Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Der neue Geist des Kapitalismus nach Luc Boltanski und Ève Chiapello
1.1. Minimaldefinition des Kapitalismus
1.2. Der Geist des Kapitalismus
1.3. Die Rechtfertigung des Kapitalismus
1.4. Beschränkungen des Akkumulationsprozesses durch den kapitalistischen Geist
1.5. Die Wirkung der Kritik
1.6. Das Veränderungsmodell des kapitalistischen Geistes nach Boltanski und Chiapello
1.7. Die Exit-Kritik
2. Die Börse als Schauplatz des Kapitalismus
2.1. Das Phänomen des Anlegerrückgangs
2.2. Der Trend der Exchange Traded Funds
2.3. Trend der ETF-Anlagen im Modell der dreistufigen Wechselbeziehung
2.4. Die Wirkung des ETF-Trends auf den kapitalistischen Geist
3. Der universelle Darwinismus
4. Die natürliche Selektivität als Wandlungsmechanismus des kapitalistischen Geistes
4.1. Der Kapitalismus im universellen Darwinismus
4.2. ETF-Investments als Replikatoren
4.3. Natürliche Selektivität als Ergänzung des Modells der dreistufigen Wechselbeziehung
5. Fazit
Einleitung
Der sich ständig wandelnde Kapitalismus ist einer der am häufigsten diskutierten Streitpunkte unserer Gesellschaft. Schon Theoretiker wie Karl Marx und Max Weber haben sich ausgiebig mit dieser Wirtschaftsordnung und ihren Merkmalen beschäftigt. In dem Werk „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus" (Weber, 1904/1905) spricht Weber, wie schon im Titel vorzufinden, erstmalig vom „Geist des Kapitalismus" und versucht zu beschreiben, wie sich dieser zu dem entwickelt hat, was er heute ist. 2003 haben sich auch Luc Boltanski und Eve Chiapello diesem Thema angenommen. Sie beschreiben in ihrem Buch „Der neue Geist des Kapitalismus" (Boltanski und Chiapello 2003) unter anderem sehr ausführlich, was sie unter einem Geist des Kapitalismus verstehen, wie er entstanden ist, wie er sich entwickelt hat und wie sich dieser verändert. Den Grund für die Veränderungen des kapitalistischen Geistes sehen Boltanski und Chiapello in den Auswirkungen der Wechselbeziehung zwischen dem Kapitalismus und dessen Kritik. An diesem Punkt ergibt sich die Frage, ob sich der Geist des Kapitalismus auch ändert wenn der Kapitalismus selbst keine Kritik erfährt. Ist Kritik wirklich die einzige Variable, welche einen Einfluss auf den kapitalistischen Geist ausübt oder sind auch Veränderungen vorzufinden, die sich nicht als Reaktion dieses Wechselspiels erklären lassen? Kann man solche Veränderungen nachweisen, wäre ebenfalls zu untersuchen welche Strukturen als Ursache dieser Wandlungen fungieren. Eben dieser Aufgabe widmet sich die vorliegende Hausarbeit.
Um einen Rahmen zu spannen, innerhalb dessen es zu argumentieren gilt, werden zu Beginn die Grundzüge der Theorien Boltanskis und Chiapellos erläutert. Hierbei wird auch klar gestellt was Boltanski und Chiapello unter einem Geist des Kapitalismus verstehen, wie dieser zu Stande kommt und wie er sich, laut ihnen wandeln kann. Anschließend betrachten wir aktuelle Veränderungen innerhalb des Kapitalismus und beobachten wie sich diese auf den kapitalistischen Geist auswirken. Des Weiteren soll nach möglichen Ursachen dieser Veränderungen gesucht werden, um anschließend wieder Rückbezug auf Boltanski und Chiapello nehmen zu können. Neben dem von Boltanski und Chiapello beschriebenen Dualismus zwischen Kritik und Kapitalismus möchte ich dann noch eine alternative Erklärung für den Wandel des kapitalistischen Geistes nennen und diskutieren. Um mögliche Kritikpunkte an der zweiten Alternative nicht zu vernachlässigen möchte ich die wichtigsten davon im Schlussteil ansprechen und eigene Stellung zu diesen Diskussionspunkten nehmen.
1. Der neue Geist des Kapitalismus nach Luc Boltanski und Ève Chiapello
1.1. Minimaldefinition des Kapitalismus
Boltanski und Chiapello, welche von hier an der Einfachheit halber mit BC abgekürzt werden, beginnen ihre Argumentation mit einer, wie sie es nennen, „Minimaldefinition" des Kapitalismus. Um der Argumentationslogik von BC folgen zu können, möchte ich diese Minimaldefinition kurz wiedergeben. So findet sich laut ihnen der Kapitalismus innerhalb der „[...]Forderung nach unbegrenzter Kapitalakkumulation durch den Einsatz formell friedlicher Mittel[...]"(BC 2003, S.39). Des Weiteren sehen sie das „Hauptmerkmal [...] darin, dass das Kapital mit dem Ziel der Profitmaximierung [...] immer wieder in den Wirtschaftskreislauf zurückgeleitet wird"(ebd.: S. 39). Mit dieser Aussage wird auch gleichzeitig beschrieben was sie unter Kapitalakkumulation verstehen. Es geht hier nämlich nicht um die schlichte Anhäufung von Kapital in Form von z.B. Bargeld oder Gold im Tresor, sondern um immer wieder neue Investition der erhaltenen Renditen. Dies führt zu einer stetigen Umwandlung von Kapital in Produktion, von Produktion in vermehrtes Kapital und somit wieder in neue Investitionen (vgl. Heilbroner in BC 2003: S.39). Diese Definition der Kapitalakkumulation wird für die spätere Argumentation von Bedeutung sein.
BC beschreiben zwei Arten von Protagonisten des Kapitalismus: Arbeitnehmer und Kapitalisten. Obwohl Arbeitnehmer ebenfalls im deutschen Sprachgebrauch Kapitalisten sein können, reservieren BC diese Bezeichnung für Personen „ von denen Kapitalakkumulation und -erhöhung ausgeht und die einen unmittelbaren Druck auf Unternehmen ausüben, damit diese den größtmöglichen Profit ausschütten" (ebd. S.:41). Währenddessen bezeichnen sie Arbeitnehmer als „abhängig Beschäftigte", die kaum Eigenkapital zu Reinvestition besitzen und so ihre Arbeitskraft gegen Kapital eintauschen müssen (vgl.: ebd. S.41, 42).
1.2. Der Geist des Kapitalismus
Beide Parteien nehmen im Kapitalismus eine zentrale Position ein. Um diese zu beschreiben beziehen sich BC auf den Ökonomen Robert Heilbroner. Laut ihm wird der Kapitalist den Akkumulationsprozess aus zwei Gründen fortwehrend durchführen: 1. Weil Kapital abstrakte Erscheinungsformen annimmt, wodurch es fast unmöglich ist einen Sättigungspunkt zu erreichen und 2. da Kapitalisten sich innerhalb eines Wettbewerbs befinden, in dem stets das Risiko des Verlusts eine Dynamik hervorruft, die wiederum das Selbsterhaltungsmotiv fördert.
In einer vollkommen anderen Lage hingegen befindet sich der Arbeitnehmer. Er bezieht durch seine Arbeit ein Einkommen. Somit ist er von den Entscheidungen der „Besitzer der Produktionsmittel" abhängig(vgl.: ebd. S.39 - 42). Diese beiden Positionen der Protagonisten erscheinen auf den ersten Blick nicht als befriedigend, da der Arbeitnehmer sich in einer ständigen Abhängigkeit befindet, während die Kapitalisten von Sättigung weit entfernt sind und sich in einer nicht endenden Kette der Akkumulation befinden. Trotzdem scheint es einen Antrieb zu geben der beide Parteien dazu bewegt ihre Positionen immer wieder neu zu rekonstruieren bzw. sich sogar für die Aufrechterhaltung zu engagieren, was mit Argumenten wie Entlohnung nicht ausreichend nachvollziehbar scheint. Es muss also Faktoren geben die sich auf die Motivation von Arbeitnehmern und Kapitalisten auswirken, sodass diese, gegen der logischen Erwartung, ihren Status quo rekonstruieren. An dieser Stelle sprechen BC vom „Geist des Kapitalismus". Ohne sich auf eine exakte Definition einzulassen, möchten BC den „Geist des Kapitalismus" lediglich als „eine Ideologie bezeichnen, die das Engagement für den Kapitalismus rechtfertigt"(vgl.: ebd. S.42, 43). Es lässt schon ahnen, dass diese Definition einen sehr großen Interpretationsspielraum frei lässt, da eine Ideologie aus unzähligen Teilen bestehen kann. BC gehen im weiteren Verlauf ihrer Argumentation allerdings genauer auf einzelne Teile dieser Ideologie ein. Zum Beispiel übernehmen sie von Max Weber unter anderem die Ansicht, dass Menschen moralische Gründe sowie Sicherheitsgarantien fordern um sich auf den Kapitalismus einlassen zu können (vgl.: ebd. S.44, 45). In Bezug auf Albert Hirschman fällt dann erstmalig der Begriff der „Rechtfertigung", mit dem sich BC im weiteren Verlauf ihres Werkes noch intensiver beschäftigen werden. BC sehen nämlich den Grund des Fortbestehens oder sogar des Ausdehnens des Kapitalismus hauptsächlich in seiner Fähigkeit auf Rechtfertigungsmuster zurückgreifen zu können, die diese Wirtschaftsordnung als annehmbar oder sogar wünschenswert darstellen (vgl. ebd.: S.46).
1.3. Die Rechtfertigung des Kapitalismus
Rechtfertigungen sind deswegen nötig, da dem Kapitalismus selbst keine Möglichkeiten zur Verfügung stehen, die Motivation zur Teilnahme an ihm zu begründen. Ebenso fällt es dem Kapitalismus ohne Rechtfertigungen schwer auf Gerechtigkeitsproblematiken einzugehen (vgl.: ebd. S.58). Der Zweck des Kapitalismus liegt, laut BC in sich selbst. Das bedeutet man Akkumuliert Kapital um später wieder Kapital akkumulieren zu können. Aus dieser Sichtweise heraus bemerkt man auch dass der Kapitalismus keines Wegs allgemeinwohlorientiert ist. Um sich nun also rechtfertigen zu können muss der Kapitalismus in externen Ordnungen Konstruktionen zur Existenzlegitimation suchen (vgl.: ebd. S.58). Diese sucht und findet der Kapitalismus, nach BC, in „Glaubenssätzen, die zu einem gegebenen Zeitpunkt eine hohe Überzeugungskraft besitzen, und aus den prägenden, ja sogar aus kapitalismusfeindlichen Ideologien, die Teil seines kulturellen Kontextes sind"(BC 2003. S.58-59). Schon hier hört man heraus, dass Kritik in BC's Argumentationsweise noch eine wichtige Rolle spielen wird. Um das Zusammenspiel zwischen Kritik und Kapitalismus zu veranschaulichen, vergleichen BC es mit dem Akkulturationsprozess, wie ihn Dumont (1991) beschrieb. Abbildung 1.1. dient dazu diese Veranschaulichung noch einmal vereinfacht betrachten zu können.
Abbildung 1.1. Vergleich mit Dumonts Konzept der Akkulturationsprozesses
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
(vgl. ebd. S.59, erstellt d. Verf.).
In Abbildung 1.1. kann man gut sehen wie das Individuum von zwei Seiten beeinflusst wird. Einerseits kritisiert die holistische Kultur die, vom Individuum angenommenen Ansichten, andererseits verspürt das Individuum auf Seiten des Individualismus Interesse und somit eine Art Anziehung. Um sich nun mit gutem Gewissen der Anziehung hingeben zu können muss sich das Individuum vor sich selbst und seinen holistischen Kritikern rechtfertigen und somit Widerstand leisten. Indem es das tut findet Kommunikation zwischen Holismus und Individualismus statt, sodass der Individualismus auf Kritikpunkte des Holismus eingehen kann bzw. muss um der Kritik Stand halten zu können. Häufig findet man dieses Eingehen, des Individualismus auf den Holismus in Form von Kompromissen vor. Nun ist es einfach das Konzept ebenfalls für den Kapitalismus zu übernehmen, indem man z.B. lediglich Individualismus durch Kapitalismus, Individuum durch Kapitalist und Holismus durch Kritiker des Kapitalismus ersetzt. Dieser Austausch ermöglicht eine Sichtweise auf die Dynamik des
Kapitalismus, denn auch er reagiert über einzelne Individuen (Kapitalisten), mittels Rechtfertigungen auf die Kritiken seiner Gegner. Sind die zur Verfügung stehenden Rechtfertigungen nicht mehr ausreichend um Teilnahmemotivation hervor zu rufen, hinterfragen die Kapitalisten die Wirtschaftsordnung, woraufhin der Kapitalismus nur noch mittels Kompromisse aufrechterhalten werden kann. Um zu beschreiben auf welche gesellschaftlichen Strukturen der Kapitalismus zurückgreift, gebrauchen BC den Begriff der Polis. Diese werden in folgendem Zitat kurz beschrieben:
„Insofern die Gesellschaftsstrukturen einem Rechtfertigungsimperativ unterliegen, neigen sie dazu, sich auf einen Typus ganz allgemeiner Konventionen zu beziehen, die allgemeinwohlorientiert sind, eine universelle Gültigkeit besitzen und sich unter dem Begriff Polis zu einem Modell ausarbeiten lassen" (Boltanski und Chiapello 2006, S. 61)
BC unterscheiden hier sechs Typen von Polis: Die erleuchtete Polis, die familienweltliche Polis, die Reputationspolis, die bürgerweltliche Polis, die marktwirtschaftliche Polis sowie die industrielle Polis. Jeder dieser Polis unterliegt eine gewisse Wertigkeitsordnung. So sind in der erleuchteten Polis die Heiligen, bzw. die Künstler und in der familienweltlichen Polis die ältesten oder die Väter an höchster Stelle was Ansehen und auch Wertigkeit betrifft. Diese Stelle wird in der Reputationspolis denjenigen zu Teil, die von Dritten als am höchsten erachtet werden. In der bürgerweltlichen Polis sieht man die Person als am höchsten an, die am effizientesten Allgemeinwillen öffentlich macht. Währenddessen schätzt man in der marktwirtschaftlichen Polis die Person am meisten, die die begehrtesten Güter anbietet. Wer allerdings in Bereichen wie Industrie und Unternehmen die höchste Effizienz aufweisen kann, wird in der industriellen Polis als groß angesehen. Jeder kapitalistische Geist, der seit Entstehung des Kapitalismus wahrgenommen werden könnte, bezog Rechtfertigungsformen aus Kombinationen mancher dieser genannten Polis, um so dem Streben nach Allgemeinwohlorientierung gerecht zu werden (vgl.: ebd. S.63-64). Obwohl das Konzept der Polis für den weiteren Argumentationsverlauf kaum von Relevanz sein wird, war es meiner Ansicht nach nötig dieses Thema der Vollständigkeit halber zu umreißen, um den Ansichten von Boltanski und Chiapello angemessen folgen zu können. Es ist allerdings wichtig, sich darüber im Klaren zu sein, dass der kapitalistische Geist, laut BC, Bezug auf allgemeingültige Konventionen (also Polis) nimmt, um Forderungen nach Selbstrechtfertigung gerecht zu werden, sodass er vor antikapitalistischer Kritik Bestand hat (vgl.: ebd. S.65).
1.4. Beschränkungen des Akkumulationsprozesses durch den kapitalistischen Geist
Im Laufe der vorhergehenden Abschnitte wurde immer stärker deutlich, welche Rolle Rechtfertigungen (vor allem Selbstrechtfertigungen) für den kapitalistischen Geist spielen. Nun ist es nicht mehr schwer sich vorzustellen, was passiert, wenn sich gewisse Akkumulationsmethoden nicht ausreichend rechtfertigen lassen. Um also dem Streben nach Gerechtigkeit und Selbstrechtfertigung weiter Folge leisten zu können ist der Akkumulationsprozess in jeder Dimension beschränkt, die sich nicht als allgemeinwohlorientiert oder gerecht rechtfertigen lässt. Akkumulation durch intensive Einsparungen bezüglich der Arbeitnehmerlöhne wird beispielsweise beschränkt sobald die Lohnpolitik nicht mehr als gerecht angesehen wird. Auf diese Weise dienen die Prinzipien, die den Kapitalismus legitimieren, gleichzeitig als Beschränkungen der Akkumulationsmechanismen. Um den Untersuchungsprozess zu beschreiben, der aufzeigt inwiefern Akkumulationsmechanismen als legitim bzw. regelkonform gelten, verwenden BC den Begriff der Bewährungsproben. Ohne diesen Begriff genauer zu definieren, gebrauchen die Autoren ihn wie Prüfungen oder Indikatoren, die regelmäßig die Seriosität des Kapitalismus in Frage stellen (vgl.: ebd. S.65). Scheitert der Kapitalismus an den Bewährungsproben wirkt sich das negativ auf die Glaubwürdigkeit des kapitalistischen Geistes aus(vgl.: ebd. S.66). An dieser Stelle wird noch einmal die dialektische Argumentationsweise von BC deutlich, die die Auswirkungen der Kritik auf den Kapitalismus veranschaulichen möchten. Besser wird diese in den von BC gewählten Beispielen für die Beschränkung der Akkumulationsprozesse durch Allgemeinwohlorientierung klar: „In der Marktpolis ist der Profit z.B. nur dann legitim und die Rangordnung aus einer Konfrontation zwischen verschiedenen, gleichermaßen nach Profit strebenden Personen nur dann gerecht, wenn die marktwirtschaftliche Bewährungsprobe den strengen Vorgaben der Chancengleichheit entspricht"(ebd. S.66). Der innerhalb der Marktpolis erwirtschaftete Profit muss sich demnach in Vertretung für den Kapitalismus gegenüber den Vorgaben der Chancengleichheit, welche u.a. von Kritikern gefordert werden, behaupten.
1.5. Die Wirkung der Kritik
Wie also schon häufig betont wurde, basieren einige der Theorien von Boltanski und Chiapello auf der Annahme, dass hauptsächlich die Kritik auf den Kapitalismus einwirkt und ihn so in seiner Struktur verändern kann. In welcher Form diese Kritik sich allerdings genau auf den Geist des Kapitalismus auswirkt, schildern BC in dem separaten Kapitel „Die Wirkung der Kritik auf den Geist des Kapitalismus"(ebd. S.69-72). Sie erläutern zu Beginn des Kapitels drei mögliche Wirkungsweisen der Kritik auf den Kapitalismus. Als erstes behaupten sie, dass Kritik „die vorherigen Formen des Kapitalistischen Geistes delegitimieren und sie ihrer Wirksamkeit berauben" kann (ebd. S.69). Um diese Wirkung zu veranschaulichen beziehen sie sich auf Beobachtungen Daniel Bells (1991). Dieser bemerkte in den 60ger Jahren Konflikte innerhalb der damaligen Kapitalismusform. Bell sah Spannungen zwischen der asketischen Arbeitshaltung und der „durch Kredit und Massenproduktion stimulierten Konsumbefriedigung (...), zu der die Arbeitnehmer der kapitalistischen Unternehmen in ihrem Privatleben angehalten wurden" (ebd. S.69). BC sehen einen enormen Verlust der Motivation der Arbeitnehmer an der Beteiligung am kapitalistischen Geist als Folge dieser Spannungen. Somit wird der kapitalistische Geist also seiner Wirksamkeit beraubt. Als zweites wirkt sich die Kritik auf die Allgemeinwohlorientierung kapitalistischer Argumente aus. Gibt es also ein Defizit in den Gerechtigkeitsbedingungen des Kapitalismus wird dieses von Kritikern bemerkt und gegen den Kapitalismus angebracht. Umso größer dieses Defizit und damit auch die Forderung sowie die Zahl der Beteiligten ist, desto stärker muss auch die Rechtfertigung der Vertreter des Kapitalismus sein. Eine starke Rechtfertigung kann allerdings wiederum nur auf starken gegebenen Strukturen basieren. Sind diese noch nicht vorhanden, müssen sie neu geschaffen werden, was eine verbesserte Gerechtigkeitsstruktur zur Folge hat. Als dritte und letzte Wirkung der Kritik auf den Geist des Kapitalismus sprechen BC eher pessimistisch von Verwirrung und steigender Undurchschaubarkeit des Kapitalismus (ebd.: S.70). Laut BC ist es nämlich möglich, dass der Kapitalismus Transparenz abbaut um bei Kritik die geforderte Verfestigung der Gerechtigkeitsstrukturen umgehen zu können. So könnten Kritiker also nur schwer über die nicht verbesserte Gerechtigkeitsstruktur klagen, da nicht klar wäre ob sich diese verbessert oder verschlechtert hat. In diesem Fall wäre die Kritik vorerst gelähmt, weil sich der Kapitalismus ihrer Wahrnehmung entzog.
1.6. Das Veränderungsmodell des kapitalistischen Geistes nach Boltanski und Chiapello
Abschließend und somit die eigentliche Thematik dieser Arbeit einleitend, möchte ich das Veränderungsmodell des kapitalistischen Geistes vorstellen, wie Boltanski und Chiapello es beschrieben haben. Laut ihrem Modell basieren Veränderungen des Geistes des Kapitalismus auf einer dreistufigen Wechselbeziehung. Die erste der drei Stufen, oder auch Ebenen, nimmt die Kritik ein, welche sich an Hand von Schärfe und Kritikpunkten genauer unterscheidet. Hier fügen BC eingeklammert die Bemerkung hinzu, dass der Gegenstand der Kritik recht vielfältig ist(vgl.: ebd.: S.70). Auf die Problematik dieser Anmerkung werden wir später noch zurückkommen. Die zweite und dritte Stufe entsprechen dem Kapitalismus, allerdings unterschiedliche Teilbereiche. Während bei der zweiten Stufe die Akkumulationsmechanismen sowie Areitsorganisationsstrukturen des Kapitalismus gemeint sind, spricht man bei der dritten Ebene eher von den Gerechtigkeitsmodalitäten, die der Kapitalismus in Anbetracht der Mittel zur Profitmaximierung aufweist (vgl.: ebd.: S.70-71). Jede Eigenschaft der drei Stufen kann sich gegebenenfalls ändern. Während also z.B die Kritik ihre Argumentationsrichtung wechselt oder schärfer bzw. schwächer werden kann, kann der Kapitalismus Akkumulationsmechanismen ändern oder beibehalten, sowie Gerechtigkeitsstrukturen ausbauen oder lockern(vgl. ebd.: S.71). Solche Eigenschaftsänderungen finden laut BC meist als Reaktionen vorheriger Eigenschaftsänderungen. Ein von BC genanntes Beispiel wäre eine Lockerung kapitalistischer Gerechtigkeitsstrukturen aufgrund einer vorhergehenden Schwächung der Kritik. Dieses Beispiel stellt ein weiteres Mal die Interaktion zwischen Kritik und Kapitalismus heraus, die sich wie ein Roter Faden durch das Buch Boltanskis und Chiapellos zieht. Abbildung 1.6. stellt etwas übersichtlicher die Wechselbeziehungen zwischen den drei Stufen sowie die Auswirkungen der Interaktionen auf den Geist des Kapitalismus dar. Wurde der Kapitalismus in einem Punkt kritisiert für den er sich kaum rechtfertigen kann, beeinflusst das die Akkumulationsmechanismen insofern sich diese ändern müssen um den Geist des Kapitalismus aufrechterhalten zu können. Jede Änderung der Akkumulationsmechanismen ändert nämlich gleichzeitig die Einstellung der Individuen zum Kapitalismus, häufig aber auch die Einstellung ihrer eigenen Arbeit gegenüber. Schließlich ist das Ziel dieser Änderung die Wiedergewinnung von Leistungsbereitschaft der Arbeitnehmer, welche auf Grund von Kritik abnahm. Ist die Reaktion des Kapitalismus erfolgreich so ist die Kritik zeitweise gelähmt da ihr kritisches Argument durch Änderung beseitigt wurde.
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