Die Kunst des Eigensinns. Eine Verortung des Cultural Studies-Ansatzes im Musikunterricht der gymnasialen Oberstufe


Masterarbeit, 2015

107 Seiten, Note: 1,1


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Was sind Cultural Studies?
2.1 Eine erste Annäherung
2.1.1 Ausgewählte Definitionsversuche
2.1.2 Fünf wesentliche Charaktermerkmale
2.1.3 Der Kulturbegriff der Cultural Studies
2.2 „Ringen mit den Engeln“ - das theoretische Grundgerüst der Cultural Studies
2.2.1 Die drei Entwicklungsphasen nach Rainer Winter
2.2.2 Zwischen Kulturalismus und Strukturalismus
2.2.3 Kodieren und Dekodieren nach Stuart Hall - ein grundlegendes Modell
2.3 „Die Werkzeugkiste der Cultural Studies“ - praktische Forschungsansätze
2.3.1 Forschungsfelder und „Untersuchungsgegenstände“
2.3.2 Methodenvielfalt
2.3.3 Zwei Beispiele aus der Forschungspraxis
2.3.3.1 Beispiel 1: Subkulturstudien nach Dick Hebdige
2.3.3.2 Beispiel 2: Populärkulturstudien nach John Fiske
2.4 Zwischenfazit I

3. Cultural Studies goes to school I - eine Verortung des Cultural Studies-Ansatzes im theoretischen Kontext der allgemeinen Pädagogik
3.1 Ursprünge der Cultural Studies in der Erwachsenenbildung
3.2 Allgemeines zur Wechselbeziehung zwischen Cultural Studies und Pädagogik
3.3 Cultural Studies und die Kritische Pädagogik
3.3.1 Der Ansatz von Henry Giroux
3.3.2 Der Ansatz von David Buckingham
3.4 Zwischenfazit II

4. Cultural Studies goes to school II - eine qualitativ-empirische Verortung des Cultural Studies-Ansatzes im Musikunterricht der Oberstufe
4.1 Forschungsanliegen und Untersuchungsgegenstand im Allgemeinen
4.2 Gruppendiskussionen
4.2.1 Spezifische Forschungsfragen
4.2.2 Methodisches Vorgehen
4.2.2.1 Qualitative Interviewforschung in Form von Gruppendiskussionen
4.2.2.2 Darstellung des spezifischen Untersuchungsgegenstandes
4.2.2.3 Sampling, Feldzugang und Durchführung
4.2.3 Auswertung der Gruppendiskussionen
4.2.3.1 Transkription
4.2.3.2 Analysemethoden
4.2.4 Ergebnisse
4.2.4.1 Ergebnisse der Gruppendiskussion in Kurs A
4.2.4.2 Ergebnisse der Gruppendiskussion in Kurs B
4.2.4.3 Zusammenfassender Vergleich
4.3 Einzelinterviews
4.3.1 Spezifische Forschungsfragen
4.3.2 Methodisches Vorgehen
4.3.2.1 Qualitative Forschung in Form von offenen Leitfadeninterviews
4.3.2.2 Darstellung des spezifischen Untersuchungsgegenstands
4.3.2.3 Sampling, Feldzugang und Durchführung
4.3.3 Auswertung der Interviews
4.3.3.1 Transkription
4.3.3.2 Analysemethode
4.3.4 Ergebnisse
4.3.4.1 Zusammenfassung des Interviews mit Schüler A
4.3.4.2 Zusammenfassung des Interviews mit Schülerin B
4.3.4.3 Zusammenfassung des Interviews mit Schüler C
4.3.4.3 Zusammenfassung des Interviews mit Schülerin D
4.3.4.4 Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Einzelinterviews
4.4 Synthese der Ergebnisse aus den Gruppendiskussionen und Einzelinterviews - ein kritisches Resümee
4.5 Kritische Reflexion des Forschungsprozesses

5. Diskussion
5.1 Vorschläge für eine weiterreichende Transformation des Cultural Studies-Ansatzes in den Musikunterricht der Oberstufe
5.2 Abschließendes Fazit

6. Literaturverzeichnis

7. Anhang
Anhang 1: Ausführlicher Leitfaden für die Gruppendiskussionen
Anhang 2: Kurzfragebogen zur Gruppendiskussion
Anhang 3: Tabelle mit Ergebnisse des Kurzfragebogens zur Gruppendiskussion A
Anhang 4: Tabelle mit Ergebnisse des Kurzfragebogens zur Gruppendiskussion B
Anhang 5: Ausführlicher Leitfaden für die Einzelinterviews
Anhang 6: Abbildung „Macht-Musik-Identität“

1. Einleitung

Was bewegt eine Schülerband dazu, sich nächtelang in einem modrigen und dunklen Kellerraum zu verbarrikadieren und unter ohrenbetäubender Lautstärke die immer selben Songs zu repetieren? Was möchten eine Sängerin wie Conchita Wurst, die Punkband The Clash oder der Rapper Haftbefehl eigentlich zum Ausdruck bringen? Warum verkleiden sich 15-jährige Jugendliche in ihrer Freizeit als Figuren aus Manga-Comics und erlernen das Spielen der Kugelflöte Okarina? Oder warum kommen Menschen dazu, sich als Hippies, Sludger, Slacker, Neogothiker, Cybers, Flattheads, Trancer, Gothic Lolitas, Goa-heads, Noiser, Emos, Shoegazer oder Jumpstyler zu bezeichnen? Kurzum: Welcher Sinn kann Populärkulturen und Subkulturen1 zugeschrieben werden?

Mögliche Antworten auf diese Fragen können die Cultural Studies liefern: Diesem Ansatz folgend lassen sich populärkulturelle und subkulturelle Phänomene, die weniger als bedeutungsschwangere Objekte, denn vielmehr als soziale Prozesse verstanden werden, auch als „Kunst des Eigensinns“2 deuten.

Kultur ist demnach ein Medium für spontane Kreativitätsäußerungen im Alltagsleben, über die Kritik an dominanten gesellschaftlichen Zuständen geübt werden kann.3 Das Projekt der Cultural Studies beschäftigt sich, einer ersten groben Orientierung nach, „mit Subkulturen, Gegenkulturen, Minderheiten, alternativen Str ömungen, mit deren Widerstandsformen, Widerspenstigkeiten, symbolischen Einwänden sowie kleinen, oft unbemerkt bleib-enden Veränderungen in alltäglichen Praktiken.“ 4

Populärkultur wird hierbei weder unkritisch gefeiert, noch kulturkritisch verdammt, was sich an der Einschränkung des ihr zugesprochenen Eigensinns festhalten lässt. Denn dem Hegelschen Verständnis folgend, ist der Eigensinn „eine Freiheit, welche noch innerhalb der Knechtschaft stehenbleibt. Sowenig ihm die reine Form zum Wesen werden kann, so-wenig ist sie, als Ausbreitung über das Einzelne betrachtet, allgemeines Bilden, absoluter Begriff, sondern eine Geschicklichkeit, welche nur über einiges, nicht über die allgemeine Macht und das ganze gegenständliche Wesen mächtig ist.“ 5

Das Grundanliegen dieser Arbeit besteht darin, der nach Eigensinn suchenden Perspek-tive der Cultural Studies, die ihrer inneren Konstitution nach selbst ein höchst eigensinn-igen Ansatz darstellt, nachzuspüren. Den äußeren Rahmen für diese „Suchaktion“ bildet der kulturvermittelnde Musikunterricht auf erhöhtem Anforderungsniveau. Es soll aus-gehend von den Sichtweisen und Meinungen der Schülerinnen und Schüler über den Weg der qualitativen Forschung ermittelt werden, ob sich der Ansatz der Cultural Studies, der bis dato noch keine explizite didaktische und methodische Transformation in den Musikunterricht erfahren hat, sinnvoll in denselbigen integrieren lässt. Erforscht werden demnach Meinungsbilder, Einstellungen und Zugänge von Jugendlichen im Altern von 15 bis 18 Jahren zu Inhalten und Fragestellungen der Cultural Studies.

Diesem Forschungsvorhaben, welches einen transdisziplinären Ansatz verfolgt und eine eigensinnige Schnittmenge von kulturwissenschaftlicher und musikpädagogischer For-schung bildet6, liegt eine dreischrittige Vorgehensweise zu Grunde: Anfänglich wird die Perspektive der Cultural Studies in komprimierter und didaktisch-reduzierter Form darge-stellt und anschließend im Kontext der Pädagogik verortet. Den Hauptteil der Arbeit bildet die daran anschließende qualitativ-empirische Lokalisation dieses Ansatzes im Musikunterricht der Oberstufe mit Hilfe der Kombination der Erhebungsmethoden Gruppendiskussion und Einzelinterview.

Diese Arbeit wird von der persönlichen Überzeugung getragen, dass die Cultural Studies eine wertvolle und nützliche „toolbox“ für einen kritischen Musikunterricht sein kann, die weiter reicht, als die aus dem bisherigen eigenen Erfahrungen wahrgenommene Fokus-sierung des Bedeutungs- und Informationsgehalts von musikalischen Objekten im Musik-unterricht. Einer konkreten Umsetzung der Transformation des Cultural Studies-Ansatzes in den Musikunterricht zuarbeitend, erforscht diese Masterarbeit das Meinungsbild der Schülerinnen und Schüler zu diesem Ansatz, der besonders die kritische Handlungsfähigkeit (agency) der Jugendlichen stärken könnte. Denn das Projekt der Cultural Studies stellt sich gegen die Überzeugung, „daß Eigensinn und Widersprechungsgeist niedrige Eigenschaften sind und sich meistens nur bei kleinen Seelen zeigen.“ 7

2. Was sind Cultural Studies?

Das vorliegende zweite Kapitel stellte eine komprimierte Einführung in die Cultural Studies dar. Über eine erste Annäherung werden Theorie und Praxis dieses Ansatzes näher dargestellt. In einem ersten Zwischenfazit werden abschließend auch Kritikpunkte an der Perspektive der Cultural Studies zusammengetragen.

2.1 Eine erste Annäherung

Der Versuch einer konkreten Greifbarmachung des Cultural Studies-Ansatzes ist kein unproblematisches Unterfangen und kann metaphorisch mit dem Fangen einer glitschigen Bachforelle per manum umschrieben werden. Dies hängt insbesondere damit zusammen, dass sich die Cultural Studies nicht der Despotie einer disziplinären Zuordnung unterwerfen und vielmehr als ein unkonventioneller, innovativer, kritischer und politischer Denk-ansatz verstanden werden möchten.8 Die Cultural Studies sind kein wissenschaftliches Fach im klassischen Sinne, sondern ein problemorientiertes, transdisziplinäres Projekt.9 Die folgende Annäherung versucht diesem eigensinnigem Selbstverständnis und der dem Ansatz inhärenten kontra-disziplinären Logik gerecht zu werden. Eine eindeutige Definition von Cultural Studies ist nicht zu erwarten, vielmehr gilt es sich dieser Perspektive auf deskriptive Weise zu nähern und einen verschärften Fokus auf den Schlüsselbegriff „Kultur“ zu richten.

2.1.1 Ausgewählte Definitionsversuche

Innerhalb der einführenden Literatur zu den Cultural Studies verweisen die Autorinnen und Autoren vielerorts auf die Unmöglichkeit einer eindeutigen Definition: So können beispiels-weise nach Heidrun Friese die Cultural Studies auf Grund ihrer relativen Autonomie nicht positiv definiert werden.10 In diese Kerbe schlagen auch Lawrence Grossberg, Gary Nelson und Paula Treichler, allesamt zeitgenössischer Protagonistinnen und Protagonisten innerhalb des Cultural Studies-Ansatzes: „[…] it is probably impossible to agree on any essential definition or unique narrative of cultural studies. […] it remains a diverse often contentious enterprise, encompassing different positions and trajectories in specific contexts, addressing many questions, drawing nourishment from multiple roots, and shaping itself within different institutions and locations.“[11] Für Grossberg sind die Cultural Studies zu einer „Art globalem Phantasma“[12] geworden, über das zu reflektieren fast schon hinlänglich erscheint: „Letztlich wird die Weigerung, den Begriff Cultural Studies zu definieren, zum Schlüssel für sein Verständnis.“[13]

Ein Grund für die Unmöglichkeit einer positiven Definition der Cultural Studies liegt laut Grossberg in ihrer Kontextualität (siehe auch Kapitel 2.1.2), denn „ Cultural Studies erzeugen sich immer neu, indem sie auf eine Welt reagieren, die immer neu erzeugt wird.“ 14

Andere Autoren hingegen wagen den konkreten Versuch einer Definition, behalten jedoch ebenfalls eine grundlegend relationale Perspektive bei: Oliver Marchart definiert die Cultural Studies als „jene intellektuelle Praxis, die untersucht, wie soziale und politische Identität qua Macht im Feld der Kultur (re-)produziert wird.“[15] In dieser Definition werden drei wesentliche Schlüsselbegriffe des Cultural Studies-Ansatzes zueinander in Beziehung
gesetzt, die in Form des „Magisches Dreieck Kultur-Macht-Identität“ (siehe Abb.1) Einzug in die Literatur erhalten haben.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1. Dreieck Kultur-Macht-Identität (nach Marchart 2008: S.24)

Gesellschaftliche Identitäten, die sich grundsätzlich arbiträr und hybrid verhalten, werden in asymmetrischen Dominanz- und Unterordnungsverhältnissen artikuliert (Stuart Hall trifft hierzu die Unterscheidung von power bloc und people[16] ). Kultur (siehe auch Kapitel 2.1.3) ist dabei der Bedeutungshorizont, vor dem die Identitäten artikuliert werden und trägt zur Produktion/Reproduktion sozialer Ungleichheiten bei. Kultur ist ganz eindeutig ein Medium der Macht und somit auch eine politische Kategorie. Im Sinne des Cultural Studies-Ansatzes muss bei jeder Analyse eines kulturellen Phänomens diese Trinität mitgedacht werden.17

Ebenfalls auf die politische Dimension der Cultural Studies Bezug nehmend, definiert Stephan Moebius diesen Denkansatz auch als ein politisches Theorieprojekt, welches die symbolischen Machtverhältnisse gleichsam analysiert und kritisiert.18 Neben dem Aspekt der Theoriebezogenheit benennt Andreas Hepp darüber hinaus noch die Ausrichtung auf das Alltägliche als ein weiteres essentielles Merkmal der Cultural Studies: „Die Cultural Studies sind ein theoretisch fundierter, interdisziplinärer Ansatz der Kulturanalyse, der insbesondere auf eine Beschäftigung mit Alltagspraktiken, alltäglichen kulturellen Konflikten und Fragen der soziokulturellen Macht zielt.“[19]

2.1.2 Fünf wesentliche Charaktermerkmale

In der einleitenden Auswahl an Definitionsversuchen, sind wesentliche Charaktermerkmale des Cultural Studies-Ansatzes oberflächlich gestreift worden, die im nächsten Schritt de-taillierter dargestellt werden:

Kontextualität

„Cultural studies believes in contingency.“ 20 - Diesem Grossbergschen „Glaubensbekenntnis“ folgend, lässt sich feststellen, dass die Cultural Studies einen radikalen Kontextualismus bzw. einem spezifischen Anti-Essentialismus verfolgen, was sie deutlich von anderen kritischen Theorien unterscheidet.21 In diesem Sinne kann kein kultureller Text22 außerhalb seines spezifischen, kontextualen Zusammenhangs gänzlich verstanden werden.23 Oder um John Fiske, einen Analytiker popkultureller Phänomene aus einem Interview von 1993 zu zitieren: „Man kann sich bestimmt nicht mehr auf einen Text als ein im überkommenden ästhetischen Sinne eigenständiges, in sich geschlossenes Kunstobjekt konzentrieren. Texte funktionieren immer in gesellschaftlichen Kontexten. Sie sind ein wichtiger Teil der sozialen Zirkulation von Kultur […]“[24]

Bei einer Kulturanalyse geht es demnach um die Bedeutung des Kontextes und nicht um den Bedeutungsgehalt des Untersuchungsgegenstandes. Die Cultural Studies verfallen dabei jedoch nicht einem radikalen Konstruktivismus, da sie von der Annahme ausgehen, dass die Kontexte vor der Analyse bereits teilweise vorstrukturiert sind, aber dennoch auch durch die jeweiligen Identitäten und Praktiken umgeformt werden.25

Transdisziplinarität

Die Cultural Studies sind grundsätzlich inter- und transdisziplinär ausgerichtet. Ihnen ist die „ Lust auf das kritische Denken zwischen den disziplinären Stühlen“[26] gleichsam ein-geschrieben und sie scheuen sich nicht davor, die für ihre jeweilige Fragestellung relevante Theorien oder Methoden aus den unterschiedlichsten wissenschaftlichen Schub-laden zu entwenden. Stuart Hall, einer der prononciertesten Vertreter der Cultural Studies, formuliert diesen eigensinnigen Ansatz unverblümt in einer retrospektiven Betrachtung: „Wir kümmerten uns nicht darum, was die Soziologen für Soziologie hielten und plünderten die Soziologie […] Wir kümmerten uns nicht um die Hüter der geisteswissen-schaftlichen Tradition und plünderten die Geisteswissenschaften.“ 27 Die Liste der theoretischen Bezugspunkte der Cultural Studies ist dementsprechend lang und umfasst unter-schiedlichste theoretische Positionen, Denkansätze und Disziplinen, wie beispielsweise den Post-Marxismus, die Phänomenologie, die Hermeneutik, den Pragmatismus, den Poststrukturalismus, die Literaturwissenschaft, die Gender-Theorie, Althussers Ideologie-kritik, Gramscis Hegemonieanalyse, Foucaults Diskurstheorie, den linguistischer Strukturalismus nach de Saussure, den struktureller Marxismus nach Althusser, die Lacan´sche Psychoanalyse oder das Konzept der Alltäglichkeit nach Lefebvre und de Certeau.

Alltäglichkeit

Mit dem Einbezug der Theorie des Alltäglichen streben die Cultural Studies eine aufwertende Fokussierung marginalisierter und unsichtbarer Milieus an, um „das anonyme Ge-murmel der Gesellschaft“[28] aufzudecken. Die vielfältigen Alltagspraktiken werden dabei als Aneignungspraktiken verstanden, die zwar primär an die Formen des Konsums angewiesen sind, sekundär aber widerständig und taktisch29 gegen disziplinierende Mechanismen einer Dominanzkultur anwirken können.

Dem Menschen wird entgegen der Auffassung der kritischen Theorie nach Theodor W. Adorno und Max Horkheimer und der von ihnen vertretenden Kulturindustrie-These, die dem Subjekt ein passives Verhaftet-Sein in einem kommerzialisierten Kulturbetrieb attes-tiert, eine Handlungsfähigkeit (agency) zugesprochen: „Cultural Studies lehnen die An-nahme an, die Leute seien kulturelle Esel, sie seien vollständig und passiv manipuliert durch entweder die Medien oder den Kapitalismus.“ 30 Diese widerständige Handlungsfähigkeit innerhalb des Alltäglichen äußert sich beispielsweise durch die heimliche Nutzung materieller Ressourcen eines Arbeitgebers für private Zwecke.

Die politische Dimension

Die Cultural Studies, „a way of politicizing theory and theorizing politics“[31] besitzen eine interventionalistische und emanzipatorische Programmatik, da es ihnen um die Bereitstellung von Wissen geht, welches ein besseres Verständnis von den vorherrschenden, gegenwärtigen Machtverhältnissen und Möglichkeiten der Veränderung derselben vermittelt.32 Dabei geht es laut Hepp nicht darum, dass hegemoniale, politisch-kulturelle System der Machtstabilisierung auf der Makro-Ebene in Frage zu stellen, sondern um die Schaffung von relevanten und funktionalen Bedeutungen im alltäglichen Kontext, quasi auf der Mikro-Ebene.33 Ihrer politischen Ausrichtung nach beabsichtigen die Cultural Studies „Veränderungen von innen, Evolution von innen […] langsame Verschiebungen und nicht Revolution.“ 34

Selbstreflexion

Nach John Frow und Meaghan Morris besitzt jede Analyse der Cultural Studies einen selbstpositionierenden Aspekt, der sich zwangsläufig aus dem radikalen Kontextualismus ableitet.35 Bei der empirischen Erforschung eines kulturellen Phänomens innerhalb seines Kontextes, muss zwangsläufig die eigenen Position, welche gleichsam wie der Untersuchungsgegenstand von diversen Machtdiskursen36 durchzogen ist, reflektiert und einbezogen werden.

2.1.3 Der Kulturbegriff der Cultural Studies

Ein Grundverständnis des Cultural Studies-Ansatzes, die Einsicht in einen festen Kern, der diesen von anderen Ansätzen abgrenzt, kann durch die genauere Betrachtung des Kultur-begriffs gewonnen werden:

Laut Hall wurde der Kulturbegriff durch die Cultural Studies „demokratisiert und sozialisiert. Kultur fungiert nicht mehr als Sammelbegriff für das Beste des je Gedachten und Gesagten, als Gipfel zivilisatorischer Errungenschaften,“ 37 sondern ist etwas Gewöhnliches und umfasst die Gesamtheit aller Lebensweisen. So gesehen findet ein Bruch mit dem Ideal einer „wertvollen Hochkultur“ statt; der Begriff „Kultur“ wird gleichsam auf den Boden des Alltäglichen und Profanen zurückgeholt. Alltagskulturen, Populärkulturen, Subkulturen und die darin gewonnen individuellen und kollektiven Erfahrungen werden in die wissenschaftliche Betrachtung integriert: „ We have to expand our definition of culture to cover all those expressive forms which give meaningful shape to group experience.“[38]

Es findet eine klare Abgrenzung zur elitären humanistische Kulturdefinition statt, nach der „Kultur“ eine Sammelsurium von ausgewählten Texten und Artefakten ist, das bestimmte Werte ausdrückt und dem ein kritisches Potenzial in Hinblick auf gesellschaftliche Entwicklungen zugesprochen wird. Hall kritisiert an dieser Auffassung den darin vertretenden Anspruch auf Universalität eines bestimmten Wertesystems (in diesem Fall des europäischen Humanismus), der mit einer „Fetischisierung“ von speziellen kulturellen Texten einhergeht, weil diese unabhängig von den sozialen Praktiken, die sie produziert haben, betrachtet werden.39

Des Weiteren bricht der Cultural Studies-Ansatz mit der marxistischen Kulturdefinition, die im Sinne des Basis-Überbau-Modells „Kultur“ als Epiphänomen und wirkungslose, starre Widerspieglung der ökonomischen Verhältnisse begreift. Für die Protagonistinnen und Protagonisten der Cultural Studies ist „Kultur“ eben „nicht stabil, homogen und fest gefügt, sondern durch Offenheit, Widersprüche, Aushandlung, Konflikt, Innovation und Widerstand gekennzeichnet. Kultur wird als Prozeß sozialer Ungleichheit betrachtet, indem um Macht gekämpft und gerungen wird.“[40] Um es plakativer mit den Worten von Grossberg auszudrücken: „Meine Behauptung ist, daß ein Kampf stattfindet, in dem Kultur nicht nur der Kampfplatz ist, nicht einmal der zu gewinnender Preis, sondern auch die Waffe in diesem Kampf.“ 41 Hierzu ist anzumerken, dass es sich um einen Kampf um Bedeutungen handelt, der dem Verständnis der Cultural Studies nach auf einer semiotischen Ebene ausgetragen wird (Beispiele hierfür werden im Kapitel 2.3.2.1 angeführt).

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass „Kultur“ als relativ autonome Sphäre gedacht wird, die „zwar von ökonomischen und sozialstrukturellen Verhältnissen vermittelt und beeinflusst ist, der jedoch ein eigenes Potenzial der Bestätigung von Differenz- und Ungleichheitsverhältnissen und das Potenzial ihrer Verschiebung und Verflüssigung zuge-sprochen wird.“[42]

2.2 „Ringen mit den Engeln“ - das theoretische Grundgerüst der Cultural Studies

Die Cultural Studies vertreten den Anspruch, ihre Analysen theoretisch zu untermauern, was Hall metaphorisch als „Ringen mit den Engeln“[43] beschreibt, da unterschiedlichste Theorien durch ihre pragmatische, dekonstruktivistische Nutzbarmachung in gewisser Weise „entsakralisiert“ werden.44 Dieser Prozess lässt sich innerhalb der historischen Entwicklung der Cultural Studies nach Rainer Winter in drei Phasen unterteilen, aus denen die erstmals von Hall formulierte Bipolarität von Kulturalismus und Strukturalismus hervor-geht. Die grundsätzliche theoretische Konstruktion der Cultural Studies wird durch das von Hall entwickelte Kodieren-Dekodieren-Modell vertieft.

2.2.1 Die drei Entwicklungsphasen nach Rainer Winter

In der ersten, sogenannten explorativen Gründungsphase (ca. 1950-1964) wurde die aus der Literaturwissenschaft stammende und in tiefere gesellschaftliche Sinnstrukturen Ein-blicke gewährende Technik des close readings an kulturelle Texte der englischen Arbeiterkultur angewandt und somit eine Form von Literatursoziologie betrieben.45 Als namhafte Protagonisten sind hier Hoggarts (The Uses of Literacy 1957) und Williams (Culture and Society 1958, The Long Revolution 1961) zu nennen.

Mit der 1964 von Hoggart veranlassten Gründung des Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS) an der Universität Birmingham begann die formative Phase der Cultural Studies. Unter der direktorischen Federführung Halls verstärkte das CCCS seine Theoriearbeit. Im Zuge einer Abwendung von der die Soziologie dominierenden Position des Strukturfunktionalismus nach Talcott Parsons wurden ethnografische Feldforschungs-methoden nach Émile Durkheim und Max Weber und interpretativ-phänomenologische Kulturtheorien wie die von Clifford Geertz assimiliert.

In der anschließenden Konsolidierungsphase, die zu einer Ausformulierung der Cultural Studies als politisches Projekt einer radikalen Demokratisierung führte und in enger Wechselbeziehung zur Erstarkung der New Left[46] in Großbritannien zu sehen ist, wurden insbesondere der postmarxistische Ansatz von Antonio Gramsci, die Foucaultsche Dis-kurstheorie, Althussers strukturalistisches Ideologiekonzept und auch die Kritische Theorie der Frankfurter Schule rezipiert und für die eigene Sache nutzbar gemacht.47

2.2.2 Zwischen Kulturalismus und Strukturalismus

Die scheinbar in die totale Unübersichtlichkeit abzudriften drohende Pluralität der theore-tischen Bezüge der Cultural Studies lässt sich zugunsten eines vereinfachten Verständnisses in das Spannungsfeld von Kulturalismus und Strukturalismus übertragen: „Cultural studies operates in the space between, on the one hand, absolute containment, closure, complete and final understanding, total determination, and, on the other hand, absolute freedom and possibility, and openness.“ 48

Die eine Seite der offeneren kulturalistischen Perspektive richtet ihr Augenmerk auf die menschliche Erfahrung und besteht auf die radikale Besonderheit der je spezifischen Praktiken. Das Kulturalismus-Modell fasst „ Kultur als eng mit sämtlichen gesellschaftlichen Praktiken verknüpft auf, die wiederum als die gemeinsame Form menschlichen Tätigseins begriffen werden: als sinnliche menschliche Praxis, jenes Tätigsein, durch das Männer und Frauen Geschichte machen.“ 49 Den Vertretern des Kulturalismus Hoggarts, Williams und Thompson ist positiv anzurechnen, dass sie der Kultur einen zentralen Stellenwert in der Gesellschaftsanalyse zuschreiben und die Kategorie der gelebten Erfahrung fokus-sieren.

Demgegenüber liegt die Stärke der strukturalistischen Perspektive in der Betonung der Determiniertheit der kulturellen Verhältnisse, die das Fundament für jegliche Form von Handlung und Erfahrung darstellen. Die Kategorie der „Erfahrung“ kann per definitionem nicht als theoretische Grundlage eines umfassenden Kulturverständnisses herangezogen werden, „ da die jeweiligen Verhältnisse schließlich erst […] durch die Kategorien, Klassifizierungen und grundlegenden Strukturen einer Kultur gelebt und erfahren werden könnten.“ 50 Die Strukturen dominieren in dieser Betrachtungsweise die Erfahrungen und intersubjektiven Handlungen und es gilt Kultur, ähnlich wie eine Sprache, als organisiertes Bedeutungssystem51 zu verstehen (siehe dazu auch Kapitel 2.3.2.1), indem das sozialkonstruktivistische Prinzip aber immer noch mitgedacht wird. Somit macht es der Strukturalismus möglich „über Beziehungen innerhalb einer Struktur nachzudenken […] ohne sie auf bloße Beziehungen zwischen Personen zu reduzieren.“[52]

Abschließend lässt sich festhalten, dass sich jegliche Form von Cultural Studies, sei es eine Subkulturstudie zum Punk oder die semiotische Analyse eines Musikvideos in dem Kontinuum von Kulturalismus und Strukturalismus aufhält und mal mehr oder weniger zu einem der beiden Paradigmen tendiert.

2.2.3 Kodieren und Dekodieren nach Stuart Hall - ein grundlegendes Modell

Das Kommunikationsmodell „Kodieren/Dekodieren“, welches Hall im Aufsatz Encoding and Decoding in the Television Discourse (1973) erstmals systematisch darstellt, gilt als theoretischer Meilenstein innerhalb der Cultural Studies und vereint die im vorhergehenden Kapitel dargestellten Paradigmen von Kulturalismus und Strukturalismus an Hand der Produktions- und Rezeptionsprozesse von kulturellen Texten:

Die Produktion eines kulturellen Textes stellt im kommunikationstheoretischen Sinne die Kodierung einer Nachricht dar (denn nur eine kodierte Nachricht kann überhaupt in einen sinntragenden Diskurs eingehen) und die Rezeption ist dementsprechend als Dekodierung zu verstehen. Im Sinne des Strukturalismus sind sowohl die Herstellung als auch die Rezeption in Anlehnung an Foucault von diskursiven Aspekten, beispielsweise durch diverse Ideologien, institutionelles Wissen oder Publikumsmeinungen bestimmt.53

Produktion und Rezeption sind jedoch „nicht identische, sondern miteinander verbundene Aspekte: sie sind unterscheidbare Momente innerhalb jener Totalität, die durch die gesell-schaftlichen Beziehungen des umfassenden kommunikativen Prozesses insgesamt ge-bildet werden.“ 54

Auf Seiten der Rezeption können sich interessante Freiräume eröffnen, die Hall in drei hypothetischen Positionen zu fassen versucht, die von der jeweiligen Übereinstimmung der Kodes von Produzent und Rezipient abhängig sind, denn „die Kodes der Kodierungs- und Dekodierungsprozesse müssen nicht vollkommen symmetrisch sein:“[55]

1. Die Position der dominat-hegemonialen Dekodierung besagt, dass der Rezipient innerhalb des dominanten Kodes agiert.
2. Das Dekodieren im Rahmen der ausgehandelten Position stellt eine Mischung aus adaptiven und oppositionellen Elementen dar.
3. Innerhalb der oppositionellen Lesart wird die rezipierende Person vielmehr zum Produzent, indem sie sich der vorgegeben Kodierung verweigert und in Hinblick auf den kulturellen Text eine eigenwillige Bedeutung konstruiert.56

Besonders diese dritte Position steht bei den Analysen der Cultural Studies im Fokus, da in ihr eine widerständige Handlungsmächtigkeit des konsumierenden Subjekts heraus-gearbeitet werden kann. Das „Kodieren/Dekodieren-Modell“ richtet sich demnach grund-legend gegen das in der Kommunikationstheorie vorherrschende, klassische „Sender-Empfänger-Modell“, welches verkennt, „dass die Aneignung medialer Texte seitens der Rezipierenden ein komplexer, soziokulturell-lokalisierter Vorgang ist.“ 57

2.3 „Die Werkzeugkiste der Cultural Studies“ - praktische Forschungsansätze

Aufbauend auf der komprimierten Darstellung des theoretischen Grundgerüstes der Cultural Studies werden im folgenden Abschnitt die praktischen Forschungsansätze dieses hybriden Denkansatzes dargestellt. Auf Grund der vielfältigen Interventionsmöglichkeiten, die sich beispielsweise auch in Hinblick auf eine musikpädagogische Nutzbarmachung ergeben können (siehe Kapitel 5.1), ist eine bildliche Umschreibung als Werkzeugkiste, wie sie Udo Göttlich, Lothar Mikros und Rainer Winter anführen,58 durchaus zutreffend.

Ausgehend von den Forschungsfeldern und „Untersuchungsgegenständen“ wird die Me-thodik der Cultural Studies umschrieben und die Forschungspraxis an Hand zweier For-schungsgebiete der Cultural Studies vertiefend dargestellt.

2.3.1 Forschungsfelder und „Untersuchungsgegenstände“

Wie schon mehrmals erwähnt, betreiben die Cultural Studies eine kritische Form der Kulturanalyse. Doch worauf sind diese Analysen ausgerichtet? Gibt es konkrete „Unter-suchungsgegenstände“?

Winter antwortet auf diese, im Grunde genommen unbeantwortbare Fragestellung in Kürze: „ Für die Cultural Studies können alle Arten kultureller Objekte zum Gegenstand der Analyse werden.“ 59 So beschäftigen sich die Cultual Studies mit dem Sony-Walkmann, Madonnas Musikvideo zu dem Song Like a virgin, Groschenromane, englischen Pubs, Pokémons, der Punkgruppe The Ramones, Werbeclips, der Fernsehserie Eine schrecklich nette Familie, der Jeans, Kinofilmen, den Motorrollern der Mods, Polo-Spielen, dem aus-tralische Strandleben oder dem Cover der Zeitschrift Le Monde, um nur einige wenige, willkürlich ausgewählte Beispiele zu nennen. Entscheidend ist jedoch hierbei, dass das Forschungsinteresse nicht am Gegenstand per se, sondern immer an dessen kontextualer Einbettung in das komplexen Beziehungsgeflechts von Macht-Kultur-Identität (siehe auch Kapitel 2.2.1) ausgerichtet ist. Richard Johnson hat zum besseren Verständnis des breiten
Forschungsfeldes der Cultural Studies das Schema des „Kulturellen Kreislaufs“ (siehe Abb.2) entwickelt.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2. Kultureller Kreislauf (in Anlehnung an Hepp 2010: S.76)

Demnach ist jedes kulturelle Artefakt nur dann ausreichend analysiert, wenn es durch die vier Stationen des kulturellen Kreislaufs (Produktion, Text, Lesarten, Alltagsleben) hindurch verfolgt wurde.60 Innerhalb dieses multi-dimensionalen Modells steht jedes Element mit den anderen in einer gegenseitigen Wechselbeziehung. Jede Ebene des Kreislaufs gilt es jedoch vor einer Gesamtanalyse, den Hall als radikalen Interaktionismus beschreibt,61 in ihrer jeweiligen Spezifik zu untersuchen. An Hand der einzelnen Ebenen können macht-prägende Gesellschaftsprozesse rekonstruiert und Formveränderungen des kulturellen Systems sichtbar gemacht werden.62

2.3.2 Methodenvielfalt

Die Cultural Studies verfolgen zwar einen einheitlichen Denkstil, besitzen jedoch keine da-zugehörige einheitliche Methodik.63 Vielmehr erfolgt die Wahl „der jeweiligen Forschungs-praxis aus pragmatischen, strategischen und selbstreflexiven Gesichtspunkten heraus64 und kann als Bricolage verstanden werden. Es eröffnet sich damit eine ähnliche „Krux", wie beim Versuch einer Definition dieses Ansatzes: Will man die Cultural Studies einer einheitlichen Methodenlehre unterwerfen, müsste man sie disziplinieren und würde sie damit ihrer eigensinnigen Widerständigkeit und Kritikfähigkeit berauben.65

Grundsätzlich gilt, dass sich die Cultural Studies von einer „objektiven Einsicht in eine stabile Realität oder Aneignungen der Wahrheit“ 66 abgewandt haben und entgegen einem quantitativ-empirischen Positivismus, qualitative und ethnografische Methoden bevorzugen. Sie betreiben eine Form von bedeutungstheoretisch-orientierter Hermeneutik, die eine Trennung von Verstehen und Erklären, subjektiver Empathie und objektiver Analyse, persönlicher Verwicklung und analytische Distanz aufgegeben hat.67 Die forschende Person ist demnach integrativer Bestandteil des Forschungsprozesses.

Anhand des im vorherigen Kapitel dargestellten „Kreislaufs der Kultur“ lassen sich einige grundlegende Methoden der Kulturanalyse aufführen (siehe Abb.3), die im weitesten Sinne der Soziologie, Sprachwissenschaft, Ethnografie und Diskursanalyse entstammen und von denen das „mapping“ auf Grund seiner Praktikabilität für den schulischen

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 3. Methoden der Kulturanalyse (in Anlehnung an Hepp 2010: S.266)

Laut David Morley, einem Medienanalyst der Cultural Studies, wird beim „mapping“ eine „kulturelle Karte“ des durch ein bestimmten Textes adressierten Publikums erstellt, in der die vielfältigen kulturellen Repertoires und symbolischen Ressourcen aufgezeigt werden, die unterschiedlich lokalisierten Subgruppen eines Publikums zugänglich sind.68 Mit Hilfe dieser Methode ließen sich beispielsweise innerhalb eines Mashups[69] die vielfältigen Bezüge zu unterschiedlichen musikalischen Genres, Pubklika und Künstlern auseinander dividieren, was zu einem besseren Verständnis des innerhalb des Mashups ausgetragenen „Bedeutungskampfes“ führen kann.

2.3.3 Zwei Beispiele aus der Forschungspraxis

2.3.3.1 Beispiel 1: Subkulturstudien nach Dick Hebdige

Die Subkulturstudien der Cultural Studies stellen eine pragmatische Hinwendung zu mar-ginalisierten Kulturbereichen dar. Hepp definiert eine Subkultur als kleinere, stärker lokalisierbare Struktur innerhalb des kulturellen Gesamtnetzwerks, die sich einer Domi-nanzkultur (beispielsweise der Kultur des Bürgertums) unterordnet, dabei aber stets den Bezug zu ihrer Stammkultur (beispielsweise der Arbeiterkultur) bewahrt.70 Subkulturen gilt es demnach immer in ihrer Relation zu einer Dominanzkultur zu sehen, welche das kulturelle Gesamtgeschehen einer Gesellschaft bestimmt.71 Klassische Beispiele für Subkulturen, die im Besonderen von Dick Hebdige analysiert wurden, sind die Punks, die Mods, die Teds, die Rocker und die Hippies. In dem populärsten Werk der Cultural Studies Subcultures - The Meaning of Style (1979) beschreibt Hebdige diese Subkulturen als temporär wirksame Mechanismen der semantischen Unordnung, als zeitweilige Blockade in den gewohnten Darstellungssystemen.72 Innerhalb ihrer spezifischen Gruppenstile, verarbeiten die Subkulturen soziale Problemsituationen wie Arbeitslosigkeit, Benachteiligung im Bildungssystem, Erosion des sozialen Zusammenhalts oder eine zunehmende konsumorientierte Lebenseinstellung.73 In Form ihrer Gruppenstile entwickeln sie dabei keine für die politischen Makroebene bestimmten Lösungsstrategien, sondern wirken auf der Mikro-ebene des alltäglichen, zwischenmenschlichen Umgangs mit Hilfe einer widerständigen und gesellschaftskritischen Symbolsprache. Als plakatives Beispiel lässt sich dafür die Zurschaustellung einer durch die Wange gestochenen Sicherheitsnadeln bei einem Punk anführen: Die auf den Kontext von Häuslichkeit und Familie rekurrierender Sicherheits-nadel wird in einen vollkommen befremdlichen und damit verstörenden Sinnzusammenhang gestellt und sorgt, wenn auch kurzweilig und in einem beschränkten Rahmen, für Unordnung im Repräsentationssystem der bürgerlichen Dominanzkultur.

Diese mehr unbewusst gelebte, als konkret verbalisierte Form der Gesellschaftskritik kann im Sinne der Cultural Studies als Möglichkeit der Revolution im Kleinen, im Nebensächlichen und Alltäglichen gedeutet werden.74 Zwangsläufig aber wird das kritische Potenzial von Subkulturen durch eine Vereinnahmung seitens der Kulturindustrie zu Nichte gemacht, denn widerständige Ausdrucksformen in Form von Songs, Kleidungsstücken oder kreativer Rituale werden in den Prozess des Konsums eingegliedert und damit entschärft: „ Nach und nach nimmt die Subkultur eine eigene, aber gut vermarktete Pose an, und ihr visuelles und verbales Vokabular wird vertrauter“ 75 und die ins Wanken geratenen Ordnung wird wiederhergestellt.

2.3.3.2 Beispiel 2: Populärkulturstudien nach John Fiske

Ähnlich wie die Subkulturstudien fokussieren die Populärkulturstudien die Möglichkeiten des Widerstands gegen hegemoniale Machtausübung. So geht es auch „ in der Populärkultur um Herrschafts- und Unterordnungsbeziehungen, in denen die Beherrschten der Macht der Herrschenden Widerstands- oder Vermeidungsstrategien entgegensetzen,“[76] die ebenfalls auf der Mikroebene des alltäglichen Handlungsspielraums angesiedelt sind.

Der grundsätzliche Unterschied zwischen beiden Forschungsansätzen besteht darin, dass die Populärkulturstudien den Widerstand nicht auf der semiotischen Ebene, sondern in den von Vergnügen geprägten Formen des aktiven und eigensinnigen Konsums verorten. Populärkultur besteht zwar substanziell aus Konsumwaren und ist demnach auf die hegemoniale Kulturproduktion eines globalisierten Marktes angewiesen. Im Sinne des Cultural Studies-Ansatzes definiert sich Populärkultur77 jedoch in einem besonderen Maße durch die eigensinnige und lustvolle Handlungsfähigkeit des Konsumierenden, da diese Texte prinzipiell verschiedene Lesarten zulassen und als Heteroglossien (mehrdeutige Texte) verstanden werden.78

Zum vertiefenden Verständnis sei hierfür das populäre Beispiel von Fiskes Madonna-Studie aus Reading the Popular ( 1989) angeführt: In dieser Studie analysiert Fiske die Musikvideos Burning Up, Material Girl und Like a Virgin der Popsängerin Madonna und entwirft darauf aufbauend ein vielschichtiges Gesamtimage der Künstlerin, welches durch die Widersprüchlichkeit der Bedeutungen der Frau im Patriarchat bestimmt ist: „Zu viel Lippenstift hinterfragt den geschmackvoll geschminkten Mund, zu viel Schmuck die Rolle des weiblichen Aufputzes im Patriarchat. Exzeß überfordert die ideologische Kontrolle und bietet Raum für Widerstand.“[79]

In einem nächsten Schritt legt er mit Hilfe von qualitativer Interviewforschung die vielseitigen und besonders auf der Seite von jugendlichen Rezipientinnen dominierende widerständige Lesart dieses Gesamtimages dar, die darin besteht, dass die überzogene Weiblichkeit von den Fans adaptiert und dadurch auf gesellschaftlich progressive Weise entgegen patriarchale Machtstrukturen verwendet werden kann.80 In diesem Sinne weicht die Populärkultur „ die Ecken und Kanten der Macht auf, führt zu kleinen Gewinnen für die Schwachen, erhält ihre Würde und Identität. Sie ist progressiv, aber nicht radikal.“[81]

2.4 Zwischenfazit I

In der einleitenden, überblicksartigen Darstellung zu Merkmalen, Theorie und Praxis der Cultural Studies soll der Leserin/dem Leser bewusst geworden sein, von welch hohem Grad an gesamtgesellschaftlicher Komplexität der Cultural Studies-Ansatz ist. Eine Beant-wortung der Frage „Was sind Cultural Studies?“ konnte demnach nur schemenhaft vollzogen werden.

In der Vergangenheit mussten sich die Cultural Studies teils vehementer Kritik von inner-halb und außerhalb des akademischen Diskurses stellen, was sicherlich auch dazu führte, dass dem CCCS in Birmingham im Jahr 2002 die finanziellen Mittel abgeschnitten wurde und diese, den universitären Betrieb kritisch betrachtende Institution ihren Forschungsbetrieb einstellen musste. Den Vertreterinnen und Vertretern der Cultural Studies wurde beispielsweise unwissenschaftlicher Populismus und einer Fetischisierung des Lokalen vorgeworfen.82 Udo Göttlich spricht in diesem Zusammenhang von einer Romantisierung des Widerstandspotenzials des Publikums, der Vernachlässigung von Alltagsroutinen und einer unreflektierte Nutzung des Kreativitätsbegriffs.83 Vielerorts wird auch eine Vernachlässigung der politischen Makro-Ebene als Kritikpunkt an die Cultural Studies herangetragen. So erhebt Jim McGuigan den Vorwurf, dass die Fokussierung der Mikro-Politik des Konsums und der kleinen Siege und Niederlagen des Alltags wenig Raum für gesamtgesellschaftliche Veränderungen bietet.84 Die zunehmende globale Institutionalisierung85 der Cultural Studies beweist hingegen, dass sie sich nicht von ihrem Grundanliegen abbringen lassen: „Es geht um alltägliche Veränderungen in Bedeutungen, Einstellungen und Wertorientierung, um die Entfaltung des produktiven und kreativen Potentials der Lebenswelt, um die Kritik an Machtverhältnissen, um Momente der Selbstermächtigung, die vielleicht schnell vergehen, aber trotzdem prägend und einflussreich sein können.“[86]

Dieses Grundanliegen ist meiner Meinung nach nicht nur politischer, sondern auch päda-gogischer Natur. Die Sphären von Pädagogik und Cultural Studies erkläre ich daher als grundlegend wesensverwandt, auch wenn diese Wesensverwandtschaft zumindest innerhalb des deutschsprachigen erziehungswissenschaftlichen Diskurses bis dato meist unentdeckt geblieben ist.

3. Cultural Studies goes to school I - eine Verortung des Cultural Studies-Ansatzes im theoretischen Kontext der allgemeinen Pädagogik

Die Überschrift des dritten Kapitels bemächtigt sich, im Sinne der „räuberischen“ Attitüde der Cultural Studies, eines von David Buckingham formulierten Buchtitels. Ausgehend von den Ursprüngen der Cultural Studies in der Erwachsenenbildung wird dieser Ansatz sowohl in der allgemeinen als auch in der Kritischen Pädagogik verortet werden.

3.1 Ursprünge der Cultural Studies in der Erwachsenenbildung

Besonders in ihrem Ursprung gingen die Cultural Studies von dezidiert pädagogischen Intuitionen aus, was sicherlich damit zusammenhängt, dass die drei Protagonisten der ex-plorativen Gründungsphase (siehe Kapitel 2.2.1) Hoggarts, Williams, Thompson und auch Hall allesamt aus der Erwachsenenbildung stammen. Ihr innerhalb der „Abendschulen“ vertretender Ansatz bestand darin, zusammen mit ihren größtenteils aus der „prole-tarischen Arbeiterschicht“ stammenden Klientinnen und Klienten, die praktische Relevanz und nicht die Spezialisierung von Wissen herauszuarbeiten.87 In ihren Kursen ging es um eine kritische Analyse der eigenen „proletarischen Arbeiterkultur“, um den Fokus auf „sub-ordinierte, marginalisierte, unterdrückte und unkonventionelle Aspekte der gesellschaft-lichen Wirklichkeit“ 88 und die Aufdeckung von diesen, die Wirklichkeit durchziehenden, machtpolitischen Diskursen zugunsten einer Selbstermächtigung der darin verhafteten Menschen. Dieser pädagogische Ansatz wurde mit in die anfängliche Arbeit des CCCS hinüber genommen, aber nicht weiter ausgebaut. Laut Rainer Winter wurden explizit pädagogische Fragestellungen nur oberflächlich behandelt,89 auch wenn sich die Cultural Studies durch die Subkulturstudien und Populärkulturstudien in den 1960er/1970er Jahren beispielsweise dezidiert mit dem Phänomen der Jugend auseinandersetzten.

Henry Giroux, ein Vertreter der kritischen Pädagogik, umschreibt das wechselseitige Des-interesse folgendermaßen: „ Educational theorist demonstrates as little interest in cultural studies as cultural studies scholars do in more recent theories of schooling and peda-gogy.“[90]

3.2 Allgemeines zur Wechselbeziehung zwischen Cultural Studies und Pädagogik

So kann „die Geschichte der Begegnung zwischen den Cultural Studies und der Päda-gogik“ abgesehen von dem Ansatz der kritischen Pädagogik (siehe Kapitel 3.3) grundlegend „als Geschichte einer verpassten Chance erzählt werden.91 Nach Sven Sauter liegt, auf den deutschsprachigen Raum bezogen, eine grundlegende Missrezeption zwischen den beiden Sphären vor, was sich deutlich in der wissenschaftlichen Literatur niederschlägt. Laut Paul Mecheril und Monika Wirtsch fehlt eine Auseinandersetzung, „ die nach dem systematischen Wert der Cultural Studies für pädagogisches Deuten und Handeln fragt.“92 Die einzige umfangreichere deutschsprachige Publikation zum Wechselspiel von Cultural Studies und Pädagogik stellt der 2006 herausgegebene Sammelband Cultural Studies und Pädagogik. Kritische Artikulationen dar, der als spannungsvolle Eröffnung und Fortschreibung des Nachdenkens über diesen Zusammenhang verstanden werden möchte.

Es ist anzumerken, dass der Cultural Studies-Ansatz auf Grund seiner britischen Herkunft und der ursprünglichen Nähe zur Literaturwissenschaft schon ausführlicher in der deutsch-sprachigen Fachdidaktik zum Unterrichtsfach Englisch93 rezipiert wurde und Einzug in die Unterrichtspraxis erhalten hat. Im Bereich der Musikpädagogik können, abgesehen von indirekten Bezugnahmen im sich erstarkenden Bereich der transkulturellen Musikvermittlung,94 keine eindeutigen Verbindungslinien ausfindig gemacht werden. Dieser Missstand müsste tiefergehend analysiert werden, was den Rahmen dieser am Meinungsbild von Schülerinnen und Schülern ausgerichteten Arbeit sprengen würde.

Hinsichtlich der oberflächlichen Darstellung der offensichtlich ausgesparten, gegenseitigen Rezeption von Cultural Studies und Pädagogik, ist an dieser Stelle noch nach den dahinterstehenden Gründen zu fragen: Sauter führt die gegenseitige Nichtbeachtung auf bedeutsamen Unterschiede innerhalb der struktur-theoretischer Ebene zurück, die sich einer Argumentation zugunsten der zuvor angeführten Wesensverwandtschaft entgegen stellen: Zum einen betrachten die Cultural Studies kulturelle Texte als pluralistisch, hybrid und wandelbar, wohingegen die Pädagogik an diesen vor allem die Eindeutigkeiten, Planbarkeiten und das singuläre Moment zu suchen scheint. Der Pädagogik liegt laut Sauter immer noch ein schwammiger und theoretisch unterkomplex konzeptionalisierter Kulturbegriff zu Grunde. Zum anderen betrachten die Cultural Studies den Kontext von Schule und Kultur auch in Hinblick auf gesellschaftspolitische Strukturen, was in den meisten pädagogischen Modellen, die scheinbar eine strikt entpolitisierte Sicht innehaben, nicht der Fall ist. Sauter vertritt in diesem Sinne die Meinung, dass das Lehrerfeld von gesellschaftspolitischen Implikationen und Verstrickungen in machtpolitische Diskurse „reingehalten“ werde.95

Patrick Steinwidder hat zur Verflechtung von Politik und Pädagogik anzumerken, dass die letztere immer politisch ist, „ weil die Schule durch «unsichtbare Lehrpläne » bestimmte Machtstrukturen vermittelt, und weil es eigentlich die (h öchst politische) Aufgabe der Schule sein sollte, die Lernenden mit Kompetenzen auszustatten, die es ihnen erm ög-lichen, selbst zu regieren, und nicht nur regiert zu werden.96 Ein dezidiert politisch orientiertes, pädagogisches Konzept, welches die Perspektive der Cultural Studies assimiliert, stellt die Kritische Pädagogik dar, die sich vor allem im angloamerikanischen Raum etablieren konnte.

3.3 Cultural Studies und die Kritische Pädagogik

Die Kritische Pädagogik , als deren grundlegenden Schlüsselwerke Schooling as a Ritual Performance (1986) von Peter McLaren und die Publikation The Pedagogy of the Oppressed (1972) von Paolo Freire anzuführen sind, findet ihren Ausgangspunkt in den von Pierre Bourdieu und Jean-Claude Passeron zu Beginn der 1980er Jahre durchgeführten Analysen des französischen Bildungssystems, welchem ein Mitwirken an der Reproduktion von sozialen Ungleichheiten attestiert wird.97 Ausgehend von diesem empirischen Tatbestand und in Verbindung mit einer theoretischen Auseinandersetzung mit der kritischen Theorie der Frankfurter Schule, Foucaults Diskurstheorie und Ausformungen des westlichen Postmarxismus fokussiert die kritische Pädagogik „jegliche Form von Herrschaft in Bildungsprozessen und damit einhergehenden ideologischen Konstrukti-onen.“[98]

Dieser ideologiekritische Ansatz untersucht genauer, „wie sich in pädagogischen Theorien, Einrichtungen, Lehrplänen usw. unreflektierte gesellschaftliche Interessen ausdrücken.“[99] Die konkrete Unterrichtspraxis soll über die gemeinsame Dekonstruktion von Erfahrungen seitens der Lernenden als auch der Lehrenden Differenzen in kulturellen Codes und so-zialen Praktiken überwinden und somit emanzipatorische Transformation ermöglichen:100 „Critical Pedagogy ist committed to the promotion of social justice and emancipatory.“[101]

In diesem Sinne möchte die Kritische Pädagogik die kritische Handlungsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler ausbauen und „verpflichtet sich zu Formen des Lernens und Handelns, die in Solidarität mit subordinierten und marginaliserten Gruppen vollzogen werden.“[102]

Wie schon erwähnt, handelt es sich bei der Kritischen Pädagogik um ein politisches Anliegen, das von der Utopie einer radikalen Demokratie getragen wird.103

Als „kritisch“ versteht sich diese Pädagogik, weil die „scheinbare Natürlichkeit“ von Bil-dungsprozessen permanent hinterfragt wird.104 Zu diesem Punkt ist anzumerken, dass eine hoch-politisierte Pädagogik permanent neu um ihre Kritikfähigkeit ringen muss, denn: „Kritik ist nur dann kritisch, wenn sie konträre Interpretationen nicht von vornherein liquidiert und wenn ihr Sinn nicht historisch substantialisiert wird.“[105]

Vor einer Vertiefung der Kritischen Pädagogik durch die Darstellung der Ansätze von Henry Giroux und David Buckingham lässt sich festhalten, dass die Kritische Pädagogik auf Grund ihrer zuvor dargestellten theoretischen Bezugnahmen, des emanzipatorischen Ansatzes und der demokratischen Ausrichtung grundlegend mit der Perspektive der Cultural Studies verschwistert zu sein scheint.

3.3.1 Der Ansatz von Henry Giroux

Der amerikanische Pädagoge und Kulturwissenschaftler Henry Giroux gilt als einer der wichtigsten Vertreter der Kritischen Pädagogik, welcher zum einen die politische Dimension innerhalb der Kritischen Pädagogik und zum anderen eine pädagogische Dimension in die Cultural Studies herausarbeitet.106 So macht Giroux vehement darauf aufmerksam, dass die Cultural Studies die Rolle der Pädagogik im Zusammenhang von Politik und Kultur systematisch ausklammern und sich zu stark auf den Aspekt der eigensinnigen Rezeption kultureller Texte durch den aktiven Rezipienten widmen.107

Girouxs Unterrichtskonzept ist im Grunde eine Form von Medienpädagogik, die einem zweistufigen Aufbau folgt: In einem ersten Schritt dekonstruieren Lehrende und Lernende gemeinsam vor dem Hintergrund ihrer Alltagserfahrungen bestimmte Medieninhalte, wie beispielsweise Disney-Filme oder Werbespots, und erlangen durch die kritische Analyse die Fähigkeit zur Wahrnehmung von machtpolitischen Bedeutungskonstruktionen („Spra-che der Kritik“). In einem zweiten Schritt werden die Schülerinnen und Schüler selber aktiv und produzieren eigene dekonstruktivistisch ausgerichtete Medienbeiträge („Sprache der Hoffnung“).108 In diesem Sinne wird der Lernprozess von Giroux als ein Akt kultureller Produktion aufgefasst.109

Interessant ist hierbei besonders die Rolle der Lehrenden, die Giroux zu einer kritischen Selbstdiagnose aufruft, d.h. zu einer „ Analyse der Ideologien, Werte und Interessen, die sie in der Rolle als Lehrende im Schulalltag bewusst, wie unbewusst propagieren.“[110] Nach Giroux gilt es die Fähigkeit zur Selbstreflexion innerhalb der Lehrerausbildung stärker zu fördern, um die Lehrkräfte in ihrer Vorbildfunktion als politisch partizipierenden Bürgerinnen und Bürger („transformative Intellektuelle“) zu stärken.111

[...]


1 Die Begriffe „Populärkultur“ und „Subkultur“ werden in dieser Arbeit dem Verständnis der Cultural Studies nach verwendet. Der Begriff „Subkultur“ wird ausführlicher in Kapitel 2.3.3.1 und der Begriff „Populärkultur“ in Kapitel 2.3.3.2 umschrieben.

2 „Die Kunst des Eigensinns“ ist der Obertitel einer von Rainer Winter im Jahre 2001 veröffentlichen Publikation zur den Cultural Studies.

3 Vgl. Winter (2001), S.14

4 Ebenda, S.15

5 Hegel (1973), S.155

6 Zum Wechselspiel von Musikpädagogik und Kulturwissenschaft lässt sich der 2006 von Jürgen Vogt veröffentlichte Artikel Musikpädagogik als kritische Kulturwissenschaft - Erste Annäherungen anführen.

7 Montaigne (1976), S.47

8 Vgl. Friese (2004), S.469

9 Vgl. Hepp (2003), S.10

10 Vgl. Friese (2004), S.470

11 Nelson, Treichler, Grossberg (1992), S.3

12 Grossberg (2000), S.195

13 Ebenda, S.253

14 Grossberg (2000), S.194

15 Marchart (2008), S.35

16 Vgl. Winter (2001), S.8

17 Vgl. Marchart (2008), S.33-34

18 Vgl. Moebius (2012), S.14

19 Hepp (2010), S.10

20 Grossberg (2005), S.521

21 Vgl. Winter (2009), S.69

22 Angelehnt an die Semiotik ist in den Cultural Studies mit dem Terminus „ kultureller Text“ jegliche Form eines kulturellen Produkts gemeint. Dies können sowohl konkrete Artefakte als auch Praktiken oder Riten sein.

23 Vgl. Winter (2011), S.18

24 Fiske (1993), S.13

25 Vgl. Winter (2009), S.68

26 Lutter und Reisenleitner (2008), S.10

27 Hall (2003), S.40

28 Krönert (2009), S.48

29 Taktik spricht hier in Abgrenzung zum Begriff „Strategie“ eine Handlungsform an, die weniger von langfristiger Planung als vielmehr von einem kurzfristigen Kalkül bestimmt ist (vgl. Hepp (2010), S.69).

30 Grossberg (2000), S.21

31 Grossberg (2005), S.522

32 Vgl. Winter (2009), S.68

33 Vgl. Hepp (2010), S.73

34 Fiske (1993), S.5

35 Vgl. Winter (2011), S.20

36 Foucault definiert den Begriff „Diskurs“ als eine Menge von Möglichkeiten über einen bestimmten Wissensbereich zu diskutieren. Gleichzeitig ist der Diskurs ein Ort der Machtausübung, da hier gesellschaftliche Realitäten durch sprachliche Konzepte geschaffen werden (vgl. Teske (2002), S.44).

37 Hall (1999), S.116

38 Hebdige (1988), S.136

39 Vgl. Winter (2009), S.74

40 Hörning und Winter (1999), S.9

41 Grossberg (2000), S.176

42 Mecheril und Wirtsch (2006), S.8

43 Hall (2000) S.39

44 Vgl. Winter (2009), S.69

45 Vgl. Winter (2009), S.71-72

46 Die New Left formierte sich als britische Antwort auf die sowjetische Invasion in Ungarn 1956. In Anbetracht des Scheiterns des Realsozialismus übte diese politische Intellektuellen-Bewegung scharfe Kritik am Determinismus der Marxistischen Theorie und dessen dogmatischen Charakter. Durch den Einbezug eines anspruchsvollen Konzeptes von Kultur versuchte man gegen den Marxismus anzudenken und diesen zugleich weiterzuentwickeln (vgl. Müller-Funk (2010), S.276-279).

47 Vgl. Moebius (2011), S.15

48 Grossberg (2005), S.521

49 Hall (1999), S.122

50 Ebenda, S.127

51 Vgl. Marchart (2008), S.71

52 Hall (1999), S.129

53 Vgl. Ebenda, S.95

54 Hall (2009), S.95

55 Ebenda, S.97

56 Vgl. Hall (2009), S.107-109

57 Hepp (2010), S.114

58 Vgl. Göttlich, Mikros und Winter (2001), S.7-8

59 Winter (2009), S.82

60 Vgl. Marchart (2008), S.227

61 Vgl. Hepp (2010), S.50

62 Vgl. Ebenda, S.77

63 Vgl. Müller-Funk (2010), S.276

64 Göttlich, Mikros und Winter (2001), S.7

65 Vgl. Marchart (2008), S.37

66 Friese (2003), S.473

67 Vgl. Friese (2003), S.473

68 Vgl. Hepp (2010), S.171

69 Ein Mashup ist die Kombination von zwei Medieninhalten und kann im Bereich der Musik durch das Synonym Remix ersetzt werden. Zum Zwecke der Vertiefung sei verwiesen auf die 2010 von Stefan Sonvilla-Weiss veröffentlichte Publikation Mashup Cultures.

70 Vgl. Hepp (2010), S.185

71 Vgl. Hügel (2003), S.9

72 Vgl. Hebdige (1988), S.90

73 Vgl. Winter (2009), S.75

74 Vgl. Marchart (2008), S.110

75 Hebdige (1999), S.383

76 Fiske (1999), S.249

77 Die Cultural Studies verstehen Populärkultur als die Kultur der „Leute“ (the people) die dem „power bloc“ antagonistisch in einem Kampf um kulturelle Bedeutungen gegenüber steht. Diese Bestimmung öffnet den in Deutschland vorwiegend ästhetische besetzten Begriff für soziologische und politische Diskussionen und erlaubt es, das Popluäre im Kontext von Alltagskultur und Lebensstil zu erfassen (vgl. Hügel (2003), S.346).

78 Vgl. Mikros (2009), S.158

79 Vgl. Fiske (2003), S.111

80 Vgl. Fiske (1999), S.273

81 Ebenda, S.271

82 Vgl. Grossberg (2000), S.18-19

83 Vgl. Moebius (2012), S.31

84 Vgl. Lutter und Reisenleitner (2008), S.77

85 Die Cultural Studies haben in Europa, den USA, Australien, Kanada, Lateinamerika, Karibik, Afrika und Südostasien Verankerung in den universitären Betrieb erhalten. 1996 fand die erste internationale Konferenz Crossroads in Cultual Studies statt und 2002 wurde die Association of Cultural Studies gegründet (vgl. Lutter und Reisenleitner (2008), S.7-9). Es existieren zahlreiche wissenschaftliche Magazine, wie Cultural Studies - Critical Methodologies, International Journal of Cultural Studies, European Journal of Cultural Studies, Discourse: Studies in the Cultural Politics of Education, The Review of Education, Pedagogy&Cultural Studies, Marxism Today, Screen, New Formations, Positions. Im deutschsprachigen Raum ist das Magazin Spex zu erwähnen, welches popkulturelle Phänomene aus der Perspektive der Cultural Studies beleuchtet.

86 Winter (2006), S.44

87 Vgl. Winter (2006), S.21

88 Winter (2009), S.71

89 Winter (2006), S.24

90 Giroux (1996), S.18

91 Sauter (2006), S.111

92 Mecheril und Wirtsch (2006), S.15

93 Zum Zwecke der Vertiefung sei verwiesen auf die 2010 von Laurenz Volkmann veröffentlichte Publikation Fachdidaktik Englisch: Kultur und Sprache oder die 2006 von Frank Haß herausgebrachte Publikation

Fachdidaktik Englisch.

94 Beispielhaft lässt sich hier die 2012 von Susanne Binas-Preisendörfer und Melanie Unseld herausgegebene Publikation Transkulturalität und Musikvermittlung: Möglichkeiten und Herausforderungen in Forschung, Kulturpolitik und musikpädagogischer Praxis anführen.

95 Vgl. Sauter (2006), S.114

96 Steinwidder (2004), S.5

97 Vgl. Winter (2006), S.31

98 Wimmer (2009), S.190

99 Burkard (2008), S.179

100 Vgl. Wimmer (2009), S.191-192

101 Wallence (2008), S.143

102 Giroux und McLaren (1995), S.34

103 Vgl. Wimmer (2009), S.189

104 Vgl. Wimmer (2009), S.192

105 Borelli (2003), S.152-153

106 Vgl. Keller (2001), S.220

107 Vgl. Wimmer (2009), S.196

108 Vgl. Wimmer (2009), S.195

109 Vgl. Sauter (2006), S.116

110 Wimmer (2009), S.193

111 Vgl. Ebenda, S.193

Ende der Leseprobe aus 107 Seiten

Details

Titel
Die Kunst des Eigensinns. Eine Verortung des Cultural Studies-Ansatzes im Musikunterricht der gymnasialen Oberstufe
Hochschule
Hochschule für Musik und Theater Hannover
Veranstaltung
Musikpädagogik
Note
1,1
Autor
Jahr
2015
Seiten
107
Katalognummer
V318851
ISBN (eBook)
9783668208292
ISBN (Buch)
9783668208308
Dateigröße
1217 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Cultural Studies, Pädaogik, Musikpädagogik, gymnasiale Oberstufe, Populäre Kultur, Kulturbegriff, Subkulturen, Popkultur
Arbeit zitieren
Ansgar Ruppert (Autor:in), 2015, Die Kunst des Eigensinns. Eine Verortung des Cultural Studies-Ansatzes im Musikunterricht der gymnasialen Oberstufe, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/318851

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