppenheim) füllte bereits nach der Premiere schnell die Theaterhäuser und konnte große Einnahmen verzeichnen. Das Stück zog ein breites und vor allem auch neugieriges Publikum an, denn die Kritiken waren nicht nur positiv. Neben diesem großen finanziellen Erfolg entfachte Ibsens Stück aber auch über die Grenzen Norwegens hinaus, in beinahe ganz Europa, einen Sturm der Entrüstung. Es galt als aufrührerischer Angriff auf die heilige Institution der Ehe und der bekannten und altbewährten Geschlechterhierarchie. Andererseits aber auch als Aufruf für die Rechte unterdrückter Frauen, die um Gleichberechtigung rangen. Bis heute gilt Nora als Emanzipationsstück schlechthin, indem es die Stellung der Frau innerhalb von Ehe und Gesellschaft thematisiert. Um diese Wirkung zu erklären, ist der Verweis auf den historischen Kontext, in welchem das Stück entworfen wurde, und die damit einhergehende Rezeptionsgeschichte, unumgänglich. Doch vorerst bedarf es einer kleinen Einführung in die Handlung des Stückes.

Die Hauptfigur aus Ibsens Theaterstück ist die junge und schöne Nora Helmer, die seit acht Jahren in einer Ehe mit Torvald Helmer lebt. Eigentlich führen Helmer und Nora eine Ehe, die den gängigen Moralauffassungen der damaligen Gesellschaft entspricht und repräsentieren damit keine Ausnahmeerscheinung. Sie haben drei Kinder, sind finanziell gut situiert (Helmers Beförderung zum Bankdirektor steht bevor) und scheinen ein intaktes Verhältnis zu haben. Das Stück setzt mit den Vorbereitungen für das bevorstehende Weihnachtsfest ein, alles verläuft harmonisch und friedvoll. Doch als Noras Freundin Christine Linde in der vorweihnachtlichen Zeit zu Besuch kommt, vertraut Nora ihr ein Geheimnis an: Kurz nach Noras und Helmers Eheschließung, als Nora mit dem ersten Kind schwanger war, wurde Helmer schwer krank und konnte nach Auffassung der Ärzte nur durch eine Erholungsreise nach Italien wirklich genesen. Trotz mangelnder finanzieller Möglichkeiten entschloss sich Nora ihren Mann zu retten. Sie beschaffte das Geld für die Reise in den Süden und erzählte Helmer, es sei von ihrem Vater. In Wahrheit nahm sie allerdings bei Torvalds ehemaligem Schulkameraden, dem Rechtanwalt Krogstad, einen Kredit auf. Ihr Vater war bankrott und lag im Sterben. Für den Schuldschein sollte ihr Vater als Bürge eingesetzt werden, doch aus Rücksicht auf dessen gesundheitliche Lage, fälschte Nora vor lauter Sorge um ihren Mann Torvald die Unterschrift ihres Vaters. Von da an zahlte Nora heimlich das Geld an Krogstad zurück, ohne dass ihr Mann etwas von den tatsächlichen Begebenheiten ahnte. Um Geld zu verdienen, sparte sie von ihrem Anteil am Haushaltsgeld und erledigte heimlich, spät am Abend Schreibarbeiten, an die sie durch glückliche Umstände gelangt war.

Nachdem Nora Frau Linde ihr Herz ausgeschüttet und ihr Schicksal anvertraut hat, häufen sich die Ereignisse. Krogstad soll seine Anstellung bei Helmers Bank verlieren und stattdessen Christine Linde eingestellt werden. Daraufhin fällt Krogstad die gefälschte Unterschrift auf Noras Schuldschein auf und er versucht Nora zu erpressen. Krogstad weist sie auf ihre doppelte Schuld hin. Auf der einen Seite darf eine Frau ohne Einwilligung ihres Ehemanns keinen Kredit aufnehmen, dies ist die private Schuld Noras vor Helmer; auf der anderen hat sie mit der Fälschung der Unterschrift gegen öffentliche Gesetze verstoßen. Dies ist als Schuld gegenüber der patriarchalisch geprägten Gesellschaft zu verstehen, innerhalb derer Nora als Frau gegen ein von Männern gemachtes Gesetz verstoßen hat. Nora soll Torvald überreden, Krogstads Arbeitsstelle zu sichern, sollte ihr das nicht gelingen, will Krogstad Noras Geheimnis aufdecken. Er schreibt einen Brief an Torvald, in welchem er die Schuldscheinfälschung Noras bloßlegt. Die Beweggründe für Noras Handeln sind ihm dabei egal, da er ein Mann der Gesetze und Vertreter des „Rechts“ ist: „Die Gesetze fragen nicht nach den Beweggründen“[1]. Die nächsten Tage verbringt Nora in Hoffen und Bangen. Sie hat Angst, ihrem Mann könne Krogstads Brief in die Hände geraten, weil ihr „Fehlverhalten“ eine Schädigung des Ansehens ihres Mannes in der Öffentlichkeit bedeuten würde und sie sich vor dessen Reaktion fürchtet. Sie überlegt zur Ehrenrettung der Familie, diese zu verlassen, wenn nötig durch einen Selbstmord. Gleichzeitig hofft sie auf das Eintreten des „Wunderbaren“, welches für den Wunsch steht, dass die Liebe zwischen ihr und Torvald größer und bedeutsamer ist als alle Vorurteile, Auffassungen von Ehre, sittlichen Prinzipien oder Gesetze, und er einsieht, dass sie die Fälschung nur aus Liebe zu ihm begangen hat.

Als Noras Mann den Brief schließlich tatsächlich zu lesen bekommt, reagiert er mit Unverständnis und herabwürdigend, er hat Angst um sein Ansehen, beschimpft Nora und wirft ihr vor, ihn ins Unglück gestürzt zu haben. Doch um sein Ansehen, seine Ehre und den Schein zu wahren, will er die Ehe fortsetzen, Nora jedoch die Erziehung der gemeinsamen Kinder untersagen, da sie in seinen Augen keine würdige moralische Vorbildfigur mehr sein kann. Kurz darauf trifft ein weiterer Brief von Krogstad ein, in welchem sich Noras Schuldschein befindet. Krogstad nimmt damit seine Erpressung zurück und erlöst Helmer und Nora vermeintlich von ihren Sorgen und sozialen Ängsten. Helmer sieht sich daraufhin augenblicklich gerettet und versichert Nora, ihr ihren Fehltritt zu vergeben (Vgl. NP 85f.). Für Nora bedeutet die Reaktion ihres Mannes allerdings die Infragestellung ihrer Liebe, ihrer Person und der gemeinsamen Ehejahre. Das Wunderbare ist nicht eingetreten und sie erkennt die Starre und Puppenhaftigkeit ihres Daseins. Daraufhin verlässt sie, desillusioniert von ihrer Liebesvorstellung, ihren Mann und die Kinder und geht in eine ungewisse, aber hoffnungsvoll gezeichnete Zukunft, um ihr eigenes Schicksal selbstbestimmt in die Hand zu nehmen und um sich davon zu überzeugen „wer recht hat, die Gesellschaft oder [sie].“ (NP 91).

Einige Quellen belegen eine tatsächlich stattgefundene Begebenheit aus Ibsens Umfeld als Anregung für sein Theaterstück.[2] Der Ehekonflikt zwischen der norwegisch-dänischen Schriftstellerin Laura Kieler, mit welcher Ibsen seit 1870 befreundet war, und ihrem Mann soll Ibsen als Vorbild für die Auseinandersetzung zwischen Nora und Torvald Helmer gedient haben. Laura Kieler borgte sich heimlich Geld für ihren kranken Mann und wurde daraufhin von der Gesellschaft ähnlich behandelt wie Ibsens Protagonistin Nora. An Laura Kielers Schicksal war Ibsen nicht ganz unbeteiligt, denn er weigerte sich, ein von ihr geschriebenes Manuskript zu veröffentlichen, was für die Abzahlung ihrer Schulden von Nöten gewesen wäre. Er argumentiert dabei in einem Brief an sie erstaunlicherweise ganz altmodisch im Sinne Torvald Helmers:

„Sie schreiben in Ihrem Brief von bestimmten Verhältnissen, die eine so überstürzte Arbeit notwendig machen. Das verstehe ich nicht. In einer Familie, in der der Mann noch lebt, kann es niemals notwendig sein, daß seine Ehefrau, so wie Sie es tun, ihr geistiges Herzblut vergießt. Ich verstehe auch nicht, daß Ihnen so etwas erlaubt wird. […]“[3]

Daraufhin erlitt Laura einen Nervenzusammenbruch und musste in eine Anstalt eingewiesen werden. Außerdem trennte sich ihr Mann, welcher kein Verständnis für ihr Handeln aufbringen konnte, von ihr. Allerdings wurde die Ehe nach zwei Jahren wiederaufgenommen.

Ibsen erkannte schnell das dramatische Potential dieser Geschichte einer unglücklichen Ehe, wobei es ihm aber vor allem darum ging, ein Kunstwerk zu schaffen und kein „Propagandastück“ zu konzipieren.[4] So versuchte er als moderner Schriftsteller sich beispielsweise zeitgenössischer wissenschaftlicher Theorien zu bedienen, wie die über den Determinismus und die Vererbungslehre, um die Psychologie der Figuren seines Stückes zu untermauern. Feministische Anliegen waren ihm erst einmal fern und er distanzierte sich auch immer wieder von den Unterstellungen, er schreibe in Frauenanliegen.[5] Doch um sich solchen Intentionstheorien völlig zu entziehen, hätte Ibsen das Stück anders anlegen oder zumindest die Sympathien für die Figuren in seinem Stück anders verteilen müssen.

Die Schicksale der Figuren innerhalb Nora (Ein Puppenheim) können von der Struktur der Gesellschaft der damaligen Zeit, der bürgerlichen, nicht losgelöst betrachtet werden. Das Drama polarisierte. Überall wurde über das Ende des Stückes diskutiert. Noras Verhalten wurde unter moralischen Gesichtspunkten erörtert und von Ibsens Zeitgenossen wurde das Stück „als ein Programm des Radikalismus aufgenommen, bekämpft von den Konservativen, gepriesen von denen, die die Gesellschaft auf eine neue Freiheit gründen wollten“[6]. Die einen verurteilten Noras Handeln und vor allem ihren Entschluss, die Kinder zu verlassen und relativierten Helmers Rohheit. Die anderen feierten Noras Selbstbefreiungsschlag aus den Fesseln einer fragwürdigen Ehe. Debattiert wurde also in erster Linie der ethische Aspekt des Stückes, nicht der künstlerische.[7] Auf Einladungen zu öffentlichen oder privaten Veranstaltungen wurde teilweise darum gebeten, nicht über „Nora“ zu sprechen, da das Stück immer wieder hitzige Streitgespräche provozierte.[8]

In Deutschland wurde von Ibsen sogar ein alternatives Ende für die Aufführung seines Stückes gefordert. Ibsens deutscher Übersetzer, Wilhelm Lange, warnte, dass „die Theater, die über den radikalen Schluß nicht glücklich seien, selber einen akzeptableren Schluß dazudichten könnten.“[9] Also fertigte Ibsen eine Version an, in der sich Nora beim Anblick ihrer Kinder besinnt und das idyllische Familienleben wiederhergestellt wird. Dies bezeichnete Ibsen selbst allerdings als „barbarische Vergewaltigung“ seines Stückes.[10] Sein Anliegen, das Recht des Individuums auf Selbstbestimmung herauszuarbeiten, wäre bei dem neu entworfenen Ende verloren gegangen beziehungsweise undeutlich geworden. Es setzte sich auch nicht durch. Gegen die Verlogenheit des neuen Endes wurde lautstark protestiert, woraufhin bereits die zweite deutsche Aufführung des Stückes in München, im März 1880 wieder mit Ibsens Originalschluss gespielt wurde.

Doch neben einer gewissen moralischen Empörung in der bürgerlichen Bevölkerung sorgte das beibehaltene Ende, also nachdem die Tür hinter Nora beim Verlassen ihres Puppenheims „dröhnend ins Schloss“ (NP 94) fiel, vor allem bei modernen Feministinnen für Begeisterung. Nora wurde von der zeitgenössischen Frauenbewegung begeistert gefeiert und diente als Vorbild für die Befreiung der Frau aus ihrer Unterdrückung durch den Mann und durch männliche Gesellschaftsstrukturen. Von den Vorkämpferinnen der Frauenemanzipation in den skandinavischen Ländern und Deutschland wurde Ibsen als Dichter gefeiert „who has shattered our chains for us, and made a path through the hills for us. As a liberator of women because his vision has penetrated so deeply […]“[11].

Solche begeisterten Zugeständnisse waren nicht selten, doch verwundern, wenn man bedenkt, dass der Dichter selbst in Zeitbelegen, wie in dem Brief an Laura Kieler, einen weniger progressiven Eindruck hinterließ und er auch von ihm nahestehenden Frauen durchaus kritisch beurteilt wurde:

„Er ist vom Scheitel bis zur Sohle Egoist, und insbesondere ist er dies als Mann gegenüber Frauen. Seine häuslichen Verhältnisse haben offenbar nicht im geringsten auf ihn eingewirkt. Schau Dir seine Helden an: ausnahmslos Despoten gegenüber Frauen.“[12]

Diese Zeilen stammen von der Schriftstellerin Camilla Collett, die neben Ibsens Frau Suzannah und Laura Kieler wahrscheinlich den größten Einfluss auf Ibsens Mitgefühl für den sozialen Status der Frau ausübte. In Gesprächen mit den Frauen seiner Umgebung, die überwiegend auch künstlerisch tätig waren, gewann er zunehmend Empathie für deren Bedürfnisse. Trotzdem sah er die Rolle der Frau in der Gesellschaft eher pragmatisch und begründete ein von ihm mitgefordertes Frauenstimmrecht damit, dass Frauen „über die glückliche Gabe verfügen, eine richtige Entscheidung instinktiv treffen zu können“, allerdings wolle er „nur das aktive Stimmrecht für Frauen und keineswegs vorschlagen, daß Frauen für die verschiedenen Posten und Ausschüsse kandidieren könnten.“[13] Ibsens Biographie spricht auch eher für die Annahme, dass er im Privaten ganz Patriarch war und die Frau vor allem als unauffällige Helferin schätzte. Zu der weitsichtig reflektierenden Ansicht seiner ersten Notizen zu Nora vom Oktober 1878, gelangte Ibsen erst allmählich:

„Eine Frau kann nicht sie selbst sein in der Gesellschaft der Gegenwart, einer ausschließlich männlichen Gesellschaft, mit von Männern geschriebenen Gesetzen und Anklägern und Richtern, die über das weibliche Verhalten vom männlichen Standpunkt aus urteilen.“[14]

Er wollte die Probleme und die Doppelmoral der von Patriarchalismen geprägten, neuen bürgerlichen Gesellschaft aufzeigen. Allerdings sah sich Ibsen selbst eben nicht als Förderer oder Vertreter der Frauenbewegung und betonte den humanistischen Charakter seines Werkes und gar nicht wirklich zu wissen, was Frauenrechte seien.[15] In seinen Augen vertrat er eine Menschheits- und keine Frauenfrage, nämlich die nach der menschlichen Freiheit und Selbstbestimmung:

„In Ibsens Weltanschauung und Dichtung ist die Frauenfrage lediglich die Komponente eines größeren und bedeutenderen Problems, nämlich der Befreiung der menschlichen Persönlichkeit. Dieses Anliegen des Dichters tritt in Ein Puppenheim besonders akzentuiert hervor, und darin liegt letztlich auch die Weltbedeutung des Kunstwerks.“[16]

So sagt Nora auch über sich selbst, dass sie „vor allen Dingen Mensch“ (NP 90) sein will und nicht in erster Linie Gattin, Spielgefährtin und Mutter, wie Helmer sie gerne hätte. Durch die scharfe Herausarbeitung und Zuspitzung des Konflikts zwischen einem Individuum und der Gesellschaft versuchte Ibsen das wahre Wesen des Bürgertums aufzudecken und übt Kritik an dessen Normen, den brüchig gewordenen Werten und Moralkonventionen, allerdings ohne die bestehenden Gesellschaftsstrukturen wirklich anzufechten. In Nora wird zwar „die Gültigkeit der herrschenden Auffassungen über Wahrheit, Recht, Moral und Vernunft in Frage gestellt“[17], aber das bedeutet nicht die Ablehnung der gesellschaftlichen Ordnung. Lediglich Ibsens Missbilligung der damals herrschenden Weltanschauungen und des bestehenden Kapitalismus zu seiner Zeit kommen zum Ausdruck:

„Je tiefer er in das Wesen der bürgerlichen Welt eindrang, […] desto konsequenter wandte er sich auch gegen alles Rückständige und Barbarische, das der Kapitalismus von der Feudalgesellschaft übernommen hatte und im eigenen Klasseninteresse mit neuen Mitteln fortführte.“[18]

Ibsen gelingt es durch Noras und Helmers Ehekonflikt, „die tiefe Diskrepanz zwischen menschlichem Glücksverlangen und kalkulierendem Geschäftssinn als charakteristisch für die bürgerlichen Familienbeziehungen“[19] herauszuarbeiten und damit Einblicke in die wahren Schwierigkeiten einer doppelmoralischen Gesellschaft zu gewähren. Für Ibsen bedeutete dies ein Kampf zwischen Lüge und Wahrheit und damit einhergehend wurde eben auch die Frage aufgeworfen, ob das vorherrschende Frauenideal damals nicht nur schöner Schein war. Ibsen wollte gegen Gesellschaftslügen und das Problem der Doppelmoral, also allgemein menschliche Konflikte, vorgehen,[20] denn wie es in Ibsens Die Stützen der Gesellschaft heißt: „Der Geist der Wahrheit und der Geist der Freiheit – das sind die Stützen der Gesellschaft!“[21] Schon hier nimmt Ibsen seinem Stück die drohende feministische Zuspitzung, wenn es zuvor heißt: „Ihr Frauen, ihr seid die Stützen der Gesellschaft.“[22] Den emanzipatorischen Anspruch seiner Stücke, insbesondere Nora s, nimmt Ibsen selbst also immer wieder zurück, doch er lässt sich nicht völlig negieren, da die Sympathien in dem Stück unverkennbar verteilt sind und eindeutig bei Nora liegen.

Trotz des gesamtgesellschaftlichen Anspruchs Ibsens darf auch der Kontext der ersten Frauenbewegung nicht außer Acht gelassen werden, wenn man die Wirkung und die Rezeption des Stückes verdeutlichen will. Im Laufe des 19. Jahrhunderts änderten sich durch Urbanisierung und Industrialisierung in Europa die Familienstrukturen. Das bestehende Klassen- und Ständereglement wurde nach und nach aufgebrochen und auch die bis dahin vorherrschende Geschlechterordnung wurde hinterfragt. Frauen wurde dank des Engagements der ersten Frauenbewegung ab Mitte des 19. Jahrhunderts nach und nach der Zugang für Bildung und Erwerb geöffnet und sie gewannen an Selbstbewusstsein und Unabhängigkeit. Innerhalb der Frauenbewegung entfachte dadurch eine große Debatte über die ideale Lebensgestaltung der selbstständigen Frau. Nach wie vor war die große Mehrheit der Frauen nämlich in der Familie von dem Willen ihres Vaters und in einer Ehe von ihrem Mann abhängig. Die Ehe erschien also in erster Linie als Versorgungsanstalt und beinhaltete das „alte Recht der Frau, von ihrem Manne ernährt und infolgedessen auch in jeder Beziehung bevormundet zu werden“[23]. Die erste Frauenbewegung stellte diese Patriarchalismen in Frage und versuchte Räume und Strukturen für Frauen zu schaffen, in denen sie sich unabhängig von Männern selbstverwirklichen konnten.

Ibsen bemerkte den Enthusiasmus der Frauenbewegung, der zur Entstehungszeit seines Stückes Nora (Ein Puppenheim) vorherrschte, und machte diesen und die damaligen gesellschaftlichen, bürgerlichen Verhältnisse zum Ausgangspunkt seines Puppenheims. Ibsen selbst war der Meinung, eine Frau solle durch Erziehung und der Öffnung von Berufen für sie, also moralischer und wirtschaftlicher Selbstständigkeit, dem Mann eine unabhängige, vernünftige Gehilfin in einer Ehe werden und ihn dadurch ergänzen und nicht „hinabziehen“, also in einen schlechteren (geistigen, gesundheitlichen, wirtschaftlichen) Zustand bringen .[24] Frauen sollten nicht mehr als Objekt geschätzt, sondern als Person geachtet werden. An seiner Figur Nora war für Ibsen hauptsächlich deren moralischer Mut sowie die Absolutheit ihrer Ansprüche, mit der sie sich über gesellschaftliche Normen hinwegsetzt, wichtig. In ihr erkennt man seine Lobpreisung auf den Individualismus.[25]

Durch die Einbettung in ein Zeitphänomen und den skeptischen Blick auf die Position der Frau in der Gesellschaft war das Stück geeignet, für die erste Frauenbewegung und auch nachfolgende Generationen zu einem ideologisch motivierten Mythos der Emanzipation zu werden, auch wenn es primär nicht dazu angelegt war. Denn „der Übergang vom Wirklichen zum Ideologischen“[26], also der Verlust der Erinnerung daran, dass etwas hergestellt wurde und nicht „natürlich“ entstanden ist, bestimmt nach Roland Barthes den Mythos. Es schien für die Leser und Zuschauer des Theatestücks größtenteils unhinterfragt völlig selbstverständlich, dass es sich bei Nora um eine Vorreiterin der Emanzipation handelt, die damit zu einem guten Beispiel für die unabhängige, sich dem Patriarchat widersetzende Frau wurde. Was insofern ein wenig nachvollziehbar wird, da es sich bei Noras Verhalten zum Schluss des Stückes tatsächlich um ein keineswegs selbstverständliches für die damalige Zeit handelte und daher Anstoß erregte. Hinzu kommt die deutsche Übersetzung des Titels „ Nora“, in welchem die Betonung auf dem Einzelschicksal einer Frau liegt. Im Original heißt Ibsens Theaterstück ja etwas universeller Et dukkehjem, also Ein Puppenheim und ist damit allgemein gesellschaftskritischer und nicht explizit frauenthematisch gefasst. So wurde das Stück zu einem Mythos über die erfolgreiche Befreiung einer Frau aus einer einengenden, unterdrückenden Ehe, obwohl – bedingt durch Ibsens offenes Ende - niemals wirklich überprüft werden kann, wie erfolgreich diese Befreiung tatsächlich ist, denn Noras Zukunft ist eine ungewisse.

2.2. Ibsens ästhetisches Verfahren

Die Popularität Ibsens und die Begeisterung, mit der seine Stücke bis heute in allen Teilen der Welt auf den Theatern gespielt wird, hält an. Allein Anfang 2014 werden in 24 Ländern über 98-mal Theaterstücke Ibsens aufgeführt, wie man der Internetdatenbank ibsen.nb.no entnehmen kann.[27] Deswegen stellt sich die Frage, ob es dramentechnisches Potential gibt, anhand dessen das anhaltende Interesse an Ibsens Werk begründet werden kann. Ist Nora (Ein Puppenheim) lediglich ein realistisch-naturalistisches Gesellschaftsstück oder wird dem Stück diese Reduzierung auf ein individuelles Muster nicht gerecht? Wie zeichnet sich Ibsens technische Machart des Theaterstückes aus, wie wirkt seine Sprache, seine Bühne und wie wurde Nora konzipiert?

Ibsens Einfluss auf die Bühnenautoren des Naturalismus ist unbestritten, er entfernt sich von der im späten 19. Jahrhundert vorherrschenden Tendenz des wirklichkeitsfernen Melodrams und bleibt in einigen Punkten noch der geschlossenen Form des klassischen Dramas treu. Das Schauspiel Nora (Ein Puppenheim) besteht aus drei Akten, die nicht in einzelne Szenen untergliedert sind und die aristotelische Einheit der Handlung, der Zeit (die Weihnachtstage) und des Raumes (Helmers Haus) einhalten. In den drei Akten, die in einer typischen Spannungskurve nach Gustav Freytag verlaufen,[28] erfährt das Publikum durch eine Enthüllungstechnik nach und nach, wie die wahren Verhältnisse zwischen den einzelnen Figuren sind und dass sie in einigen Gesichtspunkten nicht so sind, wie sie anfänglich scheinen. Der Anfang des Dramas liegt dabei weit vor dem Einsetzen der Handlung des Theaterstückes, ebenso wie das vermutete Ende hinter Ibsens eigentlichem Schluss liegt. Der Zuschauer bekommt nur den ausschlaggebenden Ehekonflikt vorgeführt, der eine Diskrepanz zwischen Gesellschaft und Selbstverwirklichung, menschlichem Liebesverlangen und kapitalistischem Profitdenken zeigt. Die Vergangenheit wird dabei zum Symbol für die Lebensart der handelnden Personen und die Gegenwart dient nur noch dazu, in der Vergangenheit Angefangenes zu bewältigen und zu beenden: „Der Dialog hat […] den Sinn, das Vergangene-Verschüttete heraufzuholen und als actio im realen wie psychologischen Bereich […] in die dramatische Gegenwart einzufügen.“[29]

Auch das Ende des Stückes wird also von der Vergangenheit her motiviert. Diese kann im Drama allerdings nicht dargestellt, sondern nur berichtet werden, woraus sich bei Ibsen laut Peter Szondi ein Problem ergibt.[30] Ibsen enthüllt das verborgene Leben der Figuren und deren Gedanken, also die Wahrheit der Innerlichkeit, nämlich dramatisch, durch den Dialog. Laut Szondi stellt „das Problematischwerden der zwischenmenschlichen Beziehungen […] das Drama selbst in Frage, weil dessen Form sie gerade als unproblematisch behauptet.“[31] Daraus ergibt sich bei Ibsen die Krise des Dramas, denn „nur in sich vergraben, von der ‚Lebenslüge‘ zehrend, konnten Ibsens Menschen leben. Daß er nicht ihr Romancier wurde, sie nicht in ihrem Leben beließ, sondern zur offenen Aussprache zwang, tötete sie.“[32] Bereits hier lässt sich erkennen, dass Ibsens Werk von Ambivalenzen durchsetzt ist, nicht nur thematisch, sondern auch in der dramatischen Form. Seine Figuren, allen voran Nora, sind „bestimmt von der Differenz zwischen Innerlichkeit und äußerem Schein, zwischen Sein und Sprechen.“[33]

So ist es auch nicht verwunderlich, dass Ibsen eine sehr zwielichtige und unbeständige Figur wählt, die von außen an die Protagonisten herantritt, um die Handlung in Gang zu bringen. Krogstadt wird zum Intriganten und Erpresser, als typisch naturalistischer „Bote aus der Fremde“, der Noras Furcht vor der Aufdeckung ihrer Vorgeschichte katalysiert. Wo diese schrittweise Enthüllung stattfindet, beschreibt Ibsen sehr genau am Anfang des Stückes in seinen Regieanweisungen und lässt damit wenig Spielraum für die eigene Vorstellungskraft. Die Wohnung der Helmers ist „gemütlich und geschmackvoll, aber nicht luxuriös“ (NP 5) und entsteht dank Ibsens präziser Darstellung detailliert vor dem inneren Auge des Lesers. Die Beschreibungen sind einfach und präzise gehalten und bedienen sich einer unkomplizierten, sehr verständlichen Alltagssprache. Der Text hat keinen außergewöhnlichen Rhythmus, sondern ist in schlichten und einfachen Worten und knappen und genauen Sätzen gehalten. Diese sprachliche Schlichtheit findet sich nicht nur in den Regieanweisungen, sondern vor allem auch in den Dialogen der agierenden Figuren wieder:

„Die Ibsenschen Dialoge erhalten schlichte, unprätentiöse Alltagssprache der scheinbar einfachsten Art, die allerdings nahezu seismographisch individualisiertes Sprachverhalten der Figuren nachzeichnet. In diesem wenig Bemerkenswerten liegt das Besondere der Dramensprache Henrik Ibsens.“[34]

Die erste Szene beginnt mit der Anweisung Noras an das Hausmädchen, die soeben erworbenen Weihnachtsgeschenke zu verstecken. Das erste gesprochene Wort des Theaterstückes Nora lautet „Versteck“. Durch die Anfangsstellung dieses Wortes wird die für die Handlung zentrale Thematik des Geheimnisses und des Vertuschens betont. Außerdem erfährt der Zuschauer sofort, wie Torvald Nora wahrnimmt. Sie ist seine zwitschernde „Lerche“, sein rumorendes „Eichhörnchen“ und sein „lockrer Zeisig“

(NP 6), schablonisierte Kosenamen aus dem Tierreich, die ihr eine ernstzunehmende Individualität, ein vollmündiges „Mensch-Sein“ absprechen und sie zu seinem Besitz machen. Torvald stellt seinen Nora-Verniedlichungen nicht selten das Possessivpronomen „mein“ voran und markiert dadurch seine überlegene und besitzergreifende Stellung. Die wenigen menschlichen Bezeichnungen, die Torvald für Nora gegen Ende des Stückes findet, sind abwertend und beleidigend: „eine Heuchlerin“, „eine Lügnerin“, „eine Verbrecherin“ (NP 82).

Ansonsten ist die Eingangsszene von einem ökonomischen Vokabular geprägt: „Geld verschwendet“, „ein großes Gehalt“, „borgte […] tausend Kronen“, „Borgen und Schulden machen“. Diese Wortwahl lässt die ökonomischen Verwicklungen des Stückes von Noras Kredit, der Schuldscheinfälschung bis zur finanziellen Abhängigkeit der Frau schon sehr früh sprachlich anklingen. Im Laufe des Schauspiels bedient sich Nora häufiger des ökonomischen Vokabulars, welches nicht ihr eigenes, sondern das ihres Mannes ist: „Du mußt wissen, im Geschäftsleben gibt es etwas, was Abzahlung und etwas, was Quartalzinsen heißt“ (NP 20). Dadurch zeigt sich Noras Unfreiheit gegenüber Mann und Geld noch deutlicher. Überhaupt scheint „Geld“ ein Schlüsselwort in Nora zu sein, von welchem die Probleme innerhalb des Stückes und auch deren Lösung ausgehen. Durch die häufige Erwähnung von Geld und dessen besonderer Stellung innerhalb der Handlung des Stückes wird ein Bezug zu Macht innerhalb einer kapitalistischen Gesellschaft hergestellt, die für Helmer und auch Nora anfänglich so wichtig ist. Es ist auffällig, dass „Geld“ gegen Ende des Stückes immer mehr aus Noras Wortschatz verschwindet, und zwar sobald diese erkennt, dass ihren Problemen mit „der Magie einer absoluten Geldgläubigkeit nicht mehr abzuhelfen ist“.[35] Parallel dazu schwindet Noras anfängliche Naivität.

Auffallend viele Worte, Dinge und Darstellungen Ibsens haben einen zeichenhaft-symbolischen Charakter und lassen sich wiederholt in seinem Puppenheim finden. Die zeitliche Dimension, in der sich Nora abspielt, ist dabei besonders auffällig: der Zeitraum zwischen Weihnachten und Neujahr. Während am Anfang des Stückes, am Weihnachtsvortag, der Weihnachtsbaum und das Weihnachtsfest als Symbol für familiäre Sicherheit und Beständigkeit, Liebe und Hoffnung immer wieder erwähnt werden, rückt im Laufe der Handlung das nahende neue Jahr immer wieder in den Blickpunkt. Ein neues Jahr symbolisiert Veränderung und die Sehnsucht nach künftigem Glück. Und genau diese Veränderung tritt an Neujahr ein. Nora verlässt Torvald, Christine Linde und Krogstad finden wieder zueinander und Doktor Rank stirbt. Ibsens Theaterstück endet mit diesen Neujahrsveränderungen, die nichts mehr mit den scheinbar harmonisch-familiären Verhältnissen in der anfänglichen Weihnachtszeit zu tun haben.

Im Laufe des Stückes tauchen immer wieder Passagen auf, die auf das dramatische Ende hinweisen. Es sind nicht nur symbolisch aufgeladene Worte und Gegenstände, die von den Figuren gebraucht werden, sondern auch einfache Bühnenmittel wie Fenster und Türen, deren Einsatz dazu beiträgt, das Geschehen zu verdeutlichen. In Nora werden Türen auffallend häufig zugemacht und verschlossen, dadurch wird „nicht nur die mangelnde Offenheit der Ehe und die Thematik des Verbergens doppelt, sondern auch [der] Schock des finalen Türknalls antizipiert.“[36] Dies stellt außerdem die räumliche Enge dar, innerhalb derer sich Nora bewegt und der ihre Erlösungssehnsucht und ihr Freiheitsdrang gegenüberstehen. Die eindrucksvollste theatralisch aufgeladene Szene, in der Nora diesen Freiheitsdrang zur Schau stellt, ist die berühmt gewordene Tarantella. Nora, die ohnehin schon ein inszeniertes und wenigstens teilweise kalkuliertes Spiel spielt, indem sie für ihren Mann das naive Singvögelchen mimt, vereint mit ihrem hitzigen und erotisch aufgeladenem Tanz ein

„Ablenkungsmanöver und einen Befreiungsversuch mit Verzweiflung und Todesangst. Dabei inszeniert sie sich kostümiert und tanzend als Objekt des begehrenden Blicks zweier Männer, die ihrer Vorführung zuschauen, womit die Situation des Theaterpublikums auf der Bühne gedoppelt wird.“[37]

Dadurch werden Noras Gefangensein, ihr doppeltes Spiel und ihre innere Zerrissenheit gespiegelt. Innerhalb des sprachlosen Mediums des Tanzes werden Maskerade und Körperausdruck vereint, machen eine fragliche Aussage über den Ort der Frau und werfen einen Zweifel an den Möglichkeiten von Sprache auf. Bezeichnend dafür ist auch die erste Reaktion auf Noras Tanz, nämlich der Vermerk der Sprachlosigkeit in der Regieanweisung: „ steht sprachlos an der Tür “ (NP 65). Deutlich wird dies auch, wenn man betrachtet, wie auffallend häufig Nora selbst vom Sprechen redet und ankündigt, sie wolle etwas sagen, aber es letztendlich nicht tut: „das kann ich so genau gar nicht sagen.“ (NP 21), „Ich habe Lust zu sagen […]“ (NP 25), „konnte ich ihm nicht sagen“ (NP 34). Auch die Sprache selbst wird von Nora mit Skepsis betrachtet: „Ach pfui, wie kannst du das sagen?“ (NP 8), „alles ist so albern, so nichtssagend.“ (NP 37). Die Sprache Noras ist nicht selten von fremder Rede und von Konventionen des Sprechens und des Denkens durchsetzt, so ist eines ihrer Hauptbedenken am Ende: „Aber du denkst und redest nicht wie der Mann, an den ich mich halten könnte.“ (NP 92). Diese Feststellung ist maßgebend für ihren Entschluss, Helmer zu verlassen. Noras Rede ist bis zum Ende eine uneigentliche, da sie von Verschweigen und Vorspielen geprägt ist. „Erst im letzten Akt verwandelt sich die Anrede in Aussprache.“[38] Die Vergangenheit holt die Gegenwart der dramatischen Gegebenheiten ein und erst da kann eine ehrliche Auseinandersetzung zwischen den Figuren stattfinden.

[...]


[1] Henrik Ibsen: Nora (Ein Puppenheim). Aus dem Norwegischen von Richard Linder. Stuttgart: Reclam, 1951. S. 35. Im Folgenden abgekürzt mit NP.

[2] Vgl. u.a.: Werner Rieder: Ibsens „Nora“ und das Publikum: Rezension und Kollusion in der Bundesrepublik Deutschland. München: Univ. Diss., 1984. S. 5.

[3] Robert Ferguson: Henrik Ibsen. Eine Biographie. Aus dem Englischen von Michael Schmitt, skandinavische Originaltexte von Uwe Englert. München: Kindler Verlag, 1998. S. 303.

[4] Vgl.: ebd. S. 309.

[5] Vgl.: ebd. S. 309.

[6] Halvdan Koht und Julius Elias: Henrik Ibsens sämtliche Werke in deutscher Sprache. Band 2. Berlin: Fischer, 1909. S. 265f.

[7] Vgl.: Friedrich Spielhagen: Henrik Ibsen’s Nora (1880). In: Ibsen auf der deutschen Bühne. Hrsg. von Wilhelm Friese. Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 1976. S. 1ff.

[8] Vgl. u.a.: Clara Stuyver: Ibsens dramatische Gestalten: Psychologie und Symbolik. Amsterdam: North-Holland Publishing Company, 1952. S. 282.

[9] Ferguson: S. 312.

[10] Stuyver: S. 282.

[11] Kari Fjortof, zitiert nach Herlinde Nitsch Ayers: Selbstverwirklichung, Selbstverneinung. Rollenkonflikte im Werk von Hebbel, Ibsen und Strindberg. New York u.a.: Lang, 1995. S. 4.

[12] Ferguson: S. 300.

[13] ebd.: S. 305.

[14] Henrik Ibsen, nach: Keel, Aldo: Nachbemerkung. In: Ibsen, Henrik: Nora (Ein Puppenheim). Stuttgart: Reclam, 1988. S. 95.

[15] Vgl. ua. Elizabeth Hardwick: Verführung und Betrug. Frauen und Literatur. Frankfurt am Main: S. Fischer, 1986. S. 47.

[16] Horst Bien: Henrik Ibsens Realismus: Zur Genesis und Methode des klassischen kritisch-realistischen Dramas. Berlin: Rütten & Loenig, 1970. S. 147.

[17] Bien: S. 141.

[18] Bien: S. 142.

[19] Bien: S. 148f.

[20] Vgl: Emil Reich: Ibsen und das Recht der Frau (1891). In: Ibsen auf der deutschen Bühne. Hrsg. von Wilhelm Friese. Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 1976. S. 84.

[21] Henrik Ibsen: Die Stützen der Gesellschaft

[22] ebd.:

[23] Reich: S. 72.

[24] Vgl.: Reich: S. 72.

[25] Vgl.: Ferguson: S. 312.

[26] Roland Barthes: Mythen des Alltags. Aus dem Französischen von Horst Brühmann. Berlin: Suhrkamp, 2012. S. 294.

[27] http://ibsen.nb.no/id/11111121.0 (Stand: 13.02.2014)

[28] Obwohl Freytag von fünf Akten innerhalb eines Dramas ausgeht, lässt sich auch bei Ibsen die Aufteilung in Exposition, erregendes Moment, Verwirrung, Höhepunkt/Peripetie, retardierendes Moment, Auflösung, Katastrophe, erkennen. Vgl.: Michael Hofman: Drama. Grundlagen, Gattungsgeschichte, Perspektiven. Paderborn: Wilhelm Fink Verlag, 2013. S. 21.

[29] Fritz Paul: Symbol und Mythos. Studien zum Spätwerk Ibsens. München: Wilhelm Fink Verlag, 1969. S. 24.

[30] Vgl.: Peter Szondi: Theorie des modernen Dramas (1880-1950). Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1965. S. 28f.

[31] ebd.: S. 106.

[32] ebd.: S. 31.

[33] Evelyn Annuß: Elfriede Jelinek. Theater des Nachlebens. München: Wilhelm Fink Verlag, 2005. S. 30.

[34] Annegret Heitmann: Henrik Ibsens dramatische Methode. München: Verlag der Bayrischen Akademie der Wissenschaften, 2012. S. 11f.

[35] Vgl.: Paul: S. 28.

[36] Heitmann: S. 21.

[37] Heitmann: S. 35.

[38] Annuß: S. 30.

Final del extracto de 71 páginas

Detalles

Título
Ibsens und Jelineks Nora-Stücke und der Mythos der Emanzipation
Subtítulo
Warten auf das Wunderbare
Universidad
http://www.uni-jena.de/
Calificación
1,7
Autor
Año
2014
Páginas
71
No. de catálogo
V314470
ISBN (Ebook)
9783668130630
ISBN (Libro)
9783668130647
Tamaño de fichero
713 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
ibsens, jelineks, nora-stücke, mythos, emanzipation, warten, wunderbare
Citar trabajo
Nadja Krakowski (Autor), 2014, Ibsens und Jelineks Nora-Stücke und der Mythos der Emanzipation, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/314470

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