Die Charakterdarstellung in "The Woman in White" von Wilkie Collins. Ist die Ausführung der Figuren für das Handlungsgeschehen ausschlaggebend?


Seminararbeit, 1994

18 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Der Stellung der Charaktere in der Handlung

3. Die ,Schurken'

4. Die Helden

5. Die Nebenfiguren

6. Abschließende Betrachtung

Bibliographie

1. Einleitung

The Woman in White erschien als Serie zwischen November 1859 und August 1860. Die Wirkung auf die Öffentlichkeit war überwältigend, der Roman wurde zu einer der erfolgreichsten Serien überhaupt. Der Gesamtroman, veröffentlicht Mitte August 1860, erreichte den gleichen Beliebtheitsgrad. Allein in den er­sten zwei Monaten wurden fünf Auflagen gedruckt, bis zum Februar 1861 wa­ren es bereits sieben.

The Woman in White war ebenso ein Durchbruch im Schaffen Collins'. Zum ersten Mal gelang es ihm, den Bedürfnissen seiner Leserschaft entgegenzukom­men und gleichzeitig einen gewissen künstlerischen Standard aufrecht zu erhal­ten. Während Collins' frühere Romane keine besonders komplexe und einfalls­reiche Handlung aufweisen und nach dem Höhepunkt zu einem Spannungs-Kollaps tendieren, ist The Woman in White atmosphärisch wesentlich dichter und wartet nicht mit nur einem, sondern zahlreichen Geheimnissen auf, die den Leser kaum zu Atem kommen lassen.

Es muß jedoch beachtet werden, daß die viktorianischen Sensationsromane nicht zuletzt auch kommerziellen Gesichtspunkten standhalten mußten. Des­halb muß der Maßstab für dieses Werk vorsichtig gewählt werden, da Collins gezwungen war, einen Kompromiß zu finden, was eine kompromißlose Beurtei­lung ausschließt.

Zunächst werde ich feststellen, welchen Stellenwert Colloins' Charaktere über­haupt einnehmen und wie sehr die Ausführung der Figuren für das Hand­lungsgeschehen ausschlaggebend ist. Danach werde ich die Darstellung der Charaktere nachzeichnen und ihre Beziehungen untereinander in meine Be­trachtung einfließen lassen. Am Ende steht der Versuch, zu beurteilen, inwie­fern Collins der Kompromiß zwischen möglichst tiefgehender Charakterdarstel­lung auf der einen und einer spannenden, farbigen Handlungsführung auf der anderen Seite gelungen ist.

2. Der Stellung der Charaktere in der Handlung

Zunächst einmal ist festzustellen, daß bei Collins die Charaktere gegenüber der Handlung eine eher untergeordnete Rolle spielen. Die Handlung ist, wie Sehl­bach feststellt, nicht von den Charakteren abhängig, sondern umgekehrt:

Nicht die Charakterdarstellung ist maßgebend für die Handlung, sondern die Handlung liegt in ihrer Lösung fest, und die Charaktere sind so ge­staltet, wie es die Lösung verlangt. (Sehlbach S. 130)

Daraus ergibt sich nach Sehlbach die "Superiorität der Handlung" (131), die die Charaktere fest in ihre Rollen einsetzt, für die sie genauestens konstruiert sind.

Die einzelnen Figuren sind stark kontrastierend angeordnet: Es gibt zwei Par­teien, die gegeneinander kämpfen. Natürlich können die Kräfte, die in diesem Konflikt aufeinandertreffen, nicht nur dem Guten entspringen. Denn genau dieser Konflikt ist, wie Marshall bemerkt, der Antrieb, auf dem die dramatische Entwicklung der Handlung beruht. (Marshall 57)

Auf der Seite des Guten steht zunächst Laura Fairlie, die durch ihr Verspre­chen an ihren toten Vater zur Heirat mit Sir Percival Glyde gezwungen und Opfer einer Verschwörung wird. Allerdings bleibt sie weitgehend passiv, sie erduldet lediglich das ihr zuteil gewordene Schicksal. Ihr zur Seite stehen ihre Halbschwester Marian Halcombe sowie Walter Hartright, der, ursprünglich als Zeichenlehrer für die beiden Frauen angestellt, durch seine Liebe zu Laura in die Geschehnisse verwickelt wird. Ihnen gegenüber stehen die Bösewichter Sir Percival Glyde, der Italiener Count Fosco sowie dessen Frau udn deren Hand­langer Mr. und Mrs. Rubelle.

3. Die ,Schurken'

Unter den Schurken in Collins' Romanen nimmt Count Fosco zweifellos eine Sonderstellung ein. Nach Ashleys Meinung ist er der Beste in einer Serie von ungewöhnlichen Meisterverbrechern, die krönenende Abschluß von Collins' Versuch, seine Schurken zu vermenschlichen (Ashley 62).

Fosco verfügt über zahlreiche hervorstechende Eigenschaften: Seine auffällige Art, sich zu kleiden, seine Art, sich trotz seiner Korpulenz geschmeidig und fast lautlos zu bewegen, seine undurchdringlichen, geheimnisvollen Augen, sein Umgang mit Menschen, seine übertrieben wirkende Tierliebe, seine innere Ru­he und eine Ausgeglichenheit, die ihn wie den sprichwörtlichen Fels in der Brandung erscheinen läßt.

Diese, nach Sehlbach "katalogisierende" Beschreibung, ist bei Collins häufig zu finden. Hier werden lediglich körperliche Merkmale aufgezählt, die, insbeson­dere was Gesichtszüge anbetrifft, auf die Charaktereigenschaften der betreffen­den Person schließen lassen. Die äußerliche Beschreibung verläuft so detailliert, daß die Figur wie ein Bild vor dem geistigen Auge des Lesers steht. Nicht zu­letzt nennt Sehlbach die von Marian durchgeführte Beschreibung Foscos[1] "eine der eingehendsten und besten katalogisierenden Beschreibungen [...]" (Sehlbach S. 147).

Die zahlreichen Charakteristika Foscos erweisen sich als extrem widersprüch­lich. Der Leser mag es dem sanften, zuvorkommenden Grafen gar nicht zutrau­en, skrupellose Intrigen zu spinnen und kaltblütige Verbrechen zu begehen. Allein bei dem Bild des dicken Fosco, der seine weißen Mäuse über seinen mas­sigen Körper laufen läßt und dabei in seiner merkwürdig hohen Stimme Kose­wörter für seine kleinen Schützlinge erfindet, erweckt beim Leser eine gewisse Sympathie. Hinzu kommt Foscos eigentliche Meinung über die Gesellschaft und moralischen Konventionen sowie der daraus resultierenden Einstellung zum Verbechen:

[...] there are foolish criminals who are discovered, and wise criminals who escape. The hiding of a crime, or the detection of a crime, what is it? A trial of skill between the police on one side, and the individual on the other. When the criminal is a brutal, ignorant fool, the police, in nine cases out of ten, win. When the criminal is a resolute, educated, highly-intelligent man, the police, in nine cases out of ten, lose. If the police win, you generally hear all about it. If the police lose, you generally hear nothing. And on this tottering foundation you build up your comfort­able moral maxim that crime causes its own detection! (210 f.)

Foscos stellt seine Ansichten im Grunde genommen gar nicht bewußt in Op­position zu den Gesetzen und moralischen Vorstellungen der Gesellschaft. Für ihn gibt es kein Gut und Böse, sondern überhaupt keine absolute moralische Dimension. Er relativiert die kulturell verschiedenen Moralauffassungen, indem er herausstellt, daß diese für einen "John Englishman" grundlegend anders seien als für einen "John Chinaman".[2] So gesehen existiert kein moralischer Maßstab, den man an jede Tat, an jeden Gedanken anlegen könnte, sondern Tugend ist lediglich eine willkürliche Institution, die beliebig verändert werden kann.

So erhält für Fosco Verbrechen keine moralischen Ausmaße, sondern ist nur ein Wettkampf zwischen zwei Parteien, den die Klügere von beiden gewinnt. Das, was von anderen als ,das Böse' verurteilt wird, ist für Fosco lediglich eine Art vergnügliches Schachspiel.

Nach dieser Maxime geht Fosco auch mit anderen Menschen um. Er scheint sich auf alle Personen, seien sie charakterlich noch so verschieden, gleich gut einstellen zu können. Auf den aufbrausenden Percival wirkt Fosco mit seiner Souveränität stets beruhigend ein, er trifft Marians schwache Stelle haarscharf, indem er sie wie einen gleichgestellten Mann behandelt. Selbst Madame Fosco, die in Marians Erinnerung[3] stets eine geschwätzige, aufsässige, kurzum uner­trägliche Person war, wurde durch die Ehe mit Fosco zu einer stillen, zurück­haltenden Frau "[...] with a look of mute submissive inquiry which we are all familiar with in the eyes of a faithful dog." (195)

Madame Fosco folgt ihrem Mann in jeder Hinsicht blind und unterstützt ihn nach Kräften, ohne ein einziges Mal auch nur einen Anflug eigenen Willens oder einer kritischen Reflexion ihrer Taten zu zeigen. Auch Percival wird von Fosco nur als Mittel zum Zweck benutzt, da letzterer auch ein finanzielles Inter­esse am gelingen der Verschwörung hat: Seine Frau, mit Mädchennamen Ele­anor Fairlie, hätte als Lauras Tante Anspruch auf einen beträchtlichen Teil von Lauras Erbe, doch der Plan kann nur durch die Überantwortung dieses Vermögens an Percival gelingen.

Fosco wirkt in der Handhabung anderer Figuren wie ein Puppenspieler, der seinen Puppen die Illusion einhaucht, unabhängig zu handeln, obwohl sie nur ihren Willen mit dem Foscos gleichsetzen und sich so unbewußt zu Handlan­gern machen.

Dies stellt den entscheidenden Unterschied zu Sir Percival Glyde dar, der an der Seite Foscos steht. Er kann in wenigen Worten beschrieben werden: Er ist un­beherrscht, neigt zu Wutausbrüchen, ist egoistisch, skrupellos, gefühlskalt, heuchlerisch und lediglich an Geld interessiert. Kurzum: Er ist der typische, stereotype Bösewicht, ein vollkommen ,flacher' Charakter, an dem - ganz im Unterschied zu Fosco - nicht ein einziges gutes Haar zu finden ist. Er verkörpert zudem die physische Seite des Bösen: Während Fosco sich auf seine geistigen Kräfte verläßt, benutzt Percival rohe Gewalt. Selbst Walter Hartright versucht er nicht durch einen geschickten Schachzug aus dem Rennen zu werfen, son­dern heuert Wegelagerer an, die Walter überfallen. So ist es auch nicht ver­wunderlich, daß die physichen Kräfte, durch die Percival seinen fehlenden Ver­stand ersetzen will, schließlich zu seinem brutalen Tod führen.

4. Die Helden

Auf der Seite des Guten ist als wohl wichtigste Person Walter Hartright zu nen­nen. Trotz des starken Engagements von Marian ist er es, der die Verschwö­rung entdeckt und letztendlich für die Bestrafung der Verbrecher sorgt. Dabei überrascht zunächst, daß Walter nicht so recht in das heutige Schema des klas­sischen ,Helden' hineinpaßt: Er stammt aus einfachen Verhältnissen und ist ein Künstler, dessen Begabung zwar zum Verdienst des täglichen Brotes aus­reicht, indem er sich als Zeichenlehrer verdingt, jedoch nicht für Größeres ge­schaffen ist. Auch ist er alles andere als ein abenteuerlustiger Typ, er zögert so­gar, als er das vielversprechende und äußerst lukrative Stellenangebot aus dem Hause Fairlie bekommt. Sein Temperament ist ebenfalls nicht gerade als explo­siv zu bezeichnen. Stets behält er seine Gefühle unter Kontrolle und ist stets darauf bedacht, nicht durch unangemessenes Benehmen aufzufallen. Ein Frau­enheld ist er obendrein nicht. Weder seine körperlichen Attribute noch sein Charme erscheinen geeignet, Frauenherzen im Sturm zu erobern. Dies bemerkt selbst der Rechtsanwalt der Fairlies, Mr. Gilmore:

There are three things that none of the young men of the present genera­tion can do. They can't sit over their wine; they can't play at whist; and they can't pay a lady a compliment. Mr. Hartright was no exception to the general rule. (113)

Die Tatsache, daß Walter nach Lauras Heirat mit Percival vor seinen Proble­men die Flucht ergreift, paßt in dieses Bild. Nachdem er Laura scheinbar für immer verloren hat, geht er in den zentralamerikanischen Dschungel, wo er Vergessen in neuen Gefahren sucht. Nach seiner Rückkehr jedoch erscheint seine Entschlossenheit beinahe übertrieben und in ihrer zum Teil arg patheti­schen Ausdrucksweise beinahe karikierend.

[...]


[1] vgl. S. 195 ff

[2] vgl. S. 211

[3] vgl. S. 194 f.

Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
Die Charakterdarstellung in "The Woman in White" von Wilkie Collins. Ist die Ausführung der Figuren für das Handlungsgeschehen ausschlaggebend?
Hochschule
Ruhr-Universität Bochum  (Englisches Seminar)
Veranstaltung
Proseminar: Stories of secrecy and sin: the Victorian sensation novel
Note
1,0
Autor
Jahr
1994
Seiten
18
Katalognummer
V317915
ISBN (eBook)
9783668171824
ISBN (Buch)
9783668171831
Dateigröße
471 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
charakterdarstellung, woman, white, wilkie, collins, ausführung, figuren, handlungsgeschehen
Arbeit zitieren
Markus Becker (Autor:in), 1994, Die Charakterdarstellung in "The Woman in White" von Wilkie Collins. Ist die Ausführung der Figuren für das Handlungsgeschehen ausschlaggebend?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/317915

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