Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 Ziel und Aussichten
2 Platons Politeia: Staatsmodell oder Gerechtigkeitsgleichnis?
2.1 Aufbau und Differenzierung der zwei Thesen in der Politeia
2.2 Individualität in Platons Staat
3 Platons Frauenbild in der Politeia
3.1 Die Gleichheit der Frauen des Wächterstandes
3.2 Die Frauen- und Kindergemeinschaft
3.3 Die Feminismus-Unterstellung
4 Fazit
Literaturverzeichnis
1 Ziel und Aussichten
Platon war weise. Platon war seiner Zeit voraus. Platons Theorien und Ansätze sind nach wie vor derart anwendbar, dass es bemerkenswert ist. Aber war Platon auch Feminist? Im wissenschaftlichen Diskurs ist man hierüber noch nicht zu einer Einigung gekommen (vgl. z. B. Föllinger 1996: S. 56 - 61). Verschiedenste Strömungen und Ausprägungen des Feminismus erschweren zudem eine Klassifikation und Zuordnung. Diese Arbeit hat es sich zum Ziel gesetzt, ausgehend von Platons Frauenbild in der Politeia, ein für und wider dieser Frage zu beleuchten.
Doch fragt man nach der Möglichkeit feministischen Gedankenguts in Platons Politeia, ist es wichtig vorab eine andere, in der Wissenschaft uneinheitlich ausgelegte Fragestellung zu klären, beziehungsweise darauf hinzuweisen, dass diese im Raum steht: Ist der von Platon beschriebene Idealstaat als Gleichnis für die Gerechtigkeit und damit für das Glück in der Seele des Individuums zu verstehen, wie er in der Mitte des zweiten Buches eingeleitet wird (vgl. Platon 2012: S. 138), oder aber als ausschließlich politisches Modell? Da es sich hierbei um eine grundlegende Frage zur Bedeutung des gesamten Werkes handelt, sollen diese zwei Lesarten sowie ihre potentiellen Auswirkungen auf die Feminismus-Debatte um Platon als Einstieg in die Thematik dienen.
2 Platons Politeia: Staatsmodell oder Gerechtigkeitsgleichnis?
Die maßgebliche Differenz beider Perspektiven liegt in der absolut gegensätzlich scheinenden Fokussierung entweder auf das Individualwohl des Subjektes oder aber auf das alles überstrahlende Wohl des Staates, unter welches das Wohl des Einzelnen unterzuordnen beziehungsweise das Subjekt dahingehend zu erziehen ist, dass es das Wohl des Staates von sich aus dem eigenen Wohl überordnet und davon zehrt. Beide Lesarten sind möglich. Beide Ansichten werden von Sokrates geäußert (vgl. ebd.: S. 123 bzw. S. 206).
2.1 Aufbau und Differenzierung der zwei Thesen in der Politeia
Am Anfang steht die Frage nach der Gerechtigkeit. So beginnt die Politeia mit einer Diskussion über diese (vgl. ebd.: S. 88 – 138), wobei zwei grundlegende Fragen gestellt werden: Was genau ist Gerechtigkeit, und lohnt es sich für den Einzelnen gerecht zu sein (vgl. ebd.)? Die Frage nach dem Lohn für gerechtes Handeln wird am Ende des ersten Buches zudem gesplittet in einen Lohn in Form von greifbaren Vorteilen für das Individuum und einen Lohn in Form von Seelenheil (vgl. ebd.: S. 99 - 137). Denn während Sokrates einen ideologischen Gerechtigkeitsbegriff verficht, welcher in jedem Fall anzustreben sei (vgl. ebd.: z. B. S. 123), erläutert sein Gegenspieler Thrasymachos eine eher verbitterte, desillusionierte aber auch an den tatsächlich vorherrschenden Gegebenheiten orientierte Sicht auf die Dinge, in welcher der Ungerechte besser lebt (vgl. ebd.: S. 99 f.). In beiden Positionen steht jedoch zunächst das Individuum im Vordergrund, welches sein Wohl entweder durch Gerechtigkeit oder durch Ungerechtigkeit am besten zu erreichen vermag (vgl. ebd.: S. 124 - 137). Die Diskussion erstreckt sich bis zur Mitte des zweiten Buches und krankt immer wieder an der Frage, wie genau Gerechtigkeit denn nun zu definieren sei, denn die Beantwortung dieser Frage stellt sich naturgemäß als grundlegend für eine Beurteilung der Gerechtigkeit heraus (vgl. z. B. ebd.: S. 123).
So kommt es, dass Platon durch Sokrates einen Vergleich vorschlägt. Da „Gerechtigkeit […] doch Sache des einzelnen Menschen wie eines ganzen Staates [sei]“ (ebd.: S. 138) und der Staat, als größeres Beobachtungsobjekt als der einzelne Mensch, auch eine größere Gerechtigkeit aufweisen müsse, die leichter zu erkennen sei (vgl. ebd.), beginnt Sokrates an dieser Stelle den Idealstaat zu imaginieren. Die höchst detaillierte Beschreibung sowie die fortgeführte Diskussion dieses Staates beginnt Mitte des zweiten und endet erst im neunten Buch, wo das Staatsmodell wieder auf den Einzelnen zurück geführt wird (vgl. S. 138 – 409). Somit nimmt die Beschreibung des Idealstaates einen maßgeblichen quantitativen Anteil der Politeia für sich ein. Und doch bildet die Gerechtigkeitsdebatte einen Rahmen mit ethisch relevantem und das Wohl des Individuums betreffendem Inhalt um Platons politische Utopie und kann daher nicht als unwesentlich abgetan werden (vgl. ebd.: S. 83 – 138; S. 409 – 467). Platon beschreibt darin durchaus eine Gerechtigkeit, welche dem Individuum Glück bescheren soll (vgl. ebd.: z. B. S. 123). Jedoch das Individuum im Staat erfährt Glück in erster Linie im Wohl des Staates, dem es sich unter zu ordnen hat (vgl. Platon S. 206 f.).
2.2 Individualität in Platons Staat
Auch wenn es durch Betrachtung des größeren Teils der Politeia eine berechtigte Annahme ist, dass Platon mit seinem Staatsmodell politische Intentionen verfolgt haben könnte oder gar, gemäß Sabine Föllinger, dass Platons Politeia ausschließlich ein politisches Modell sei (vgl. Föllinger 1996: S: 56 – 117), gibt es Gegenpositionen, welche das Individuum in Platons Politeia im Vordergrund sehen, wie etwa von Jacqueline Karl beschrieben (vgl. Karl 2010: S. 246 – 263).
So argumentiert Karl unter anderem damit, dass die gesamte Gerechtigkeitsthematik mit der „Frage nach dem guten Leben“ (ebd.: S. 248) einhergehe und somit „eine individuelle Problemdisposition vorliegt, welche die Lebenssituation des Individuums mit umfasst.“ (ebd.). Dabei weist sie immer wieder darauf hin, dass die gerechte Handlung sowie die Gerechtigkeit per se bei Platon stets in Hinblick auf das Wohl des Einzelnen untersucht werde (vgl. ebd.: S. 252 f.) und argumentiert darum, dass „[nur] im Rückgang auf das Selbstverhältnis des handelnden Individuums […] die Möglichkeit, Gerechtigkeit zu begründen [besteht]“ (ebd.: S. 257). Außerdem thematisiert Karl die bereits oben beschriebene Fragestellung nach dem Staat als Gleichnis oder als politischem Modell dahingehend, dass sie in beiden Auslegungsformen eine Fokussierung auf und Möglichkeit des Glücks des Individuums erkennt. So finden sich Passagen, in welchen sie das Staatsmodell, welches bei ihr auch als „Buchstabengleichnis“ (ebd.: S. 257 f.) bezeichnet wird, als reines Gleichnis beschreibt: „Wir benötigen für unsere eigene Selbsterkenntnis den Bezug auf anderes als uns selbst, […] so ist es jetzt in der Politeia der »Umweg« über die Polis als die politische Verfassung unseres Daseins.“ (ebd.: S. 258). Die Analogie zwischen Staat und Seele wird dabei als rein strukturell beschrieben (vgl. ebd.: S. 261).
Wenn Karl jedoch, Bezug nehmend auf Arbogast Schmitt, betont, dass nicht, wie vielleicht Aufbau und Einbettung des Staatsmodells annehmen lassen, vom Staat auf den Menschen zu schließen sei, sondern der Mensch, als Bedingung für den Staat, diesem voraus gehe (vgl. ebd.: S. 258 ff.) wird der Staat wiederum doch als reale politische Größe dargestellt. Karl vermeidet dabei die Verbindung von Staat und Einzelnem zu verneinen (vgl. ebd.: S. 260). Vielmehr beschreibt sie eine Art Wechselwirkung zwischen dem Individuum, dessen Zufriedenheit von einem funktionierenden Staat abhängt und dem Staat, der seinerseits zufriedener Einwohner bedarf (vgl. ebd.). Folgewidrig zu Karls einleitender These, welche die Staatsutopie als reines Gleichnis für die Gerechtigkeit im Individuum vertrat (vgl. ebd.: 257 f.), kommt sie, indem sie Henning Ottmann zitiert, zu dem Schluss, dass gar in einer Betrachtung von Platons Staatsidee als real vorstellbarem Lebensraum, die Individuen dort durchaus für sich selbst und unabhängig vom Staatswohl glücklich seien, denn „[sie] tun dort, was sie lieben und was sie am besten tun können.“ (Ottmann zitiert nach Karl 2010: S. 263). Somit hält Karl ihren eigenen Thesen zwar nicht durchgehend die Treue, jedoch vertritt sie damit auf diversen vorstellbaren Betrachtungsebenen ihre Annahme des Individualwohls als Kernthema in Platons Politeia.
Dagegen stehen genannte Stimmen wie etwa von Sabine Föllinger, welche betont, dass alle Bedürfnisse des Individuums stets dem Wohl des Staates untergeordnet seien (vgl. Föllinger 1996: S. 93 f.). Diese Position kann durchaus in Platons Schrift bekräftigt werden, denn Sokrates lässt etwa verlautbaren, dass „da wir den nach unserer Meinung glücklichen Staat formen, […] wir das Glück der Gesamtheit, nicht einiger weniger [wollen]“ (Platon 2012: S. 206).
Auch wenn an dieser Stelle keine Lösung des Problems angeboten werden kann wird doch klar, dass die jeweilige Art der Auslegung maßgeblichen Einfluss auf die Suche nach feministischen Thesen in der Politeia haben muss. Denn wer, wie etwa Giulia Sissa, den Staat als politische Wunschumgebung Platons im Mittelpunkt des Werkes sieht, muss auch seine unter Umständen feministisch auslegbaren Äußerungen unter diesem Gesichtspunkt betrachten:
„Im übrigen zeigt alles, was Platon über die Frauen sagt, daß sie niemals ein Zweck in sich sind, daß das, was er in bezug auf sie sagt, nie für ihr Wohl formuliert wird oder auch nur in ihrem Interesse liegt. […] Der Blickwinkel ist immer ein staatlicher oder kollektiver.“ (Sissa 1993: S. 99).
Und auch Benhabib und Nicholson erkennen in diesem Punkt ein entscheidendes Argument gegen einen feministischen Platon: „Platons Hauptziel ist nicht die Aufhebung der geschlechtsspezifischen Beschränkungen […], sein Ziel ist vielmehr die Schaffung einer idealen Stadt […]“ (Benhabib; Nicholson 1987: S. 519). Unabhängig von der Entscheidung für oder wider einen am Individuum interessierten Platon, macht eine Betrachtung der Frauen in Platons Staat jedoch in erster Linie dann Sinn, wenn man sie als Subjekte in einem politischen Gefüge und nicht als fiktive Gleichnis-Charaktere betrachtet, sodass in der folgenden Diskussion grundsätzlich von einem potentiell umsetzbaren, politischen Modell ausgegangen wird.
3 Platons Frauenbild in der Politeia
Im Gesamtbild der Politeia betrachtet, aber auch in vielen anderen Werken Platons ist sein Verhältnis zu Frauen extrem ambivalent (vgl. z. B. Föllinger 1996: S. 56 - 117) . Einerseits wird in der Politeia ein biologischer Unterschied in Bezug auf Befähigungen und Eignungen und somit auch eine ungleiche Behandlung der Geschlechter abgelehnt (vgl. Platon 2012: S. 250), andererseits gibt es immer wieder Passagen und Aussagen über die Minderwertigkeit weiblicher Attribute und Eigenschaften (vgl. ebd.: z. B. S. 371) oder gar direkte Relativierung der vorab vertretenen, vermeintlichen Gleichheit (vgl. ebd.: S. 252). Diese Punkte werden im Folgenden noch genauere Betrachtung erfahren (vgl. Kapitel 3.1: S. 10 f.). An keiner Stelle der Politeia vermittelt Platons Sokrates Sympathie für die Frauen im Staat. Vielmehr wird immer wieder die Liebe zwischen Männern gelobt (vgl. Platon 2012: z. B. S. 185; S. 278), während der Geschlechtsakt zwischen Mann und Frau im Wächterstand in erster Linie als Zuchtprogramm und nötiges Übel beschrieben wird, welches zum Wohle des Staates und seines Bestehens nötig ist (vgl. ebd.: S. 255 - 259). Die vorgebliche Gleichstellung der Geschlechter scheint somit ein Mittel zum Zweck, wie Föllinger folgender maßen darlegt: „Die Funktion der Geschlechtlichkeit besteht also letztendlich in der Erhaltung der Art […]. Sie ist aber sekundär, was den individuellen Gewinn des einzelnen betrifft.“ (Föllinger 1996: S. 70).
Generell scheint Platon sich der Problematik der Fragestellung um die Frauenrolle im Staat beziehungsweise um seine Auffassung hierzu bewusst, denn er lässt seinen Sokrates zögern, auf das diesbezügliche Drängen seiner Gesprächspartner zu reagieren (vgl. Platon 2012: S. 243 f.). Diese sind jedoch unnachgiebig, denn besonders aufgrund des hohen Stellenwertes, welchen die Erziehung in dem von Sokrates gezeichneten Staat innehat (vgl. ebd.: S. 150 - 188), sind Themen wie Fortpflanzung und Kinderaufzucht im Staat naturgemäß von großem Interesse. So fragt sich Adeimantos „wie somit die Kinderzeugung vor sich gehen soll, wie nach der Geburt die Pflege, kurz, überhaupt, wie [Sokrates] die ganze Frauen- und Kindergemeinschaft [versteht].“ (ebd.: S. 243). So beschließt Sokrates denn, aufgrund der drängenden Bitten seiner Zuhörer, seine Gedanken zu diesem Thema offen zu legen, jedoch nicht ohne darauf hin zu weisen, dass es sich bei seinen Äußerungen keinesfalls um Tatsachen sondern lediglich um Vermutungen handelt, für deren Fehlbarkeit er nicht verantwortlich gemacht werden möchte (vgl. ebd.: S. 244), sowie dass er sich der Brisanz und der Unüblichkeit seiner Forderungen bewusst ist, wie seine Wogen-Metapher deutlich macht (vgl. ebd.: S. 245 – 363). Diese Wogen werden von Platon wie Herausforderungen beschrieben, zu überwindende Widerstände konventioneller Strukturen, welche durch Sokrates Ausführungen und Forderungen eine existentielle Umwälzung erfahren würden (vgl. ebd.). So kommt es, dass die drei Wogen, von denen lediglich die ersten Beiden das Frauenbild in Platons Staat betreffen (vgl. ebd.: S. 245 – 277), aufgrund ihrer absoluten Unvereinbarkeit mit den aktuell vorherrschenden und akzeptierten Strukturen, neben der utopischen Vorstellung des Ideals, auch Nutzen und Durchführbarkeit der geforderten Veränderung von Sokrates und seinen Gesprächspartnern untersucht werden (vgl. ebd.: z. B. S. 252 f.).
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