Bolsa Familia. Ein Ausweg aus dem Armutskreislauf in Brasilien?


Bachelor Thesis, 2015

45 Pages, Grade: 2,0


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

1. Einleitung
1.1 Arbeitsziel
1.2 Aufbau der Arbeit

2. Soziale Grundsicherungskonzepte in Entwicklungs- und Übergangsländern
2.1 Präzisierung der relevanten Begrifflichkeiten
2.1 Formen sozialer Grundsicherung
2.1.1 Beitragsfreie Grundrente
2.1.2 Sozialhilfe und familienbezogene Sozialhilfe
2.1.3 Hilfe zur Versorgung mit Grundbedarfsgütern
2.1.4 Konditionierte Transferleistungen

3. Fallbeispiel Brasilien - Bolsa Família
3.1 Brasiliens soziale Brennpunkte
3.2 Entstehung und Funktionsweise des Bolsa Família
3.3 Zusammenfassung der Auswirkungen des Bolsa Família
3.3.1 Positive Auswirkungen
3.3.2 Probleme des Bolsa Família

4. Fazit

5. Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Teufelskreislauf der Armut

Abbildung 2: Weltweite Existenz von konditionierten Transferleistungen

Abbildung 3: Entwicklung des BIP in Brasilien 1960-2010

Abbildung 4: Armutsverteilung Brasilien

Abbildung 5: Expansion der Anzahl der von Bolsa Família geförderten Familien .

Abbildung 6: Von Bolsa Família profitierende Familien

Abbildung 7: Rückgang der Rate extremer Armut

Abbildung 8: Veränderung des GINI-Koeffizienten in Brasilien

Abbildung 9: Arbeitslosenquote Brasilien 2004 - 2014

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Vergleich der Armutsgrenzen in Brasilien

1. Einleitung

Anlässlich der Fußballweltmeisterschaft, die 2014 in Brasilien stattfand und der 2016 noch bevorstehenden Olympischen Spiele machen viele Brasilien in den größten Straßenprotesten der letzten 20 Jahre ihrem Unmut Luft. Sie wollen das internationale Rampenlicht nutzen um die Regierung auf die allgemeine Unzufriedenheit mit der Politik und den sozialen Standards aufmerksam zu machen. Im Mittelpunkt ihrer Proteste stehen v.a. Missstände wie das marode Schulsystem, die Erhöhung der Lebensunterhaltskosten, das unzureichend ausgebaute Gesundheitswesen und die Klientelpolitik und Korruption. Zudem zieren soziale Defizite wie Armut, Bildungsunterschiede im nationalen Vergleich, soziale Ungleichheit und Diskriminierung der schwarzen und indigenen Bevölkerung nicht nur die Vergangenheit Brasiliens, sondern sind auch weiterhin sehr präsent im flächenmäßig größten Land Südamerikas. Darüber hinaus kam es 2014 zu zahlreichen Bürgerrechtsverletzungen in Form von Zwangsumsiedlungen und Enteignungen im Zuge des Baus neuer Fußballstadien (vgl. Graça Peters 2013). Die WM 2014 war mit Kosten in Höhe von mehr als 11 Milliarden Euro bislang die teuerste aller Zeiten. Im Gegensatz dazu ist jedoch für das Bildungs-, Gesundheits- und Transportwesen kaum Geld von Seiten des Staates übrig (vgl. Reimar 2014).

Zumindest im Bereich der Armutsbekämpfung ist Brasilien seit 2003 sehr ambitioniert. Um der extremen Armut entgegenzuwirken, rief die damalige brasilianische Regierung unter Lula da Silva im Oktober 2003 das wohlfahrtskapitalistische Programm Bolsa Família (PBF) ins Leben. Dieses Sozialprogramm ist ein konditioniertes Transferprogramm (engl. Conditional Cash Transfers), das sich hauptsächlich an Familien richtet, deren Einkommen unter die brasilianischen Armutsgrenze fällt. Aufgrund dessen wird den Betroffenen monatlich ein bestimmter Geldbetrag zur Verfügung gestellt, insofern sie sich wiederum an bestimmte, vom Staat vorgegebene Bedingungen halten. Heute ist es das weltweit größte Sozialprogramm und hat zudem eine internationale Vorbildfunktion (vgl. Prutsch/ Rodrigues-Moura 2014: S.212). Trotz des Wirtschaftsaufschwungs der letzten Jahre leben laut einer Volkszählung aus dem Jahr 2010 noch immer ca. 16 Millionen Menschen in extremer Armut (vgl. Kauffmann 2014).

1.1 Arbeitsziel

Die vorliegende Arbeit konzentriert sich grundsätzlich auf konditionierte Transferleistungen als Methode der sozialen Grundsicherung in Entwicklungs- und Übergangsländern. Darüber hinaus sollen die aus dem theoretischen Teil dieser Bachelorarbeit gewonnenen Erkenntnisse und Ergebnisse durch eine detaillierte Betrachtung des Sozialprogrammes Bolsa Família bekräftig und ergänzt werden.

Das Thema dieser Bachelorarbeit lautet „Bolsa Família - ein Ausweg aus dem Armutskreislauf?“. Von diesem Titel ausgehend, lässt sich die abschließende Fragestellung ableiten, ob sich das an Bedingungen geknüpfte Sozialprogramm „Bolsa Família“ eignet den Generationen übergreifenden Armutskreislauf in Brasilien nachhaltig zu durchbrechen?

Welche einzelnen Aspekte bei der Beantwortung der Fragestellung eine wichtige Rolle spielen, welche Erfolge bislang erzielt wurden sowie welche Probleme sich ergeben, soll im Folgenden genauer erörtert und dargestellt werden.

1.2 Aufbau der Arbeit

Für die Bearbeitung der vorliegenden Bachelorarbeit „Bolsa Família - ein Ausweg aus dem Armutskreislauf?“ wurde zunächst ein theoretischer Rahmen gesetzt, auf den ein praktischer Teil folgt. Insgesamt ist die Arbeit in vier Hauptkapitel unterteilt.

Das erste Kapitel soll an das Thema dieser wissenschaftlichen Arbeit heranführen, die Problemstellung aufzeigen und die Zielsetzung darlegen.

Das zweite Kapitel beginnt zunächst mit kurzen Definitionen der relevanten Begriffe, worauf eine detaillierten Übersicht über die verschiedenen Arten sozialer Grundsicherung in Entwicklungs- und Übergangsländern folgt, wobei konditionierte Transferleistungen auf Grund seiner Relevanz für das nachfolgende Kapitel ausführlicher betrachtet werden.

Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit dem brasilianischen Sozialprogramm „Bolsa Família“. Dabei wird zunächst das Land Brasilien, dann die Entstehung und Funktionsweise des Bolsa Família und zuletzt die Auswirkungen des Programmes dargestellt.

Das vierte Kapitel bildet den inhaltlichen Abschluss dieser Bachelorarbeit. Es beinhaltet ein Fazit und die Beantwortung der wissenschaftlichen Frage.

2. Soziale Grundsicherungskonzepte in Entwicklungs- und Übergangsländern

2.1 Präzisierung der relevanten Begrifflichkeiten

Bevor auf die Konzepte sozialer Grundsicherungen im Einzelnen eingegangen werden kann, muss zunächst geklärt werden, wie sich Armut zu definieren ist und was unter Armut und sozialer Grundsicherung innerhalb der staatlichen Sozialpolitik verstanden wird.

Armut ist ein weltweites Phänomen und eines der größten Probleme unserer Zeit. Insgesamt leben mehr als eine Milliarde Menschen weltweit in Armut. Vereinfacht bedeutet dies, dass in Armut lebende Menschen ihre Grundbedürfnisse nicht erfüllen können und somit nur einen sehr geringen Lebensstandard besitzen. In der heutigen Wissenschaft wird grundsätzlich zwischen drei Arten von Armut unterschieden:

1. Absolute bzw. extreme Armut
2. Relative Armut
3. Gefühlte bzw. sozio-kulturelle Armut

Die Bezeichnung „absolute Armut“ wurde von der Weltbank eingeführt und weist eine statistische Komponente auf. In absoluter Armut lebt demnach jeder, dem weniger als 1,25$ pro Tag zur Verfügung stehen. Relativer Armut begegnet man hauptsächlich in Wohlstandsgesellschaften, in denen es praktisch keine absolute Armut, jedoch eine arme Unterschicht gibt. Als relativ arm gelten statistisch gesehen diejenigen, denen weniger als die Hälfte des durchschnittlichen Einkommens der jeweiligen Bevölkerung zur Verfügung stehen. Die dritte und letzte Kategorie lässt sich nicht an konkreten Einkommensgrenzen festmachen, sondern umfasst diejenigen, die sich hinsichtlich gesellschaftlicher Ausgrenzung oder Diskriminierung als arm betrachten oder die auf Grund einer sich verschlechternden wirtschaftlichen Lagen in ständiger Angst vor Armut leben (vgl. Armut.de 2008a).

Armut weist eine Vielzahl an Ursachen und Folgen auf, die sich gegenseitig bedingen und einander verstärken. Eine bedeutende Ursache von Armut ist die Unterentwicklung ländlicher Bevölkerungsschichten in Entwicklungsländern, die traditionell von Subsistenzwirtschaft leben und dementsprechend kaum bis gar keine monetären Einkünfte besitzen. Neben bewaffneten Konflikten und damit einhergehender Flucht und Vertreibung sowie schlechter Regierungsführung zählt auch der Mangel an Geld, Arbeit, Bildung, Gesundheit und sozialer Sicherung u.a. zu den Hauptursachen. Genauso vielschichtig wie die Ursachen sind auch die Folgen von Armut. Zu den Konsequenzen gehören Hunger und Unterernährung, Kindersterblichkeit und sinkende Lebenserwartung. Sowohl als Ursache als auch als Folge kann grundsätzlich die Erkrankung von Menschen bspw. an HIV/AIDS, Malaria und Tuberkulose gesehen werden (vgl. Armut.de 2008b).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Teufelskreis der Armut (Quelle: Eigene Darstellung)

Armut wird außerdem häufig als Teufelskreis bezeichnet, da sie oft ein Bündel von Merkmalen, Ursachen und Konsequenzen darstellt, die ineinandergreifen und sich gegenseitig bedingen. Ein solcher Teufelskreis kann demnach wie folgt aussehen: Einer in Armut lebenden Familie fehlen die finanzielle Mittel, um sich angemessen zu ernähren. Die daraus resultierende Unterernährung und Mangelerscheinungen führen zu geringerer Energie und Konzentrationsfähigkeit, wobei diese wiederrum sowohl die Erwerbstätigkeit der Eltern als auch die schulischen Leistungen der Kinder negativ beeinflusst. Als direkte Konsequenz kommt es meist zu schlechten Schulabschlüssen oder sogar zu frühzeitigen Schulabbrüchen und zu Arbeitslosigkeit. Darüber hinaus fördern eine schlechte Ernährung und Hunger die Anfälligkeit für Krankheiten, da das Immunsystem dauerhaft geschwächt wird. Auf Grund des Mangels an finanziellen Mitteln kann sich die Familie auch keine Medikamente, geschweige denn Behandlungen bei

Ärzten leisten. Letztlich kann ohne Geld und Arbeit, sowie medizinische Versorgung der Armutsteufelskreis, in dem sich die Familie befindet, nur schwer durchbrochen werden. Die Betroffenen sind i.d.R. auf externe Hilfe durch den Staat angewiesen, um ihre Lebenssituation verbessern zu können (vgl. Armut.de 2008c).

Dementsprechend kommt der Sozialpolitik innerhalb eines Staates die Aufgabe zu, die Ursachen von Lebensgefahren zu begrenzen, d.h. einen angemessenen Lebensstandard zu sichern und die Lebenssituation von sozial benachteiligten Personengruppen zu verbessern, indem ein sozialer Ausgleich gewährleistet wird. Das Minimalziel stellt dabei die Armutsvermeidung dar. Insgesamt soll allen Staatsbürger soziale Teilhabe, sowie Prävention und sozialer Schutz garantiert werden (vgl. Leisering et al. 2006: S.42f). Unter sozialer Grundsicherung werden demnach unterschiedliche Formen staatlicher und kommunaler Transferleistungen an Individuen oder Gruppen verstanden, die langfristig von Armut betroffen und nur eingeschränkt selbsthilfe- und gegenleistungsfähig sind. Diese Transferleistungen bestehen meist aus Sozialgeld und zielen auf eine unterschiedlich definierte Mindestsicherung ab, wobei primär Armut bekämpft und vorgebeugt werden soll. In Entwicklungs- und Übergangsländer werden im Gegensatz zu Industrieländern keine Beitragszahlungen für die Bereitstellung von Transferleistungen in Bezug auf soziale Grundsicherung vorausgesetzt. Diese werden als zusätzliche Hilfe zum Lebensunterhalt von Einzelpersonen oder Haushalten verstanden, wobei die Zielgruppen i.d.R. keine Lobby besitzen und sich nicht organisieren. Des Weiteren werden materielle Hilfen längerfristig institutionalisiert. Letztlich ist erst dann soziale Sicherheit garantiert, wenn das Überleben von Einzelpersonen, Familien und Gemeinschaften gesichert ist (vgl. ebd. 2006: S.45f).

Häufig werden die Begriffe „soziale Grundsicherung“ und „Sozialhilfe“ synonym verwendet. Zwar stellen sowohl die Sozialhilfe als auch die Grundsicherung längerfristig angelegte Leistungen zur Armutsbekämpfung dar, dennoch gibt es ein grundlegendes Unterscheidungskriterium. Unter Sozialhilfe werden dementsprechend Leistungssysteme verstanden, die die Bedürftigkeit prüfen, wobei soziale Grundsicherungen zusätzlich - wenn auch selten - universelle und kategoriale Programme einschließen, die keine individuelle Bedürftigkeitsprüfung voraussetzen (vgl. Leisering et al. 2006: S.95f). Sozialhilfe lässt sich demnach als eine selektive, gruppenbezogene oder - seltener - auch bevölkerungsweite

Sozialgeldleistung definieren, die den Lebensunterhalt sichern soll. Sie stellt eine wesentliche Form der Grundsicherung in Entwicklungsländern dar (vgl. Leisering et al. 2006: S.49).

2.1 Formen sozialer Grundsicherung

Das Thema der sozialen Absicherung hat in den letzten Jahren nicht nur in Industrieländern, sondern auch in Entwicklungsländern stark an Bedeutung gewonnen. Dementsprechend entstanden v.a. in der letzten Dekade weltweit immer mehr Sozialgeldtransfer-Programme (SGT-Programme) als Mittel der sozialen Grundsicherung in Mittel- und Niedriglohnländern. Sie erfreuen sich dort großer Beliebtheit und feiern Erfolge.

Unter Sozialgeldtransfers werden Transferzahlungen an Einzelpersonen oder Gruppen verstanden, die von relativer oder extremer Armut betroffen sind und ansonsten keinerlei soziale Absicherung erhalten. Sie stellen demnach eine Ergänzung der Sozialversicherungssysteme in Entwicklungsländern dar, da das staatliche System der sozialen Sicherheit, d.h. Sozialhilfe und Sozialversicherung, in vielen Entwicklungs- und Übergangsländern nur denjenigen vorbehalten ist, die im formellen Sektor tätig sind. Im informellen Sektor arbeitende Personen werden nicht in den sozialen Versicherungssystemen des Staates aufgenommen und verfügen deshalb meist nur über ein sehr geringes und unregelmäßiges Einkommen, wodurch sie für die Armutsbedrohung stark anfällig sind. Insgesamt ist der Beschäftigungsgrad im informellen Sektor in Entwicklungs- und Übergangsländern sehr hoch. So macht der Anteil der Personen im informellen Sektor (außerhalb der Landwirtschaft) nach neusten Statistiken der ILO z.B. in Lateinamerika mehr als 40%, in Brasilien bis zu 75% aus. In Bolivien sowie in Afrika südlich der Sahara sind „lediglich“ 33% der Bevölkerung im informellen Sektor tätig, während es in Mali sogar 82% sind (vgl. ILO 2012: S.4f). Dementsprechend ist es wichtig den unzulänglichen Wohlfahrtsstaat zu überwinden und für die betroffenen Menschen ein Mindestmaß an sozialer Absicherung zu schaffen.

Hierbei kommt SGTs eine wichtige Rolle zu, da sie zu den beitragsfreien Leistungen des Staates zählen und dementsprechend von der Allgemeingültigkeitsklausel losgelöst sind. Sie zielen darauf ab, die gegenwärtige und zukünftige Armut zu reduzieren, indem den Empfängerhaushalten ein Realeinkommen zugesprochen wird, das ihnen eine Steigerung ihrer Lebensqualität ermöglicht. Zudem soll ein Mindestmaß an sozialer Sicherheit, Nahrungssicherheit und

Konsum hergestellt werden (vgl. Javad 2011: S.2f). Viele bekannte bi- und multilaterale Geberinstitutionen wie die Weltbank oder UNICEF haben sich bereits mit Sozialgeldtransfers beschäftigt und betrachten diese als eine Chance der Armut zu entfliehen, da viele Sozialgeldtransferprogramme durchaus positive Tendenzen aufweisen und möglicherweise entscheidend zur Überwindung sozialer Missstände beitragen.

Grundsätzlich wird zwischen universellen, nicht bedürftigkeitsgeprüften Geldtransferprogrammen und bedürftigkeitsgeprüften Transferleistungen unterschieden. Erstere zeichnen sich dadurch aus, dass die Transferzahlungen jedem Bedürftigen bedingungslos zustehen und auch ausgezahlt werden. Diese Programme orientieren sich zum einen an dem Menschenrecht der sozialen Sicherung (Artikel 22 der Menschenrechtserklärung) und zum anderen an dem Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte sowie an der ILO-Konvention zu sozialen Mindeststandards (vgl. Javad 2011: S.4). Es wird demnach das Ziel verfolgt, alle armen Haushalte zu erreichen und ihnen ein bedingungsloses Grundeinkommen zu gewährleisten, ohne dabei anfällig für Manipulation zu sein oder einzelne oder bestimmte Gruppen zu bevorzugen oder zu benachteiligen (vgl. Künnemann/Leonhard 2008: S.19). Des Weiteren entstehen kaum Kosten für die Identifikation der Empfänger und es im Gegensatz zu bedürftigkeitsgeprüften Sozialgeldtransfers können sog. Ausschlussfehler von anspruchsberechtigten Individuen oder Gruppen bei der Verteilung der Transfergelder vermieden werden. Auf Grund dessen genießen universelle Leistungen i.d.R. ein größeres Vertrauen von Seiten der Bevölkerung. Dennoch gibt es sehr wenige Entwicklungsländer, die sich für universelle Transfersysteme entscheiden, da auch Nicht-Bedürftige das Sozialgeld erhalten, wodurch die Gesamtausgaben der Programme letztlich sehr hoch sind (vgl. Leisering et al. 2006: S.96)

Die häufigste Form sind demnach bedürftigkeitsgeprüfte Transfersysteme, bei denen die Vergabe des Sozialgeldes zunächst an einen individuellen Bedarfstest gebunden ist. Dieser legt anhand des Einkommensniveaus die spätere Zielgruppe und somit die potenziellen Empfänger fest. Das Verfahren zur Auswahl der Anspruchsberechtigen wird als „targeting“ bezeichnet. In vielen Entwicklungsländern gehören v.a. arme Haushalte mit einem oder mehreren Kindern bis zu einem bestimmten Alter zur Zielgruppe der sozialen Grundsicherung und sind dadurch berechtigt, das Sozialgeld zu beziehen. Bei Familien mit Kin- dern außerhalb der gesetzten Altersspanne werden die Transferzahlungen meist eingestellt. Darüber hinaus gibt es auch andere potenzielle Empfängergruppen, z.B. ältere Menschen, Witwen, Waisen, Menschen mit Behinderung(en), an AIDS erkrankte Menschen, Haushalte mit alten und/oder weiblichen Haushaltsvorständen, Arbeitslose und Landlose (vgl. Leisering et al. 2006: S.94-97). In einigen Fällen kann es auch mehr als nur eine Zielgruppe mit zwei oder mehr Niveaus von Transferzahlungen geben, wie es am Fallbeispiel „Bolsa Família“ deutlich wird (vgl. Javad 2011: S.3). Durch die Begrenzung der Zahlungen auf bestimmte Gruppen lassen sich die Ausgaben der Programme begrenzen und sind somit keineswegs so kostenintensiv wie universelle Geldtransfersysteme.

Dennoch weisen auch bedürftigkeitsgeprüfte Transfersysteme einige Schwierigkeiten hinsichtlich der erfolgreichen Durchführung dieser Programme auf. Zum einen müssen die Staaten sicherstellen, dass die Anspruchsberechtigten identifiziert und erreicht werden können. Das bedeutet, dass alle Staatsbürger staatlich registriert und in der Lage sein müssen, sich auszuweisen. Zum anderen müssen Einrichtungen zur Antragsstellung sowie zur Leistungsauszahlung bereitgestellt werden, d.h. verfügbare institutionelle Kapazitäten werden vorausgesetzt. Darüber hinaus müssen auch die zuständigen Institutionen für die Staatsbürger erreichbar sein. In Folge dessen sind jedoch das Auswahlverfahren und die Programmdurchführung grundsätzlich kosten- und personalintensiver als bei dem zuerst vorgestellten System. Auf Grund dessen sind bedürfnisgeprüfte Transfersysteme hauptsächlich in Ländern mit einem mittleren Einkommensniveau sowie in Übergangsländern zu finden. Darüber hinaus droht grundsätzlich die Gefahr, dass der Selektionsprozess durch vorherrschendem Klientelismus und Korruption negativ beeinflusst wird, wodurch Nicht-Bedürftige Sozialgeld erhalten oder sich Verantwortliche mithilfe des Sozialprogrammes in die eigene Tasche wirtschaften. Um dieser Gefahr entgegenzuwirken, müssen zusätzlich strikte Überwachungsmethoden eingesetzt werden (vgl. Leisering et al. 2006: S.97ff).

Insgesamt lassen sich in Entwicklungs- und Übergangsländer fünf Typen staatlicher Grundsicherungsprogramme ausmachen, deren Übergänge jedoch meist fließend sind:

1. Beitragsfreie Grundrente
2. Sozialhilfe
3. Familienbezogene Sozialhilfe
4. Hilfe zur Versorgung mit Grundbedarfsgütern
5. Konditionierte Transferleistungen

2.1.1 Beitragsfreie Grundrente

Beitragsfreie bzw. soziale Renten gehören heute zu den beliebtesten Programmen sozialer Absicherung und erweisen sich zunehmend als erfolgreiches Mittel gegen Altersarmut. Während Rentenauszahlungen in entwickelten Ländern grundsätzlich an Beitragszahlungen während der erwerbstätigen Lebensphase gebunden sind und notfalls durch Sozialhilfe ersetzt werden, gibt es in unterentwickelten Ländern zahlreiche Menschen, die auf Grund geringer Löhne, kurzer Erwerbtätigkeitsperioden oder informeller Arbeitsformen keine Beiträge zahlen können bzw. konnten. Dementsprechend ist das Armutsrisiko in diesen Regionen sehr hoch, was die Einführung eines zusätzlichen Rentensystems erforderlich macht. Diese Sicherungslücken werden zunehmend durch Renten gefüllt, die nicht auf Beitragszahlungen basieren und unabhängig von der vorherigen Lohnhöhe sind (vgl. Leisering et al. 2006: S.101). Dies scheint angesichts der rapiden Bevölkerungsalterung in Entwicklungsländern innerhalb der kommenden Jahrzehnte auch nötig zu sein. Demzufolge wird die Zahl der älteren Menschen nach statistischen Hochrechnungen weltweit von 809 Millionen im Jahre 2012 auf 2 Milliarden in den nächsten 40 Jahren ansteigen, wobei sich ein großer Teil davon in den weniger entwickelten Ländern befindet (vgl. KnoxVydmanov 2013: S.3).

Soziale Renten sind regelmäßige staatliche Transferzahlungen, die i.d.R. an eine bestimmte Altersgruppe - meist ab 60, 65 oder 70 Jahren - ausgezahlt werden und in vielen Fällen an eine Anspruchsprüfung gebunden sind. Zusätzlich werden in den meisten Ländern auch Menschen mit Behinderungen, Hinterbliebene sowie Erwerbsunfähige und Kriegsinvaliden in das Rentenprogramm mit einbezogen. Diese Programme der Alterssicherung verfolgen hauptsächlich das Ziel, die Armut und Hilfebedürftigkeit der Anspruchsberechtigten zu reduzieren und ihnen somit einen höheren und angemessenen Lebensstandard sowie einen guten Gesundheitszustand zu ermöglichen (vgl. Leisering et al. 2006: S.104f). Darüber hinaus wirken sich beitragsfreie Renten nicht nur positiv auf das Leben der Älteren, sondern auch auf deren Familien aus. So ist es in Entwicklungs- und Übergangsländern üblich, dass alte Menschen in Mehrgenerationenhaushalten wohnen (vgl. Leisering et al. 2006: S.114). Ohne soziale Absicherung im hohen Alter sind sie meist von der Unterstützung ihren Angehörigen abhängig, da nicht nur das Einkommen im Alter gänzlich wegfällt, sondern auch höhere Kosten auftreten können, bspw. durch eine benötigte medizinische Versorgung. Dies stellt letztlich eine große wirtschaftliche Last für die ganze Familie dar, die das betroffene Familienmitglied finanziell unterstützen muss. Durch eine soziale Rente können demnach v.a. arme Haushalte entlastet werden, da es grundsätzlich den Anteil senkt, den die jüngeren Generationen aufbringen müssen und es erlaubt den Angehörigen ihre finanziellen Mittel anderweitig zu investieren (vgl. Knox-Vydmanov 2013: S.3).

Dementsprechend kommt die monetäre Transferleistung dem gesamten Haushalt zugute und reduziert die Armut aller, indem sie der intergenerationalen Übertragung von Armut effektiv entgegenwirken (vgl. Leisering et al. 2006: S.114). Darüber hinaus erhält die ältere Bevölkerung ein Mindestmaß an sozialer Sicherheit, was deren Status innerhalb der Familie nachhaltig stärkt und den Gesundheitszustand der Rentenbezieher verbessert (vgl. ebd. 2006: S.116ff).

2.1.2 Sozialhilfe und familienbezogene Sozialhilfe

Unter Sozialhilfe in Entwicklungs- und Übergangsländern werden monetäre Transferleistungen mit einem vorangehenden Bedürftigkeitstest verstanden. Grundsätzlich wird die Sozialhilfe auf eine oder mehrere Zielgruppen beschränkt, die meist aus Hungernden, Opfern von Naturkatastrophen, alleinstehenden Schwangeren, alleinerziehenden und kinderreichen Frauen, Flüchtlingen sowie Auszubildenden oder Angehörigen von Gefängnisinsassen bestehen können. In Ausnahmefällen erhalten auch berufstätige Personen Sozialhilfeleistungen, deren Einkommen unterhalb des Existenzminimums liegt. Wird man in das Programm aufgenommen, erhält er i.d.R. einmal im Monat eine Geldleistung, die unterhalb des nationalen Existenzminimums liegt (vgl. Leisering et al. 2006: S.122-131).

[...]

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Details

Title
Bolsa Familia. Ein Ausweg aus dem Armutskreislauf in Brasilien?
College
Friedrich-Alexander University Erlangen-Nuremberg
Grade
2,0
Author
Year
2015
Pages
45
Catalog Number
V316199
ISBN (eBook)
9783668151475
ISBN (Book)
9783668151482
File size
1121 KB
Language
German
Keywords
Brasilien, Sozialpolitik, Bolsa Família, Sozialprogramm, Armut, Konditioniertes Transferprogramm
Quote paper
Jessica Döres (Author), 2015, Bolsa Familia. Ein Ausweg aus dem Armutskreislauf in Brasilien?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/316199

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