Leseprobe
Inhalt
1.) Einleitung
2.) Vorüberlegungen zum Wunderbegriff in Geschichte und Gegenwart
3.) Zur Exegese von Lk 11,14-23
3.1. Textabgrenzung
3.2. Textkritik
3.3. Übersetzung der Perikope Lk 11,14-23
3.4. Textauflistung - Gliederung des Textes in Sinneinheiten
3.5. Vergleich der Übersetzungen Einheitsübersetzung - Lutherbibel - revidierte Elberfelder Bibel
3.6. Zur Situierung der Perikope im Kontext des Lukasevangeliums
4.) Synchrone Textanalyse
4.1. Situationsanalyse
4.1.1. Schauplatz und Zeit
4.1.2. Personenkonstellation
4.2. Semantische Analyse
4.2.1. Leitmotive und Schlüsselbegriffe
4.3. Beobachtungen zur Syntax und zum Tempusgebrauch
4.4. Erzählstruktur
4.5. Zur Erzählsituation
4.6. Pragmatische Untersuchung
4.6.1. Struktur und Argumentationsgang der Verteidigungsrede Jesu
4.7. Gattungsgeschichtliche Untersuchung
5.) Diachrone Analyse
5.1. Religiöser und soziokultureller Hintergrund
5.1.1. Konzepte von Krankheit und Gesundheit - Dämonenglaube in Israel zur Entstehungszeit der Evangelien
5.1.2. Charakteristika des Exorzismus in Abgrenzung von der Heilung
5.1.3. Jesus und die Wunderheiler seiner Zeit
5.2. Synoptischer Vergleich
5.3. Redaktionsgeschichte
5.4. Der „Sitz im Leben“
6.) Lk 11,14-23 im Kontext der lukanischen Theologie
6.1. Jesu befreiendes Wirken
6.2. Die Frage nach der Vollmacht
6.3. Die eschatologische Dimension von Lk 11,14-23
6.4. Eine Entscheidung ist unausweichlich - der Ruf zur Nachfolge
7.) Ausblick: Der existenzielle Sinn der Perikope Lk 11,14-26
8.) Verwendete Literatur
Kommentare
Sekundärliteratur
1.)Einleitung
Exorzismen und Heilungen nehmen in der Jesusüberlieferung eine bedeutende Rolle ein und haben immer wieder - bei unterschiedlichen Weltbildern und Verstehenshorizonten - für Erstaunen und Ablehnung, Irritationen und Missverständnisse gesorgt; nicht nur bei Jesu Zeitgenossen, sondern bis heute. Geht man mit Twelftree davon aus, dass Jesu Exorzismen „one of the most obvious and important aspects of his ministry“[1] sind, bleibt nach deren Bedeutung im Kontext seiner Verkündigung zu fragen. Dämonenaustreibungen als „Brennpunkte“ des jesuanischen Wirkens[2] gelten in der historischen Jesusforschung nicht nur als historisch relativ gesichert, sondern liefern darüber hinaus wesentliche Erkenntnisse über Selbstverständnis und Botschaft Jesu. In der vorliegenden Hausarbeit soll die Bedeutung der Perikope Lk 11,14-23 im Kontext der Reich-Gottes-Botschaft Jesu herausgearbeitet werden, da diese Perikope im Rahmen des dritten Evangeliums weitreichende Schlüsse auf die Bedeutung und den Zeichencharakter von Jesu heilenden und exorzistischen Taten zulässt. Neben dem befreienden und auf das Reich Gottes verweisenden Aspekt steht hier - eingebunden in den lukanischen Reisebericht - der Zeitpunkt des Eintreffens des erwarteten Reiches Gottes im Vordergrund sowie die Frage nach der Vollmacht Jesu angesichts der Beelzebul-Vorwürfe, mit denen ihn seine Gegner konfrontieren.
Die Perikope von der Austreibung eines stummen Dämons ist nicht im geschichtslosen Raum entstanden, sondern – wie alle biblischen Texte – geprägt und inspiriert vom Denkhorizont ihres Verfasser, aber auch vom zeitgenössischen Weltverständnis und der dementsprechenden Interpretation von Wirklichkeit. Diese zeitgeschichtliche Situierung des Textes ist zu berücksichtigen, um nicht aus der modernen Perspektive des 21. Jahrhunderts, die stark durch naturwissenschaftliche Weltdeutungsmodelle geprägt ist, der neutestamentlichen Wundererzählung zu begegnen. Der exegetischen Arbeit am Text vorangestellt sind daher kurze allgemeine Vorüberlegungen zum Wunderbegriff in Vergangenheit und Gegenwart. Informationen zum soziokulturellen Kontext und zum religiösen Hintergrund der Perikope finden sich in der diachronen Textanalyse. Zunächst sollen jedoch wesentliche vorbereitende Schritte der folgenden Auslegung auf der synchronen und der diachronen Ebene durchgeführt werden. Nach der Textabgrenzung und textkritischen Beobachtungen soll eine eigene - möglichst nah am griechischen Text gehaltene und nicht vorrangig nach stilistischen bzw. rezeptionsorientierten Kriterien gestaltete - Übersetzung als Folie dienen, auf der verschiedene deutsche Bibelübersetzungen miteinander verglichen werden können. Nach der Darstellung einer möglichen Gliederung des Textes in Sinneinheiten und der Einordnung in den Kontext des Lukasevangeliums werde ich in der synchronen Textanalyse die Perikope nach syntaktisch-semantischen bzw. pragmatischen Gesichtspunkten untersuchen, wobei auch die Frage nach der Gattungszuordnung gestellt wird. In der diachronen Analyse werden zum einen die soziokulturellen bzw. religiösen Hintergründe der Perikope beleuchtet, bevor im Zuge der Literarkritik ein synoptischer Vergleich durchzuführen ist. Da jeder biblische Text - wie überhaupt jeder Text - in eine bestimmte historische Kommunikationssituation eingebunden ist und hinter ihm bestimmte Intentionen des Autors zu vermuten sind, soll der Sitz im Leben der Perikope im Hinblick auf die lukanische Gemeinde kurz erörtert werden, bevor die theologischen Schwerpunkte, die in den betreffenden Versen zum Ausdruck kommen, charakterisiert werden.
Abschließend werde ich versuchen, die bleibende Bedeutung der behandelten Perikope im Besonderen wie die Bedeutung des exorzistischen bzw. heilenden Handelns Jesu im Allgemeinen zu formulieren.
2.) Vorüberlegungen zum Wunderbegriff in Geschichte und Gegenwart
Jesu heilende und exorzistische Taten werden in den Evangelien im Rahmen der Wunderüberlieferung erzählt, die im Neuen Testament einen breiten Raum einnimmt. Wunder als ein „magisches bzw. den normalen Lauf der Dinge überschreitendes Geschehen“[3] haben in vielen Religionen einen hohen Stellenwert und sind konstituierendes Glaubenselement auch im Christentum, wobei zwei Betrachtungsweisen zu unterscheiden sind. Zum einen ist der Wunderbegriff bestimmendes Merkmal des Glaubens bzw. des Handelns Gottes überhaupt, insofern der Gläubige das Offenbarwerden Gottes inmitten der endlichen Welt als grundlegendes Wunder begreift. Andererseits - und in spezifischerem Sinn - werden Wunder verstanden als bestimmte, von anderen Handlungsweisen Gottes (Schöpfung, Vorsehung) und besonders auch vom normalen Weltverlauf unterschiedene, von der Glaubensgemeinschaft mehr oder weniger anerkannte außerordentliche Ereignisse göttlichen Handelns.[4] Der hier zugrunde gelegte Wunderbegriff hat in der Geschichte des Christentums massive Veränderungen erfahren. So definierte Heinrich Straubinger „Wunder“ 1938 im LThK als „ein(en) von Gott außerhalb der Naturordnung gewirkte(n), empirisch erkennbare(n) Vorgang.“[5] Hatten Wunder lange Zeit der kirchlichen Tradition zur Untermauerung des religiösen Wahrheitsanspruchs gedient, wurden sie im Zuge der Entwicklung des modernen Weltbildes selbst zum Problem und sorgten für Irritation auch in der exegetischen Forschung, die mit unterschiedlichen Deutungsmodellen reagierte, beispielsweise mit der rationalistischen Deutung von Wundern oder auch mit der redaktionsgeschichtlichen Relativierung (u.a. Rudolf Bultmann). Dabei wurde unter anderem auf die zeitgeschichtlich und sozialanthropologisch geprägten Denkweisen und Deutungsmuster verwiesen, die in die uns heute vorliegenden Evangelientexte eingeflossen sind und die bei jeder exegetischen Interpretation berücksichtigt werden müssen. Im Bezug auf die in der vorliegenden Arbeit untersuchte Perikope und für das Verständnis der darin erzählten Dämonenaustreibung muss das ganz andere Wunderverständnis in Israel zur Zeit Jesu betont werden. Dieses bestand – so M. Dibelius - darin, dass die „Hörer Jesu […] meinten, Gottes Wirken gerade im Unerklärbaren sehen zu müssen.“[6] Wunderbar sei ihnen das im Augenblick Unerklärbare, „mit Naturgesetzen rechnen sie nicht, Erklärungsversuche kümmern sie nicht; denn es ist ja das Übernatürliche, das sie im Unerklärten spüren. Anbeten oder verdammen, Gott oder den Teufel am Werke glauben – es gibt kaum eine andere Möglichkeit für sie.“ Auch Gerd Theißen verweist in seinen sozialgeschichtlichen Untersuchungen auf die historische Bedingtheit des Wunderglaubens, der - abhängig von sozialen und zeitgeschichtlichen Bedingungen - mehr oder weniger stark ausgeprägt sei und zur Zeit des Urchristentums besondere Relevanz für das Weltbild der Menschen erlangt habe,[7] so dass man von einer „Renaissance des Wunderglaubens“[8] zur Zeit Jesu sprechen könne. Dieses Weltbild spiegelt sich in den zeitgenössischen Konzepten und Erklärungsmustern von Krankheit und Gesundheit wider, die später in die diachrone Analyse einfließen sollen.
Heilungen und Exorzismen als die – aus der Perspektive der historisch-kritischen Exegese Gerd Theißens - „eigentliche Wundertätigkeit Jesu“[9] nehmen einen breiten Raum im Wunderhandeln Jesu ein und werden parallel in verschiedenen Überlieferungen bezeugt, was deren tatsächlichen Stellenwert im Leben des historischen Jesus vermuten lässt – die historische Perspektive wird in der vorliegenden Arbeit jedoch nur am Rande miteinbezogen, soweit die Frage nach dem Sitz im Leben der behandelten Perikope Lk 11,14ff. und die Frage nach dem religionsgeschichtlichen Kontext wichtige Hinweise für die Deutung der betreffenden Verse liefern.
3.) Zur Exegese von Lk 11,14-23
3.1. Textabgrenzung
Die vorliegende Arbeit greift aus dem lukanischen Reisebericht die Verse Lk 11,14-23 heraus, um diese einer genaueren Analyse zu unterziehen. Sowohl die Abgrenzung zu den vorangegangenen Versen, als auch zum Nachfolgenden ist verhältnismäßig willkürlich bzw. provisorisch und dient in erster Linie dazu, ein überschaubares Textsegment herauszutrennen, das selbstverständlich in seinem näheren und weiteren Kontext betrachtet werden muss. Zu berücksichtigen ist, dass eine Zäsur zur vorangegangenen Jüngerunterweisung (Lk 11,1-13) nicht explizit markiert ist und sich die Exorzismusszene in Lk 11,14 sinngemäß an die Gebetsaufforderung in Lk 11,13 anschließt. Im griechischen Text ist der Übergang zwischen beiden Perikopen durch „καὶ“ (und) ausgedrückt, was die enge Zusammengehörigkeit zwischen Lk 11,13 und Lk 11,14 betont. Für die vorläufige Abgrenzung der Perikope nach vorne hin und damit für einen Einschnitt zwischen den VV. 13 und 14 spricht hingegen der Wechsel zwischen wörtlicher Rede und Bericht bzw. Erzählung, der üblicherweise als Textbegrenzungssignal fungiert. Außerdem können der relativ abrupte Szenewechsel, die neue Personenkonstellation, das erneute Auftreten der Volksmassen, von denen zuletzt in Lk 9,37-38 die Rede war, als Einschnitt gewertet werden, so dass es sinnvoll erscheint, der Kapiteleinteilung, wie sie Nestle-Aland[10] vornimmt, bei der Eingrenzung nach vorne zu folgen. Das Ende der behandelten Perikope wird mit V.23 festgelegt, obwohl es auch möglich wäre, sie erst mit V.26 enden zu lassen. Für das Ende in V.23 spricht wiederum der Wechsel zwischen einem Ausspruch Jesu in Form einer Ich-Aussage und der Erzählung über die Rückkehr eines unreinen Geistes in einen Menschen. Außerdem findet ein Wechsel auf der Bildebene statt, indem zuvor von dem „Starken“ und seinem Besitz die Rede ist und ab V.24 dann von dem unreinen Geist, der die Wüste durchstreift und schließlich in das geschmückte Haus, den Menschen, zurückkehrt. Da allerdings kein ausdrücklicher Neubeginn ab V.24 festzustellen ist und Jesus die Reflexion über den Dämonen hier fortführt, könnte man VV.24-26 durchaus der zu untersuchenden Texteinheit hinzufügen. Allerdings bringt die Schilderung des Verhaltens des ausgetriebenen Dämons hier keine wesentlich neuen Aspekte gegenüber dem Vorangegangenen, sondern betont vielmehr die Ernsthaftigkeit der Auseinandersetzung mit dem Bösen, die immer wieder durch einen Rückfall bedroht ist. Selbstverständlich ist darüber hinaus nicht zu übersehen, dass ein inhaltlicher wie thematischer Zusammenhang auch in den folgenden Kapiteln gegeben ist, da in Lk 11,14-12,23 die Auseinandersetzung Jesu mit seinen Gegnern im Mittelpunkt steht. Der unmittelbare und weitere Kontext der behandelten Perikope im Lukasevangelium soll daher in einem der folgenden Kapitel umrissen werden, da er für die spätere theologische Deutung der Verse wichtige Zusatzinformationen liefern kann.
3.2. Textkritik
In diesem Kapitel werden kurz die vom rekonstruierten Standardtext nach Nestle-Aland abweichenden Lesarten dargestellt, die von verschiedenen Textzeugen vorgeschlagen werden und die in den textkritischen Apparat aufgenommen worden sind. Dabei steht die Frage im Vordergrund, welche dieser Lesarten dem Urtext am ehesten entspricht - so soll dem ursprünglichen Wortlaut der Perikope möglichst nahe gekommen werden. In V.14 fällt auf, dass die im Apparat aufgeführten Textzeugen D a 2 c cf den kompletten Vers durch eine wesentlich umfangreichere Variante, die durch die partizipiale Verknüpfung (am besten temporal zu übersetzen: „als er dies sagte […]“) eine deutlich engere Anbindung der Exorzismusszene an die vorangegangene Jüngerbelehrung schafft. Geht man nach dem Kriterium der „lectio brevior“ davon aus, dass die kürzere Lesart die ursprünglichere ist, kann man jedoch relativ sicher annehmen, dass es sich bei der Lesart von D a 2 c um eine sekundäre Variante handelt. Interessant ist in V.14 auch die Frage nach der Ursprünglichkeit des in eckige Klammern gesetzten „καὶ αὐτὸ ἦν“. Die Mehrheit der Handschriften im Apparat bezeugt die Lesart ohne diese Textpassage, dennoch ist sie - wenn auch in eckigen Klammern und versehen mit dem Verweis auf die nicht gesicherte Ursprünglichkeit - in den Standardtext aufgenommen worden. Dabei wird so die längere Lesart wiedergegeben, während die kürzere Lesart sogar besser bezeugt zu sein scheint. Der Grund dafür liegt vermutlich in der Orientierung am lukanischen Stil, der häufig das betonte „αὐτὸς“ verwendet, oder auch in der Bezugnahme auf entsprechende lukanische Parallelstellen (vgl. 1,22; 17,16). In V.15 liegen für den Begriff „Βεελζεβοὺλ“ unterschiedliche Lesarten vor; dabei spricht jedoch viel dafür, die in den Text aufgenommene Namensvariante als ursprünglich anzusehen. Zum einen ist diese Lesart sowohl quantitativ als auch qualitativ am besten bezeugt, zum anderen ist die Variante „Βεεζεβοὺλ“ als unwahrscheinlich anzusehen,[11] ebenso die Lesart „Βeelzebub“, wie sie von einigen lateinischen und syrischen Minuskelhandschriften bezeugt wird. „Beelzebub“ leitet sich von dem Namen des in 2Kön 1,2 genannten Stadtgottes der phönizischen Stadt Ekron ab, was einer Verballhornung des Gottesnamens als „Herr der Fliegen“ entsprechen könnte.[12] Die Bezeichnung „Beelzebul“ geht hingegen zurück auf den Begriff „Zebul“, der in ugaritischen Texten soviel wie „Fürst“ bedeutet und Baal als Herrscher über die Unterwelt kennzeichnet. Im Sinne von „Herrscher der Dämonen“ dürfte Beelzebul - bei allen etymologischen Unsicherheiten - wohl auch in der vorliegenden Perikope verwendet sein. Diese unterschiedliche Bezeichnung des Dämonenherrschers stellt die größte Abweichung zwischen den Textzeugen dar. Bei den übrigen Differenzen werden mehr oder weniger starke Akzente auf bestimmte Begriffe gesetzt, unter anderem durch syntaktische Umstellungen wie in V.19, wo die Handschriften für „αὐτοὶ ὑμῶν κριταὶ ἔσονται“ neben der im Text aufgenommenen Variante drei unterschiedliche Wortstellungen bezeugen. Eine Abweichung, die erwähnt werden sollte, findet sich in V.22. Dort steht im Standardtext „ἰσχυρότερος“ ohne bestimmten Artikel, während andere Handschriften (vgl. textkritischer Apparat) den bestimmten Artikel „ὁ“ setzen und sich dabei offensichtlich an V.21 anlehnen bzw. sich auf Lk 11,20 beziehen und so das „ἐγὼ“ (Jesus) wiederaufnehmen. HThK erklärt diese Beobachtung mit einer pastoral-kerygmatischen Absicht: Eine Tätigkeit, die nicht Gemeinde bildet, zerstreue die Christusbotschaft oder auch die Jünger Jesu und damit auch Christus selbst. Der Kommentar deutet damit den Sitz in der Gemeinde an und gibt zu bedenken, dass es nicht ausgeschlossen sei, dass diese - schwierigere - Lesart die ursprüngliche sei.[13] In V.22 unterscheiden sich die im Apparat verzeichneten Handschriften von dem Partizip „ἐπελθὼν“ im Standardtext. Dessen Grundbedeutung ist „herbeikommen, kommen über“, wovon sich das Verb „επνελθων“, das in P45 2542 bezeugt ist, grundsätzlich unterscheidet. Letzteres bedeutet „zurückkehren“, was an dieser Stelle nicht in den Kontext passt. Als letzter auffälliger Unterschied zwischen Standardtext und Varianten ist die Ergänzung des Pronomens „με“ durch verschiedene Handschriften zu nennen, im Gegensatz zur Mehrheit der Textzeugen. Auch diese Ergänzung könnte christologisch-kerygmatisch motiviert sein.
3.3. Übersetzung der Perikope Lk 11,14-23
14 Und er war hinauswerfend einen Dämon [und der war] stumm.
15 Es geschah aber, als der Dämon herauskam, redete der Stumme und die Leute staunten.
16 Einige aber von denselben sagten, sich wundernd: Mit Hilfe von Beelzebul, dem Herrscher der Dämonen, treibt er die Dämonen aus.
17 Andere aber, ihn prüfend, wünschten ein Zeichen vom Himmel von ihm.
18 Er aber, ihre Gedanken sehend (erkennend), sagte diesen: Jedes Königreich, mit sich selbst zwiespältig seiend (das in sich selbst zwiegespalten ist), wird verwüstet und Haus fällt über Haus.
19 Wenn aber ich mit Hilfe von Beelzebul die Dämonen austreibe, mit wessen Hilfe (durch wen) treiben eure Söhne aus; durch dies (deswegen) werden sie eure Richter sein.
20 Wenn aber ich durch den Finger Gottes die Dämonen austreibe, (al)so ist zu euch gekommen das Reich Gottes.
21 Solange der Starke ausgerüstet (seiend) seinen Hof bewacht, wird sein Besitz in Frieden sein.
22 Sobald aber ein Stärkerer über ihn kommend ihn besiegt, wird er dessen volle Rüstung wegtragen, auf die er sich verlassen hatte, und er wird dessen Beute verteilen.
23 Der nicht mit mir Seiende ist gegen mich, und der nicht mit mir Sammelnde, zerstreut.[14]
3.4. Textauflistung - Gliederung des Textes in Sinneinheiten
VV.14-16 schildern Ausgangspunkt und Anlass der folgenden Rede Jesu. Innerhalb dieser Verse ist zu unterscheiden zwischen der Schilderung des Exorzismus selbst (inklusive der Konstatierung des Erfolgs (V.14b) und der Wirkung auf die Zuschauer (V.14c)) und der Wiedergabe zweier konkreter Reaktionen bzw. Stellungnahmen aus der Menge (V.15 und V.16). Während die erste Gruppe Jesus vorwirft, er stehe mit Beelzebul im Bunde, fordert die andere Gruppe ein Zeichen vom Himmel von ihm. Ab V.17 folgt die Auseinandersetzung Jesu mit diesen Vorwürfen, die mit der Feststellung eingeleitet wird, dass Jesus die Gedanken der Leute kennt. In der folgenden Rede setzt sich Jesus mit diesen Gedanken auseinander, indem er zunächst den Beelzebul-Vorwurf mit dem Argument der Unbeständigkeit eines in sich gespaltenen Reiches widerlegt (vgl. V.18a). Ein zweites Argument besteht in dem Verweis auf die Exorzisten aus den eigenen Reihen der Leute, die wohl nicht als im Dienste Beelzebuls stehend gesehen werden (V.19). Nach der Gegenthese mit dem Verweis auf Jesu Vollmacht durch Gott und das Anbrechen des Reiches Gottes in V.20, werden am Beispiel des Starken und des über ihn kommenden Stärkeren (VV.21-22) die vorangegangenen Aussagen Jesu erläutert, bevor V.23 in der Ermahnung und Aufforderung zur Nachfolge gipfelt. Gedankengang und Argumentationsweise Jesu werden im Verlauf der synchronen Analyse in ihrem Aufbau und Gehalt genauer dargestellt.
3.5. Vergleich der Übersetzungen Einheitsübersetzung - Lutherbibel - revidierte Elberfelder Bibel
Der Vergleich von Lk 11,14-26 in verschiedenen Bibelübersetzungen zeigt, dass die Perikope verhältnismäßig einheitlich wiedergegeben wird - größere Abweichungen zwischen den Übersetzungen kann man kaum feststellen. Besonders nah an den griechischen Text hält sich dabei die Elberfelder Übersetzung und folgt damit als klassische philologische Übersetzung[15] ihrem Anspruch, den Urtext mit möglichst hoher Genauigkeit wiederzugeben. Die vorhandenen Unterschiede bestehen im Wesentlichen in Wortwahl, Satzbau und in der Wahl der einleitenden Konjunktionen. So beginnt die Perikope in der Einheitsübersetzung (EÜ) mit „Jesus“, statt dem griechischen Text folgend mit „und“ (καὶ), während die Elberfelder Übersetzung und die Lutherbibel durch die Konjunktion die Verknüpfung mit dem vorangegangenen Text schaffen und den Zusammenhang beider Perikopen stärker betonen. Keine der deutschen Übersetzungen bringt hingegen die periphrastische Konstruktion[16] „ἦν ἐκβάλλων“ (wörtlich: „er war hinauswerfend“) mit ihrem generalisierenden Akzent vollständig zum Ausdruck, stattdessen schildern alle Übersetzungen den Vorgang im einfachen Imperfekt. Den „δαιμον(ίου)“ übersetzt die Lutherbibel als „bösen Geist“, während die beiden anderen Übersetzungen „Dämon“ wählen, wobei dieser übereinstimmend als „stumm“ (κωφός) beschrieben wird. Interessant ist, dass Elberfelder Übersetzung und Lutherbibel vom „Ausfahren“ des Dämons bzw. des bösen Geistes sprechen, während die EÜ für diesen Vorgang das Verb „verlassen“ wählt. Das Resultat ist dasselbe - der Mensch ist vom Dämon befreit - doch scheint das Verb „ausfahren“ stärker die Dynamik und auch die Bedeutsamkeit des Vorgangs auszudrücken, der durch Jesu Macht initiiert wurde. Zudem entspricht es eher der zeitgenössischen Vorstellung, dass der Exorzist in einem Zwiekampf den Sieg über den Dämon erringt und diesen gewaltsam überwindet - eine entsprechende Grundbedeutung weist auch das Verb „ἐκβάλλω“ auf („gewaltsames Hinauswerfen, Ausstoßen, Vertreiben“). Im griechischen Text beginnt der „κωφός“ daraufhin zu reden (ἐλάλησεν), was Elberfelder Übersetzung und Lutherbibel genau so übersetzen, während die EÜ „den Mann“ als Subjekt des Satzes wiedergibt. Außerdem fügt sie gegenüber dem griechischen Text hinzu, dass der Dämon den Stummen verlässt. Gegenüber den anderen beiden Übersetzungen liegt der EÜ hier offensichtlich daran, mögliche Missverständnisse hinsichtlich der Frage, wer eigentlich der „Stumme“ ist - der Dämon oder der Mensch - zu vermeiden. Dies wird dadurch erreicht, dass die EÜ in V.14 den Stummen, der vom Dämon verlassen wird, erwähnt und diesen im Hauptsatz dann mit dem „Mann“ identifiziert. So wird deutlich, dass der Mensch, dessen Besessenheit sich in Stummheit ausdrückte, von einem stummen - meint „stumm machenden“ - Dämon besessen war, der ihn nun verlassen hat. Interessant ist außerdem, dass die EÜ im Gegensatz zu Elberfelder und Lutherbibel auf die Übersetzung des griechischen „ἐγένετο δὲ“ verzichtet, das als typisch lukanisches Gliederungssignal die Aufmerksamkeit auf das Folgende zu fokussieren scheint. In V.16 betonen Elberfelder Übersetzung und Lutherbibel den Versuchungscharakter der Zeichenforderung, während die EÜ schlicht „auf die Probe stellen“ übersetzt. Die Intensivform „πειράζω“, die im NT bei den Synoptikern ausschließlich für die Versuchung Jesu durch den Satan oder durch seine Gegner gebraucht wird, ist dort immer religiös konnotiert, was in der Übersetzung der EÜ nicht direkt deutlich wird, da „auf die Probe stellen“ eher eine profane Bedeutung vermuten lassen könnte. Andererseits verursacht „auf die Probe stellen“ - von der EÜ wird „πειράζω“ in vergleichbaren Kontexten (Lk 4,13; 22,28) auch mit „prüfen“ wiedergegeben - wahrscheinlich geringere Verständnisschwierigkeiten beim modernen Leser, dem die konkrete Bedeutung von „jmd. versuchen“ kaum geläufig sein dürfte. Der nächste Vers - im griechischen Text durch das Pronomen „αὐτὸς“ mit der Nebenbedeutung eines Ehrentitels eingeleitet -, wird von der Lutherbibel in diesem Sinne wiedergegeben („Er aber…“), während die EÜ das übernatürliche Wissen Jesu[17] durch die adversative Konjunktion „doch [er erkannte]“ auszudrücken versucht. Damit kommt sie der Bedeutung von „αὐτὸς“ näher als die Elberfelder Übersetzung, die den Vers mit einer kausalen Konjunktion einleitet („da [er aber…]). Auffällig ist die unterschiedliche Übersetzung von „οἱ υἱοὶ ὑμῶν“ in Vers 19b. In Lutherbibel und Elberfelder wird es mit „Söhne“ wiedergegeben, in der EÜ stattdessen mit „eure Anhänger“. Offensichtlich kommt die EÜ hier dem Verständnis des modernen Lesers entgegen, für den „Sohnschaft“ eher ein biologisches bzw. verwandtschaftliches Verhältnis bedeutet als die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppierung, Partei o.ä. Bei der Schlussfolgerung, die Jesus aus dem Verweis auf die ebenfalls Dämonen austreibenden υιοι zieht, unterscheiden sich die Übersetzungen im Tempusgebrauch. Das griechische Futur (ἔσονται) wird von Lutherbibel und Elberfelder Übersetzung wiedergegeben, die EÜ übersetzt dagegen Präsens und betont damit stärker die Intention Jesu, anhand der aktuellen Praxis der gegnerischen Exorzisten den Vorwurf der Ankläger zu widerlegen: „Sie selbst sprechen euch [jetzt, da sie so handeln. Anm. RW] das Urteil“. Im folgenden V.20 ergänzt die EÜ gegenüber dem griechischen Text die adverbiale Bestimmung „schon“ und drückt so stärker den zeitlichen Aspekt des Anbruchs der Gottesherrschaft in der Gegenwart aus. Lutherbibel und Elberfelder Übersetzung wählen stattdessen „also“ bzw. „ja“ als Übersetzung, was einen eher konstatierenden Charakter besitzt und dem griechischen „ἄρα“ näher kommt. Ansonsten bleiben die Übersetzungen in V.20 nah am griechischen Text. In V.21 fällt die unterschiedliche Wiedergabe des griech. „αὐλήν“ auf, das von der Lutherbibel als „Palast“ wiedergegeben wird, wohingegen die anderen Übersetzungen „Hof“ wählen. Dadurch wird „der Starke“ (ὁ ἰσχυρὸς) deutlicher in die Nähe von Königsherrschaft gerückt, zumal die Wortgruppe um den Begriff „iσχυς“ (Stärke, Kraft) im NT verwendet wird, um die Überlegenheit Jesu bzw. das Wirken Jesu im Bund mit Gott zu demonstrieren (vgl. Apg 10,38).[18] Es fällt auf, dass die EÜ hier das griech. „ἐν εἰρήνῃ“ nicht mit „in Frieden“ übersetzt, sondern mit „sicher“, was wahrscheinlich synonym zu verstehen ist. Im abschließenden V.23 ähneln sich die Übersetzungen stark, wobei die EÜ die griechische Präposition „μετ’“ (mit Genitiv: „mit, bei“) mit „für“ übersetzt, so dass sich eine geringfügig andere Bedeutungsnuance ergibt. „Mit jemandem sein“ erinnert eher an Nachfolge, an „mit jemandem ziehen“, jemanden begleiten, während „für jemanden sein“ eher das Zustimmen bzw. das (öffentliche) Bekenntnis zu jemandem zu beinhalten scheint. In der folgenden Exegese werde ich mich nach Möglichkeit auf den griechischen Text stützen, ansonsten jedoch die Einheitsübersetzung heranziehen, zum einen aus persönlichen Präferenzen, die in der Aussagekräftigkeit und der für den heutigen Leser verständlicheren Sprache begründet liegen, zum anderen, weil ich gravierende und den Sinn verstellende Abweichungen vom Ursprungstext auch in der EÜ nicht feststellen konnte.
[...]
[1] Twelftree, Graham H.: Jesus the exorcist. A contribution to the study of the historical Jesus. Tübingen 1993. S.225.
[2] Vgl. Ebner, Martin: Jesus von Nazaret in seiner Zeit. Stuttgart 2003. S.126. (Abkürzung: EBNER: JESUS 2003.)
[3] Vgl. S. Wiedenhofer: Art. Wunder. III. Systematisch-theologisch. In: LThK3 10 (2001). S.1316-1318. Hier: S.1317.
[4] Ebd.
[5] Straubinger, H.; Wikenhauser, A.: Art. Wunder. In: LThK1 10 (1938). S.980-986. Hier: S.980. Zitiert nach: Esterbauer, Reinhold: Vom Wunder der Wirklichkeit zum Wunder der Sprache. Bemerkungen zu einem nicht geläufigen philosophischen Begriff. In: Pichler, Josef; Heil, Christoph (Hg.): Heilungen und Wunder. Theologische, historische und medizinische Zugänge. Darmstadt 2007. S.14-27. Hier: S.16.
[6] Dibelius, M.: Jesus ( SG 1130). Berlin 21949. Zitiert nach: Gnilka, Joachim: Jesus von Nazaret. S.120.
[7] Vgl. Theißen, Gerd; Merz, Annette: Der historische Jesus ein Lehrbuch. Göttingen 1996. S.260ff. (Abkürzung: THEISSEN/MERZ: HISTORISCHER JESUS)
[8] Vgl. Theißen, Gerd: Urchristliche Wundergeschichten. Gütersloh 1974. S.271.
[9] Ebd.
[10] Nestle-Aland: Das Neue Testament. Griechisch und Deutsch. 4. korrigierte und erweiterte Auflage 2003.
[11] Vgl. HThK. Bd.3/2: Schürmann, Heinz: Das Lukasevangelium. Kommentar zu Kapitel 9,51-11,54. S.230. (Abkürzung: HTHK).
[12] Vgl. EBNER: JESUS. S.131
[13] HThK. S.248.
[14] Alternative Übersetzungsvorschläge habe ich kursiv gesetzt.
[15] Vgl. http://www.ekd.de/bibel/bibel.html Letzter Zugriff: 15.12.2007
[16] Vgl. HThK. S.226.
[17] Vgl. Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament. Bd III/2: Bovon, Francois: Das Evangelium nach Lukas. 2.Teilband. Lk 9,51-14,35. S.172. (Abkürzung EKK).
[18] Vgl. Theologisches Begriffslexikon zum Neuen Testament. Hg. v. L. Coenen. 1983. Bd.2. S.812.