Ausgewählte Frauencharaktere in Goethes "Wilhelm Meisters Lehrjahre"


Bachelor Thesis, 2014

42 Pages, Grade: 1,3

Anonymous


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Inhaltsverzeichnis

1. Einleitende Gedanken

2. Warum ausgewählte Frauencharaktere in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre ?
2.1 Zur Entstehungsgeschichte und Strukturierung von Wilhelm Meisters Lehrjahren
2.2 Inhaltliche Einführung und Einordnung der ausgewählten Frauenfiguren in den Romankontext
2.3 Beschreibung und Analyse der relevanten Frauencharaktere
2.3.1 Mariane, eine amoralische Schmeichlerin?
2.3.2 Mignon, ein sonderbares Geschöpf?
2.3.3 Natalie, die wahre schöne Seele?
2.4 Vergleich der Frauencharaktere hinsichtlich ihrer Parallelen und Differenzen

3. Allgemeingeschichtlicher Kontext sowie politische und soziale Rahmenbedingungen in Deutschland zur Zeit Goethes
3.1 Weltbild und Lebensauffassung zur Zeit der Klassik
3.2 Rollenverständnis und Stellung der Frau in der Klassik
3.3 Inwiefern entsprechen die Frauenfiguren Mariane, Mignon und Natalie dem idealisierten Frauenbild der Klassik?

4. Fazit

5. Literaturverzeichnis

1. Einleitende Gedanken

Johann Wolfgang von Goethe – ein Autor, der auch im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit und des weltweiten Datenverkehrs großen Teilen der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschlands ein Begriff sein dürfte. Universitäten, Bibliotheken, Schulen, Straßen und Einrichtungen tragen den Namen des Autors vieler Gattungen, sogar Preise, wie die Goethe Medaille, werden jährlich im Namen der Bundesrepublik Deutschland verliehen. Empfänger dieser Auszeichnung sind Persönlichkeiten aus dem Ausland, die sich durch ihr interkulturelles Engagement und ihre Verdienste um die Vermittlung der deutschen Sprache besonders hervorgetan haben (vgl. Goethe Institut: Goethe-Medaille In: goethe.de). Als weltweit und vielfach rezipierter Autor ist Johann Wolfgang von Goethe auch über seinen Tod im Jahre 1832 (vgl. Rothmann 1994, 15) hinaus nicht nur in der literarischen Welt weiterhin präsent. Durch eine Bandbreite an gattungsübergreifenden und facettenreichen Hinterlassenschaften, die durchaus auch autobiographische Züge aufweisen, sind Leben und Werk Goethes ausgezeichnet dokumentiert. So führte Goethe jahrzehntelang Tagebuch, unterhielt unzählige Briefwechsel und Korrespondenzen und ermöglicht somit einen umfassenden Einblick in seine Gedankenwelt und damit verbunden auch in sein ereignisreiches Leben. Ebendieses wurde von frühester Kindheit an maßgeblich von Frauencharakteren geprägt. Die Mutter nahm früh, durch das Heranführen an die Literatur der Zeit, Einfluss auf seine literarische Sozialisation und auch weitere Frauenbekanntschaften, wie etwa die mit Frau Charlotte Buff, gingen nicht ohne Willenslenkungen an Goethe vorüber und beeinflussten nicht zuletzt sein literarisches Wirken. Zu seinem ausgeprägten Bekanntenkreis zählten ebenfalls einige Damen des Adels, aber auch des Bürgertums, die auch in stetigem Austausch mit ihm standen (vgl. Seele 1997, 7). Letztlich stellt sich doch die Frage, inwiefern dem Leser das goethesche Bild der Frau in seinen Werken begegnet und ob es den idealen Typus der Dame der Klassik exakt wiedergibt oder ob es zu Abweichungen von dieser traditionellen Sichtweise kommt. Betrachtet man also die kontextuellen Gegebenheiten Goethes zu dessen Lebenszeit, fragt man sich, ob ebendiese Auswirkungen auf die Gestaltung der Frauencharaktere in seinen Publikationen hatten. Hierzu bietet sich in besonderer Weise Wilhelm Meisters Lehrjahre an, da der Roman eine Vielfalt und Varianz an Frauencharakteren innerhalb des Handlungsgeschehens zeigt.

Gegenstand dieser Arbeit soll es folglich sein, ausgewählte Frauencharaktere in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre eingehender zu analysieren und diese auf Unterschiede und Gemeinsamkeiten hin zu untersuchen. Im weiteren Verlauf wird der Versuch unternommen zu ergründen, ob und inwiefern diese drei Frauencharaktere dem idealisierten Bild der Frau in der Klassik entsprechen oder ob Goethe diese konträr zu den gesellschaftlichen Konventionen seiner Zeit gestaltet hat. Hierbei soll die idealtypische Rolle der Frau der Epoche Klassik zum Vergleich herangezogen werden, um anschließend die ausgewählten Frauencharaktere aus Wilhelm Meisters Lehrjahre daraufhin zu bewerten und eventuell in das Idealbild der Frau zu dieser Zeit einzuordnen. Dazu ist es zuvor von Nöten, den allgemeinen geschichtlichen Hintergrund, das Weltbild und die Lebensauffassung besagter Zeitperiode, wiederum besonders im Hinblick auf die soziale Stellung der Frau in der damaligen Gesellschaft, eingehender zu beleuchten. Abschließend soll ein Versuch der Einordung der analysierten Frauencharaktere aus Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre in den Idealtypus der Frau zur Zeit der Klassik einen Einblick gewähren, inwiefern sich Goethe an das vorherrschende Bild der Epoche gehalten hat oder ob es indirekte Zugeständnisse an die Stellung der Frau innerhalb der Gesellschaft durch seine Frauencharaktere gab .

2. Warum ausgewählte Frauencharaktere in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre?

„Übrigens sind seine Frauens drin alle von unschicklichem Betragen, und wo er edle Gefühle in der Menschennatur dann und wann in Erfahrung gebracht, die hat er all mit einem bißchen Kot beklebt, um ja in der menschlichen Natur nichts Himmlisches zu lassen.“

(Charlotte von Stein 1796, zit. n. Wallenborn 2006, 128).

Cornelia Goethe, Anna Katharina Schönkopf, Friederike Brion, Charlotte Buff, Anna Elisabeth Schönemann, Charlotte von Stein und Christiane Vulpius – alle diese Namen und die dahinter stehenden Frauen spielten im Leben von Johann Wolfgang von Goethe in verschiedenen Lebensphasen unterschiedliche Rollen. Sie waren „unabhängige Persönlichkeiten einerseits, typische Vertreterinnen der Frauen der Goethezeit andererseits […]“ (Seele 1997, 8), stellten also folglich eine Art Querschnitt der Gesellschaft dar, in ebendieser der Autor verkehrte. Diese zahlreichen Frauenbekanntschaften nahmen in Goethes Leben einen erheblichen Raum ein, was ihnen allerdings nicht die Probleme der Epoche Klassik ersparte. Verbunden mit hohem Kinderreichtum waren die Damen der Gesellschaft einen Großteil ihrer Lebenszeit gesegneten Leibes, jedoch endete eine Schwangerschaft nicht selten tragisch. Bedingt durch mangelnde medizinische Versorgung starben viele Mütter und Kinder im Kindbett oder kurz darauf. Im Gegensatz dazu standen oftmals die unverheirateten Frauen jener Zeit, den wohlhabenden Damen der Gesellschaft stand hier der Weg in ein Damenstift offen. Hierbei handelte es sich um eine geistliche Einrichtung, die zwar kein Gelübde erforderte, jedoch ein klösterliches Leben vorsah. Anders als Nonnen stand es einem Stiftsfräulein zu, den Stift aufgrund einer Heirat wieder zu verlassen. Oft wurde der Weg in den Stift gewählt, wenn ein passender, standesgemäßer Ehegatte ausblieb (vgl. Seele 1997, 7f.).

Die große Prävalenz von Frauen in Goethes Leben ließ auch sein literarisches Schaffen nicht unbeeinflusst. Vielfach von Frauen des Adels und des Bürgertums umgeben, lässt sich dieser Einfluss auch auf seinen Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre übertragen, auf dem diese Arbeit gründet. Ähnlich wie zu Beginn des Abschnittes reale Frauen um Goethe, sammeln sich ebenso Frauencharaktere um die Hauptfigur Wilhelm Meister. Barbara, Mariane, Philine, Lydie, Mignon, Aurelie, Madame Melina, die Baronesse, die Gräfin, Therese und Natalie – auch sie weisen eine große Heterogenität auf, gehören unterschiedlichen Ständen an und befinden sich in divergierenden Lebensphasen, ebenso wie die realen Frauen, die in Goethes Leben eine Rolle spielten. Vor allem die Frauengestalten in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre führten schon kurz nach Veröffentlichung des Werkes zu Kontroversen und polarisierten die Gesellschaft.

„Was würden Sie dazu sagen, wenn ich mich […] gegen den Verfasser von Wilhelm Meister beschwerte, daß er sich so gern bei dem Schauspieler-Volk aufhält, und die gute Societät in seinem Roman vermeidet? (Sicherlich ist dies der allgemeine Stein des Anstoßes, den die feine Welt an dem Meister nimmt, und es wäre nicht überflüssig, auch nicht uninteressant, die Köpfe darüber zurechtzustellen.).“ (Schiller 1795, zit .n. Borberger 1890, 73).

Dieses Schauspielervolk, zu denen einige der zuvor erwähnten Frauencharaktere gehören, scheint zur Epoche der Klassik eben nicht das Ideal der Gesellschaft zu sein und erst recht nicht das Idealbild der Rolle der Frau zu vermitteln, sondern eine Bandbreite an vielschichtigen Charakteren außerhalb des guten Bürgertums zu bieten. Die Unstimmigkeiten zwischen der unteren Gesellschaftsschicht, in Wilhelm Meisters Lehrjahre beispielsweise durch die fahrende Gruppe der Theaterschauspielerinnen und Theaterschauspieler dargestellt, und die Welt der pietistischen Frömmigkeit, repräsentiert durch Therese und die schöne Seele, zeigen eine Divergenz an gesellschaftlichen Ständen im Roman, die auf eine hohe Realitätsnähe zur Konfiguration der Gesellschaft in der Klassik schließen lassen. Von Interesse sind in diesem Kontext in besonderer Weise die Darstellungen einiger Frauencharaktere, die dem Idealtypus nicht oder nur partiell entsprechen und mutmaßlich überdies ein Versuch der Rebellion gegen das idealisierte Frauenbild darstellen. Im Kontext des Romans Wilhelm Meisters Lehrjahre soll eine Analyse der Figuren Mariane, Mignon und Natalie Klarheit darüber bringen, inwiefern Goethe in seinen Frauencharakteren die idealisierte Rolle der Frau der Zeit widerspiegelt oder ob er durch die Illustration ebendieser indirekte Zugeständnisse und Kompromisse an die Damen der Zeit macht.

2.1 Zur Entstehungsgeschichte und Strukturierung von Wilhelm Meisters Lehrjahren

Entstehungsgeschichtlich an Zeit kaum zu überbieten, forderte die Realisierung der Idee des Romans bis hin zum fertig veröffentlichten Wilhelm Meister beinahe zwanzig Jahre. 1777 erwähnte Goethe erstmals die Figur Wilhelm Meister in seinem Tagebuch, doch bis zur Publikation der geplanten acht Bücher wurde der Entstehungsprozess mehrfach unterbrochen und durch eine wiederholte inhaltliche Umgestaltung des Romankonzepts aufgehalten (vgl. Witte 2004, 113). Unter dem Namen Wilhelm Meisters Theatralische Sendung stellte Goethe 1785 die ersten sechs Bücher des Romans fertig, der allerdings auf alle Zeit ein Fragment bleiben sollte. Unterbrochen durch die Italienreise des Autoren nahm dieser die Arbeit an der ursprünglichen Romankonzeption nicht mehr auf, sondern entwarf aus dem übriggebliebenen Manuskript, unter erheblichen inhaltlichen Veränderungen, einen Teil der Lehrjahre (vgl. Conrady 1994, 623). Der Ur-Meister in Form der Theatralischen Sendung wurde schließlich zu den ersten vier von acht Büchern der Lehrjahre und so entstand aus dem geplanten Theaterroman ein Bildungsroman, dessen Klassifizierung auch noch hunderte Jahre später zu Kontroversen führt (vgl. Dörr 2007, 152). Um das Romanfragment nach langjähriger Unterbrechung zügig abschließen zu können, setzte Goethe sich selbst unter Druck und schloss 1794 einen Vertrag mit dem Berliner Verleger Unger ab (vgl. Witte 2004, 116). Mit dem Druck des ersten Buches konnte man im August 1794 beginnen und bis Ostern 1795 lag die Hälfte der acht geplanten Bücher bereit. Von nun an konnte Goethe sich allerdings nicht mehr auf sein zuvor angefertigtes Romanfragment berufen, sondern musste einen neuen Entwurf ausarbeiten, auf dessen Basis sich die restlichen vier Bücher beziehen (vgl. ebd., 117). Nach weiteren Unterbrechungen während der Fertigstellung des Romans und harscher Kritik, auch von Seiten Schillers, erschien im Oktober 1796 schließlich der letzte Teil von Wilhelm Meisters Lehrjahren. Goethe selbst deutet diesen, von längeren zeitlichen Unterbrechungen gezeichneten Prozess, als eine seiner „incalculabelsten Productionen“ (Goethe 1825, zit. n. Witte 2004, 120) und wird über den Abschluss desselben frohen Mutes gewesen sein. Doch mit Fertigstellung der Lehrjahre tritt nun deutlich ein thematischer Bruch binnen der Werke zu Tage. Innerhalb des in acht Bücher mit jeweils variierender Kapitelzahl untergliederten Werkes Wilhelm Meisters Lehrjahre bilden die Bücher eins bis fünf eine thematische Einheit, diese die Welt des Theaters widerspiegelt. Eine Leitlinie der Bildung innerhalb der ersten fünf Romanteile wird an der Hauptfigur Wilhelm Meister verankert. „[…] mich selbst, ganz wie ich da bin auszubilden, das war dunkel von Jugend auf mein Wunsch und meine Absicht.“ (Goethe 2011, 237) gilt als Wilhelms Bekenntnis und Leitlinie der Bildung, diese mit individueller Selbstverwirklichung im Theater und dem Verlangen nach ästhetischer Erziehung innerhalb der Theatergesellschaft einhergeht (vgl. ebd., 641). Buch sechs nimmt im Kontext der Lehrjahre eine herausragende Position ein. Als einziges ist es mit dem Titel Bekenntnisse einer schönen Seele versehen, bietet inhaltlichen Einblick in die Welt der pietistischen Frömmigkeit und könnte eine Art Expositionsfunktion einnehmen, um so eine thematische Überleitung zur Turmgesellschaft zu bieten (vgl. Dörr 2007, 153). Durch das „[…] Hervortreten eines neuen und tieferen Bildungsideals im VII. Buch treten Held und Erzähler zugunsten neu eingeführter Verbindungen in den Hintergrund.“ (Wilpert 1998, 1184). Die Agenda der Turmgesellschaft ist darauf ausgerichtet das Geschehen und den Gedanken der Bildung von der individuellen Selbstverwirklichung weg zu lenken, damit Wilhelm Meister lernt „[…] um andrer willen zu leben und seiner selbst in einer pflichtmäßigen Tätigkeit zu vergessen.“ (Goethe 2011, 405). Die Wende hin zu der eher praktisch veranlagten Welt der Turmgesellschaft und weg vom ästhetisch harmonischen Aspekt der Welt des Theaters, scheinen in Wilhelm Meisters Lehrjahre für die Figur des Wilhelm das endgültige Bildungsziel zu symbolisieren (vgl. Conrady 1994, 642).

2.2 Inhaltliche Einführung und Einordnung der ausgewählten Frauenfiguren in den Romankontext

Goethes Werk Wilhelm Meisters Lehrjahre zeichnet in acht Büchern den Lebens-, Leidens- und Bildungsweg des jungen Kaufmannssohnes Wilhelm Meister nach. Der Hauptcharakter ist bereits in seiner Jugend fasziniert von Theater und Schauspiel und führt mit dem Puppenspiel der Familie bereits seit frühen Kindertagen Stücke auf. Eine leidenschaftliche Liebesbeziehung zur jungen Mariane, die ununterbrochen von der alten Kupplerin Barbara umgeben scheint, wird von der Liebe zur Schauspielerei beeinflusst, da diese aufgrund einer Anstellung als Schauspielerin im Heimatort Wilhelms zugegen ist (vgl. Goethe 2011, 5). Die Beziehung zu Mariane, mit dieser Wilhelm Meister ursprünglich in die Ferne ziehen will, scheitert jedoch letztendlich, da Wilhelm seine Geliebte fälschlicherweise für untreu hält und sie daraufhin verlässt.

Aus erheblichem Schmerz heraus schließt er vermeintlich mit diesem Kapitel seines Lebens ab, entfernt sich jedoch nur in Gedanken vom Theater und widmet sich in den nächsten Jahren mit all seiner Kraft voll und ganz dem kaufmännischen Leben. Doch nicht nur gedanklich, auch physisch entsagt er seinem Jugendtraum, indem er trotz des Abratens seitens seines Freundes Werner seine Dichtungen und die literarischen Werke aus vorherigen Tagen verbrennt. Wilhelm Meister begibt sich, auf wiederholtes Drängen seines Vaters und dessen Geschäftspartners hin, auf eine größere Geschäftsreise, die ihn in seinem kaufmännischen Handeln vorantreiben soll. Hierbei lernt er durch Zufall eine Theatertruppe kennen, der unter anderem Philine, Laertes und das Ehepaar Melina angehören. Während der Zusammenkunft mit den Theaterschauspielerinnen und Theaterschauspielern gastiert eine fahrende Zirkusgruppe in der Stadt, zu der das Mädchen Mignon zählt. Sie soll als Seiltänzerin Kunststücke aufführen, um das Publikum zu begeistern. Das Mädchen verweigert die Darbietung allerdings vehement und wird daraufhin vom Direktor der Gruppe geschlagen. Das sonderbare Geschöpf, vom Leiter der Seiltänzer misshandelt, erregt Wilhelms Mitleid, dieser einen Handel mit demselben eingeht und Mignon bei sich aufnimmt. Zeitgleich stößt auch der alte Harfner, der sich erst nach seines eignen und Mignons Tod als Vater des Mädchens erweisen soll, zu der Truppe. Mehr oder minder fest entschlossen tritt Wilhelm der fast mittellosen Theatergruppe bei, um diese als Autor und Regisseur bei einer geplanten Darbietung zu unterstützen. Diese soll auf einem gräflichen Schloss stattfinden, von dessen Herrin, der Gräfin und Schwester Lotharios, Wilhelm Meister unmittelbar hingerissen ist. Nach einer geglückten Aufführung und längeren Rast in diesem prunkvollen Gebäude, wird Wilhelm auf Anraten Jarnos, einem Ratgeber des Prinzen, an die Werke Shakespeares herangeführt.

Auf der Weiterreise überlegt Wilhelm sich Melinas Schauspieltruppe dauerhaft als Direktor anzuschließen, als diese überfallen und in einen Kampf verwickelt wird. Der verwundete Wilhelm, mit Philine und Mignon von der reisenden Gesellschaft zurückgelassen, wird durch eine „schöne Amazone“ (ebd., 184) gerettet und in ein nahegelegenes Gasthaus bringen gelassen. Ebendiese Amazone, die sich später als Natalie entpuppen wird, kann er fortan nicht mehr vergessen, obwohl sie Wilhelm nach dieser kurzen Begegnung nicht mehr in Erscheinung tritt. Auch bedingt durch diese Erfahrung sieht er sich an einer Gabelung seines Lebenswegs angekommen, der Entscheidung zwischen einem finanziell ertragreichen Leben als Kaufmann oder dem prekären, aber freien Leben als Mitglied und Vorstand einer reisenden Theatertruppe, die gesellschaftlich, im Gegensatz zum kaufmännischen Dasein, einen sozialen Abstieg für Wilhelm bedeuten würde. Sein Entschluss steht jedoch fest, nachdem die Nachricht vom Tode seines Vaters eintrifft – Wilhelm Meister möchte sein bürgerliches Leben zugunsten einer ästhetischen Erziehung und Bildung hinter sich lassen und so führt ihn der Weg weiter zu Serlo, einem Theaterbesitzer und Freund von ihm. Dort angekommen finden viele Mitglieder der reisenden Gesellschaft eine Anstellung, denn bald soll Shakespeares Hamlet aufgeführt werden. Unerwarteterweise begegnet Wilhelm nach Proben des Theaterstücks der alten Barbara, die ihm Briefe der bereits verstorbenen Mariane überbringt. Felix, den Wilhelm zuvor als Bekenntnis der Liebesbeziehung zwischen Lothario und Aurelie ansah, entpuppt sich unerwarteterweise als sein eigener aus der Liaison mit Mariane entstandener Sohn (vgl. ebd., 388).

Der gefasste Vorsatz Shakespeare aufzuführen, verbunden mit der Anstellung am Theater des Freundes Serlos und dessen Schwester Aurelie, endet desaströs. Ein Brand verwüstet das Theater und verhindert das Engagement der Gruppe auf weitere Zeit, diese daraufhin ihre Auflösung beschließt. Aurelie stirbt und bittet Wilhelm ihrem ehemaligen Liebhaber Lothario einen Brief zu überbringen. Das nun folgende sechste Buch behandelt die Bekenntnisse einer schönen Seele, diese von der pietistischen Selbstwahrnehmung und Selbstreflexion der schönen Seele, die sich als Tante Lotharios, der Gräfin und Natalie herausstellt, berichtet. Diese Abhandlung wird auch von Wilhelm rezipiert, der sich unterdessen auf dem Weg zu Lothario befindet. Im Anwesen des aufgeschlossenen und weltoffenen Barons Lothario angekommen, überreicht Wilhelm den Brief Aurelies, entspricht somit ihrer letzten Bitte und wird zum Verweilen in dieser Gesellschaft eingeladen. Lothario ermuntert Wilhelm Meister im Folgenden sich wieder vom Theater ab- und einem Dienst an der Allgemeinheit zuzuwenden. Zu diesem Zwecke wird er in die sogenannte Turmgesellschaft eingeführt, die eine rationale, dem Sturm und Drang abgewandte Lebensansicht und -weise vertritt. Hier bemüht er sich zunächst um Therese, eine Freundin Natalies, erkennt aber bald darauf in Natalie, der Schwester des Barons, seine Amazone wieder und verliebt sich erneut in diese. Im weiteren Verlauf gerät Wilhelm mehr und mehr unter den Einfluss der Turmgesellschaft, die oft verschleiert und manipulativ sein Leben kontrollierte und kontrolliert, was ihn immer wieder die Abreise in Erwägung ziehen lässt. Die Verlobung mit Therese hält ihn allerdings davon ab. Mignon, die Wilhelm auf seinem Weg ständig begleitete und der es unter der Obhut von Natalie zusehends schlechter geht, stirbt letztendlich an gebrochenem Herzen (vgl. ebd., 448). Von der Flucht aus dieser von Aufklärung und Realismus geprägten Umgebung hält ihn schlussendlich nur die Versprechung ab, Natalie ehelichen zu dürfen, da das Verlöbnis zwischen ihm und Therese zugunsten einer Heirat zwischen Lothario und Therese aufgelöst wurde.

Mariane, die durch die Schauspielerei und eine kurze aber intensive Liaison, mit Wilhelm verbunden ist, verbringt nur wenig Zeit zusammen mit dem jungen Kaufmannssohn. Zu Unrecht eines Seitensprungs bezichtigt, lässt Wilhelm die schwangere Mariane zurück und zieht im kaufmännischen Interesse seines Vaters in die Welt hinaus. Obgleich Wilhelm sich physisch von ihr distanziert, bleibt er ihr psychisch auch weiterhin verbunden und wird, nicht zuletzt durch den gemeinsamen Sohn Felix, Mariane immer gedenken.

Mignon, durch Wilhelms Mitleid ihr gegenüber aus der Gruppe der fahrenden Seiltänzer in seine Gesellschaft aufgenommen, wird ihn dauerhaft auf seinen Reisen begleiten und ihm treu zur Seite stehen. Sie und Wilhelm entwickeln eine innige Beziehung zueinander, die der einer Tochter und eines Vaters ähnelt. Aus gesundheitlichen Gründen und damit Mignon angemessene Bildung erfahren kann, schickt Wilhelm sie zu Natalie, die sich ihrer annimmt. Die Trennung von Wilhelm verschlechtert den Gesundheitszustand des Kindes allerdings, sodass sie im Kreise der Turmgesellschaft eines gebrochenen Herzens stirbt.

Natalie, die als wahre schöne Seele bezeichnet wird, ist die Schwester Lotharios und der Gräfin und gute Freundin der Therese. Sie begegnet Wilhelm das erste Mal, als dieser von einem Kampf verwundet am Boden liegt und durch Natalies Anweisungen verarztet und somit gerettet wird. Seine Retterin bleibt Wilhelm von nun an eine längere Zeit verborgen, jedoch gedenkt er ihr nahezu ständig und sehnt sich nach einer weiteren Begegnung. Erst als er aus dem Kreise der Turmgesellschaft zur Zusammenkunft mit Mignon gerufen wird, lernt er Natalie endlich kennen, der Wilhelm zuvor liebevoll den Spitznamen „schöne Amazone“ (ebd., 184) gab. Durch den glücklichen Zufall der Auflösung des Verlöbnisses zwischen Wilhelm und Therese kann er sich nun mit Natalie verbinden, diese ehelichen und die Vollendung in der Heirat mit ihr finden.

2.3 Beschreibung und Analyse der relevanten Frauencharaktere

„Meine Idee von Frauen ist nicht von den Erscheinungen der Wirklichkeit abstrahiert, sondern sie ist mir angeboren oder in mir entstanden, Gott weiß wie.“

(Goethe am 22. Oktober 1828 zu Eckermann) (Goethe, zit. n. Seele 1997, 7).

Mariane, Mignon und Natalie sind nur einige der vielen Frauencharaktere in Wilhelm Meisters Lehrjahre, die den Kaufmannssohn und Liebhaber des Theaters Wilhelm umgeben. An verschiedenen Stellen seines Lebens begegnen sie ihm und begleiten ein Stück weit seine Reise in die Welt. Nicht abgeneigt von der Damenwelt im Allgemeinen, lässt sich Wilhelm Meister meist binnen kurzer Zeit auf die Frauen ein. Die leidenschaftliche Liebesbeziehung zu Mariane bleibt nur von kurzer Dauer, denn nach einem vermeintlichen Seitensprung ihrerseits bricht Wilhelm den Kontakt ab. Auf der Reise nimmt Wilhelm alsbald Mignon bei sich auf, die ihm hingegen als treue Weggefährtin zur Seite steht und bis zu ihrem Tod dem Ziehvater tief verbunden bleibt. Erst am Ende seiner Reise und schlussendlich in der Turmgesellschaft angekommen, lernt Wilhelm seine Amazone Natalie kennen. Aufgrund eines glücklichen Zufalls wird das Verlöbnis mit Therese gelöst und er kann seine Retterin ehelichen. Alle drei Frauen beeinflussen Wilhelm Meister in seinem Handeln, lenken ihn auf seinem Lebensweg und nehmen herausragende Positionen im Romangeschehen ein.

2.3.1 Mariane, eine amoralische Schmeichlerin?

Mariane, die unmittelbar zu Anfang des Buches Wilhelm Meisters Lehrjahre in Erscheinung tritt, ist die „schöne Gebieterin“ (Goethe 2011, 5) der Barbara und als Schauspielerin tätig. In eine Offiziersuniform, Federhut und Degen gekleidet, in der sie im Theater als junger Offizier auftritt, eilt sie an der alten Barbara vorbei in den Raum hinein ohne sie eines Blickes zu würdigen. Sie erscheint ungeduldig, beachtet das Geschenk ihres Liebhabers Norberg nicht und möchte auch nicht weiter damit konfrontiert werden. Ungeachtet der protestierenden Barbara möchte Mariane Norberg erst dann wieder gedenken, wenn er zugegen ist. Zuvor aber möchte sie sich ganz ihrem Liebhaber Wilhelm Meister widmen und will sich „[…] dieser Leidenschaft überlassen, als wenn sie ewig dauern sollte.“ (ebd., 6). Den Spott Barbaras völlig ungeachtet erwartet Mariane meist spät abends ihren Liebhaber Wilhelm, den sie voller Inbrunst empfängt und die Nacht mit ihm verbringt. Die Ernsthaftigkeit der Liebe zu ihm beteuert sie Barbara gegenüber und möchte von ebendieser auch erst an ihren anderen Günstling Norberg erinnert werden, wenn sein Besuch in vierzehn Tagen bevorsteht. Bis dahin möchte sie sich ganz der leidenschaftlichen Beziehung widmen (vgl. ebd., 6f.). Beim gemeinsamen Spiel mit den Puppen Wilhelms fehlt es dem Paar nicht an Unterhaltungen, denn Mariane interessiert sich sehr für die Empfindungen und Tätigkeiten ihres Verehrers und hängt förmlich an seinen Lippen. Davon überzeugt, dass sich das ungewöhnliche Paar niemals trennen müsse, verdrängt Mariane regelrecht den bevorstehenden Besuch des Unterstützers, der den ihrigen Lebensstil finanziell ermöglicht (vgl. ebd., 6). In einer Konversation mit Wilhelm fällt das Gespräch auf Marianes Vergangenheit, diese die alte Barbara aufgrund großer Verlegenheit schnellst möglich zu vertuschen versucht. Wilhelm, der die schläfrige Mariane unterdessen in den Armen hält, bemerkt Barbaras Vertuschungsversuch nicht und fährt in seiner Erzählung fort. Mariane wird sich der notwendigen Trennung von Wilhelm zu Gunsten Norbergs, der ihr finanzielle Sicherheit bieten kann, immer wieder schmerzlich bewusst, kann allerdings nichts dagegen ausrichten (vgl. ebd., 19). Die nächtlichen Treffen mit Mariane nutzt dieser dazu ihr seine pathetische Leidenschaft zum Theater zu erklären, diese hingegen während seiner Erzählungen in seinem Arm einschläft. Voller Erwartung Wilhelm des Abends wieder zu sehen, ist ihr Tag gefüllt von Gefühlsduselei. Getrieben vom Verlangen und der Lust, die ihr anwesender Bewunderer in ihren Alltag bringt, kann sie doch die Gewissensbisse ihm gegenüber nicht verbergen. Zu stark ist die Angst davor, ertappt zu werden und dadurch den Kaufmannssohn zu verlieren. Doch auch Barbara kann Mariane nicht zu einer Entscheidung drängen und so täuscht sie sich tagsüber selbst, indem sie den freudigen Stunden in der Nacht mit Wilhelm entgegensieht. Selbst in Anwesenheit Wilhelms kann sie alsbald ihren Kummer nicht mehr vergessen, denn die Ankunft Norbergs und somit auch der mögliche Verlust des Kaufmannssohnes rücken stetig näher. Geschwächt von diesem Zwist scheint Marianes „[…] Geiste leer und ihr Herz hatte keinen Widerhalt.“ (ebd., 26). Mariane weiht in Abwesenheit des Günstlings Norberg, dessen Geschenk mit seinem Nebenbuhler ein und gibt sich Wilhelm mit all ihrer Liebe hin, in weiser Voraussicht, dass es die vorerst letzte gemeinsame Nacht der beiden Liebenden sein wird. „Seine Geliebte kam ihm an der Treppe entgegen, und wie schön! wie lieblich! In dem neuen weißen Negligé empfing sie ihn; […]“ (Goethe 2011, 33). Den Plan und Wunsch Wilhelms, zusammen in die Welt zu ziehen, lehnt Mariane stillschweigend ab, wissend ihrer Schwangerschaft. Betrübt vom baldigen Bruch mit Wilhelm verbringt Mariane den Tag weinend vor Verzweiflung im Bett, denn die prophezeite Trennung eilt ihr entgegen und sie sieht sich der elenden Situation ausgeliefert. Barbara, die Mariane zu Gunsten des „unbequemen Liebhabers“ (vgl. ebd., 34) zu lenken versucht, bewirkt damit Gegenteiliges.

„Was kann ich wollen?“, versetzte Mariane; „ich bin elend, auf mein ganzes Leben elend; ich liebe ihn, der mich liebt, sehe, dass ich mich von ihm trennen muss, und weiß nicht, wie ich es überleben kann. Norberg kommt, dem wir unsere ganze Existenz schuldig sind, den wir nicht entbehren können. Wilhelm ist sehr eingeschränkt, er kann nichts für mich tun.“ (ebd., 35).

Mariane, zwischen Vernunft und Leidenschaft hin- und hergerissen, will sich der Entscheidung entziehen, indem sie Barbara die Wahl der Partie überlässt, dieser jedoch ihre Schwangerschaft zu bedenken gibt. Etwas über den Aufschub der bald zu treffenden Entscheidung erleichtert, kann Mariane dennoch keine Harmonie in sich selbst finden. Als Wilhelm sie des Abends aufsucht, um ihr einen Brief, in diesem er ihr die Bitte zur gemeinsamen Reise abverlangt, zu überreichen, verhält sich Mariane ihm gegenüber nicht so liebevoll und herzlich als sonst. Auch eine weitere Zusammenkunft in der Nacht versagt sie ihm und lässt Wilhelm aufgrund einer Unpässlichkeit ihrerseits nur kurz in ihrer Gegenwart verweilen (vgl. ebd., 53). Der Kaufmannssohn spürt die Veränderung in Mariane, macht sich allerdings keine weiteren Gedanken und behält den Brief für sich.

Später in der Nacht wird er Zeuge des vermeintlichen Seitensprungs und bricht den weiteren Kontakt zu seiner ehemaligen Geliebten, von deren Schwangerschaft er nichts weiß, ab. Mariane tritt im Romangeschehen von nun an nicht mehr aktiv als Person auf, sondern wird anhand anderer Personen charakterisiert. So spricht beispielsweise der Alte, dieser zuvor der Schauspieltruppe Marianes angehörte, von ihr als „abscheuliches Geschöpf“ (ebd., 90), dessen er aufgrund ihrer Liederlichkeit und Undank der finanziellen Unterstützung überdrüssig war. Auf der Reise mit ihrer Schauspielgruppe seien sie und Barbara, Marianes Schwangerschaft geschuldet, vom Direktor der Truppe zurückgelassen worden. Wilhelm, obgleich er Mariane nie wieder zu Gesicht bekommt, vergisst ihre Gestalt zu keiner Zeit. So erinnert er sich an ihre blonden Haare und ihren Rock und hofft hinter der geheimnisvollen Freundin Philines seine ehemalige Geliebte wiederzufinden, was sich im Folgenden aber als vergebens herausstellt. Immerfort gedenkt Wilhelm Meister seinem einst ihm so zugetanen und liebevollen Geschöpf, erfährt jedoch nichts von ihr, bis er durch einen Zufall die alte Barbara trifft. Diese berichtet vom Tod seiner Geliebten, die Wilhelm auch nach dessen Abreise treu geblieben und nach der Geburt ihres gemeinsamen Sohnes Felix verstorben sei. Mariane, die sich selbst als unglücklich Geliebte betitelt, schrieb Wilhelm viele Briefe in denen sie ihre Unschuld beteuert und eine letzte Zusammenkunft erbittet, um ihre Loyalität Wilhelm gegenüber zu bekunden. Die Alte beteuert vor Wilhelm, dass ihr „gutes Mädchen“ (ebd., 389) Barbaras manipulativen Anweisungen zwar stets mit Widerwillen gehorchte, ihr Herz diesem Handeln hingegen widersprach.

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Details

Title
Ausgewählte Frauencharaktere in Goethes "Wilhelm Meisters Lehrjahre"
College
University of Koblenz-Landau  (Germanistik)
Grade
1,3
Year
2014
Pages
42
Catalog Number
V315281
ISBN (eBook)
9783668141070
ISBN (Book)
9783668141087
File size
677 KB
Language
German
Keywords
Goethe, Frauenbild, Idealtypus
Quote paper
Anonymous, 2014, Ausgewählte Frauencharaktere in Goethes "Wilhelm Meisters Lehrjahre", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/315281

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