Hartz trifft Kingdon. Die neue Zumutbarkeit in der Sozialpolitik nach dem Multiple-Stream-Ansatz


Hausarbeit, 2015

17 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1.) Einleitung

2.) Zumutbarkeit nach den Sozialgesetzbüchern II & III in der Sozialpolitik
2.1) Policy
2.2) Einordnung des Wandels nach Peter Hall

3.) Entstehung der neuen Zumutbarkeit im Zuge der Hartz-Reformen

4.) Theorie des Multiple-Streams-Ansatz
4.1) Problem-Strom
4.2) Political-Strom
4.3) Policy-Strom
4.4) Window of Opportunity
4.5) Policy-Entrepreneur

5.) Analyse der Zumutbarkeit nach den Sozialgesetzbüchern II und III mit dem Multiple-Streams-Ansatz
5.1) Problem-Strom
5.2) Political-Strom
5.3) Policy-Strom
5.4) Window of Opportunity
5.5) Policy-Entrepreneur

6.) Fazit

7.) Literatur

1.) Einleitung

Vor zehn Jahren wurde die neue Transferleistung des ALG II oder auch Hartz IV (Kurzform für „Viertes Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt) genannt eingeführt. Mit der Einführung wurde auch das Verständnis der Zumutbarkeit geändert. Die neue Definition des Zumutbarkeitsbegriffs war der dritte Vorschlag der Hartz-Kommission, die insgesamt 13 Vorschläge vorstellte. Umgesetzt wurde der Vorschlag bei der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe im Vierten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt" (Hartz IV). Mit Inkrafttreten dieses Gesetzes im Januar 2005 ist nun jegliche legale Art von Arbeit grundsätzlich zumutbar.

Durch die Hartz-Reformen vollzog sich der Wandel vom aktiven Sozialstaat zum aktivierenden Sozialstaat in der Bundesrepublik. Die Redewendung „Fördern und Fordern“ war der neue arbeitspolitische Kurs der rot-grünen Bundesregierung. Auch wenn der neue Aktivierungsanspruch grundsätzlich auf alle Arbeitslosen bezogen werden sollte, so stand die Aktivierung der Langzeitarbeitslosen im Fokus der Reformen. (vgl. Reiter et al. 2014: S. 213) Die Reform rückte von der bisherigen Statussicherung von Langzeitarbeitslosen sowie dem Berufs- und Qualifikationsschutz ab und führte zur Grundsicherung mit pauschalierten Beträgen, die unabhängig von dem bisher erzielten Einkommen ist und den Bedarf eines jeden Menschen decken soll, so dass sich der Druck auf die Langzeitarbeitslosen deutlich erhöht hat, auch Arbeit unabhängig von der bisher erzielten Qualifikation oder auch eine andere, der zum Teil neugeschaffenen Beschäftigungsformen, anzunehmen als eine Vollzeittätigkeit.

Hierbei handelt es sich um einen Wandel dritter Ordnung nach Peter Hall, da sich auch durch die Verschärfung der Zumutbarkeit ein Paradigmenwechsel vollzog. Der einmal erreichte soziale Status wird nun nicht mehr berücksichtigt oder geschützt. Im Gegenteil durch die Möglichkeit der schnellen Sanktionen bei Nichtannahme einer (minderwertigen) Arbeit kann ein Arbeitsloser in die Grundsicherung fallen.

In dieser Hausarbeit soll deutlich gemacht werden, wie die Hartz-Reformen, insbesondere die neue Definition des Begriffs der Zumutbarkeit, auf den Weg gebracht werden konnten und welche Punkte die dazugehörigen Entscheidungsprozesse beeinflusst haben. Hierbei soll der Multiple-Streams-Ansatz (MSA) als theoretisches Konzept zur Beurteilung dieser außergewöhnlichen Gesamtsituation zur Arbeitsmarktpolitik herangezogen werden, denn der MSA nach John W. Kingdon beleuchtet Ambiguität, Kontingenz und die Knappheit von Aufmerksamkeit bei der Analyse. Des Weiteren kann durch den MSA die Policy ganzheitlich betrachtet werden, so spielt beispielsweise der Policy-Entrepreneur (hier vermutlich: der amtierende Kanzler Gerhard Schröder) und das zeitliche Fenster (hier vermutlich: der hochgeschaukelte Vermittlungsskandal des Arbeitsamtes) bei diesem Erklärungsansatz eine entscheidende Rolle.

Die Leitfrage dieser Arbeit soll sich mit der Änderung der Zumutbarkeit in § 10 SGB II auseinander setzten. In der Sozialpolitik ist nun vorgesehen, dass die Annahme jeglicher Art bezahlter und legaler Arbeit grundsätzlich zumutbar ist. Es stellt sich die Frage: “Warum ist die Verschärfung der Zumutbarkeitsdefinition gerade von der Bundesregierung im Jahr 2005 beschlossen worden?“

2.) Zumutbarkeit nach den Sozialgesetzbüchern II & III in der Sozialpolitik

Zumutbare Arbeit ist für Arbeitslose, die ALG I erhalten, im 3. Sozialgesetzbuch geregelt. Deutlich schärfer ist die Zumutbarkeit für Empfänger der Transferleistung ALG II geregelt. Beide Policies werden nun inhaltlich dargestellt, im weiteren Verlauf wird dann nur noch die Policy nach dem SGB II behandelt, da dies die strengere Auslegung darstellt.

2.1) Policy

Zumutbare Beschäftigung gem. § 140 SGB III ist jede Beschäftigung, soweit weder allgemeine oder personenbezogene Gründe dieser entgegenstehen.

Aus allgemeinen Gründen ist eine Beschäftigung einer arbeitslosen Person insbesondere nicht zumutbar, wenn die Beschäftigung gegen gesetzliche, tarifliche oder in Betriebsvereinbarungen festgelegte Bestimmungen über Arbeitsbedingungen oder gegen Bestimmungen des Arbeitsschutzes verstößt.

Aus personenbezogenen Gründen ist eine Beschäftigung einer arbeitslosen Person insbesondere nicht zumutbar, wenn das daraus erzielbare Arbeitsentgelt erheblich niedriger ist, als das der Bemessung des Arbeitslosengeldes zugrunde liegende Arbeitsentgelt, wobei sich dies nach der Dauer der Arbeitslosigkeit gestaffelt aufteilt. Oder auch die Fahrtzeiten zur täglichen Arbeitsstätte in keinem Verhältnis zur Arbeitszeit stehen.

Zumutbarkeit gem. § 10 SGB II ist wie folgt geregelt: Grundsätzlich ist jede Arbeit zumutbar, es sei denn es gibt körperliche und/oder geistige Beschwerden, die der Arbeitsaufnahme entgegen sprechen oder die Erziehung von Kindern bzw. die Pflege von Familienangehörigen gegen die Aufnahme einer Arbeit spricht.

2.2) Einordnung des Wandels nach Peter Hall

Peter Hall hat in den 1990er Jahren die Grundformen des Wandels herausgearbeitet, hierbei wurden drei Arten von Wandel unterschieden:

Der First Order Chance ist die inhaltliche Änderung von bestimmten Regelungen im Hinblick auf bestimmte Niveaus. Dies ist die schwächste Form des Policy-Wandels.

Der Second Order Chance ist das Aufstellen neuer Regeln und damit verbunden die Einführung neuer Politikinstrumente, aber auch das Austauschen von bestimmten Instrumenten durch andere Instrumente.

Der Third Order Chance ist die Veränderung der grundlegenden Ideen, Leitbildern oder Paradigmen zur Orientierung einer bestimmten Politik auf ein übergeordnetes Ziel und die damit verbundene Neuordnung der Politikinstrumente im Sinne des neuen Policy-Ziels. Dies ist die stärkste Form des Policy-Wandels. (vgl. Hall 1993)

Durch die Verschärfung der Definition des Zumutbarkeitsbegriff ist zunächst einmal „nur“ die Änderung einer schon bestehenden Regelung. Dennoch ist zu bedenken, dass diese Änderung eine gravierende Auswirkung auf die wohlfahrtsstaatliche Sozial- und Beschäftigungspolitik in Deutschland hatte.

Bisher war eine neue Tätigkeit für Arbeitslose nur dann zumutbar, wenn die berufliche Qualifikation, der Wohnort, der Umfang der Tätigkeit sowie das bisher erzielte Gehalt berücksichtigt wurden. Dieser Bestandschutz ist seit Inkrafttreten der Hartz-Reformen am 01.Januar 2005 aufgehoben. Nun sollen die neuen Regelungen der Zumutbarkeit gem. § 140 SGB III dafür sorgen, dass vor allem Ledige und Verheiratete ohne Kinder schneller als bisher eine neue, auch geringer bezahlte, Tätigkeit fernab ihres Wohnsitzes annehmen müssen. Langzeitarbeitslose werden gem. § 10 SGB II seit Januar 2005 verpflichtet, nahezu jeden Job anzunehmen, auch die neu geschaffenen Mini- oder Midi-Jobs. Um Lohndumping zu verhindern, soll sich der Verdienst nach ortsüblichen Löhnen und Gehältern richten, jedoch ist auch eine Bezahlung unterhalb dieser Grenzen zumutbar. Wer Jobangebote ablehnt, muss Kürzungen beim Arbeitslosengeld von 30 Prozent hinnehmen.

Diese Änderung der Zumutbarkeit ist demnach nicht nur eine Änderung der bisherigen Regelungen, sondern eine grundlegende Veränderung des Leitbildes der Arbeitspolitik. Weg von der Statussicherung hin zur Grundsicherung des Staates. Diese Form der Abänderung und Verschärfung der Zumutbarkeit ist somit ein Paradigmenwechsel der Politik und nach Peter Hall eine Third Order Chance und auch die Wissenschaft bezeichnet die Reichweite der Reformen als paradigmatischen Wandel. (vgl. Ruddat 2001: S.223)

3.) Entstehung der neuen Zumutbarkeit im Zuge der Hartz-Reformen

Im Laufe der Jahre wurden die Weichen in Richtung der neuen Idee des Förderns und Forderns schon gestellt. So wurde bereits im Jahr 2001 das Job-Aqtiv-Gesetz zur aktivierenden Arbeitsmarktpolitik auf den Weg gebracht. (vgl. Engelen-Kefer 2005: S.88) Die Lage in Deutschland hatte sich Anfang der 2000er Jahre verschärft: Die Arbeitslosigkeit stieg dauerhaft an, die Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts blieben hingegen niedrig. Zudem hatte der Bundesrechnungshof zu Beginn des Jahres 2002 bei der Bundesanstalt für Arbeit gravierende Fehler in der Vermittlungsstatistik angemahnt, dies führte mit Hilfe der Print- und Fernsehmedien zum sogenannten Vermittlungsskandal.

Andererseits gab es immer wieder Meldungen über erfolgreiche Arbeitslosenreformen in den Nachbarländern, wie zum Beispiel in Dänemark. Hier konnte durch umfassende Reformen die Arbeitslosigkeit von elf Prozentpunkten im Jahr 1993 auf nur 5,4 Prozentpunkten im Februar 2001 gesenkt werden. (vgl. Braun: S.6) Dies alles erhöhte den Handlungsdruck auf die rot-grüne Regierung, denn es standen Bundestagswahlen an, sodass diese nur fünf Wochen vor der nächsten Bundestagswahl ihr ehrgeiziges Ziel verkündete. Innerhalb der nächsten drei Jahre sollte die Zahl der Arbeitslosen um zwei Millionen reduziert werden. (vgl. Wulff 2005: S.73) Dies sollte mit Hilfe eines Masterplans gelingen. Zur Ausarbeitung dieses Plans wurde eine Kommission eingesetzt, die die größte Arbeitsmarktreform seit Bestehen der Bundesrepublik (vgl. Möller, et al 2014: S.11) ausarbeiten sollte. Der Vorsitzende der Kommission war Dr. Peter Hartz und hauptberuflich Volkswagen-Personalvorstand, des Weiteren waren sieben Mitglieder Vertreter der Arbeitgeberseite, namentlich Norbert Bensel, Jobst Fiedler, Heinz Fischer, Peter Kraljic, Klaus Luft, Hanns-Eberhard Schleyer, Eggert Vorscherau. Die Politik und Verwaltung wurde durch drei Mitglieder vertreten, Harald Schartau, Wilhelm Schickler und Wolfgang Tiefensee. Die Gewerkschaften waren durch ver.di und die IG Metall vertreten, sie stellten jeweils ein Mitglied, Isolde Kunkel-Weber und Peter Gasse. Günther Schmid und Werner Jann vertraten die Wissenschaft, die nur zwei Mitglieder stellte.

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Ende der Leseprobe aus 17 Seiten

Details

Titel
Hartz trifft Kingdon. Die neue Zumutbarkeit in der Sozialpolitik nach dem Multiple-Stream-Ansatz
Hochschule
FernUniversität Hagen
Note
2,3
Autor
Jahr
2015
Seiten
17
Katalognummer
V320195
ISBN (eBook)
9783668349766
ISBN (Buch)
9783668349773
Dateigröße
899 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
hartz, kingdon, zumutbarkeit, sozialpolitik, multiple-stream-ansatz
Arbeit zitieren
Elisabeth Giske (Autor:in), 2015, Hartz trifft Kingdon. Die neue Zumutbarkeit in der Sozialpolitik nach dem Multiple-Stream-Ansatz, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/320195

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