Integration von Flüchtlingen im ländlichen Raum. Möglichkeiten und Grenzen der Sozialen Arbeit

Mit Theorien von Hans Thiersch, Wilhelm Heitmeyer et al. und Seyla Benhabib


Projektarbeit, 2015

27 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung
1.1 Ländlicher Sozialraum
1.2 Status von Flüchtlingen
1.3 Zentrale Fragestellung
1.4 Theorieauswahl
1.5 Herausforderung für Professionelle im Bereich der Sozialen Arbeit

2. Theorieteil
2.1 Theorie der Lebensweltorientierten Sozialen Arbeit
2.1.1 Grundbegriffe von Alltag/Lebenswelt
2.1.2 Theoretische Einbettung des Lebensweltkonzepts
2.1.3 Zugänge zur Wirklichkeit
2.1.4 Konzept der Lebensweltorientierten Sozialen Arbeit
2.1.5 Theoriebezug zur Fragestellung
2.2 Desintegrationsdynamiken
2.2.1 Grundbegriffe Integration/Desintegration
2.2.2 Ebenen von Integration/Desintegration
2.2.3 Anerkennungsbilanzen – Trigger gesellschaftlicher Phänomene
2.2.4 Interdependente Wirkweisen
2.2.5 Reproduktionskreisläufe
2.2.6 Theoriebezug zur Fragestellung
2.3 Zugehörigkeitsgerechtigkeit
2.3.1 Zugehörigkeitsgerechtigkeit vs. staatliche Souveränität
2.3.2 Das Recht, Rechte zu haben
2.3.3 Volksbegriff – geschlossenes soziales oder wertepluralistisches Gebilde
2.3.4 Diskurstheoretische Brücke zur Zugehörigkeitsgerechtigkeit
2.3.5 Theoriebezug zur Fragestellung

3. Fazit

4. Literaturliste

5. Abkürzungsverzeichnis

1. Einleitung

Der Zustrom von Flüchtlingen und Asylsuchenden in die Bundesrepublik Deutschland ist in den letzten fünf Jahren rapide angestiegen, die Anzahl der Asylanträge kletterte von 30100 im Jahr 2006 auf 202834 im Jahr 2014 (vgl. BAMF 2015a: S. 4). Die Prognosen für das aktuelle Jahr 2015 haben sich rasant entwickelt. Während noch im Mai offiziell mit 300.000 bis 400.000 Asylanträgen gerechnet wurde (vgl.: tagesschau.de 05/2015), musste die Zahl zunächst (Stand 19. August 2015) auf bis zu 800.000 Flüchtlinge verdoppelt werden (vgl.: BAMF 2015b), und Wirtschaftsminister Gabriel erhöhte diese Prognosen zuletzt am 14. September 2015 auf etwa eine Million Flüchtlinge (vgl.: General-Anzeiger 15.09.2015, S. 1).

In der Bevölkerung wird dieser Trend mit großer Aufmerksamkeit verfolgt, allerdings mit höchst unterschiedlichen Schlüssen: Nach einer aktuellen Befragung von Infratest Dimap sind 34 % der Befragten der Meinung, Deutschland solle Flüchtlinge weiterhin im bisherigen Umfang aufnehmen, während 23 % diese Kontingente noch erhöhen, 38 % jedoch weniger Flüchtlinge aufnehmen wollen (vgl.: tagesschau.de 07/2015). Dieses Bild schlägt sich auch in höchst unterschiedlichen Aktivitäten unter der Bevölkerung nieder, ablehnenden, fremdenfeindlichen wie solidarischen, unterstützenden. Während der Bundesverfassungsschutz vor dem Hintergrund einer rapide steigenden Anzahl von Angriffen (bspw. Brandanschlag in Remchingen, Juli 2015) vor einer Eskalation der Gewalt gegen Flüchtlingsunterkünfte warnt (vgl.: taz-online 2015), scheint aktuell jedoch eine positive, solidarische und unterstützende Einstellung unter der einheimischen Bevölkerung zu überwiegen mit einer großen Bereitschaft für bürgerschaftliches Engagement in der Flüchtlingshilfe. Auf einer interaktiven Landkarte Deutschlands etwa hat tagesthemen.de eine Auswahl unterschiedlichster beispielhafter Integrationsprojekte und Maßnahmen eingerichtet (vgl.: tagesthemen.de 09/2015), Einheimische begrüßen Flüchtlinge mit Applaus bei ihrer Ankunft am Münchener Hauptbahnhof (vgl.: Focus online 09/2015), immer mehr Deutsche nehmen sogar Flüchtlinge vorübergehend bei sich zuhause auf (vgl.: von Brackel 2015).

Beispiele wie diese handeln von einem gelungenen Umgang (Kontakt/Kommunikation) zweier in Bezug auf Ethnie, Kultur, Religion und sozialem Status in vielerlei Hinsicht vollkommen divergierender Interessensgruppen: Auf der einen Seite die Dazugehörigen, in unsere nationalstaatlichen und ökonomischen Systeme tatsächlich oder vermutet Inkludierte, zur Aufnahme bereiten oder eben nicht bereiten Menschen, auf der anderen Seite die nicht Dazugehörigen, von vorgenannten Systemen Ausgegrenzte, die jedoch um Einlass bitten und der Hilfe dringend bedürfen, weil sie aus eigenem Wirken heraus nicht dazu in der Lage sind, ein menschenwürdiges Leben führen zu können.

1.1 Ländlicher Sozialraum

Während es sich für das städtische Umfeld spätestens seit der Gastarbeiteranwerbungen der 1960er Jahre zum Normalbild entwickelte, Menschen verschiedener Völker und Kulturen aufzunehmen und ein gemeinsames Zusammenleben zu gestalten, ist die Integration von Ausländern in ländlichen Räumen Deutschlands wie die dortige Soziale Arbeit überhaupt bislang nur wenig erforscht (vgl. Albert 2012: S. 252, Debiel 2012: S. 53). Trotz sprachlich und kulturell äußerst heterogener Erscheinungsformen verbindet diese ländlichen Regionen von Schleswig Holstein über Mecklenburg-Vorpommern bis Bayern und Baden-Württemberg jedoch ein besonderes Gefühl der Zugehörigkeit und Heimatverbundenheit, deren Menschen einerseits zwar schnell ab- und ausgrenzend agieren (vgl. Albert 2012: S. 251), deren positive Einstellungen wie Verbindlichkeit, Zuverlässigkeit, Kontinuität und Solidarität sich jedoch als positive Ressource integrativer Gestaltungsmöglichkeiten der Sozialen Arbeit anbieten (vgl. ebd.: S. 258).

1.2 Status von Flüchtlingen

Nicht nur die aufnehmenden Regionen Deutschlands stellen äußerst heterogene Herausforderungen an die Gesellschaft, auch die Gruppe der Flüchtlinge hat vollkommen unterschiedliche ethnische, religiöse, kulturelle, wirtschaftliche und/oder politische Hintergründe, die mit ihrer Flucht in ursächlichem Zusammenhang stehen. Abhängig davon erhalten sie in Deutschland einen bestimmten Status mit sich daraus ableitenden unterschiedlichen (Verbleibens-)Perspektiven.

Flüchtlinge – Ausländer_innen, die sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung aufgrund ihrer Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb ihres Herkunftslandes befinden, dessen Schutz sie nicht annehmen können oder wegen dieser Furcht nicht annehmen wollen, werden in der Bundesrepublik Deutschland nach § 3 I AsylVfG als Flüchtlinge anerkannt (vgl. BAMF 2014a). Asylbewerber_innen – Hierbei handelt es sich um ausländische Personen, die die Anerkennung als Asylberechtigte begehren. Basis des Anerkennungsverfahrens ist (neben der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951) § 16a des deutschen Grundgesetzes. Staatliche Verfolgung und dem Staat zuzurechnende nichtstaatliche Verfolgung sind hierfür die Entscheidungskriterien, nicht jedoch allgemeine Notsituationen wie Armut, Bürgerkriege, Naturkatastrophen oder Perspektivlosigkeit. Auch bei der Einreise über einen sicheren Drittstaat ist die Anerkennung ausgeschlossen (vgl. BAMF 2012). Menschen mit Subsidiärem Schutz – Staatenlosen oder Drittstaatangehörigen ohne Asyl- oder Flüchtlingsstatus kann subsidiärer Schutz gewährt werden, wenn ihnen in ihren Herkunftsländern ein ernsthafter Schaden (Todesstrafe, unmenschliche erniedrigende Behandlung oder Lebensbedrohung aufgrund eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts) droht (vgl. BAMF 2014b). Ausländer_innen mit Abschiebeverbot – Bei Menschen, denen ein höherrangiger Schutz durch die drei vorgenannten Status verwehrt wurde, dürfen nicht abgeschoben werden, wenn dies durch die Europäische Menschenrechts Konvention (EMRK) unzulässig ist (vgl. § 60 V AufenthG) oder wenn ihnen bei Rückkehr in den Zielstaat eine wesentliche Verschlechterung einer bestehenden Erkrankung infolge fehlender oder nicht ausreichender Versorgung droht (vgl. § 60 VII AufenthG).

1.3 Zentrale Fragestellung

Die Aufgabe, einen Dialog zwischen den Gruppen der Flüchtlinge und der Einheimischen herzustellen, Konflikte und Vorurteile abzubauen, Unterbringung und Hilfe zu organisieren und Ausgrenzung und Abwertung entgegenzuwirken, gehört sicherlich zu den originären Aufgaben der Profession der Sozialen Arbeit. Da angesichts der eingangs angeführten Eskalation der Prognosen vorläufig nicht zu erwarten ist, dass der Flüchtlingsstrom in absehbarer Zeit zurückgehen wird, werden wir uns mit dieser Thematik auch im Berufsfeld der Sozialen Arbeit in zunehmendem Maße beschäftigen müssen. Um die moderativen Aspekte der Profession der Sozialen Arbeit im Prozess hin zu einem gelungenen Miteinander zwischen aufnehmender und aufzunehmender Menschen im speziell ländlichen Raum zu beleuchten, möchte ich im Rahmen des Theorie-Projekts folgende Fragen bearbeiten:

- Welche Faktoren üben Einfluss auf Akzeptanz oder Ablehnung in der Bevölkerung bei der Aufnahme von Flüchtlingen im Umfeld ländlichen Sozialraums?
- Welche Möglichkeiten und Grenzen hat die Profession der Sozialen Arbeit hier jenen Akzeptanzprozess positiv zu beeinflussen?

1.4 Theorieauswahl

Vor dem Hintergrund der ausgewählten Fragestellungen werde ich die Thematik der Integration von Flüchtlingen im ländlichen Raum als potentielle Aufgabenstellung im Bereich der Profession der Sozialen Arbeit aus dem Blickwinkel drei verschiedener Perspektiven beleuchten.

Die Theorie der Lebensweltorientierten Sozialen Arbeit nach Hans Thiersch zunächst thematisiert die gegebenen Lebensverhältnisse der Adressat_innen als Ausgangspunkt praktizierter Hilfe zur Lebensbewältigung und insistiert auf die Nutzbarmachung individueller, sozialer und politischer Ressourcen wie sozialer Netze und lokaler/regionaler Strukturen (vgl. Thiersch 2014: S. 5).

Die Desintegrationstheorie von Wilhelm Heitmeyer et al. zum Zweiten beschreibt verschiedene Phänomene desintegrierenden Verhaltens wie bspw. Gewalt, Abwertungen schwacher Gruppen, Rechtsextremismus oder ethnisch-kulturelle Konflikte als Folge ungenügender gesellschaftlicher Integrationsleistungen (vgl. Anhut/Heitmeyer 2005: S. 75).

Der Ansatz der Zugehörigkeitsgerechtigkeit von Seyla Benhabib schließlich stellt den nationalstaatlichen Bezugsrahmen für Zugehörigkeitsregelungen in Frage und leitet ein kosmopolitisches Recht auf Zugehörigkeit ab aus Kants Überlegungen zum Besuchs- und Gastrecht, Hannah Ahrendts Recht, Rechte zu haben und einer diskurstheoretischen Legitimation (vgl. Benhabib 2008: S. 13-35).

1.5 Herausforderung für Professionelle im Bereich der Sozialen Arbeit

Mit der flächendeckenden Verteilung von Flüchtlingen nach einer Quotenregelung müssen sich nun Dörfer nicht selten zum ersten Mal mit Menschen ausländischer Herkunft und fremden Kulturen auseinandersetzen (vgl. Albert 2012: S. 252). Dieses Aufeinandertreffen zweier unterschiedlich tradierter Systeme lässt gegenseitige Abgrenzung und innere Schließung fast logisch erscheinen (vgl. ebd.: S. 256). Die Kunst, derartige Grenzen zu überwinden und Flüchtlinge in eine ländliche, alt eingesessene Gemeinschaft zu integrieren, erfordert von der Profession der Sozialen Arbeit eine schwierige Gradwanderung mit hohen Kenntnissen über die entsprechenden Sozialräume, kommunikativen Fähigkeiten bei der Herstellung von Kontakten zu Vereinen, Kirchengemeinden, politischen Gruppierungen und Schlüsselpersonen der Regionen, Geschick bei der Schließung von Netzwerken und Einbindung von Nachbarschaft, Ehrenamtlern und Öffentlichkeit. Nur so kann eine Akzeptanz durch Aufklärung über unterschiedliche kulturelle Prägungsmuster und ein Kontakt über gezielt initiierte, überschaubare, lokale Projekte erfolgreich verlaufen (vgl. ebd.: S. 259-260). Dies ist sicherlich eine höchst anspruchsvolle Aufgabe, dessen theoretische Einbettung hilfreich in Bezug auf ihre Erklärungsansätze und Erkenntnisse über gesellschaftliche Mechanismen ist.

2. Theorieteil

2.1 Theorie der Lebensweltorientierten Sozialen Arbeit

Als Theorie der Sozialen Arbeit zielt auch Hans Thierschs Konzept der Lebensweltorientierten Sozialen Arbeit auf Klärung der Status ihrer Disziplin, ihrer Aufgaben- und Funktionsbereiche sowie das Bewusstmachen ihrer historischen, wissenschaftlichen und praxisbezogenen Positionierungen (Thiersch/Füssenhäuser 2005: S. 1876-1877). Der Blickwinkel des Ansatzes erfasst die Lebenswelt der Adressaten mit all den Widersprüchen aus der Alltäglichkeit ihrer individuellen sozialen Situation, ihren Selbstdeutungen und Problembewältigungsversuchen als Ausgangspunkt des Aufgaben- und Arbeitsfeldes Sozialer Arbeit und reflektiert ihre wissenschaftstheoretischen, institutionellen, professionellen wie inhaltlichen Zugänge kritisch, ohne dabei das sozialpädagogische Handeln und dessen Notwendigkeit prinzipiell in Frage zu stellen. Das Konzept sieht vor, den Betroffenen mit Respekt und Takt, aber auch mit wohlwollend-kritischer Provokation im Zielhorizont eines „gelingenderen Alltags“ zu begegnen. Gleichzeitig insistiert es als kritisch normatives Konzept in einer Auseinandersetzung lebensweltlicher Verhältnisse und den dahinterliegenden historisch eingebetteten, gesellschaftlichen Strukturen in der Spannung von Gegebenem und Möglichem auf Reformen und neue Gestaltung (vgl. Grunwald/Thiersch 2011: S. 856-860).

„Als Antwort auf gesellschaftliche und sozialpolitische Herausforderungen“ (Thiersch/Grunwald/Köngeter 2005: S. 165) entwickelt Thiersch das Konzept der Lebensweltorientierung Anfang der 1970er Jahre vor dem Hintergrund einer lebhaften gesellschaftlichen Auseinandersetzung nicht zuletzt über die Rolle des Kapitalismus als Ursache gesellschaftlicher Ungerechtigkeiten, Ausgrenzungen und sozialer Probleme (vgl. Kuhlmann 2008: S. 113 ff.). Die Institutionalisierungs- und Professionalisierungsansätze der Sozialen Arbeit Westdeutschlands waren in dieser Zeit bestimmt von Wissenschaftlichkeit und bürokratischem und methodisch-fachlichem Arbeiten. Als solche geriet ihre Profession als pädagogisierend, bevormundend und kontrollierend zunehmend in die Kritik, da ihre Adressaten als partizipations- und selbstbestimmungsfähige Individuen nur unzureichend wahrgenommen wurden (vgl. Thiersch 2006: S. 16). Thierschs handlungsorientiertes Konzept der Lebensweltorientierung hingegen ermöglichte neue Sichtweisen und Arbeitsformen, zielgerichtet auf gerechtere Lebensverhältnisse durch differenzierte Hilfsangebote, demokratisierend, emanzipierend, rechtlich gesichert und fachlich verantwortbar (Thiersch/Grunwald/Köngeter 2005: S. 165). Die von Thiersch 1986 veröffentlichten „Perspektiven einer alltagsorientierten Sozialpädagogik“ gelten als Geburtsstunde eines neuen sozialpädagogischen Diskurses, deren Grundsätze prägenden Einfluss nahmen auf den von ihm 1990 mitgestalteten 8. Jugendbericht und das im selben Jahr neuformulierte Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) (Engelke/Borrmann/Spatschek 2009: S. 429).

Gleichwohl wird sein Konzept der Lebensweltorientierung, was das Verhältnis des Professions-Anspruchs zu Jedermannswissen anbelangt, in seiner Beliebigkeit und der sich daraus entwickelnden Gefahr einer Dethematisierung des Sozialen im Horizont des Neoliberalismus von Anbeginn bis heute immer wieder kontrovers diskutiert (vgl. Grunwald/Thiersch 2014: S. 3-4). Als Ansatz eines zielführenden Verhältnisses von Theorie und Praxis stellt sich Hans Thiersch auch aktuell dieser Diskussion und betrachtet alternative Ansätze (bspw. aus bildungstheoretischer, professionstheoretischer, subjektbezogener oder systemtheoretischer Sicht) als in den Professionalisierungsprozess einzubeziehende, erweiternde Perspektiven (vgl. ebd.: S. 5).

2.1.1 Grundbegriffe von Alltag/Lebenswelt

Das Konzept der Lebensweltorientierten Sozialen Arbeit markiert ihren Ausgangspunkt im Alltag und hierdurch in der Alltäglichkeit und in den Alltagswelten ihrer Adressat_innen. „Einen Alltag haben alle Menschen“ (Thiersch 2006: S. 17). Ganz gleich, welcher Schicht, Ethnie oder welchen Geschlechts, Alltag umfasst zunächst jene allgemeinen, alltäglichen, gar unauffälligen Aufgaben und Probleme, mit deren Lösungen ein jeder Mensch herausgefordert und bisweilen auch überfordert ist (vgl. ebd.). Der Begriff beinhaltet jedoch auch Sichtweisen auf die Strukturen und Wirklichkeiten in sozialen Institutionen (Familie, Nachbarschaft, Schule, Arbeitsplatz…), mit konservativer Zielrichtung der Verlässlichkeit und Beständigkeit oder aber als kritischer Apell zur Förderung von Emanzipation und eines freieren, selbstbestimmteren Lebens der Bürger (vgl. ebd.: S. 18). Die Begriffe „Alltag“ und „Lebenswelt“ werden von Thiersch synonym verwendet (vgl.: Thiersch 2009: S. 442).

Alltäglichkeit – „Alltäglichkeit meint ein Verhältnis zur Wirklichkeit…“ (Thiersch 2006: S. 21). Der Begriff beschreibt, wie Menschen in den von ihnen vorgefundenen Lebensverhältnissen sozial und pragmatisch orientiert verstehen und agieren. Alltäglichkeit erzeugt und wird gleichzeitig gesteuert von Alltagswissen über vertraute, als brauchbar gedeutete Konzepte, ohne jedoch den Anspruch auf Wahrheit oder Gewissheit einlösen zu müssen. Die daraus entwickelte Ordnung in Rollen, Routinen und Typisierungen ermöglicht Menschen auch inkonsistente Handlungsweisen, die entlastende, verlässliche und kalkulierbare Wirkung zeigen können, die also nicht immer wieder neu konzipiert und durchdacht werden müssen, die gleichzeitig aber auch einschränkend und ausgrenzend wirken können (vgl. ebd. S. 21-26). Alltäglichkeit ist also gleichsam heuristisches Prinzip, Rahmenkonzept, und ein besonderer Modus des Verstehens und Handelns (vgl. Thiersch 2014: S. 43).

Alltagswelten – Alltagswelten bezeichnen das aus Lebenslage und Ort kumulierte Arrangement, in dem sich Alltäglichkeit repräsentiert. Durch Abgrenzung oder Schneidung erscheinen sie unspezifisch in ihrer Reichweite und bedürfen in der Konkretisierung der Alltäglichkeit einer Präzisierung ihrer materiellen Eigenheiten, ihrer Ressourcen wie ihrer gesellschaftlichen Funktionen (vgl. Thiersch 2006: S. 26-27).

Dimensionen von Alltäglichkeit und Alltagswelten – Alltag agiert in sehr unterschiedlichen Zusammenhängen, die als Ansatzpunkt für Soziale Arbeit genutzt werden können. Er bezeichnet die erfahrene Zeit , dessen Charakterisierungen in Abhängigkeit vom Lebensalter, in ihrem Verhältnis zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gebildet werden, den erfahrenen Raum als prägenden und zu gestaltenden Sozialraum gleichermaßen, die erfahrenen sozialen Bezüge in Familie, Nachbarschaft, Arbeitskollegium, Kirchengemeinden oder Vereinen (vgl. Thiersch 2014: S. 47), sowie die sinnvolle Strukturierung des Alltags als zeitlich, räumlich und beziehungsmäßig geordnetes, pragmatisches Verhältnis zur Wirklichkeit und eine Anleitung zur Selbsthilfe als eine Art innerer Rezeptur, wo Menschen direkt abrufen können, was nützlich, was brauchbar ist, ohne große Notwendigkeit von Erklärungen oder Ableitungen (vgl. Thiersch 2006: S. 23)

2.1.2 Theoretische Einbettung des Lebensweltkonzepts

Thierschs Konzept der Lebensweltorientierung führt unterschiedliche wissenschaftliche Traditionslinien zu einer eigenen Lesart zusammen: Der hermeneutisch-pragmatische Ansatz , in dem es um die Rekonstruktion von Verstehen und Verständnis der Adressat_innen geht, um über ein dadurch entwickeltes höheres Verstehen eine kritische Distanz gegenüber der aufzuklärenden Alltagspraxis herzustellen, ohne jedoch eine Abwertung von Alltagsperspektiven oder Alltagshandeln der Adressaten (vgl. Thiersch/Grunwald/Köngeter 2005: S. 167), der Ansatz interaktionistischer-phänomeno-logischer Tradition mit dem Fokus auf Analyse des durch Deutungs- und Handlungsstrategien geprägten Alltags, in seiner zeitlichen und räumlichen Strukturierung und seinen er- bzw. aktiv ge lebten sozialen Bezügen (vgl. ebd.: S. 168) und schließlich die kritische Alltagstheorie , die Alltag in seinem Spannungsverhältnis zwischen Wahrheit und Täuschung sowie der Gewöhnung daran erfasst, ggf. verbunden mit dem Ziel der Destruktion jener Pseudokonkretheit, um Möglichkeiten von Praxis freizusetzen (vgl. Thiersch 2006: S. 41).

2.1.3 Zugänge zur Wirklichkeit

Das oben bereits kurz skizierte Verständnis von Alltag ermöglicht unterschiedliche Sichtweisen oder Zugänge zu einer individuellen Wirklichkeit, einem „allgemeinen Modus des Lebens“ (Grunwald/Thiersch 2014: S. 9), möglicherweise als Indiz bewältigender, erfolgreicher Lebensführung, möglicherweise aber auch als sich verwickelndes, scheiterndes Konzept (vgl. ebd.: S. 11). Der Phänomenologische Zugang zunächst bezieht Alltäglichkeit auf die unmittelbar erfahrene und gedeutete Wirklichkeit als persönliches, ganzheitliches Konzept, um Herausforderungen in ihren unterschiedlichen Alltagswelten routinisiert, ritualisiert aber ohne Anspruch auf logische Konsistenz meistern zu können. In dieser inneren Logik ihrer Alltäglichkeit entwickeln Menschen ihren persönlichen Lebensort, ihre Position, ihr Selbstbewusstsein, ihren Stolz (vgl. ebd.: S. 9-10). Genau dort setzt die kritisch-normative Sichtweise an, indem sie die Ambivalenz der Alltäglichkeit und der Alltagswelten reflektiert, zwischen bornierter, aus- und abgrenzender, zerstörerischer, sich Lösungen verschließender Pragmatik und einer auf gelingendere Lebensverhältnisse orientierte Wirklichkeit, „die Leben im Horizont des Möglichen sieht und seine Träume, und Verzweiflungen, seine Resignation und Ausbruchsversuche ernstnimmt“ (ebd.: S. 10). Ein dritter, historisch-sozialer Zugang schließlich betrachtet Alltäglichkeit und Alltagswelten als gesellschaftlich bedingt. Dort repräsentierte und gelebte Bewältigungskonzepte auf der Bühne politischer, gesellschaftlicher und historischer Produktions-, Konsumptions- und Rechtsverhältnisse sind das Bindeglied zwischen Subjektivem und Objektivem, gewissermaßen also zwischen Strukturen und Handlungsmustern (vgl. ebd.: S. 11).

2.1.4 Konzept der Lebensweltorientierten Sozialen Arbeit

Philosophie des Konzepts – Lebensweltorientierte Soziale Arbeit versteht ihr Aufgaben- und Arbeitsfeld im Sinne einer pragmatischen Handlungswissenschaft in der Verbindung der Rekonstruktion von Lebensverhältnissen und Erfahrungen der Adressat_innen mit institutionellen und professionellen Programmen. Dabei reflektiert sie ihre Institutionen und ihr professionelles Handeln aus dem Blickwinkel der Adressat_innen kritisch, weniger um ihre Notwendigkeit dabei prinzipiell infrage zu stellen, vielmehr um auf Reformen und neue Gestaltungen zu insistieren. In der hierin liegenden Spannung zwischen dem Respekt vor den Bewältigungsleistungen der Adressat_innen in ihren Lebenswelten und der Zumutung professionell-institutionell eingeforderter Öffnungen gegenüber neuen Perspektiven liegt die spezifische Profilierung des Konzepts (vgl. Grunwald/Thiersch 2014: S. 13). Diese Spannung setzt sich fort in Widersprüchlichkeiten auf beiden Seiten; Alltäglichkeit der Adressat_innen ist zugleich selbstverständlich und unzulänglich, professionelles Handeln mag wissenschaftlich fundiert sein, gerät jedoch auch schnell in Gefahr, sich selbstreferentiell nur auf sich zu beziehen. Sie bestimmt das Verhältnis von abweichendem Verhalten, ein Verständnis von Normalisierung als „elementar notwendige Anerkennung der Menschen in ihren Bewältigungsanstrengungen“ (ebd.: S. 15) und die Notwendigkeit, sich mit den Adressat_innen-Welten in ihrem Eigensinn detailliert zu beschäftigen (Adressatenforschung) (vgl. ebd. 14-16). Für die Soziale Arbeit ist es daher von größter Bedeutung, sich über institutionelle und spezifische Aufgabenstellung und die sich daraus ergebenden Probleme in kritischer Reflexivität ständig bewusst zu machen, in ihrer asymmetrischen, hierarchischen, wie im Zuge des gemeinsamen Agierens auch verwischenden oder vertauschten Positionierung gegenüber ihren Adressat_innen (ebd.: S. 16). Lebensweltorientierte Soziale Arbeit begreift ihr in dieser Spannungslage angesiedeltes Verhandeln als Umgangsweise, dem es in prinzipieller wechselseitiger Anerkennung gelingt, eine Brücke zu schlagen zwischen der Deutlichkeit der pädagogischen Position und der Rücksicht auf die jeweiligen Möglichkeiten (vgl. ebd.: S. 16-17).

Struktur- und Handlungsmaximen – Die oben skizierte Philosophie konkretisiert sich in Struktur und Handlungsmaximen der Einmischung als Positionierung der Sozialen Arbeit in Bezug auf die sozial- und bildungspolitische Szene, indem sie auf die gesellschaftliche Bedingtheit der Alltagsverhältnisse insistiert und Tendenzen der Dethematisierung des Sozialen entgegenwirkt, der Prävention als konkrete Verbesserungen in Alltäglichkeit und Lebenswelten der Adressat_innen (primäre Prävention) und der Entwicklung besonderen Augenmerks für vorhersehbare Belastungen (sekundäre Prävention), der Alltagsnähe von Maßnahmen mit einer Priorisierung lebensweltlicher Ressourcen in ihrem Eigensinn gegenüber ersetzenden professionseigenen Arrangements, der Regionalisierung als Anerkennung der Raumerfahrungen der Adressat_innen und institutioneller, dezentraler Gestaltung des Sozialraums, in denen Angebote vor Ort zugänglich gemacht werden, der Integration und der weiter reichenden Inklusion als Gleichheit in den alltäglichen Bewältigungsaufgaben und ihren sozialen Rahmenbedingungen anstrebende Form von sozialer Gerechtigkeit und schließlich der Partizipation als die strukturelle Asymmetrie von Hilfe brechendes Prinzip, welches Verhandlung als Beteiligung und gemeinsame Gestaltung des Weges der Adressat_innen hin zur Selbständigkeit zielt (vgl. ebd.: S. 17-21).

2.1.5 Theoriebezug zur Fragestellung

Thierschs Konzept der Lebensweltorientierung wurde ursprünglich im Hinblick auf den Bereich der Kinder- und Jugendhilfe entworfen, ihre Struktur- und Handlungsmaximen lassen sich jedoch als allgemeine Matrix auch auf andere Bereiche der Sozialen Arbeit übertragen (vgl. Grunwald/Thiersch 2014: S. 17). Was die Integration von Flüchtlingen als Aufgabe der Sozialen Arbeit anbelangt, fällt hier zunächst der Bezug zur Alltagsnähe ins Auge, die der Flüchtlinge wie auch die der Menschen in den aufnehmenden Orten. Wie grundlegend die Unterschiede der hier aufeinander treffenden Alltagswelten ist, kann eindrucksvoll in dem Dokumentarfilm „Das Golddorf“ über das Alltagsleben von Flüchtlingen und Einheimischen in Bergen/Chiemgau beobachtet werden: Hier die Lebenswelt der Einheimischen in einer katholisch fest verwurzelten, heimatverbundenen, traditionellen Kultur mit ihren Ritualen wie Schuhplattlern und Fronleichnamsprozession sowie ihren Erwerbstätigkeiten zwischen bäuerlicher Landwirtschaft und Tourismus, dort die Lebenswelt der Flüchtlinge in ihrem als Wohnheim Visasvis der Kirche umgewidmeten Hotel, deren Tagesablauf bestimmt wird durch Warten auf Bescheide über die Anerkennung ihres Status, Warten auf Nachrichten von ihren Familien in den Heimatländern, Sprachunterricht und kleinen Ausflügen ins Schwimmbad oder die pittoreske Landschaft. Kontakte zwischen diesen Gruppen als Element oder Wegbereiter von Integration bleiben die Ausnahme (vgl. Genreith 2015: Das Golddorf).

Thierschs Struktur- und Handlungsmaximen für die Soziale Arbeit bedeuten hier in einem ersten phänomenologischen Zugang zunächst, die Alltagsnähe der Flüchtlinge als Ausgangspunkt für Beratung, Vermittlung von Sprachkursen, Organisation von Tagesabläufen etc. nutzbar zu machen. Integration sieht Thiersch als besondere Form sozialer Gerechtigkeit, aus der eine gewisse Gleichheit bei alltäglichen Bewältigungsaufgaben und sozialen Rahmenbedingungen anzustreben ist (vgl. Grunwald/Thiersch 2014: S. 17-21). Vor dem aktuellen Hintergrund in Deutschland ist dies für Flüchtlinge sicherlich ein sehr vages und weit entferntes Ziel. Wichtig wäre hier zunächst, neben den Alltagswelten der Flüchtlinge auch die Alltagswelten der aufnehmenden Bevölkerung genau zu analysieren. Sich daraus entwickelnde Potentiale wie etwa die Einbindung von Vereinen, Kirchengemeinden, politischen Gruppierungen, Schlüsselpersonen und Ehrenamtlern können unter Einbeziehung ihrer normativ-kritisch analysierten Rollen und Funktionsweisen allerdings nur dann gelingen, wenn zwischen den Flüchtlingen und den Einheimischen ein hohes Maß an Aufklärung über ihre unterschiedliche Prägungsmuster erfolgt (vgl. Albert 2012: S. 259). Einmischung im Sinne Thierschs historisch-sozialbedingtem Zugang wäre auch hier ein gegenseitiges Verständnis zu entwickeln über die gesellschaftliche Bedingtheit der jeweiligen Situationen. Präventiv kann Soziale Arbeit im vorliegenden Themenfeld dann allenfalls in Bezug auf Situationen vorort wirken, in Bezug auf anomes Verhalten der Bewohner_innen von Flüchtlingsheimen bspw. durch sinnvolle, partizipativ angelegte Beschäftigungsaufgaben, in Bezug auf abwertende oder rechtsradikale Gewaltaktionen von Einheimischen bspw. durch bereits beschriebene Aufklärungs- und Moderationsarbeit. Auf die eigentlichen aus den Alltagswelten der Herkunftsländer erwachsenden Ursachen der aktuellen Flüchtlingsströme jedoch hat die Profession der Sozialen Arbeit in unserem Land allenfalls eher theoretische und mittelbare Möglichkeiten über eine politische Einflussnahme ihrer Lobbyverbände. Auch die

Partizipation beschränkt sich bei den Flüchtlingen auf die kleinen Dinge des Alltags, über die für Flüchtlinge wichtigsten Angelegenheiten wie Flüchtlingsstatus oder Arbeitserlaubnis wird über deren Köpfe und Bedürfnisse hinweg nach Rechtslage entschieden. Regionalisierung schließlich bedeutet die Arbeit vorort. Was das Aufsuchen der Flüchtlinge in den Wohnheimen anbelangt, mag dies sicherlich schnell zu verwirklichen sein, was allerdings die Akzeptanz der Einheimischen und die dafür notwendige Nutzbarmachung örtlicher Ressourcen wie Räume, Vereine, Schlüsselpersonen etc. anbelangt stoßen Sozialarbeiter_innen allerdings nicht selten an ihre Grenzen, da sie nur selten aus den betreffenden Gemeinden stammen und insofern gleichermaßen „selbst Fremde in einem sozialen System [sind], in welchem sie paradoxerweise die professionelle Aufgabe haben, Fremde in ihren Integrationsbemühungen zu unterstützen“ (Albert 2012: S. 258).

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Ende der Leseprobe aus 27 Seiten

Details

Titel
Integration von Flüchtlingen im ländlichen Raum. Möglichkeiten und Grenzen der Sozialen Arbeit
Untertitel
Mit Theorien von Hans Thiersch, Wilhelm Heitmeyer et al. und Seyla Benhabib
Hochschule
Hochschule RheinMain - Wiesbaden Rüsselsheim Geisenheim
Note
1,0
Autor
Jahr
2015
Seiten
27
Katalognummer
V315748
ISBN (eBook)
9783668155572
ISBN (Buch)
9783668155589
Dateigröße
522 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Arbeit überzeugt insbesondere durch eine sehr eigenständige und argumentativ überzeugend entfaltete Konkretisierung der Theorien in Bezug auf die Fragestellung (im Anschluss an die Einzeldarstellung der drei Theorien).
Schlagworte
Theorieprojekt, Flüchtlinge, lebensweltorientierung, Desintegrationsdynamik, Zugehörigkeitsgerechtigkeit, Thiersch, Heitmeyer, Benhabib, ländlicher Raum, Integration, lebensweltorientierte soziale Arbeit
Arbeit zitieren
Heinrich Bellinghausen-Thomas (Autor:in), 2015, Integration von Flüchtlingen im ländlichen Raum. Möglichkeiten und Grenzen der Sozialen Arbeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/315748

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