Transtemporale personale Identität. Zur Philosophie der Gehirntransplantation und Gehirnteilung


Dossier / Travail de Séminaire, 2015

25 Pages, Note: 1,3


Extrait


Inhalt

I. Personale Identität über die Zeit und mögliche Welten ... 2

II. Psychologische Kontinuität und unsere Identität über die Zeit ... 3

1. Parfits Kriterium und verpflanze Gehirne ... 3

2. My Division und ein identitätslogisches Problem ... 5

3. Eine zusätzliche Tatsache – Martine Nida-Rümelins begrifflich begründeter Substanzdualismus ... 7
3.1 Eine begriffliche Analyse ... 10
3.2 Eine realistische Illusion? ... 11
3.3 Gehirnteilungen und Supervenienz ... 12

4. Olson, Ontologie und Organismen ... 13
4.1 Denkende Tiere und denkende Personen ... 15

5. Noch einmal Nida-Rümelin ... 17
5.1 „Stammhirnwesen“ als Subjekte von Erfahrung ... 17
5.2 Martine Nida-Rümelin und Cerebrum-Transplantationen ... 20

III. What Matters in Survival ... 23

IV. Literaturverzeichnis ... 25

I. Personale Identität[1] über die Zeit und mögliche Welten

Wer lebt mein Leben in 10 Jahren und sollte mich das kümmern? War ich je ein Embryo? Wenn es zwei von „mir“ gäbe, welcher wäre dann ich? Diese und verwandte Fragen beschäftigen nicht nur Philosophen bereits geraume Zeit und sind letztlich Variationen jener großen Herausforderung an ihre Zunft, die da lautet: Was ist der Mensch? Der vorliegende Text konzentriert sich auf die Untersuchung dessen, was oftmals als wesentlichster Aspekt menschlichen (Da)Seins erfasst wird, nämlich seine Eigenschaft, für den größten Teil des ihm vergönnten Lebens (und vielleicht auch darüber hinaus) Person zu sein. Im Zentrum des Interesses wird dabei stehen, ob und wie sich transtemporale personale Identität adäquat fassen sowie anhand von Kriterien bestimmen ließe. Je nachdem, welche Aspekte von Personalität als essentiell betrachtet werden, ist eine Antwort auf diese Fragestellung auch ein Bekenntnis zu einer bestimmten Vorstellung dessen, was den Menschen am Ende ausmacht. Die hier angestrengte Untersuchung führt zunächst anhand dreier – prima facie fundamental verschiedener – Auffassungen in die Identitätsthematik ein und setzt sich im Anschluss kritisch mit Implikationen der dargestellten Theorien auseinander. Idealiter kann der Verfasser zeigen, dass die von allen drei Hauptautoren gewählte Strategie, nämlich einen einzelnen Aspekt von Personalität in den Focus zu stellen, mindestens problematisch ist. Als wohl bereits paradigmatisch in diesem Kontext kann der Ansatz Derek Parfits [2] betrachtet werden, welcher psychologische Kontinuität in den Mittelpunkt rückt. Diese Sichtweise, prominent geäußert in „Reasons and Persons“ sowie zahlreichen Aufsätzen, wird für die folgende Diskussion zweier alternativer Konzeptionen dessen, was in diachroner Hinsicht wesentlich für das Fortbestehen menschlicher Personen ist, als sowohl Referenz- wie auch Kontrapunkt dienen. Nach einer Bestandsaufnahme zentraler Argumentationslinien sollen Eric Olsons Animalismus und Martine Nida-Rümelins begrifflich begründeter Substanzdualismus gegenübergestellt werden, mit einem Akzent auf der Darstellung des Letzteren. Dabei werden sukzessive die von den einzelnen Denkern verwandten Gedankenexperimente geschildert und deren Implikationen für „gegnerische“ Vorstellungen erwogen. Aufgrund des Umfanges wie der Komplexität des verfügbaren Materials zur Thematik beschränkt sich die Untersuchung auf Überlegungen zu Gehirntransplantationen und -Teilungen. Anhand imaginärer Fälle und deren Konsequenzen im Lichte der jeweiligen Theorie soll der Blick des geneigten Lesers auf zwei eng verbundene Problemkomplexe gelenkt werden:

1. Kann (numerische) transtemporale Identität über Kriterien bestimmt werden und wie stellten sich diese dar?
2. Welche Beziehung besteht zwischen (numerischer) transtemporaler Identität und der Metaphysik von Personen?

Der argumentative Hauptpart dieser philosophischen Auseinandersetzung (Abschnitt II) gliedert sich in einen deskriptiven Teil, welcher die aufeinander bezogenen Überlegungen der genannten drei Primär-Autoren enthält (Kapitel 1 – 4), sowie eine eigene Analyse des Verfassers, die zuvor entwickelte Gedankengänge über eine Betrachtung ihrer Implikationen kritisch verbindet(Kapitel 5). Letztere wird sich hauptsächlich mit dem Werk Martine Nida-Rümelins auseinandersetzen.

Am Ende schließt die Arbeit mit einem kurzen Ausblick angesichts der Ergebnisse.

II. Psychologische Kontinuität und unsere Identität über die Zeit

In großen Teilen der zeitgenössischen analytischen Philosophie herrscht die Ansicht vor, personale Identität über die Zeit an psychologischer Kontinuität festzumachen. Dies bietet den Vorteil, sowohl wesentliche Intuitionen betreffend einigermaßen verzwickter Beispielfälle zu integrieren, als auch ein empirisch feststellbares Kriterium bereitzustellen. Ein wesentlicher Proponent dieser Betrachtungsweise ist Derek Parfit, aber auch Sydney Shoemaker und viele Weitere vertreten eine eigene Version jener lockeschen Personenkonzeption. Ob eine Person etwa in 10 Jahren noch „dieselbe“ ist, wie heute, kann demzufolge nur daran ermessen werden, welche Gedanken, Erinnerungen und mentale Zustände beide verbinden. Das metaphysische Interesse am Wesen menschlicher Personen wird so zwangsläufig auf das Gehirn gerichtet.

1. Parfits Kriterium und verpflanze Gehirne

In einem Aufsatz aus dem Jahr 2012 fasst Derek Parfit seine – im Laufe der Jahre überarbeitete – Vorstellung zur Definition personaler Identitätstatsachen folgendermaßen zusammen[3]:

Parfits Narrow, Brain-Based Psychological Criterion (Teil 1)

“If some future person would be uniquely psychologically continuous with me as I am now, and this continuity would have its normal cause, enough of the same brain, this person would be me. If some future person would neither be uniquely psychologically continuous with me as I am now, nor have enough of the same brain, this person would not be me.” (Parfit 2012, S. 6)

Jenes Kriterium personaler Identität, demzufolge die Psychologie auf Basis des Gehirns für den Fortbestand einer menschlichen Person über die Zeit wesentlich ist, kann inzwischen guten Gewissens als das Paradigma psychologischer Kontinuität bezeichnet werden. Obgleich vom Gros der Philosophen akzeptiert, bietet es ausreichend Reibungsfläche für Kritiker wie Eric Olson oder Martine Nida-Rümelin. Ein wesentlicher Ansatzpunkt für Kritik ist eine Implikation des Kriteriums, dessen Behandlung durch Parfit – kurz umrissen in den folgenden zwei Kapiteln – den Ausgangspunkt für die Darstellung alternativer Konzeptionen personaler Identität bilden wird. Denn aus dem psychologischen Kriterium folgt, dass in manchen Fällen transtemporale personale Identität nicht eindeutig zu bestimmen wäre.

Da Literatur wie Argumente zur Thematik höchst umfangreich sind, kann an einer Stelle stets nur ein Ausschnitt diskutiert werden. Diese Arbeit wird sich daher hauptsächlich mit sogenannten „Transplantationsargumenten“ und anderen, nomologisch mehr oder weniger der Science Fiction zuzuordnenden, Gedankenexperimenten befassen, welche jedoch zentrale Überlegungen sehr anschaulich darstellen. Startpunkt und Basis bildet eine Geschichte, die Parfit in Reasons and Persons „My Division“ (MD) nannte und deren Struktur alle hier besprochenen Autoren (selbstverständlich mit diversen Modifikationen) verwenden.

My Division (MD):

“My body is fatally injured, as are the brains of my two brothers. My brain is divided, and each half is successfully transplanted into the body of one of my brothers. Each of the resulting people believes that he is me, seems to remember living my life, has my character, and is in every other way psychologically continuous with me. And he has a body that is very like mine.” (Parfit 1984, S. 253)

Parfits Geschichte ist ein Beispiel von sogenannten „fission-cases“, anhand derer die Frage transtemporaler Identität von Personen oftmals untersucht wird – je nach Autor mit erstaunlich unterschiedlichen Ergebnissen, wie sich noch zeigen wird (die grundsätzlichen Schlüsse sind selbstverständlich dieselben, jedoch variieren die Interpretationen). In Parfits Fall ist die intendierte Interpretation klar, nämlich die Rechtfertigung des Kriteriums psychologischer Kontinuität.
Betreffend der relevanten Identitätstatsachen sind nun vier Resultate der Operation bei MD denkbar:

I1: A (Parfit) ist mit B (dem ersten Bruder) identisch
I2: A ist mit C (dem zweiten Bruder) identisch
I3: A ist mit keinem identisch (er ist tot)
I4: A ist mit beiden identisch (er hat zwei Körper)

Vor einer Beurteilung der bestehenden Möglichkeiten ist ein Blick auf folgende Modifikation des Beispiels notwendig:

My Bungled Division (MBD):

Bevor die zweite Gehirnhälfte Parfits in den leblosen Körper seines Bruders (C) implantiert werden kann, wird das diese enthaltende Gefäß durch die Unachtsamkeit einer zuständigen OP-Schwester völlig zerstört (Sie stolpert, der Hirnhälftenbehälter zerbricht und Parfits nun ungeschützte zweite Gehirnhälfte wird von der fallenden Schwester zerquetscht). (formuliert nach Brueckner 1993)

Die möglichen Resultate der OP sind bei MBD:

I1': A ist mit B (als einzig verbliebenem) identisch.
I3': A ist mit niemandem identisch (A ist tot).

Parfit stellt nun fest, dass „on any plausible view“[4] bei MBD I1‘ die alleinig sinnvolle Interpretation darstellt, was auch voll und ganz unseren Intuitionen entspräche. Das NBPC kann problemlos Anwendung finden.

Im Falle von MD sieht die Sache jedoch bereits anders aus. Hier ergibt sich aus der Anwendung von Parfits Kriterium die bereits angesprochene heikle Implikation, ein identitätslogisches Problem, welches im Laufe dieser Untersuchung noch des Öfteren eine Rolle spielen wird.

2. My Division und ein identitätslogisches Problem

Wie soll die Situation nach MD nun beurteilt werden? I4 scheint ein seltsamer Vorschlag zu sein, zwar durchaus kohärent denkbar, jedoch angesichts der Alternativen eher wenig attraktiv. I3 erscheint plausibler, akzeptiert man jedoch bei MBD die Alternative I1‘, so sollte zumindest ein klar ersichtlicher Grund vorliegen, im Falle von MD ihr entsprechendes Gegenteil I3 nicht zu verwerfen und die analoge Konstruktion beider Geschichten gibt dazu (prima facie) keinen Anlass.
Es verbleiben I1, I2 sowie ein Paradoxon. Beide Alternativen erfüllen Parfits Kriterium, andererseits ist es schwerlich möglich, dass eine Person mit zwei anderen gleichzeitig identisch ist. Die Identitätsrelation ist eine Äquivalenzrelation und als eine solche notwendigerweise transitiv.

Das heißt es gilt: A=B Ʌ B=C Ʌ C=A.

Hier wäre jedoch A≠C. Aufgrund des psychologischen Kriteriums lässt sich nicht zwischen I1 und I2 diskriminieren und wird I1‘ als beste Lösung von MBD angesehen, kommt es zu einer kapitalen „Identitätskrise“. Aufgrund dieser Diagnose verbleiben nur zwei Möglichkeiten: entweder verwirft man das psychologische Kriterium oder findet eine passende Ergänzung. Parfit entscheidet sich für den zweiten Weg.

Parfits Narrow, Brain-Based Psychological Criterion (Teil 2):

“In all other cases, there would be no answer to the question whether some future person would be me. But there would be nothing that we did not know.” (Parfit 2012, S. 6)

Diese Erweiterung wird auch als “non-branching clause” bezeichnet und von vielen Lockeanern ebenfalls vertreten. Martine Nida-Rümelin nennt es die „ad hoc Lösung“ und übt scharfe Kritik an deren Zulässigkeit, was später noch von Interesse sein wird. Parfit geht jedoch noch einen deutlichen Schritt weiter, als unscharfe Bereiche der Identitätsrelation (unterbestimmte Fälle personaler Identität) zuzulassen. Er zieht aus dem Beschriebenen die folgenden gravierenden Schlüsse:

– Transtemporale personale Identität ist in manchen Fällen unbestimmt.
– Numerische Identität ist für das Fortbestehen von Personen nicht entscheidend, da alles, was zählt, bereits in der Beschreibung der Relationen von A, B und C enthalten ist (Reduzierbarkeit von Identitätsrelationen). I1 bis I4 bezeichnen denselben Sachverhalt.
– Der Tod einer Person, im Sinne von: es gibt nach einem Ereignis keine mit dieser Person numerisch identische Entität mehr, ist weitaus weniger bedeutend als gemeinhin angenommen wird.

Parfit schreibt:

"(1) My relation to each of the resulting people would contain what matters.
(2) It is not true that this relation would be identity. Either (A) it is not true that I would be either of these people, or (B) it is true that I would be neither of them.

Therefore

(3) Identity is not what matters.

Premise (2) could be defended in two ways. We might claim that, to the question 'Would I be either of the resulting people?', there is no true answer. That would support (2)(A). Or we might claim that it's determinately true that I would be neither of these people. That would support (2)(B). I defended (2)(A)” (Parfit 1993, S. 27f)

Er geht daraufhin davon aus, dass Identität in solchen Fällen unbestimmt ist, die Frage „bin ich nach MD B oder C?“ also keine wahre Antwort hat. Allerdings glaubt er, die beste (aber nicht wahre!) Antwort sei „Keiner von beiden!“.

Parfit erläutert zudem in einer Replik auf Brueckner[5], dass die Unbestimmtheit von Grenzfällen personaler Identität notwendig wäre, um sagen zu können, dass die Relationen zwischen A,B und C alles Relevante enthalten und somit Identität nicht das ist, was zählt. Ansonsten müsste von der Existenz eines ominösen weiteren Faktums[6] ausgegangen werden, welches mit Bestimmtheit nicht vorhanden ist. Die Verteidigung von (2)(B) würde quasi „durch die Hintertür“ einen Dualismus ermöglichen [7].

Seine Argumentation lässt sich schließlich dergestalt zusammenfassen:

(1) MBD führt zu eindeutig bestimmten Identitätstatsachen bezüglich A und B
(2) Mit R (psychologische Kontinuität + genügend Gehirn) ist alles Relevante beschrieben/bekannt
(3) In MD ist A nicht mit B und C zugleich identisch
(4) Identität zählt nicht [2,3]
(5) Um mit Bestimmtheit von Nichtidentität As mit B und/oder C auszugehen, wäre ein zusätzliches Faktum neben R erforderlich
(6) àtranstemporale personale Identität ist in manchen Fällen unbestimmt [2,5]

3. Eine zusätzliche Tatsache – Martine Nida-Rümelins begrifflich begründeter Substanzdualismus

Martine Nida-Rümelin (im Folgenden mit MNR abgekürzt) löst das Identitätsparadoxon auf eine andere Weise auf. Sie weist das Kriterium psychologischer Kontinuität zurück und argumentiert in ihrem Buch Der Blick von Innen für einen begrifflich begründeten Substanzdualismus. Ihrer Analyse zufolge haben wir gute Gründe dafür, unserem Verständnis transtemporaler Selbst- und Fremdzuschreibungen derart fundamentale Bedeutung zuzumessen, dass sogar ontologische Schlüsse auf dessen Basis angebracht erscheinen. Dieses Kapitel zeichnet wesentliche Punkte ihrer Argumentation nach und kontrastiert jene mit Parfits Auffassung.

[...]


[1] Ist im Folgenden von „Identität“ die Rede, so wird auf numerische Identität Bezug genommen, qualitative Identität (völlige Übereinstimmung gemäß aller Eigenschaften) ist davon klar zu unterscheiden

[2] Und vieler Anderer, wie etwa Sydney Shoemaker oder auch John Locke

[3] Aus Gründen der Argumententwicklung wird an dieser Stelle ein wichtiger Bestandteil ausgelassen und später im Text eingeführt

[4] vgl. Parfit 1993, S. 24

[5] Vgl. Parfit 1993

[6] er denkt dabei an dualistische Vorstellungen

[7] Parfit 1993, S. 31

Fin de l'extrait de 25 pages

Résumé des informations

Titre
Transtemporale personale Identität. Zur Philosophie der Gehirntransplantation und Gehirnteilung
Université
LMU Munich  (Philosophie)
Cours
Begleitseminar zum ersten Münchener Philosophischen Kolloquium "Was sind und wie existieren Personen?"
Note
1,3
Auteur
Année
2015
Pages
25
N° de catalogue
V314829
ISBN (ebook)
9783668133594
ISBN (Livre)
9783668133600
Taille d'un fichier
627 KB
Langue
allemand
Annotations
Die Arbeit entstand nach Diskussionen (im Rahmen von Workshops) mit den behandelten Primärautoren Eric T. Olson und Martine Nida-Rümelin, die während des Ersten Münchner Philosophischen Kolloquiums an der LMU-München zum Thema "Was sind und wie existieren Personen?" stattfanden.
Mots clés
transtemporale personale Identität, psychologische Kontinuität, Person, Gehirntransplantationen, fission
Citation du texte
Tobias Bauer (Auteur), 2015, Transtemporale personale Identität. Zur Philosophie der Gehirntransplantation und Gehirnteilung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/314829

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