Der althochdeutsche Tatian. Ermittlung, Deutung und Bewertung syntaktischer Einzelphänomene


Dossier / Travail de Séminaire, 2013

83 Pages, Note: 1,0


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung
1.1 Das karolingische Zeitalter

2 Der Codex Fuldensis

3 Tatian und die „Harmonisierung“ der vier kanonischen Evangelien

4 Althochdeutsche Übersetzungen

5 Die Interlinearversionen und der Begriff der ‚Interlinearartigen’

6 Lateinisches Bibelwort und althochdeutsche Wiedergabe

7 Ermittlung, Deutung und Bewertung syntaktischer Einzelphänomene
7.1 Roland Hinterhölzl u.a
7.2 Helge Eilers
7.3 Nikolaus Henkel
7.4 Weitere Beispiele
7.5 Zum Gebrauch absoluter Partizipialkonstruktionen (ahd. ‚absoluter Dativ’)

8 Das Merkmal der Partizipialkonstruktionen

9 Verzeichnis der verwendeten Quellen

1 Einleitung

Wer sich mit der althochdeutschen Sprache befasst, stößt unweigerlich auf einige wenige, allgemein bekannte Denkmäler und Textzeugnisse1 ; die Hauptquellen der ahd. Literatur (wobei man sicher nicht von eigenständiger Dichtung sprechen kann) gehen zumeist einher mit der Verbreitung der christlichen Religion und hier zunächst in wissenschaftlichen Glossensammlungen, die um die Mitte des 8. Jh. in Klöstern, d.h. den aufstrebenden geistigen Zentren entstanden sind.

Irische Mönche bemühten sich um die Christianisierung Deutschlands2 ; einer von ihnen, Gallus, gründete 613 mit einer einfachen Holzkirche das Kloster St. Gallen. Entschiedener und mit offiziellem päpstlichem Auftrag wirkte Bonifatius3, der das religiöse Leben durch Kirchenordnung, Klosterregeln, Gründung von Bistümern und Klöstern im Sinne des Heiligen Stuhls organisierte. Eine besondere Stellung nahm dabei im Jahre 744 die Gründung des Klosters in Fulda ein4.

Damit sind die beiden Hauptorte benannt, die den ‚Codex Fuldensis’ und insbesondere den „Althochdeutschen Tatian“, den Cod. 56 der St. Gallener Stiftsbibliothek, betreffen. Zugleich ist der letztere neben dem Evangelienbuch Otfrids und dem ahd. Werk Notkers von St. Gallen eine der maßgeblichen Textquellen des Althochdeutschen.

1.1 Das karolingische Zeitalter

Das alles lässt sich kaum denken ohne das im modernen Sinne „bildungspolitische“ Streben Karls des Großen5, das, ausgehend von einer teilweise gewaltsamen „Bekehrung“, die Germanenstämme zu einer Auseinandersetzung mit der antiken Kultur zwang. Zugleich förderte Karl seit dem Beginn seines Königtums die höfische Dichtkunst, die Wissenschaften und das Schulwesen, das auch eine entsprechende Lehrerbildung voraussetzte. Hauptziele der Grundbildung waren das Singen, das Lesen und Schreiben sowie die Kenntnis der lateinischen Sprache. Dieses Wirken Karls, selbst zeitlebens Analphabet, blieb nicht ohne Folgen:

„Durch seine Volkserziehung wurde Karl der Große der Begründer der geistlichen deutschen Literatur. Vaterunser, Glaubensbekenntnis, Beichtformeln bildeten die Anfänge der deutschen Prosa. Aber auch der von ihm neu erweckte wissenschaftliche Geist wirkte auf die deutsche Literatur. Jetzt entstanden die ersten gelehrten Denkmäler in deutscher Sprache, ein wissenschaftlicher Übersetzungsstil wurde ausgebildet. Karl schuf ein neues geistiges Leben nicht nur im Sinne der lateinischen Universalmonarchie, sondern auch für das deutsche Volkstum“6.

Die Klöster, allen voran das alemannische St. Gallen, später auch das fränkische Fulda, können damit als Zentren und Ausgangspunkte der Bildungsarbeit angesehen werden7.

2 Der Codex Fuldensis

Die als „unum ex quattuor“ bezeichnete Evangelienharmonie ist Bestandteil einer von Bischof Victor von Capua in Auftrag gegebenen und bearbeiteten8 vollständigen lateinischen Abschrift des Neuen Testaments9. Statt der vier Evangelien findet sich hierin aber auch die vermutlich auf dem „Diatessaron“ des syrischen Christen Tatian beruhende Evangelienharmonie, die ein (schon zu Tatians Zeiten umstrittenes) Vereinheitlichungsstreben signalisiert10. Durch Bonifatius gelangte diese Handschrift nach Fulda, „wo sie jedenfalls als ehemaliges Eigentum des heiligen Klostergründers († 754) in hohen Ehren gehalten wurde“11.

Da es heute wieder unbestritten12 scheint, dass die Evangelienharmonie des Cod. Fuldensis die unmittelbare Vorlage der lateinischen „Hälfte“ des Codex Sangallensis 56 und diese wiederum die des daneben stehenden „althochdeutschen Tatian“ ist, sollte schon von daher davon ausgegangen werden dürfen, dass die Abschrift dieses überaus wertvollen Exemplars nur in Fulda hergestellt worden sein kann. A. Masser nennt weitere Argumente, die dafür sprechen, dass auch die Übersetzung13 in Fulda vorgenommen worden ist:

Die Sprache der althochdeutschen Übersetzung verweist „nach Lautstand, Flexion und Wortschatz“ auf Fulda.

„Von den sechs Schreibern, die sich in den Eintrag des Haupttextes geteilt haben, weisen vier [] alle Eigentümlichkeiten auf, die für den Fuldaer Schreibstil im zweiten Viertel des neunten Jahrhunderts charakteristisch sind“.

Das „Programm dieser zweisprachigen Handschrift, wobei es insbesondere um das Verhältnis des lateinischen Textes zu seiner Vorlage geht“, war so nur „mit erheblichem Arbeitsaufwand und unter vielfach mühsamer Überwindung von Schwierigkeiten zu verwirklichen“14.

Der Cod. Sang. 56 ist in seinem lateinischen Teil die exakte Kopie des Cod. Fuldensis, was sowohl den lateinischen Text als auch dessen „äußere Einrichtung“ betrifft15, was nur dort zu bewerkstelligen war, wo sich der Codex befand16:

„Sein [des St. Galler Cod. 56] lateinischer Text ist eine gewollte und bis in Kleinigkeiten hinein exakte Neuausgabe des Codes Fuldensis bei Umsetzung der Uncialis der Vorlage in die zeitgenössischmoderne Form der karolingischen Minuskel“17.

Diese Beobachtung wird von E. Meineke bestätigt:

„Die Analyse der handschriftlichen Überlieferung vor allem der eusebianischen Canones, der Randkonkordanzen und der textimmanenten Evangeliensiglen erweist, dass diese unmittelbar aus dem Codex Fuldensis übernommen wurden“18.

3 Tatian und die „Harmonisierung“ der vier kanonischen Evangelien

Ob der lateinische 19 Text des Cod. Fuldensis tatsächlich auf dem um das Jahr 170 in syrischer Sprache verfassten20 Diatessaron des nach 172 wieder in Syrien bzw. Mesopotamien lebenden Kirchenvaters Tatian beruht, lässt sich nicht mit absoluter Sicherheit sagen, da sämtliche Exemplare des einst in der syrischen Kirche populären Werkes vom Bischof Theodoret von Kyros († 466) eingesammelt und vernichtet wurden21. Immerhin scheint es plausibel, das vom Bischof Victor von Capua bearbeitete Exemplar auf Tatian zurückzuführen, und dass damit der Cod. Fuldensis eine solche Evangelienharmonie ist.

Wie Petra Hörner ausführt, sind solche Versuche der „Vereinheitlichung“ trotz des verständlichen Wunsches, „das Problem der Unterschiede in den Evangelien“ zu lösen und einen einheitlichen „Kanon“ zu schaffen, v.a. um das auf den entsprechenden Widersprüchen beruhende Hauptargument der Gegner des Christentums zu entkräften, theologisch umstritten22. Andererseits zeigt die weite Verbreitung solcher Harmonisierungsversuche deren große Beliebtheit in der christianisierten Welt.

„Evangelienharmonien erscheinen [] als das herausragende schriftliche Medium der neutestamentlichen Evangelienstoffe in althochdeutscher Übersetzung. [Sie] gehören auch später noch in weiteren west- und südeuropäischen Sprachen bzw. Dialektstufen zu den ältesten und am besten dokumentierba- ren Monumenten der jeweiligen nationalsprachlichen Übersetzungen des Evangelienstoffes“23.

Interessant ist in diesem Zusammenhang die Differenzierung zwischen „Harmonisierung“ und „Übersetzung“, die Motive der Bearbeiter sind, bezogen auf die Widersprüche und Abweichungen, jeweils andere, denn der Übersetzer will sich an den Wortlaut halten, der Harmonisierer gewissermaßen die „gemeinsame Mitte“ mehrerer Aussagen finden bzw. sich für eine davon entscheiden. Ein Übersetzer der „heiligen“ Texte der Evangelisten kann auf diese Weise einen diesen gleichwertigen, kanonisch verwendbaren Text schaffen (so etwa die gotische Bibel), der Harmonisierer schafft einen eigenen, mehr literarischen und deutenden Text, der daher kaum Eingang in die offizielle Liturgie finden kann.

4 Althochdeutsche Übersetzungen

Die in Fulda wahrscheinlich auf Bestellung des Klosters St. Gallen abgeschriebene und übersetzte lateinisch-althochdeutsche Tatianbilingue wird in ihrer Übersetzungsweise in die Nähe der ahd. Interlinearversionen gebracht, wobei der Grad dieser Nähe aus den einzelnen Beurteilungen nicht eindeutig hervorgeht24. Ein sehr starres Gleichmaß erblickt [u.a.] G. Ehrismann in dieser Übersetzung, die ist nicht frei, sondern quasi ‚sklavisch’ an das Lateinische gebunden sei:

„Das Übersetzungsprinzip ist in allen Teilen das gleiche. Die Sprache ist nicht frei, sondern stark an die Vorlage gebunden, möglichst dem lateinischen Text angeschlossen (auffallend besonders in Kap. 77, 78), undeutsche Wendungen wie Partizipialkonstruktionen werden pedantisch nachgeahmt, die lateinische Wortstellung ist mechanisch beibehalten. Der primitive Standpunkt der Interlinearversion ist noch nicht aufgegeben“25.

Dass sich der ahd. Tatian zwar ‚eng, aber nicht sklavisch’ an das Original anschließe, meinen dagegen anderer Beobachter. „Häufig (binde er sich) nicht an den Wortlaut seiner Vorlage, um nur einen echt deutschen Ausdruck zu geben“, doch könnten allerdings „in anderen Fällen die Fesseln der Vorlage nicht gesprengt werden“26. Ebenso spricht H. de Boor davon, dass die ahd. Evangelienharmonie nur „streckenweise der interlinearen Übertragung nahe“ stehe27. Den Maßstab zur Wertung der ahd. Übersetzungsarbeit liefert hier also der jeweils verschieden starke Grad der ‚Eindeutschung’, der Überwindung von Fremdeinflüssen durch den lateinischen Grundtext auf den deutschen Zieltext. Ein Grund für solche Abstufungen wird gewöhnlich im nicht einheitlichen Können der Bearbeiter gesehen: Bessere oder geringere Lateinkenntnis, stärker oder schwächer ausgeprägtes eigensprachliches Bewusstsein, ungleiche Geschicklichkeit, Konsequenz, Übung usw. spielen eine Rolle. Den Aspekt des ‚Nichtkönnens’ betont am stärksten G. Nordmeyer:

[...]


1 Z.B. die Merseburger Zaubersprüche, das Hildebrandslied u.a.

2 Der Begriff „Deutschland“ ist hier eher symbolisch aufzufassen, nicht als Bezeichnung einer kulturellen oder politischen Einheit.

3 Winfrid aus Wessex, von Gregor II. 722 zum Bischof geweiht, ab 732 Bischof von Mainz.

4 Historische Hinweise aus: Ehrismann, G.: Geschichte der deutschen Literatur bis zum Ausgang des Mittelalters. Teil I: Die althochdeutsche Literatur. München 21932, S.79 ff.

5 *ca. 747 / seit 768 König des Fränkischen Reiches, Römischer Kaiser seit 800, † 814.

6 Ehrismann, a.a.O., S.84-85.

7 Historische Hinweise aus: Ehrismann, a.a.O.

8 „Die um das Jahr 170 geschaffene Evangelienharmonie des Syrers Tatian erfuhr im sechsten Jahrhundert durch Bischof Victor von Capua († 554) eine Bearbeitung, die zum Ziele hatte, den Text [] nach der inzwischen allgemein verbreiteten Bibelübersetzung des Hieronymus, der Vulgata eben, zu korrigieren“. Masser, A.: Die lateinisch-althochdeutsche Tatianbilingue des Cod. Sang. 56, Göttingen 1991 [Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Jg. 1991 Nr.3].

9 Von Victor von Capua mit einem Vorwort versehen und am 12. April 547 signiert.

10 cf. Schmid, U.: Unum ex quattuor. Eine Geschichte der lateinischen Tatianüberlieferung. Freiburg u.a., 2005, S.9 f., s.59 f.

11 Masser (1991), a.a.O., S.89.

12 Gegenteilige Auffassungen vertraten G. Baesecke (1948), W. Wissmann (1960) und A. Baumstark (1964,

geschr. ca. 1934), s. aber auch neuerdings Th. Klein: Zu Herkunft, Sprache und Übersetzer des Vocabularius Sti. Galli. In: Zeitschrift für deutsche Philologie Bd. 131 (2012) S. 3-32.

13 Der Zeitraum wird um 830 unter dem Abt Hraban angesetzt (cf. Masser, a.a.O., S.9).

14 cf. Masser, a.a.O., S.88-89.

15 einschließlich der Kanontafeln, der Abschnittsgrenzen und sonstigen Markierungen, cf. Masser (1991), a.a.O., S.91.

16 cf. Masser (1991), a.a.O., S.92, mit Bezug auf J. Rathofer.

17 Masser (1991), a.a.O., S.92.

18 Meineke, E.: Textgebundene Formen der lateinisch-deutschen Zweisprachigkeit im frühen Mittelalter. In:

Baldzuhn, Michael und Christine Putzo (Hg.): Mehrsprachigkeit im Mittelalter. Kulturelle, literarische, sprachliche und didaktische Konstellationen in europäischer Perspektive. Mit Fallstudien zu den ‚Disticha Catonis‘, Berlin 2011, S. 123.

19 Hier können theologische Aspekte und die entsprechenden Konflikte nur kursorisch betrachtet werden.

20 cf. Masser (1991), a.a.O., S.89.

21 cf. Hörner, P.: Zweisträngige Tradition der Evangelienharmonie. Harmonisierung durch den „Tatian“ und Entharmonisierung durch Georg Kreckwitz u.a. Hildesheim, u.a. 2000, S.15.

22 Hörner, a.a.O., S.13 ff. / Evangelienharmonien wurden (und werden) im Bereich der theologischen Forschung als trivial, prinzipiell verfehlt eingeschätzt; cf. dazu Schmid, a.a.O., S.3.

23 Schmid, a.a.O., S.2.

24 Lippert, J.: Beiträge zu Technik und Syntax althochdeutscher Übersetzungen. Unter besonderer Berücksichtigung der Isidorgruppe und des althochdeutschen Tatian. Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Philosophischen Fakultät der Philipps-Universität Marburg/Lahn, 1974 [Medium Aevum - Philologische Studien, Band 25].

25 Ehrismann, a.a.O., S.289.

26 Denecke, A.: Der Gebrauch des Infinitivs bei den althochdeutschen Übersetzern des 8. und 9. Jahrhunderts. Diss. Leipzig 1880, S. 8.

27 De Boor, H.: Die deutsche Literatur von Karl dem Großen bis zum Beginn der höfischen Dichtung. 770-1170. München 61964. In: H. De Boor / R. Newald, Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Bd. 1, S.33.

Fin de l'extrait de 83 pages

Résumé des informations

Titre
Der althochdeutsche Tatian. Ermittlung, Deutung und Bewertung syntaktischer Einzelphänomene
Université
Martin Luther University  (Institut für Germanistik, Abt. Altgermanistik)
Note
1,0
Auteur
Année
2013
Pages
83
N° de catalogue
V319037
ISBN (ebook)
9783668181786
ISBN (Livre)
9783668181793
Taille d'un fichier
845 KB
Langue
allemand
Mots clés
Tatian, Althochdeutsch, Altgermanistik, Codex Fuldensis, Übersetzen, Übersetzung
Citation du texte
Jessica Ammer (Auteur), 2013, Der althochdeutsche Tatian. Ermittlung, Deutung und Bewertung syntaktischer Einzelphänomene, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/319037

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