Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Algerien als Kolonie Frankreichs
2.1 Geographie Algeriens
2.2 Wirtschaftliche Entwicklung Algeriens
2.2.1 Industrielle Entwicklung
2.2.2 Landwirtschaftliche Entwicklung
2.3 Bevölkerungsentwicklung
2.4 Wirtschaftliche und soziale Krise
3 Der algerische Befreiungskrieg
3.1 Frankreichs Kolonialsituation nach dem 2. Weltkrieg
3.2 Der algerische Nationalismus
3.3 Personelle und materielle Ausstattung der französischen Armee .
3.4 Ausgangslage der ALN
3.5 Die Rolle der FLN
3.6 Verlauf der militärischen Auseinandersetzung
3.7 Der Weg zur algerischen Unabhängigkeit
4 Fazit
4.1 Die französische Interessenlage in Algerien
4.2 Der Krieg, der keiner sein durfte
Abkürzungsverzeichnis
Literatur
Möchte man darstellen, wie viele Menschenleben die 250.000 in Algerien niedergelassenen Siedler gekostet haben, würde man feststellen, dass jeder von ihnen auf vier Leichen sitzt, die von zwei Soldaten bewacht werden. Yves Guyot, 18831
1 Einleitung
Wenn man heute durch die Straßen von Paris schlendert, fallen neben den zahllosen Touristen auf den ersten Blick viele Asiaten, Nord- und Schwarzafrikaner auf. Schaut man etwas genauer hin, entdeckt man neben dem klassischen französichen Bistro viele vietnamesische Restaurants und Läden, in denen alle Sorten von Couscous verkauft werden. Dass die multikulturelle Ge- sellschaft in Paris aber alles andere als spannungsfrei ist, haben spätestens die Unruhen in den Banlieue, den Pariser Vorstädten, im Jahre 2005 gezeigt. In diesem Jahr war die Mas- senarbeitslosigkeit und Resignation in den Pariser Vorstädten in einer 20 tätigen Gewaltorgie explodiert.
Die Jugendlichen, die in den Banlieues randalierten, waren überwiegend nordafrikanischer Herkunft. Ihre Eltern oder vielleicht auch schon Großeltern waren aus den ehemaligen Kolonien Frankreichs ins französische Mutterland eingewandert und vielfach in eben jeden Banlieues gestrandet. Man schätzt die Anzahl der arabischstämmigen Einwanderer heute auf etwa 4,5 Millionen. Die Randale in den Vorstädten hat so auch ein Schlaglicht auf die koloniale Vergangenheit Frankreichs geworfen.
Nach dem zweiten Weltkrieg hat Frankreich seine beiden größten Kolonien Algerien und Vietnam in mehrjährigen blutigen Kriegen in die Unabhängigkeit entlassen müssen. Der für Frankreich bis heute traumatischste und als schmerzhaft empfundenste Kolonialkrieg war der Algerienkrieg von 1954 bis 1962, lange Zeit der „Krieg ohne Namen“.
Die vorliegende Hausarbeit soll verschiedene Aspekte des Algerienkrieges beleuchten. Sie gliedert sich nach der Einleitung in 3 wesentliche Abschnitte. Der erste Abschnitt ist eine kurze Einführung zu Algerien. Ohne weiter in die Tiefe gehen zu wollen, wird hier die Geographie Algeriens vorgestellt, sowie ein kurzer Abriss über die Entwicklung von Bevölkerung, Landwirtschaft und Industrie in Algerien unter der Kolonialherrschaft Frankreichs. Den Übergang zum nächsten Abschnitt bildet die Darstellung der wirtschaftlichen und sozialen Krise am Vorabend des algerienschen Befreiungskrieges.
Der zweite Abschnitt befasst sich mit dem Konflikt selbst. Nach einer kurzen Darstellung des französischen Kolonialreiches nach dem zweiten Weltkrieg wird die Entwicklung des algerischen Nationalismus aufgezeigt bis hin zur Gründung von FLN und ALN dargestellt. Anschließend werden die beiden wesentlichen Akteure, die französische Armee auf der einen und ALN/FLN auf der anderen Seite, vorgestellt.
Der letzte Abschnitt, das Fazit, soll neben einer Bilanz des Krieges Aufschluss darüber geben, welche Rolle Algerien für Frankreich spielte und damit auch die Frage beantworten, warum der Algerienkrieg sich über immerhin 8 Jahre hinzog und bis in die jüngste Vergangen- heit in der französischen Öffentlichkeit lediglich als „Operation um die Aufrechterhaltung der Ordnung“2 bezeichnet wurde. Hier werden ebenso die Taktiken bewertet, die beide Seiten in Algerien angewendet haben.
Der besseren Übersichtlichkeit und der vielen verwendeten Abkürzungen halber schließt sich noch ein Abkürzungsverzeichnis an.
2 Algerien als Kolonie Frankreichs
2.1 Geographie Algeriens
Algerien lässt sich geographisch in 3 Zonen einteilen. Im Norden befindet sich ein etwa 50 - 100km breiter Streifen,3 der als fruchtbar bis sehr fruchtbar beschrieben wird und sich ausge- sprochen gut für Landwirtschaft eignet.4 Dahinter befindet sich ein etwa 200km breiter Streifen, der vor allem durch das Hochgebirge des Atlas bzw. des Kleinen Atlas geprägt ist. Landwirt- schaft ist in dieser Region nur sehr eingeschränkt auf einigen Plateaus und Hochplateaus mög- lich. Auf das Hochgebirge folgt schließlich die Trockenwüste Sahara. In dieser lebensfeindlichen Umgebung sind nur verstreute Siedlungsgebiete in der unmittelbaren Nähe von Oasen zu fin- den.5
2.2 Wirtschaftliche Entwicklung Algeriens
2.2.1 Industrielle Entwicklung
Eine Industrialisierung, die europäischen Maßstäben entsprochen hätte, gab es in Algerien nicht. Bis nach dem ersten Weltkrieg wurde Algerien als reines Agrarland betrachtet. Erst nach dem Ersten Weltkrieg gab es erste Ansätze, in Algerien eine eigene Schwerindustrie zu etablieren. Es gab zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal eine eigene Hüttenindustrie, die die ostalgerischen Erzvorkommen verarbeiten konnte. Die Erz- und Phosphorvorkommen wurden abgebaut und zur Weiterverarbeitung ins französische Mutterland transportiert.
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Abbildung 1: Topographische Ansicht Algeriens. Quelle: Wikipedia https://de.wikipedia.org/wiki/Atlas_%28Gebirge%29#/media/Fil
Der Aufbau einer eigenen industriellen Basis in Algerien scheiterte an mehreren Faktoren. Zum einen war Algerien der wichtigste Handelspartner und wichtigster Absatzmarkt für Frank- reich. In Algerien fehlte weiten Teilen der Bevölkerung die Kaufkraft, um in großem Maßstab algerische Industriegüter zu kaufen.6 Einzige in Frage kommende Käuferschicht wäre die euro- päische Minderheit in Algerien gewesen. Die bevorzugte allerdings Industriegüter europäischer Herkunft. Als Absatzmarkt für algerische Güter käme daher in erster Linie Frankreich selbst in Frage. Im französischen Mutterland konnte allerdings niemand daran Interesse haben, die französische Industrie zu Gunsten einer algerischen Industrie zu schwächen.
Ein weiterer wichtiger Punkt war die relative Energiearmut Algeriens. Bevor in der Sahara Erdöl- und Ergasvorkommen entdeckt wurden, beschränkte sich die Stromproduktion auf einige wenige Wasserkraftwerke im Norden des Landes. Für eine überwiegende Agrargesellschaft war dies vollkommen ausreichend. Für eine energieintensive Schwerindustrie fehlten aber die Kapazitäten. Algerische Kohlevorkommen waren zudem nicht wirtschaftlich ausbeutbar. Die zur Verfügung stehende Energie war zudem viel zu teuer, zum Teil lagen die Preise bei 150 - 200% des französischen Niveaus.7 Dieser Nachteil war auch durch das weitaus niedrigere Lohnniveau in Algerien gegenüber Frankreich nicht auszugleichen.
Weitere Überlegungen zum Aufbau einer eigenen Industrie in Algerien wurden nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges unternommen. Hier spielten vor allem die Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg sowie die zunehmende Bedrohung durch die Sowjetunion eine Rolle. Nach der Niederlage Frankreichs im Jahr 1940 wurde Algerien von Vichyfrankreich weiter mit Industrie- gütern versorgt. Mit der Besetzung Nordafrikas durch die Alliierten 1942 fiel Vichyfrankreich
als Lieferant weg.8 Algerien und seine europäische Bevölkerung standen bis zum Kriegende 1945 ohne Versorgung mit Industriegütern da. Im sich abzeichnenden Kalten Krieg und der Bedro- hung durch die Sowjetunion standen geostrategische Überlegungen im Vordergrund. Sicherlich auch unter dem Eindruck des Koreakrieges und der sowjetischen Atombombe entstanden 1950 Pläne für die Schaffung einer industriellen Basis in Algerien. Für den Fall einer erfolgreichen Invasion Westeuropas durch den Warschauer Pakt hätte Algerien als Rückzugsgebiet sowie als Versorgungs- und Operationsbasis dienen sollen, um den Kampf von Nordafrika aus weiterfüh- ren zu können. Es war sogar eine eigene Rüstungsindustrie in Algerien angedacht. Da sich an den oben beschriebenen grundsätzlichen Problemen wenig geändert hatte, wurden diese Pläne schon im Folgejahr wieder verworfen.9
2.2.2 Landwirtschaftliche Entwicklung
Die Entwicklung der Landwirtschaft in Algerien im Kolonialzeitalter ist von einer sich rasch ausweitenden Landnahme der europäischen Bevölkerung geprägt.10 Die ersten Ländereien, die - zunächst kostenlos - an europäische Kolonisten verteilt wurden, stammten aus dem Besitz der Janitscharen und der Deis von Algier.11 Trotz des kostenlosen Landes, dessen Vergabe nur an geringe Auflagen gebunden war, verlief die landwirtschaftliche Entwicklung der Kolonie Algerien zunächst sehr schleppend. Erst als sich die Sicherheitslage besserte, kamen mehr Siedler nach Algerien. Mit der Zahl der Kolonisten stieg auch der „Landbedarf“. Gedeckt wurde dieser Bedarf durch Enteignungen des islamischen Klerus und aufständischer Stämme.12 Allerdings wurde von europäischen Siedlern auch bisher ungenutztes Land urbar gemacht.
Nach dem Ersten Weltkrieg sieldeten sich in Algerien weniger klassische Bauernfamilien an. Statt dessen wurde Land überwiegend an Großargrarier verteilt. In Algerien entwickelte sich so ein exportorientierter Agrarkapitalimus. Am Vorabend des Befreiungskrieges gingen 53% der landwirtschaftlichen Produkte Algeriens in den Export. Größter Abnehmer war das französische Mutterland. Die Kluft zwischen europäischen und autochtonen13 Bauern wuchs immer weiter, ebenso wie die ungleichmäßige Verteilung der landwirtschaftlichen Nutzfläche. 22.000 europäi- sche Betriebe verfügten über 27% der Nutzfläsche. Die restlichen 73% teilten sich nicht weniger als 621.000 autochtone Betriebe. Noch krasser tritt das Misverhältnis ins Auge, wenn man das pro-Kopf Einkommen der landwirtschaftlichen Betriebe untersucht. Europäische Betriebe erzielten etwa 5.850 NF,14 autochtone Betriebe gerade einmal 2% davon, nämlich 130 NF. Ge-
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Tabelle 1: Entwicklung des Landbesitzes in europäischer Hand. Quelle: Elsenhans, FrankreichsAlgerienkrieg 1954-1962 S.91
schuldet sind diese Zahlen vor allem der mangelhaften Kapitalausstattung, der minderwertigen Bodenqualität15 autochtoner Betriebe sowie der Tatsache, dass sie fast ausschließlich Substanzwirtschaft betrieben, also für die Versorgung der eigenen Sippe anbauten.
Besonders der hochlukrative Weinanbau war fest in europäischer Hand. Ab 1890 wurde Wein in Algerien angebaut, und zwar fast ausschließlich für den Export nach Frankreich. Die Anbaufläche des Weins stieg von 237.000 ha im Jahre 1917 auf 400.000 ha 1951.16
2.3 Bevölkerungsentwicklung
Die Bevölkerung Algeriens betrug nach der vollständigen Eroberung durch Frankreich etwa 3,5 Millionen Menschen. Genaue Zahlen lassen sich allerdings nicht ermitteln, denn auch die Quellen dazu sind zum Teil sehr widersprüchlich. Die überwiegende Zahl der Autoren nimmt an, dass in Algerien etwa 3 Millionen Menschen lebten, es gibt aber auch Schätzungen um die 10 Millionen.17 Die damalige ethnische Zusammensetzung ist aus heutiger Sicht ebenso schwer zu bestimmen. Sie dürfte jedoch fast ausschließlich aus Berbern und Arabern bestanden haben. Die anderen Ethnien bestanden aus Juden sowie Nachkommen der zahlreichen Eroberer, die immer wieder durch das heutige Algerien gezogen sind, u.a. türkische Janitscharen und Spanier. Die europäischstämmige Bevölkerung spielte zunächst eine untergeordnete Rolle. Siedler kamen kaum nach Algerien, die meisten Zivilisten kamen im Kielwasser des Militärs nach Algerien und siedelten sich vor allem in den großen Garnisonsstädten Algier und Oran an. Sie lebten auch in erster Linie vom Militär, betrieben Kaffeestuben, Bars und reichlich zwielichtige Etablissements zur Unterhaltung der Soldaten. 1840 gab es etwa 28.000 Kolonisten. Der Großteil von Ihnen lebte vom Militär, nur 1.500 waren in der Landwirtschaft tätig.
[...]
1 Jaques Floch. „Von Algerien nach Algerien“. In: Trauma Algerienkrieg. Hg. von Christiane Kohser-Spohn und Frank Renken. Frankfurt / New York: Campus Verlag, 2006, S. 55 - 65, S. 56.
2 Frank Renken. „Kleine Geschichte des Algerienkrieges“. In: Trauma Algerienkrieg. Hg. von Christiane Kohser-Spohn und Frank Renken. Frankfurt / New York: Campus Verlag, 2006, S. 25 -54, S. 49.
3 vgl. Hartmut Elsenhans. Frankreichs Algerienkrieg 1954-1962. München: Carl Hanser Verlag, 1974, S. 92.
4 siehe dazu auch Abbildung 1 auf Seite 3.
5 vgl. Elsenhans, Frankreichs Algerienkrieg 1954-1962, 92f.
6 vgl. Elsenhans, Frankreichs Algerienkrieg 1954-1962, S. 103.
7 vgl. ebd., S. 163.
8 vgl. Elsenhans, Frankreichs Algerienkrieg 1954-1962, S. 100.
9 vgl. ebd., 101ff.
10 siehe dazu Tabelle 1 auf Seite 5.
11 vgl. Dr. Juri Semjonow. Glanz und Elend des französischen Kolonialreiches. Berlin: Deutscher Verlag, 1942, S. 240.
12 vgl. ebd., S. 243.
13 griech.:eingeboren, einheimisch.
14 NF= Nouveau Franc.
15 siehe dazu auch Abschnitt 2.1, Seite 2.
16 vgl. Elsenhans, Frankreichs Algerienkrieg 1954-1962, S. 109.
17 vgl. ebd. S.93. Elsenhans zitiert Michel Habart (130 ans de guerre algérienne, Paris : 1959), der von 10 Mil- lionen Bewohnern ausging und den Bevölkerungsrückgang auf die französischen Kampfmethoden zurückführt.