Möglichkeiten und Grenzen der Integration von Menschen mit Einschränkungen in den deutschen Sportstrukturen und die Bedeutung für die Inklusion


Diplomarbeit, 2013

104 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die Historie des Begriffes „Behinderung“
2.1. Geschichtlicher Abriss
2.2. Zwischenfazit Historie

3. Begriffsklärung von Behinderung, Integration und Inklusion
3.1. Der Begriff „Behinderung“
3.1.1. Medizinisch-juristische Definition im §2 des Sozialgesetzbuches
3.1.2. Die behindertenpädagogische Definition
3.1.3. Die Definition der WHO
3.1.4. Die soziologische Definition
3.1.5. Die verschiedenen Definitionen von Behinderung und ihre Bedeutung
3.1.6. Die Verwendung der Behinderungsbegriffe
3.1.7. Die Dekategorisierung von Behinderung
3.1.8. Verschiedene Behinderungs- und Schädigungsformen
3.1.9. Sichtweisen und Handlungsmodelle zum „Problem“ Behinderung
3.2. Der Begriff der Integration
3.2.1. In der Geschichte
3.2.2. Definition
3.2.3.Verschiedene Perspektiven von Integration
3.3. Der Begriff der Inklusion
3.3.1. In der Geschichte
3.3.2. Definition
3.4. Der Begriff Inklusion vs. Integration
3.5. Das Modell der fünf Stufen nach Sander
3.6. Exklusion/Inklusion/Integration aus systemtheoretischer Sicht
3.7. Zwischenfazit zu den Begriffen Integration und Inklusion

4. Einstellung gegenüber Menschen mit Behinderung
4.1. Die sozialen Reaktionen und ihre Ursachen
4.2. Veränderungsmöglichkeiten der sozialen Reaktion
4.3. Einstellung von Menschen mit Einschränkungen untereinander
4.4. Zwischenfazit zur Einstellungsänderung

5. Statistik - Menschen mit Behinderung in Deutschland
5.1. Menschen mit Einschränkung in den deutschen Sportstrukturen

6. Die UN-Behindertenrechtskonvention
6.1. Der Artikel 30 Punkt 5
6.2. Arbeitspapier „Bewegung leben - Inklusiv leben“

7. Die Sportstrukturen für Menschen mit Einschränkungen
7.1. Die Verbände
7.1.1. Der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB)
7.1.2. Der Deutsche Gehörlosenverband (DGS)
7.1.3. Der Deutsche Behindertensportverband (DBS)
7.1.4. Die Special Olympics Deutschland (SOD)
7.1.5 Der Behindertensportverband (DBS) aus systemtheoretischer Sicht
7.1.6 Zwischenfazit zu den Sportverbänden
7.2. Die Sportvereine
7.2.1. Definition und Gesetz
7.2.2. Vereinsmerkmale
7.2.3. Vereinstypen und Kategorien
7.2.4 Die Veränderungen im Sportverein
7.2.8. Modelle und Möglichkeiten des Integrationssports
7.2.9. Integration durch Kommunikation und Assistenz

8. Sport für Menschen mit Einschränkung
8.1. Der Spitzensport/Leistungssport
8.1.1. Der Stellenwert des Leistungssports für die Integration
8.2. Die Chancen des Wettkampfsports
8.2.1. Rollstuhlbasketball - „Inklusion als Rechenaufgabe“ (TAGESSPIEGEL, 2013,11)
8.2.2. „Unified Sports“
8.2.3. Anforderung an den Wettkampfsport
8.3. Der Gesundheitssport im DBS
8.4. Freizeit und Breitensport
8.4.1. Freizeitverhalten von Menschen mit Einschränkung
8.4.2. Freizeitverhalten von Kindern und Jugendlichen mit Einschränkung
8.4.3. Integrative Didaktik und Pädagogik im Freizeitbereich
8.4.4. Grundposition integrativer Pädagogik
8.4.5. Die „Psychomotorik“
8.4.6. Praktischen Beispiel für ein integratives Sportangebot
8.4.7. Konsequenzen für die Praxis des Integrationssports
8.4.8. Die Bedeutung der integrativen Pädagogik und Didaktik für den Sportverein

9. Sporthallen - Barrierefreiheit und Barriereabbau
9.1. Die Geschichte der Barrierefreiheit
9.2. Die Barrierefreiheit im Gesetz und im Sportalltag
9.3. Die Sporthallensituation in Deutschland
9.4. Zwischenfazit zur Sporthallensituation
9.5. Die gesetzlichen Rahmenbedingungen der Sporthallen

10. Die Aus- und Fortbildung der Übungsleiter im Integrationssport
10.1. Notwendige Schritte für die Aus- und Fortbildung

11. Aktuelle Förderprogramme für integrative Maßnahmen
11.1. Erlebte Integrative Sportschule (EISs)
11.2. Das Integrationssportprogramm des Hamburger Sportbundes
11.3. Gegenüberstellung der Förderprogramme

13. Abbildungsverzeichnis

12. Fazit

14. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

„Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ (Artikel 3 Abs. 3 im deutschen Grundgesetz)

Sind Menschen mit Einschränkungen in den deutschen Sportstrukturen benachteiligt? Der Druck dieser Frage verstärkt sich durch die seit 2009 in Deutschland geltende UNBehindertenrechtskonvention (UN-BRK), deren zentrale Begriffe die Chancengleichheit, die Würde, die Barrierefreiheit und die selbstbestimmte und gleichberechtigte Teilhabe sind. Darüber hinaus tauchen in ihr die Begriffe Integration und Inklusion auf. Die UN-BRK stellt aktuelle strukturelle Bedingungen auf den Prüfstand und formuliert inhaltliche Fragen. Wie sehen integrative und inklusive Konzepte aus? Dieser politischen Dimension und Entwicklung können sich die deutschen Sportstrukturen nicht entziehen. Aus diesem Grund ist die wissenschaftliche Fragestellung meiner Arbeit:

Möglichkeiten und Grenzen der Integration von Menschen mit Einschränkungen in den deutschen Sportstrukturen und die Bedeutung für die Inklusion

Die vorliegende Arbeit untersucht strukturelle und inhaltliche Fragen. Die zentralen Begriffe Behinderung, Integration und Inklusion sind in ihrer Bedeutung und Entwicklung durch die Geschichte und den Autoren der jeweiligen Wissenschaftsbereiche geprägt und bedürfen zuerst einer Klärung. Die Frage nach integrierenden und ab- und ausgrenzenden Mechanismen ist eine klassische Frage der Sportsoziologie. Aus diesem Grund orientiere ich mich an systemtheoretischen Strategien, um die deutschen Sportstrukturen zu analysieren, im Allgemeinen und im behindertenspezifischen Bereich. Auf Verbands- und Vereinsebene wird der aktuelle Stand skizziert und bewertet. Die inhaltliche Analyse untersucht bestehende Sportangebote für Menschen mit Einschränkungen und ihre Relevanz für die gesellschaftliche Teilhabe. Die Rahmenbedingungen der deutschen Sportstrukturen werden betrachtet, um ihre Abhängigkeit vom Umfeld darzustellen. Die Erkenntnisse dieser Arbeit formulieren eine aktuellen Stand, die Möglichkeiten und Grenzen und eine Perspektive für die Zukunft.

Persönliche Erfahrungen sind in der Wissenschaft oft der Ausgangspunkt für die Wahl der wissenschaftlichen Forschungsfrage. So ist es auch bei mir. Mit dieser Arbeit beantworte ich mir Fragen, die sich durch meine praktische Arbeit in über zehn Jahren im Integrationssport des SV Pfefferwerk e.V. Berlin für mich ergeben haben. Aus diesem Grund sind viele Themen anschaulich und praktisch dargestellt. Diese Arbeit versucht einfache Antworten auf komplizierte Fragen zu finden.

In der Arbeit wird auf die feminine Form verzichtet aus Gründen der besseren Lesbarkeit.

2. Die Historie des Begriffes „Behinderung“

Um die momentane gesellschaftliche Diskussion zum Thema Inklusion und die Integration von Menschen mit Behinderung zu verstehen, muss als Ausgangspunkt die Geschichte betrachtet werden. Dadurch werden Hintergründe, Entwicklungen und die verschiedenen Positionen klar. Die nachfolgenden Fakten haben keinen Anspruch auf lückenlose Vollständigkeit, sondern beschreiben nur bestimmte Epochen und historische Eckpunkte, die für das Thema relevant sind.

2.1. Geschichtlicher Abriss

1900

Anfang des 20. Jahrhunderts „gab es keine Bezeichnungen, die alle Menschen mit Behinderungen eingeschlossen hätten, sondern nur […] Bezeichnungen für Menschen mit spezifischen Formen von Behinderung bzw. Krankheit: Krüppel (Lahme, Invalide, Gebrechliche), Blinde, Taubstumme, Blöde (Idioten, Schwachsinnige), Irre (Geisteskranke, Gemütskranke), Epileptiker (Epileptische, Fallsüchtige) usw.“(SCHMUHL, 2010,11) Die Bezeichnungen „Krüppel“ und „Irre“ signalisieren schon Aus- und Abgrenzung, sowie das Verhältnis zu Schönheit und Ideal. (Vgl. MÜRNER & SIERCK, 2012,12)

1914

Bei der Entstehung von „Krüppelheimen“ sind zwei Namen zu erwähnen, zum einen den Arzt Konrad Biesalski und zum anderen den Pädagogen Hans Würtz. Der Grundansatz war, „Krüppel“ soweit zu qualifizieren und zu „entkrüppeln“, so dass sie wieder erwerbstüchtig werden, um Ihren Beitrag zur Gesellschaft leisten zu können. Die Entstehung dieser Einrichtungen hatte nicht nur einen sozialen Hintergrund, sondern die „institutionelle Eigendynamik der Anstalten sowie das Interesse der Direktoren an der Ausweitung von Kompetenzen, Geldmitteln und Sozialprestige spielten ebenfalls eine Rolle bei der Expansion von Behinderteneinrichtungen. Die neuen ‚Behindertenfachleute´ verstärkten durch vielfältige publizistische Aktivitäten ganz zielstrebig die Tendenz der Gesellschaft, behinderte Menschen in Sonderanstalten einzuweisen.“ (FANDREY, 1990, 116)

1918

Nach dem ersten Weltkrieg gab es plötzlich viel Diskussion zum Begriff „Krüppel“, denn die bis dahin allgemeingültige Bezeichnung passte nicht mehr zum Bild der kriegsversehrten Veteranen und so gab es neue Begriffe, die in Sprache und Gesetz Einzug hielten.

Der im Entstehen begriffene Weimarer Wohlfahrtsstaat nahm sich umgehend der sozialen Probleme der Kriegsbesch ä digten ´ an. Am 9. Januar 1919 wurde die Verordnung ü ber die Behandlung Schwerbesch ä digter ´ erlassen, die erstmals in der Geschichte der deutschen Sozialpolitik ü ber eine gesetzliche Einstellungspflicht verf ü gte: Jeder Arbeitgeber hat fortab ein Prozent seiner Arbeitspl ä tze Schwerbesch ä digten ´ zur Verf ü gung zu stellen. Die Verordnung f ü hrte einen neuen Begriff ein: den Schwerbesch ä digten ´ . Als schwerbesch ä digt ´ galt jeder ´ Kriegsbesch ä digte ´ , dessen Erwerbsf ä higkeit um mindestens f ü nfzig Prozent gemindert war. [ ] Auf der sprachpolitischen Ebene hingegen brachte die Schwerbesch ä digtengesetzgebung eine folgenschwere Unterscheidung: Aus Menschen, deren (k ö rperliche) Behinderung auf eine Kriegs-, Arbeits- oder Unfallverletzung zur ü ckzuf ü hren war, wurden Schwerbesch ä digte ´ , alle anderen Menschen mit (k ö rperlichen) Behinderungen blieben Kr ü ppel`. (SCHMUHL, 2010, 51)

1920

Das deutsche Krüppelfürsorgegesetz vom 6. Mai 1920 definiert das Krüppelheim als eine Anstalt, „in welche durch gleichzeitiges Ineinandergreifen von Klinik, Schule, Berufsausbildung und Berufsberatung der Krüppel zur höchstmöglichen wirtschaftlichen Selbstständigkeit gebracht werden soll“. (MÜRNER & SIERCK, 2012, 20) Neben den Krüppelheimen existierten aber keine anderen Möglichkeiten zur Ausbildung.

Ab 1922 wird der „Ausweis für Schwerbeschädigte“, auch Behindertenausweis genannt, vergeben. (Vgl. CLOERKES, 2007, 55) Das Dokument ist nach wie vor zwiespältig, denn es steht zum einem für das fortschlichte Recht auf Nachteilsausgleich und zum anderen in der Tradition von der Verteilung von Almosen. (Vgl. MÜRNER & SIERCK, 2012, 13)

Bei der „Reichsgebrechlichenzählung“ von 1925 wurde der Begriff „Krüppel“ durch den Begriff „Gebrechliche“ ersetzt. Behinderung als Krankheit prägte nach wie vor die damalige Vorstellung. (Vgl. STAUTNER, 1998, 44)

In der Volkszählung von 1950 werden die „Körperbehinderten“ erfasst, im Vordergrund steht die Erwerbsfähigkeit. In der Folge werden von 1957 -1976 neun stichprobenartige Befragungen in der Bevölkerung durchgeführt, um die Dimensionen für die Wirtschaft abzuschätzen. Die Möglichkeiten der Rehabilitation und auch der Prävention, bezüglich der Arbeitsunfälle, gewinnen an Bedeutung. (Vgl. STAUTNER, 1998, 45)

1960

Das um 1960 von Dänemark und Schweden ausgehende Normalisierungsprinzip führte zu einer grundsätzlichen Diskussion über die „soziale Separation“ von Menschen mit geistiger Behinderung. Dabei war nicht das sogenannte Normalmachen der Person beabsichtigt, sondern die „Normalisierung der Hilfen“, die Beförderung und Befähigung alltäglicher Lebensbedingungen. In Deutschland wurde das Normalisierungsprinzip durch WALTER THIMM (1936 -2006) bekannt. Er setzte sich mit den Begriffen Normalisierung und Integration auseinander und brachte sie auf folgende Formel: „Integration durch Normalisierung der Hilfen“. Damit unterstrich er, dass das Normalisierungsprinzip auf die „Lebensumstände, Strukturen, Einrichtungen, niemals aber auf Personen bezogen“ wird. (THIMM, 1984,10)

Langsam wurde, u.a. durch das Normalisierungsprinzip und die Integrationsbestrebungen, die Ausdifferenzierung der Sonderschulen und der sonderpädagogischen Ansätze in Frage gestellt. Deshalb ist auch die Rede von einem „Paradigmenwechsel“, also von veränderten perspektivischen Denkmustern zu Behinderung, so dass Behinderung nicht als Gegenstand betrachtet wird, sondern als ein Phänomen, das erst in einem sozialen Kontext entsteht. (Siehe Kapitel 2)

„Behinderung blieb bis in die 1970er Jahre das Besondere, das ganz Andere.“ (BÖSL, 2009, 339) Es war immer noch vorwiegend von individuellen Defiziten, Defekten, Schädigungen oder Verlusten die Rede, die kompensiert, reduziert oder rehabilitiert werden sollten. Die Emanzipationsbewegung änderte allmählich diese Sichtweise.

1980

Die Selbstbestimmungsbemühungen von Menschen mit Behinderung wurden immer offensiver und zum Teil radikaler. Bei der Eröffnungsfeier des „UNO- Jahr der Behinderten“ in der Dortmunder Westfalenhalle wurde die Bühne von Vertretern der „Krüppelgruppen“ besetzt und folgendes Lied gesungen:

„Danke für Eure Gaben

Danke für dieses UNO-Jahr

Danke, dass wir euch Helfer haben

Alles bleibt, wie es war.“ (MÜRNER & SIERCK, 2009, 67)

Ein anderes Beispiel dafür ist, die Attacke von Franz Christoph gegen den damaligen Bundespräsidenten Karl Carstens am 19. Juni 1981 bei der Reha-Messe in Düsseldorf. Die Bildzeitung titelte: „Bundespräsident mit Krücke geschlagen“. Er schrie: „Der Widerstand der Behinderten wird nicht ernst genommen.“ (KELLERMANN, 2012, 6) Doch der Vorfall in Düsseldorf wurde allgemein schnell zu den Akten gelegt und eine Auseinandersetzung mit „radikalen Behinderten“ eher als unangenehm angesehen. Direktes Ergebnis dieser Diskussionen ist ab Mitte der 1980er Jahre die Entstehung von Selbstbestimmt-Leben- Initiativen, in denen behinderte Personen selbst alle Entscheidungen treffen und die Handlungen bestimmen. Maßgeblich für die Arbeit in deren Beratungsstellen wurde das Peer Konzept - Betroffene beraten Betroffene. (Vgl. CLOERKES, 2007, 77ff.)

1980 verabschiedete die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ihre erste Klassifizierung von Schädigung (impairment), Beeinträchtigung (disability) und Behinderung (handicap), the International Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps (ICIDH). Dieser Katalog vollzog nicht nur die Trennung von Krankheit und Behinderung, sondern nahm neben dem körperlichen Erscheinungsbild erstmals auch gesellschaftliche Hindernisse mit in den Blick. (Vgl. WHO, 1980, 27 ff.)

1994

Am 10. Juni 1994 wurde die „Salamanca-Erklärung und der Aktionsrahmen zur Pädagogik für besondere Bedürfnisse“ verabschiedet. Fast dreihundert Vertreter von mehr als neunzig Regierungen und ca. vierundzwanzig internationalen Organisationen entwickelten Grundsätze für die inklusive Bildung behinderter Schüler. In dieser Erklärung taucht neben dem Begriff der Integration, der Begriff der Inklusion auf. (Vgl. UNESCO, 1994, 1) Am 15. November 1994 wurde im Grundgesetz für das geeinte Deutschland im Artikel 3, Absatz 3 folgender Satz eingefügt: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ Alle etablierten Behindertenorganisationen und Selbstbestimmt-Leben-Initiativen feierten diesen Zusatz. (Vgl. CLOERKES, 2007, 41)

Im Oktober 1997 startete „Aktion Sorgenkind“ in einem Aktionsbündnis mit mehr als neunzig Verbänden sowie Vereinen der Behindertenhilfe und Behindertenselbsthilfe eine große Werbekampagne „Aktion Grundgesetz“, die den Artikel 3, Absatz 3 bekannt machen sollten, da viele Bundesbürger den Zusatz im Grundgesetz damals nicht kannten. (Vgl. CLOERKES, 2007, 85ff.) Die Slogans lauteten u.a.: „Die Würde des Menschen ist antastbar.“ - „Behindert ist man nicht. Behindert wird man.“ - „Gesucht wird: Der perfekte Mensch.“(MÜRNER & SIERCK, 2012, 123)

2000

Am 1. März 2000 wurde aus der „Aktion Sorgenkind“ die „Aktion Mensch“. Die 1964 entstandene Organisation rückte erstmals behinderte Kinder in den Fokus der Gesellschaft, durch die Berichterstattung im ZDF, durch einen bis dahin einmaligen Spendenaufruf und schließlich mit der Soziallotterie, die heute die Größte in Deutschland ist. Die „Aktion Mensch“ vermeldet: „Seit ihrer Gründung im Jahr 1964 konnte die Soziallotterie rund 3,5 Milliarden Euro an gemeinnützige Vorhaben weitergeben. Allein im Jahr 2012 hat die Aktion Mensch mit rund 153 Millionen Euro mehr als 6.500 soziale Projekte in ganz Deutschland unterstützt.“(AKTION MENSCH, 2013) Aber es gibt auch kritische Äußerungen gegenüber „Aktion Mensch“, die selbst bekannt geben, dass in den 1960er Jahren der Name „Sorgenkind“ angemessen gewesen sei. „Eine Namensänderung regt im besten Fall das Sprachbewusstsein an, die bei dieser traditionsreichen Soziallotterie mitgedachten Urteile und Klischees beim Spenden für Behinderte kann sie nicht aufheben.“(MÜRNER & SIERCK, 2012, 128) Eine weitgehende Kritik im Zusammenhang der Lotterie besteht darin, dass Nichtbehinderte ihre Spielfreude mit dem guten Zweck kaschieren können. Heute heißt der Slogan: „Das Wir gewinnt“. (AKTION MENSCH, 2013) BÖSL schreibt: „Auf Grund ihrer Beliebtheit trugen diese Sendungen stark zur medialen Konstruktion von Behinderung bei. Dies wog umso schwerer, als das Fernsehen einerseits zu einem zentralen Informations- und Unterhaltungsmedium der Deutschen geworden war, und es andererseits bis Anfang der 1970er Jahre kaum andere Fernsehbeiträge gab, die Behinderung sachlich thematisierten und in der Lage gewesen wären, ein Gegenbild zu vermitteln.“(2009, 10)

Am 22. Mai 2001 beschloss die Vollversammlung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF). Mit der ICF wird der Versuch unternommen, einen Katalog von Merkmalen und Komponenten zu schaffen, um sich über Gesundheitsprobleme und -bedingungen weltweit zu verständigen. Der Katalog ist für behinderte Menschen relevant, weil er als Richtlinie für die Genehmigung rehabilitativer Leistungen dient. (Vgl. MÜRNER & SIERCK, 2012, 129) Die 2001 von der WHO verabschiedete neue International Classification of Functioning, Disabilitiy and Health (ICF) greift diese Dreiteilung auf, indem sie von „Schädigung“ (impairments), „Aktivitätsbeeinträchtigung“(activity limitations) und „Partizipations- einschränkungen“ (participation restrictions) spricht. Diese Auffächerung des Behindertenbegriffs hat den Vorteil, die Dimensionen des Körpers, der individuellen Lebensführung und der gesellschaftlichen Zuteilung von Lebenschancen auseinanderzuhalten. (Vgl. Hirschberg 2003,2009)

2006

Am 13. Dezember 2006 verabschiedete die Generalkonferenz der Vereinten Nationen in New York das „Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderung“ (kurz: UN- Konvention oder Behindertenrechtskonvention/BRK genannt). Im März 2007 wurde die Konvention von Deutschland ratifiziert und trat 2009 in Kraft. (Vgl. MÜRNER & SIERCK, 2012, 132)

Die Vorstellung von Menschen mit Behinderung wird derzeit in den Medien vorzugsweise durch zwei Schlagworte oder Bilder bestimmt, die zum einen das Motiv der Verletzlichkeit aufnimmt, zum anderen aber behinderte Menschen heroisiert. Mit anderen Worten: „Entweder tauchen Menschen mit Behinderung als Opfer auf, die Mitleid, Betreuung und Hilfe brauchen. Oder sie sind Helden, die Barrieren mit übermenschlichen Kräften bezwingen und erstaunliche Leistungen vollbringen. Beide Bilder unterstellen, dass Behinderung immer Leiden bedeutet, das wahlweise tapfer ausgehalten oder mit aller Macht überwunden werden muss. Der Lebensrealität behinderter Menschen entsprechen diese Bilder jedoch kaum.“ (MASKOS, 2011, 21)

2.2. Zwischenfazit Historie

Die historischen Fakten zu behinderten Menschen beschreiben Ausgrenzung und Sonderbehandlung, alltägliche Erniedrigung und die Internierung in spezielle Institutionen. Das „Opferbild gehört zu den vorherrschenden historischen Vorstellungen, die aktuell wirksam sind. Es ist als sehr zwiespältig einzuschätzen, da es historisch-kritische und gleichzeitig sehr traditionelle Vorstellungen eines aufgrund seines So-Seins ewigen Behinderten verbindet.“ (SCHÖNWIESE, 2008)

Diese traditionellen Mechanismen bezüglich Umgang, Sprache, mediale Darstellung und gesellschaftlicher Wahrnehmung und Wertschätzung gegenüber Menschen mit Handicaps, müssen nach wie vor weiter aufgeweicht werden, um die Lücke zum gesetzlichen Anspruch zu schließen und gesellschaftliche Teilhabe in allen Bereichen möglicher zu machen.

3. Begriffsklärung von Behinderung, Integration und Inklusion

„Falsche Begriffe führen zum Krieg“ (Chinesisches Sprichwort)

Die Bedeutung der Begriffe: Behinderung, Integration und Inklusion beeinflussen sich historisch und führen zu Diskussionen in den einzelnen Wissenschaftsbereichen, die auch heute noch nicht abgeschlossen sind und weiter gehen werden. Um den Dimensionen der Begriffe gerecht zu werden, stelle ich die verschiedenen Positionen und Perspektiven dar und formuliere am Ende mein Verständnis.

3.1. Der Begriff „Behinderung“

Eine allgemein anerkannte Definition von Behinderung existiert nicht, (Vgl. SANDER, 1994, 99) obwohl der Begriff nicht neu und alltäglich in Gebrauch ist. RHEKER stellt fest, dass es bei der Suche nach einer Definition für Behinderung die unterschiedlichsten Perspektiven gibt, die durch den jeweiligen Autor geprägt sind, die medizinische, soziologische, pädagogische, rechtliche usw.. Einige Definitionen sind diskriminierend und andere grenzen behinderte Menschen gesellschaftlich aus. (Vgl. 2005, 23)

3.1.1. Medizinisch-juristische Definition im §2 des Sozialgesetzbuches

„Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher Teilhabe am Leben der Gesellschaft beeinträchtigt ist.“ (§2 Satz 1 SGB XI)

Eine Schwerbehinderung liegt ab einem Grad der Behinderung von 50 vor (§2 Abs. 2 SGB IX). Die Feststellung des Grades der Behinderung erfolgt auf Antrag des behinderten Menschen (§69 Abs. 1 SGB IX). Die Auswirkung einer Behinderung wird als Grad der Behinderung nach Zehnergraden abgestuft und nach den „versorgungsmedizinischen Grundsätzen“ der Versorgungsmedizin-Verordnung festgestellt. Die mögliche Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen ist abhängig von der Höhe des Grades der Behinderung.

Die medizinisch-juristische Definition von Behinderung hat maßgeblich Ihre Bedeutung für die Erteilung eines Behindertenausweises und somit auf den Anspruch auf Nachteilsausgleich und medizinische und therapeutische Maßnahmen.

3.1.2. Die behindertenpädagogische Definition

Die erste Orientierung an der medizinischen Terminologie „mit ihrer Krankheitsklassifikation führte auch in der Heilpädagogik zu einer die ‚Abnormität` betonenden […] Sichtweise“, (SANDER, 1994, 99) die zur Folge hat, dass die Integration behinderter Menschen erschwert wird. Diese Begrifflichkeiten vernachlässigen für BLEIDICK den Aspekt, dass Behinderung auch ein Produkt sozialer und gesellschaftlicher Zuschreibungsprozesse ist. (Vgl. 1985,254f.) EBERTWEIN bezeichnet es als wichtigste Funktion der Integrationspädagogik, „den Wandel vom medizinischen zum erziehungswissenschaftlichen Verständnis von Behinderung in Theorie und Praxis zu vollziehen.“ (1994, 58)

BLEIDICK entwickelt folgende behindertenpädagogische Definition:

„Als behindert gelten Menschen, die infolge einer Schädigung ihrer körperlichen, geistigen oder seelischen Funktion soweit beeinträchtigt sind, dass ihre unmittelbaren Lebensverrichtungen oder ihre Teilhabe am Leben der Gesellschaft erschwert werden“. (1999, 15)

CLOERKES findet, dass diese Definition einen sehr weiten Rahmen spannt, die jeden in unserer Gesellschaft betreffen kann und es fehlt für ihn, „wie es zum behindert sein kommt, also die ganz wesentliche Abhängigkeit des Zustandes von der gesellschaftlichen Reaktion auf eine ‚Schädigung`.“ (2007, 5) Die Unterscheidung zwischen Schädigung und Behinderung findet er sinnvoll.

3.1.3. Die Definition der WHO

Diese außerindividualen Bedingungen werden bei der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) berücksichtigt. Es wird unterschieden und ein Zusammenhang hergestellt zwischen Schädigung (impairment), Beeinträchtigung (disability) und Behinderung (handicap). Nach langen Vorarbeiten definiert die WHO im Jahre 1980 folgendermaßen:

Impairment (Sch ä digung) : St ö rung auf der organischen Ebene, morphologische Sch ä den (menschlicher Organismus allgemein)

Disabilitiy (Behinderung) : St ö rung auf der personalen Ebene, funktionelle St ö rung (Bedeutung f ü r einen konkreten Menschen)

Handicap (Benachteiligung) : M ö gliche Konsequenzen auf der sozialen Ebene, soziale Beeintr ä chtigungen (Nachteile, durch die die Ü bernahme von solchen Rollen eingeschr ä nkt oder verhindert wird, die f ü r die betreffende Person in Bezug auf Alter, Geschlecht, soziale und kulturelle Aktivit ä ten als angemessen gelten.(CLOERKES, 2007, 5)

CLOERKES kommt zu dem Schluss, dass der „entscheidende Punkt für den Soziologen demnach das Handicap ist, als mögliche Folge von Schädigung/Behinderung.“ (2007, 5) SANDER analysiert die WHO-Begriffe und ihre Übersetzung und hält fest: sie „sind für integrationsorientiertes Nachdenken über den Behinderungsbegriff anregend und hilfreich“. (1994, 104) Und wenn Behinderung nach dieser Definition als sozial bedingte Folge von Schädigung oder Beeinträchtigung verstanden wird, gewinnen die sozialen Rahmenbedingungen und soziologischen Gegebenheiten, die „außerindividualen Gegebenheiten“ an Bedeutung.

3.1.4. Die soziologische Definition

CLOERKES kommt in Zusammenarbeit mit NEUBERT 1988 zu einer Arbeitsdefinition mit der sie allen Aspekten von Behinderung im Feld der Soziologie versuchen, gerecht zu werden. Die 3 Orientierungspunkte Ihrer Definition sind, die „Stimulusqualität“, d.h. bestimmte Merkmale lösen immer eine Reaktion aus und erzeugen Aufmerksamkeit, die „Andersartigkeit“, d.h. die Abweichung von der sozialen Erwartung und der Norm, und die „negative Bewertung“ der Andersartigkeit.

Die Definition lautet:

a) Eine Behinderung ist eine dauerhafte und sichtbare Abweichung im k ö rperlichen, geistigen oder seelischen Bereich, der allgemein ein entschieden negativer Wert zugeschrieben wird. Dauerhaftigkeit unterscheidet Behinderung von Krankheit. Sichtbarkeit ist im weitesten Sinne das Wissen anderer Menschen um die Abweichung.

b) Ein Mensch ist behindert, wenn erstens eine unerw ü nschte Abweichung von wie auch immer definierten Erwartungen vorliegt und wenn zweitens deshalb die soziale Reaktion auf ihn negativ ist. (CLOERKES, 1988, 87)

Somit ist „Behinderung nichts Absolutes, sondern erst als soziale Kategorie begreifbar. Nicht der Defekt, die Schädigung, ist ausschlaggebend, sondern die Folgen für das einzelne Individuum.“ (CLOERKES, 2007, 9) Und SANDER definiert: „Behinderung liegt vor, wenn ein Mensch auf Grund einer Schädigung oder Leistungsminderung ungenügend in sein vielschichtiges Mensch-Umwelt-System integriert ist.“ (1994, 105) „Behindert ist man nicht“, urteilt MARIANNE BUGGENHAGEN, „behindert wird man gemacht. Durch Architektur, durch andere Menschen, durch Gedankenlosigkeit und Diskriminierung.“ (1996, 12)

3.1.5. Die verschiedenen Definitionen von Behinderung und ihre Bedeutung

Die medizinisch-juristische Definition spielt im Lebensalltag von Menschen, d.h. besonders im verwaltungstechnischen und sozialrechtlichen Bereich, eine große Rolle. Durch sie wird der Anspruch auf finanzielle, personelle und materielle Unterstützung definiert, z.B. günstigerer Eintritt in öffentlichen und privaten Einrichtungen, die Unterstützung von professionellen Helfern, der Anspruch auf Fahrdienste, Rehabilitation, Therapien und technische Hilfsmittel.

Die Definitionen von BLEIDICK und SANDER bieten die Möglichkeit den Status der Behinderung aufzuheben, mit dem Versuch die Teilhabechancen für Menschen mit und ohne Einschränkungen in allen Strukturen generell gleichzustellen, d. h. die Schädigung wird akzeptiert und normal und die Fähigkeiten rücken in den Fokus.

Die behindertensoziologische Definition von CLOERKES und NEUBERT bietet aus meiner Sicht den komplettesten Ansatz. Das die „Andersartigkeit“ immer eine spontane Reaktion auslöst, ist normal, erst wenn die soziale Reaktion negativ bewertet wird, wird ein Mensch behindert. Somit ist es natürlich eine Reaktion auf eine Schädigung von einem Menschen zu zeigen, diese vielleicht sogar anzusprechen und als ein persönliches Merkmal zu akzeptieren. Dies entspannt die Situation für alle Beteiligten. Erst durch z.B. Ignoranz, besondere Vorsicht, Mitleid oder übertriebene Fürsorge können negative soziale Reaktionen ausgelöst werden. Natürlich kann man zu einem „Rollstuhlfahrer“ sagen: „Hi. Na, wie geht`s?“ Das kann witzig und der Beginn einer Freundschaft sein. Die Bewertung der Situation von allen Beteiligten ist der ausschlaggebende Punkt und setzt natürlich auch ein gewisses Maß an Sensibilität voraus.

3.1.6. Die Verwendung der Behinderungsbegriffe

Die Definition der WHO vollzieht eine klare Trennung zwischen der Schädigung, Behinderung und Handicap, somit wird klar, dass dies grundverschiedene Perspektiven sind. Der Begriff der „Behinderung“ oder des „Handicaps“ ist also im sozialen Kontext zu gebrauchen, eine Störung auf der organischen Ebene soll als Schädigung, Einschränkung oder Beeinträchtigung dargestellt werden oder als das betitelt werden, was es ist, z.B. er kann nicht sehen, hören oder gehen oder sie hat einen Arm.

Wichtig dabei ist, dass dies als eines von vielen Persönlichkeitsmerkmalen wahrgenommen wird. SCHÖLER macht hierzu folgenden Vorschlag: Der Begriff „Behinderte“ sollte ersetzt werden durch „Kinder/Jugendliche mit Behinderung“, denn „die Tatsache der Behinderung prägt nicht die gesamte Persönlichkeit“. (1994, 109) Dies gilt ebenso für die Begriffe Einschränkung oder Beeinträchtigung, d.h. Kinder mit Einschränkungen oder Jugendliche mit Beeinträchtigungen. Eine wirklich einheitliche Verwendung der Begriffe hat sich im alltäglichen und wissenschaftlichen Sprachgebrauch noch nicht durchgesetzt.

3.1.7. Die Dekategorisierung von Behinderung

In der Diskussion um die Begriffe und um der Diskriminierung vorzubeugen, fordern Behindertenpädagogen sogar den völligen „Verzicht auf die Verwendung von Behindertenkategorien, die sogenannte Dekategorisierung.“ (BENKMANN, 1994, 4)

Ich schließe mich folgenden Standpunkten an:

CLOERKES: „In der behindertensoziologischen Analyse kommt man nicht ohne wissenschaftliche Definitionen und Abgrenzungskriterien aus.“ (2007, 8) BLEIDICK stellt fest: „Der Begriff der Behinderung ist unverzichtbar, seine Ambivalenz steht außer Frage.“ (1999, 84) CHRISTOPH schreibt: „Solange sich die hinter der ‚sprachlichen Entmündigung von Behinderten´ stehende Einstellung nicht ändert, hilft auch ein Austausch von Bezeichnungen auf Dauer nicht.“ (1990, 89) Die Begriffe haben Orientierungsfunktion und der Abbau von Diskriminierung vollzieht sich nicht über das Verbot von Begriffen, sondern über den bewussten Gebrauch.

3.1.8. Verschiedene Behinderungs- und Schädigungsformen

„Eine genaue Beschreibung einzelner Behinderungsarten kann dagegen durchaus hilfreich sein, da sie nichtbehinderten Menschen Orientierungspunkte zum Umgang von Menschen mit einer konkreten Behinderung gibt.“ (RHEKER, 2005, 5)

Aufgrund der Vielfältigkeit der Behinderungen, die sich in vielen Fällen überschneiden, fällt es schwer, sie konkret einzuordnen. Sie werden nach Ort, Ursache und ihren Folgen gegliedert. Die geläufigste Einteilung ist die Trennung von körperlicher Behinderung und geistiger Behinderung. Um sie noch feiner zu unterscheiden, nehmen KOSEL und FROBÖSE folgende Einteilung vor. Es gibt die Sinnesbehinderung, die geistige und psychische Behinderung und die körperliche Behinderung. Der Bereich der Sinnesbehinderung ist relativ überschaubar und wird in Hörschäden und Sehschäden gegliedert. Die geistige und psychische Behinderung wird unterschieden nach seelischen und geistigen Prozessen. Die körperliche Behinderung umfasst Funktionsbeeinträchtigungen des Stütz- und Bewegungsapparates, des zentralen und peripheren Nervensystems und der inneren Organe. (Vgl. 1999, 20)

3.1.9. Sichtweisen und Handlungsmodelle zum „Problem“ Behinderung

Behinderung ist niemals absolut zu sehen, sondern relativ in verschiedenen Zusammenhängen. Wichtig für den wissenschaftlichen Zugang zum Problem, sind die vier Paradigma (Sichtweisen) nach BLEIDICK, sowie die fünf handlungsleitenden Modelle nach KOBI. (Vgl. CLOERKES, 2007, 15) Beide analysieren die Geschichte, den Umgang und den damit verbundenen strukturellen Entwicklungen in der Gesellschaft von Menschen mit Einschränkungen. Zum Problem Behinderung gibt es verschiedene Sichtweisen von deren Richtigkeit die jeweiligen Anhänger überzeugt sind.

3.1.9.1. Die vier Paradigmata nach Bleidick

Die „Paradigmen der Behindertenpädagogik“ von BLEIDICK bildeten den Grundstein der Behindertenpädagogik und sind bis heute prägend für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen „Behinderung.“ (BLEIDICK, 1976, 411f.)

Das personenorientierte Paradigma

(auch: medizinisches Modell, ätiologisches Paradigma, individuumzentriertes Paradigma). Diese Sichtweise gilt allgemein als überholt. Die Ursache wird in der Person gesucht und Behindertsein ist ein persönliches weitgehend unabänderliches und hinzunehmendes Schicksal. Die Relativität von Behinderung wird kaum gesehen. (vgl. CLOERKES, 2007, 10) Der medizinische Ansatz versucht durch die Prävention (Vorbeugung), die Palliation (Linderung) oder die Rehabilitation (Wiederherstellung und Erhalt) von körperlichen und geistigen Fähigkeiten dem Problem Behinderung zu begegnen, d.h. nicht der soziale Kontext von Behinderung spielt eine primäre Rolle, sondern die Schädigung. Behinderungen werden klassifiziert, normiert und in Grade eingeteilt.

Das interaktionistische Paradigma

Behinderung ist ein Resultat sozialer Reaktion, da der behinderte Mensch von der Norm abweicht und in unerwünschter Weise anders ist. Er wird typisiert, etikettiert, stigmatisiert und kontrolliert. Behindertsein ist ein Zwangsstatus und beruht auf der Zuschreibung von den Erwartungshaltungen durch die Anderen. (vgl. CLOERKES, 2007, 10) Die soziale Reaktion auf Grund von z.B. Unwissenheit, Überforderung und Unsicherheit gegenüber eines Menschen mit Einschränkungen führt dazu, dass die Bedürfnisse und Wünsche nicht berücksichtigt werden und für sie entschieden wird, was das Beste für sie ist.

Das systemtheoretische Paradigma

Behinderung ist abhängig von der erzwungenen Ausdifferenzierung nach Leistung durch das Bildungs- und Ausbildungswesen in unserem Gesellschaftssystem. Schule hat eine Qualifikations- und Selektionsfunktion und Sonderschulen sind zur Entlastung des allgemeinen Schulwesens da. (vgl. CLOERKES, 2007, 10) Diese besonderen Räume für Menschen mit Einschränkung haben das Ziel sie für die Teilhabe zu befähigen, d.h. Integration durch Separation. Die Gesellschaft formuliert die Bedingungen für Teilhabe. Wer diese Norm nicht erfüllt hat keine Chance. Dadurch werden Ausgrenzungsmechanismen verstärkt.

Das gesellschaftliche Paradigma

(auch politökonomisches oder materialistisches Paradigma) Behinderung ist ein Gesellschaftsprodukt und kann nur über die Produktions- und Klassenverhältnisse in einer Gesellschaft verstanden werden. Behinderung ist insofern typisch für kapitalistische Gesellschaftssysteme. Die Schule für Behinderte hat ihren Stellenwert, indem sie Behinderte für schlecht bezahlte Tätigkeiten produziert und somit ein Resultat kapitalistischer Gesellschaftsordnung darstellt. (Vgl. CLOERKES, 2007, 10f) Es zeigt sich in den Möglichkeiten der Ausbildung, d.h. was wird Menschen mit Einschränkung zugetraut. Haben sie die Chance auf einen anerkannten Job oder können sie studieren? In dieser Frage steckt das gesellschaftliche Paradigma.

3.1.9.2. Die fünf Handlungsmodelle nach Kobi

KOBI (1977, 11f) diskutiert fünf Handlungsmodelle als „Grundmuster, nach welchem für den konkreten Einzelfall schließlich Handlungskonzepte und -strategien entwickelt werden.“

Im Caritativen Modell haben Menschen mit Behinderung die Rolle der Opfer bzw. Almosenempfänger. Auf Grund von Mitleid und Schuldgefühlen wird gespendet und gestiftet, um das eigene Gewissen zu beruhigen. CLOERKES bezeichnet es auch als „christlich motiviertes Helfen“ und zieht Parallelen zur modernen Wohlfahrtspflege und zur organisierten Großraumbettelei. (Vgl. 2007, 11) Vor diesem Hintergrund müssen Spenden und Stiftungen (siehe Kapitel 2 „Aktion Sorgenkind“) kritisch betrachtet werden, d.h. in welcher Weise werden Menschen mit Einschränkung finanziell Unterstützt und was für ein Bild entsteht dabei von ihnen.

Das Exorzistische Modell stellt Behinderung als etwas Bösartiges und Personenfremdes dar. Im kirchlich geduldeten Exorzismus wird es ausgetrieben.

Beim Rehabilitations-Modell steht das Reparieren bzw. das Wiederfunktions-tüchtig machen von Körperbehinderten im Mittelpunkt, damit sie wieder sinnvolle und produktive Mitglieder der Gesellschaft werden und die Eingliederung besser gelingt.

Das Medizinische Modell beschreibt die Behinderung als eine Krankheit, die ihre soziale und subjektive Dimension verliert. Es liegt eine betriebsbedingte Störung vor, deren Ursache bekämpft wird und was somit zur Heilung führt.

Das Interaktions-Modell besagt, „es gibt keine Behinderung.“ (MOLL & LIEPE, 2010) Sie wird über Zuschreibung durchgesetzt. CLOERKES bezieht sich auf WATZLAWICKS Kommunikationstheorie und sagt, dass Interaktionen immer kreisförmig sind und nicht linear. Entsprechend ist jedes Verhalten sowohl Ursache als auch Wirkung, und der Mensch ist stets Subjekt und Objekt zugleich. (Vgl. CLOERKES, 2007, 11) Dieses Modell bietet die Möglichkeit sich vom medizinischen und caritativen Modell zu entfernen und Behinderung als soziale Kategorie zu begreifen.

Im Verlauf meiner Arbeit werde ich untersuchen, in wie weit diese Modelle in den deutschen Sportstrukturen wirksam sind und welche Konsequenzen sie für die Menschen mit Einschränkungen nach wie vor haben.

3.2. Der Begriff der Integration

3.2.1. In der Geschichte

Der Begriff „Integral“ wird erstmals vom Mathematiker Jakob Bernulli (1654-1705) im 17. Jahrhundert eingeführt. Der Integrationsbegriff hat seine gesellschaftliche Bedeutung über die Philosophie des 19. Jahrhunderts erlangt und hielt danach Einzug in die Soziologie, Psychologie und die Bildungspolitik der Neuzeit. (Vgl. KOBI, 1994, 71)

Für den Philosophen und Soziologen Herbert Spencer (1820-1903) spielen die Begriffe Integration und Differenzierung in der Evolution, d.h. in der organisch-biologischen und der sozialen Welt, eine zentrale Rolle. Integration und Differenzierung sind dabei aber keine Gegenpole, sondern stehen im evolutionären Prozess durch die differenzierende Integration und die integrative Differenzierung in engem Zusammenhang. In seiner Theorie bewirkt die Differenzierung eine Spezifizierung der Teilsysteme und durch die neue Verknüpfung dieser Teilsysteme kommt es zu einer engeren Bindung. Differenzierung und Integration sind parallel laufende Prozesse, dadurch wird extrem einseitigen Entwicklungen entgegengewirkt. Die Desintegration ist der Gegenbegriff zur Integration, hier bilden sich Teilsysteme, die aber ihre Verknüpfung oder ihren Bezug zueinander verlieren. (Vgl. KOBI, 1994, 71) KLAUS und BUHR orientieren sich an dieser Theorie und definieren Integration als „Prozess der Bildung eines Systems höherer Ordnung aus relativ selbständigen Systemen niederer Ordnung, wobei die das System konstituierenden Teilsysteme in wechselseitige Abhängigkeit treten, so dass ihre Selbstständigkeit und Unabhängigkeit herabgesetzt wird“. In der neu herausgebildeten Struktur finden Integration und Differenzierungsprozesse wieder gleichzeitig statt. (1964 , S. 529)

In der Pädagogik der 60er Jahre kam der Integrationsbegriff auf durch die Kritik am damaligen Schulsystem von Pädagogen, die sich mit ganzheitlicher Erziehung und Bildung auseinandersetzten. Die Kritik bestand im Wesentlichen an der Differenzierung nach z.B. Konfession, Geschlecht, Rasse, Leistung und später Kinder und Jugendliche mit Behinderung. (Vgl. MARKOWETZ, 2007, 210) Diese Diskussion wird aktuell immer noch in den einzelnen Ländern mehr oder weniger geführt, erkennen kann man dies am existierenden pluralen Schulsystem, in Form von Haupt-, Real-, Grund-, Ganztags-, Gemeinschaftsschule und dem Gymnasium.

3.2.2. Definition

Dem Wörterbuch der Soziologie ist zu entnehmen, dass:

Integration in allgemeinster systemtheoretischer Formulierung ein Prozess ist, in dem neue Elemente so in ein System aufgenommen werden, dass sie sich danach von den alten Elementen nicht mehr unterscheiden als diese untereinander. Dementsprechend versteht man in der Soziologie ü berwiegend unter Integration einen sozialen Prozess, in dem ein Mensch oder mehrere Menschen unter Zuweisung von Positionen und Funktionen in die Sozialstruktur eines sozialen Systems aufgenommen wird oder werden. Damit ist Integration zumindest aus der Perspektive der Aufgenommenen eine Form des soziokulturellen Wandels. (ENDRUWEIT & TROMMSDORFF, 1989, 307)

KOBI stellt fest, dass in letzter Zeit dieser Begriff im alltäglichen Sprachgebrauch z.T. „inflationär“, d.h. in abwertender und bedeutungsverlierender Weise, gebraucht wird.(Vgl. 1994, 71) RHEKER und SANDER sehen Parallelen zum „Behinderungs-Begriff“, da auch der Begriff der „Integration“, je nach Autor und wissenschaftlichen Forschungsgebiet, unterschiedlich interpretiert und weiter oder enger gefasst wird. (Vgl. RHEKER, 2005, 75 & SANDER, 1994, 99) MARKOWETZ sieht eine starke Abhängigkeit von der Definition des Behinderungsbegriffes zum Integrationsverständnis. In der Heil- und Sonderpädagogik soll die Integrationsdiskussion die bisherigen Kategorien in Frage stellen und neu bewerten. (Vgl. 2007, 211) Für die Behindertensoziologie bezüglich des Verständnisses von Integration ist für ihn die Entstigmatisierung ganz wesentlich. Durch Kontakt und Kooperation sollen Vorurteile zwischen Menschen mit und ohne Behinderung abgebaut werden. Er kommt zu folgender Aussage:

Wenn wir in der Soziologie der Behinderten von Integration sprechen, dann ist damit gemeint, dass behinderte Menschen unabh ä ngig von Art und Schweregrad ihrer Behinderung in allen Lebensbereichen grunds ä tzlich die gleichen Zutritts- und Teilhabechancen haben sollen wie nichtbehinderte Menschen (MARKOWETZ, 2007, 212)

Für ihn ist Integration nicht der Wechsel vom Status „Behinderter“ zum Status „Nichtbehinderter“ oder der Wechsel von einer Kultur zur Anderen und auch nicht die Assimilation der Übernahme der Verhaltensweisen der Nichtbehinderten. (Vgl. MARKOWETZ, 2007, 212) Damit stellt er einige Aspekte der Definition aus dem Wörterbuch der Soziologie in Frage. Auch TONY BOTH lehnt die assimilatorische Sichtweise von Integration ab und versteht diesen Prozess als tiefgreifende Veränderung in der Bildung und der Gesellschaft. (BOOTH, 2012, 53) KOBI bringt eine ähnliche Ansicht zum Ausdruck, indem er sagt: „Integration ist also als ein Prozess gegenseitiger Anverwandlung von Integranden und Integratoren aufzufassen.“ (1994, 76) CURDT versteht Integration auch als „Wiedereingliederung von Personen in ein bestehendes System in wechselseitiger Anpassung“. (2011, 153) Einen weiter gefassten Integrationsbegriff versteht auch MUTH, für ihn meint Integration „die Gemeinsamkeit von behinderten und nichtbehinderten Menschen in allen Lebensbereichen der Gesellschaft“ (1991, 4) und „Integration ist ein Grundrecht in allen Lebensbereichen der Gesellschaft.“ (1991, 1) MARKOWETZ charakterisiert Integration als „steuerungsbedürftigen, komplexen Prozess zwischen Nähe und Distanz, Entfremdung und Annäherung“. (2007, 213)

Für WUNDER ist die „Integration im Bereich von Menschen mit Behinderung die aktive Einbeziehung von Menschen mit Behinderung in gesellschaftliche Prozesse wie Bildung, Freizeit oder dem Arbeitsleben, also Maßnahmen für Menschen, die bisher nicht integriert waren und teilnehmen konnten.“ (2010, 23) Er formuliert folgende Kritik am Integrationsbegriff: Das Hereinholen in eine Gesellschaft suggeriert eine herrschende Form, die normative Voraussetzungen formuliert und dadurch Assimilationsdruck erzeugt, der nicht Vielfalt anstrebt und wertschätzt. In der Integrationspraxis werden häufig die Integrationsmöglichkeiten oder der Integrationsgrad von Menschen mit Behinderung abgestuft, dadurch muss ein Mensch mit Behinderung erst gewisse Fähigkeiten erlangen, um sich für den Integrationsprozess zu qualifizieren. Die Integrationsprozesse schaffen zwei Kategorien, die Normalen und die zu Integrierenden. Diese Polarisierung verstärkt eher noch Ab- und Ausgrenzungsmechanismen. (Vgl. 2010, 24)

Auf der Grundlage der wechselseitigen Abhängigkeit von Individuum und sozialer Umwelt kommt SPECK zu einem differenzierten Integrationsbegriff. Er unterscheidet die personale und soziale Integration. Die personale Integration geschieht auf der individuellen Ebene als Ausbildung des Selbstkonzeptes, indem sich das Individuum akzeptiert und zu sich steht. Die soziale Integration ist die Eingliederung in bestimmte soziale Gruppen, d.h. die Teilhabe und die Übernahme sozialer Rollen. (Vgl. 1991, 288) SPECK macht aber in seiner Definition auch klar, dass beide Prozesse parallel stattfinden und sich gegenseitig bedingen. (Vgl. 1991, 309)

3.2.3.Verschiedene Perspektiven von Integration

KOBI analysiert den Begriff der Integration und erkennt verschiedene Perspektiven.

Integration als Prozess, d.h. dem gegenseitigem Kennenlernen und Annähern zwischen Integratoren und Integranden, in dem es immer wieder neue Facetten gibt, wodurch er nie abgeschlossen, aber planbar und steuerbar ist. Integration als Zustand, d.h. KOBI bezeichnet es als „homöostatisches, labiles Fließgleichgewicht“, das in jedem Moment durch Interaktion neu hergestellt werden muss. Der Integrationsgrad ist zu messen am Umfang und der Intensität der sozialen Austauschprozesse. Integration als Methode, d.h. durch Separation soll Integration möglicher werden. Integration als Ziel, ist häufiger durch die breitere und höhere (soziale) Kompetenz des Integranden gekennzeichnet, als in dem Gewinn für alle Beteiligten. (Vgl. 1994, 75) Integration als individuale Angelegenheit, d.h. das Kind mit Behinderung hat sich dem bestehenden Schulsystem ein- und unterzuordnen und wird durch Training und Therapie dabei unterstützt. Integration als soziale Angelegenheit bedeutet, dass sich gesellschaftliche Systeme öffnen und verändern, um Kindern mit Behinderung keine besondere Rolle zu geben. (Vgl.1994, 76) Die unbedingte Integration ist das klar getrennte Gegenteil der Separation und hat als Ziel dessen Auflösung und hebt sich somit in letzter Konsequenz selbst auf. Eine integrative Erziehung ist Grundrecht, Vorgabe und Notwendigkeit. Die bedingte Integration steht in einem polaren Verhältnis zur Separation. Jegliche Maßnahmen, die getroffen werden, berücksichtigen die Verhältnisse. Hier gibt es verschiedene Ebenen und Stufen von Integration. (Vgl. 1994, 77) Integration und Differenzierung sind primär wertfrei und Teil des Optimierungsprozesses, was sich in der separativen und integrativen Erziehung und Schulung von Kindern mit und ohne Behinderung zeigt. Integration im Sinne der Lebens und Daseinsgestaltung verändert nicht das Sein, sondern das Dasein, nicht die Behinderung, sondern das soziale Gefüge des Behindertenzustandes, und somit des Zustandes des Einzelnen.

KOBI kommt zu folgendem Schluss: Integration ist keine Methode, kein Verfahren mit Erfolgskriterien, sondern eine Lebens- und Daseinsform, für die oder gegen die sich eine Gesellschaft und deren Untersysteme entscheidet, und somit ist sie situativ, temporal und frei wählbar. (Vgl.1994,79)

3.3. Der Begriff der Inklusion

3.3.1. In der Geschichte

HINZ verortet die Herkunft und Entstehung des Begriffes der Inklusion in den USA. Durch die dortige kritische Auseinandersetzung mit der Praxis der schulischen Integration und ihrer Selektivität, d.h. „sag mir deine Beeinträchtigung und ich sag dir, in welchem Maß du integriert werden kannst“. Die dadurch in den frühen 1980er Jahren entstehende inklusive Pädagogik hat 4 Forderungen: Die Dekategorisierung von Behinderung, „Learning disabilities“, d.h. deren Inklusion in der allgemeinen Schule, „Unified system“, die Vereinigung von Sonderschule und Regelschule und eine Schule für alle Kinder. (Vgl. 2012, 34f.) Für STEIN liegt die Entstehung des Inklusionsbegriffes nicht allein in der Schule. Sie ist Resultat einer Gegenbewegung zur Industrialisierung und der kapitalistisch orientierten Leistungsgesellschaft, die die Frage stellt: Wie gehen wir mit denjenigen um, die nicht die Anforderungen erfüllen? Inklusion will die Aufhebung der Verbesonderung von Menschen auf Grund ihrer mangelnden Leistungsfähigkeit hinsichtlich der wirtschaftlichen Verwertbarkeit ihrer Arbeitskraft. (Vgl. 2012, 74) Schule in diesem Sinne gehört zum Ausbildungs- und Qualifizierungssystem der Wirtschaft.

Die Salamanca-Erklärung der UNESCO von 1994, und die damit ausgelöste Diskussion bezüglich ihrer Übersetzung, ist von entscheidender Bedeutung für die Einführung des Inklusionsbegriffes in Deutschland. Die offizielle deutsche Übersetzung für „inclusion“ ist das Wort „Integration“. FLIEGER, SCHÖNWIESE & HINZ kritisieren diese „Übersetzungsschwäche“ und fordern eine Korrektur. (Vgl. HINZ, 2012, 36 & FLIEGER & SCHÖNWIESE, 2011, 29) Der Inklusionsbegriff hat sich relativ rasch in Deutschland verbreitet und ist zu einem „In-Begriff“ geworden. (Vgl. HINZ, 2012, 37) HABERLEIN bemerkt: „Gierig werden neue Wörter aufgesogen, mit deren Verwendung man ‚in´ zu sein hofft - beispielsweise Resilenz, Integration, Umgang mit Heterogenität, Enthinderung und inzwischen natürlich auch der Begriff Inklusion.“ (2007, 254) FRÜHAUF empfindet die Nutzung der Leitbegriffe Selbstbestimmung, Teilhabe und Inklusion durch Politiker und Vertreter der Kostenträger als Missbrauch, da gleichzeitig Ressourcen für die Behindertenhilfe begrenzt werden. (Vgl. 2012, 13) Alle sehen in der unreflektierten Nutzung die Gefahr einer Verwässerung des Inklusionsbegriffes.

3.3.2. Definition

Aus der Analyse der englischen Diskussion bezogen auf Inklusion und inklusiver Pädagogik benennt HINZ folgende Kernpunkte:

- Inklusion bewertet Heterogenität und Vielfalt als wertvoll
- Inklusion versucht alle Dimensionen von Heterogenität in den Blick zu bekommen und wendet sich gegen dichotome Vorstellungen
- Inklusion orientiert sich an Bürgerrechtsbewegungen und wendet sich gegen Marginalisierung
- Inklusion vertritt die Vision einer inklusiven Gesellschaft, die Diskriminierung und Marginalisierung abbaut (Vgl. 2012, 33)

HINZ & MARKOWETZ stellen fest, dass Inklusion eine visionäre Bedeutung hat und sie somit niemals endgültig erreicht werden kann. (HINZ, 2012, 33 & MARKOWETZ, 2007, 223) Sie versucht immer Beteiligung zu stärken, indem sie ein Umfeld oder System gestaltet, dass auf Vielfalt eingeht und alle gleichermaßen wertschätzt. (Vgl. BOOTH, 2012, 54) Zur Ausgrenzung soll es erst gar nicht kommen. (Vgl. MARKOWETZ, 2007, 223) Inklusion hat nicht als Ziel, die Identifikation bestimmter Gruppen. (Vgl. BOOTH, 2012, 58) Menschen mit Behinderung sind also nur eine von vielen gesellschaftlichen Gruppen, d.h. ein Aspekt von Verschiedenheit. (Vgl. FLIEGER, 2012, 29 & HINZ, 2012, 49) „Inklusion ist weniger ein pädagogisches Konstrukt, sondern ein elementares Anliegen und eine fundamentale Aufgabe unserer Gesellschaft.“ (MARKOWETZ, 2007, 222) Und auch sie braucht Strategien, Techniken und Methoden zur Bewältigung der Vielfalt und des Erhalts von Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit. (Vgl. MARKOWETZ, 2007, 213) BOOTH unterscheidet drei zusammenhängende Perspektiven auf Inklusion, die Teilhabe von Individuen, die Teilhabe an Systemen und die Teilhabe an Werten. (2012, 53) Der wertebasierte Ansatz ist wichtig. BOOTH formuliert folgende inklusiven Werte: „Gleichheit, Rechte, Teilhabe, Lernen, Gemeinschaft, Anerkennung von Vielfalt, Vertrauen, Nachhaltigkeit, Mitgefühl, Ehrlichkeit, Mut und Freude.“ (2012, 59) Die Liste ist einem ständigen Wandel unterzogen und eine Verpflichtung ihr gegenüber erklärt, warum man sich für Inklusion einsetzen sollte. (2012, 59) WUNDER orientiert sich an ADORNOS „Miteinander des Verschiedenen“, um das entscheidende Merkmal der Inklusion darzustellen. „In der Betonung der Gleichheit der Menschen, schwingt unterschwellig ein Totalitätsgedanke mit.“ Wir müssen lernen, „mit Verschiedenheit produktiv umzugehen“. (2010, 26)

3.4. Der Begriff Inklusion vs. Integration

In der Diskussion um die Begriffe Inklusion und Integration gibt es für mich drei Positionen.

Der Inklusionsbegriff stellt keine echte Erweiterung zur Integration dar und somit besteht auch keine Notwendigkeit für seine Ablösung. (Vgl. STEIN, 2012, 81; REISER, 2003, 305ff.) Ein Indiz dafür ist die Übersetzung des englischen Wortes „Inclusion“ in der Salamanca-Erklärung mit dem Wort Integration. Für die Vertreter dieser Meinung stellt der neue Begriff nicht in Aussicht, die Schwächen der gängigen Integrationspraxis zu kompensieren, d.h. das sie Teil der Sonderpädagogik ist und über z.B. Einzelintegrationsmaßnahmen und Kooperationsmodelle realisiert wird. (Vgl. STEIN, 2012, 79; MARKOWETZ, 2007, 219) Der neue Begriff allein wird nicht zur gesellschaftlichen Veränderung führen. MARKOWETZ stellt sich die Frage nach einem „Etikettenschwindel“. STEIN findet, dass damit die ursprünglichen Ziele von Integration vergessen werden und der Identifikation nach den wirklichen Ursachen für gesellschaftliche Aussonderung nicht geholfen ist. (Vgl. 2012, 81) RHEKER sieht einen „richtig verstandenen“ Integrationsbegriff in Deutschland, bezogen auf soziale Teilhabe in allen gesellschaftlichen Bereichen, für weiterhin gerechtfertigt. (2005, 79)

Der Inklusionsbegriff ersetzt und überwindet den Begriff Integration. „In der internationalen Diskussion ist der Begriff der Integration durch den Begriff der Inklusion abgelöst worden.“ (Rheker, 2005, 78) FLIEGER spricht, auf Grund des Paradigmenwechsels vom medizinischen zum soziologischen Modell, von der Ablösung des Integrationsbegriffes durch ein allgemeines Inklusionsverständnis. (Vgl. 2011, 29) SANDER versteht Inklusion als „optimierte und erweiterte Integration.“ ( 2003, 314)

Die Verwendung der beiden Begriffe Inklusion und Integration ist legitim. MARKOWETZ, der sich sehr kritisch mit dem Begriff der Inklusion auseinandersetzt, kommt am Ende zum Schluss, dass „die Weiterentwicklung des integrativen Handelns hin zum inklusiven, soziologischen Denken zu begrüßen ist“. Und das „Integration eine real existierende und notwendige Vorstufe von Inklusion ist“ (2007,223) Auch STEIN versteht „Integration und Inklusion als Menschenrechtsforderung im Sinne einer sozialen Bewegung“ und der Inklusionsgedanke negiert nicht Integration, sondern bezieht sie mit ein. (2012, 88) HINZ hält beide Begriffe für gerechtfertigt und erläutert integrative und inklusive Aspekte in ihrer Abgrenzung am Praxisbeispiel Kinder in der Schule in der folgenden Tabelle. (2002, 357f.)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Praxis der Integration und Inklusion nach HINZ

Der FACHDIENST FÜR LEBENSHILFE e.V. trennt die beiden Begriffe ganz klar.

W ä hrend sich Integration als Leitbegriff st ä rker auf die Wiederherstellung einer Einheit und damit vor allem auch auf besondere Ma ß nahmen bezieht, die es Menschen mit Behinderung erm ö glichen sollen, wieder am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, von dem sie vorher ausgeschlossen waren, geht der Begriff Inklusion weit dar ü ber hinaus und fordert radikal, dass Behinderung als normale Spielart menschlichen Seins in allen gesellschaftlichen Bereichen akzeptiert und entsprechend in allen administrativen Planungen regelhaft einbezogen werden muss. (1995,13)

3.5. Das Modell der fünf Stufen nach Sander

Das am häufigsten verwendete Modell in der Öffentlichkeit, um die Begriffe Integration und Inklusion bezogen auf Menschen mit Einschränkung zu verdeutlichen, ist das Modell der fünf Stufen nach SANDER. So auch im Arbeitspapier des DOSB „Bewegung leben-Inklusion leben.“ (2013, 5) SANDER orientiert sich am Bildungssystem und hat die geschichtliche Entwicklung hin zum aktuellen Leitbegriff der Inklusion in fünf aufeinanderfolgende Etappen gegliedert, Exklusion, Segregation, Integration, Inklusion und die Pädagogik der Vielfalt.

1. Exklusion: „In dieser Phase sind Kinder mit Behinderung von jeglichem Schulbesuch ausgeschlossen.“ (DOSB,2013,5)
2. Segregation: „Kinder mit Behinderung besuchen eigene, abgetrennte Bildungseinrichtungen d.h. Sonderkindergärten, Sonderschulen und Werkstätten für behinderte Menschen und Wohnheime.“ (DOSB,2013,5) In Deutschland gab es diese Entwicklung hauptsächlich ab den 60er Jahren bis in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts. Sie ist heute noch relevant, was die Existenz von Sonderinstitutionen beweist. Die grundlegende Idee lag in der individuellen Förderung der Kinder mit besonderem Förderbedarf. Integration durch Segregation sollte unter dem Motto stattfinden: „soviel Integration wie möglich und soviel besondere Förderung wie nötig“. In der Regel führte es aber zu ausgegrenzten Lebensbiographien, besonders für Menschen mit geistigen Einschränkungen. (Vgl. FRÜHAUF,2012,15)
3. Integration: „Kinder mit Behinderung besuchen mit sonderpädagogischer Unterstützung Regelschulen.“ (DOSB,2013,5) Diese Phase begann Ende der 70er/Anfang der 80er Jahre mit dem Aufkommen von neuen Leitbildern und einem ganzheitlicheren Ansatz in der Bildung, auch ausgelöst durch das nach Deutschland kommende Normalisierungsprinzip. Das ausdifferenzierte Schulsystem wurde grundlegend in Frage gestellt. Selbstbestimmung und Gleichberechtigung sind als Prinzipien wirksam. Meistens wird die Integration über besondere Förderungen und Unterstützung realisiert. (Vgl. FRÜHAUF,2012,16ff.)
4. Inklusion: „Alle Kinder mit Behinderung haben das Recht, wie alle anderen Kinder auch, eine allgemeine Schule zu besuchen, die die Heterogenität und die Vielfalt ihrer Schüler schätzt.“ (DOSB,2013,5) Die Inklusionsidee erfasst Deutschland Mitte der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts. Zentrale Begriffe sind Teilhabe, Bürgerrechtsbewegung, Community Care, Gemeinwesen-Orientierung und Bürgerschaftliches Engagement. (Vgl. FRÜHAUF,2012,24f.)
5. Allgemeine Pädagogik für alle Kinder: Das ist die Zielperspektive dieses Modells nach Sander. Inklusion geht in der allgemeinen Pädagogik auf und ist kein eigenständiges Thema mehr. (Vgl. FRÜHAUF,2012,29)

[...]

Ende der Leseprobe aus 104 Seiten

Details

Titel
Möglichkeiten und Grenzen der Integration von Menschen mit Einschränkungen in den deutschen Sportstrukturen und die Bedeutung für die Inklusion
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin  (Institut für Sportwissenschaften)
Note
2,0
Autor
Jahr
2013
Seiten
104
Katalognummer
V320070
ISBN (eBook)
9783668192324
ISBN (Buch)
9783668192331
Dateigröße
1140 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Sport, Integration, Inklusion, Behinderung, Verein, Verband, Leistungssport, Breitensport, Barrierefreiheit
Arbeit zitieren
Sebastian Zinke (Autor:in), 2013, Möglichkeiten und Grenzen der Integration von Menschen mit Einschränkungen in den deutschen Sportstrukturen und die Bedeutung für die Inklusion, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/320070

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