Der Ekel im Wandel der Jahrhunderte. Entwicklung des Ekels in der Literaturtheorie und in der Kunst


Akademische Arbeit, 2003

49 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Ekel in der ästhetischen Theorie des 18. Jahrhunderts

2. Die Anti-Ekelideale der Antike und ihre Einflüsse auf die Klassik
2.1 griechische Statuen als Vorbild der idealen Schönheit

3. Schöner Ekel in der Romantik

4. Rosenkranz’ „Ästhetik des Häßlichen“

5. Naturalismus – die Verbindung von Kunst und Wissenschaft
5.1. Zola: Experiment Literatur
5.2 Bestie Mensch

6. Nietzsche - zum Übermenschen durch die Überwindung des Ekels

7. Fin de Siècle und Dekadenz - Ekel als neuer Reiz
7.1. Stimmungen und Emotionen der Dekadenz
7.2. Literarische Dekadenz - dekadente Literatur
7.3. Baudelaire – kränkliche Blumen

8. Expressionismus
8.1 Dissoziation des Ichs in einer neuen Welt
8.2 Die Hässlichkeit des Expressionismus

Ergebnis

Literaturverzeichnis (inklusive weiterführender Literatur)

Aus dem Häßlichen läßt sich viel machen,

aus dem Schönen nichts.[1]

Einleitung

Als menschliche Emotion und als ästhetisches Phänomen ist der Ekel so alt wie die Menschheit selbst und aus unserem Leben nicht mehr wegzudenken. Doch als negativ gewertete Erscheinung scheint die Gesellschaft dazu zu neigen, ihn, wo immer es möglich ist, aus ihrer Wahrnehmung auszublenden.

Aber ist es wirklich so? Möchte tatsächlich niemand etwas von diesem widerwärtigen Gefühl wissen oder es gar erleben?

Das Gegenteil ist oftmals der Fall. Wer möchte nicht ein zweites Mal hinsehen, wenn er z.B. einen Unfall mit Verletzen sieht oder auch nur, wenn er verschimmelte Lebensmittel im Kühlschrank findet?

Die unzähligen Fernsehsendungen über Morde, Autopsien und gewalttätige Psychopathen zeugen davon, dass das Interesse am Ekel gegenüber Tod, Gewalt und Leichen vorhanden ist. Millionen von Menschen schauen täglich an den Bildschirmen zu, wie Andere ermordet und seziert, wie sie aufgeschnitten und analysiert werden. Im Gegensatz zur Realität schauen sie aber nicht weg, sondern bleiben gebannt vor dem Geschehen sitzen.

Die Lust an der Abscheulichkeit des Ekels ist demnach nicht zu leugnen und sie ist schon so alt wie die Menschheit selbst. Als es weder Film noch Foto gab begnügten sich die Menschen mit der Literatur und ebenso, wie wir heute Sendungen verfolgen, die in uns das abscheuliche Gefühl hervorrufen, lasen die Menschen damals Texte, Dramen und Gedichte.

Schon in den Schriften der Antike findet man Passagen über abstoßende Szenen, die bis ins Detail beschrieben sind.

Da du doch schwarze Zähne hast, mit Runzeln hohes

Alter dir die Stirne furcht

und weitauf klafft so scheußlich zwischen dürren Backen

der Hintern wie bei einer magren Kuh!

Doch es erregt vielleicht der Busen mich? Die Brüste welk

wie Stuteneuter!

Der schlaffe Bauch, die Schenkel, strotzenden

Waden dürre angefügt?[2]

Horaz vermerkt in dieser selten übersetzten Epode, dass er mit ihr den Ekel illustrieren wollte. Der Dichter ruft den Topos der sogenannten ,vetula’, der alten Frau als Innbegriff des Ekels auf, zu der ein übler Geruch und auch ein unersättlicher sexueller Appetit auf junge Männer kommt. Auf das unzweideutige Ansinnen der ,vetula’ reagiert das ,lyrische Ich’ bei Horaz aber mit völliger Geringschätzung. An andere Stelle heißt es: „Damit Du ihn mir hoch holst von den stolzen Hoden, musst mit dem Munde du dich mühn!“.[3] Dieser Mund ist aber an voriger Stelle als besonders widerlich bezeichnet worden. Gleich, ob hier die geheimen Wünsche des Mannes auf die Frau projiziert werden oder nicht, offenbar geht gerade von dem ekelhaft Verworfenen eine starke sexuelle Faszination aus.

Die bildende Kunst des Mittelalters stellte das Hässliche meist im Zusammenhang mit der Erbsünde oder den Todsünden dar.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb 1: Bosch, Hieronymus: Die Kreuztragung Christi, entstanden: 1515-1516[4]

Hieronymus Bosch malte 1515/16 dieses Bild eines kreuztragenden Christus inmitten von hässlichen Personen, die ihn mit ihren verzerrten Fratzen umgeben. Die Gesichter dieser Menschen sind abstoßend inszeniert und verweisen in ihrer hässlichen Darstellung auf die Ablehnung der Juden im Mittelalter. Eine übertriebene Darbietung körperlicher Merkmale sozialer Minderheiten war zu dieser Zeit ein beliebtes Stilmittel, um deren Eigenartigkeit zu zeigen. Juden wurden oft mit übergroßen Nasen und verzerrter Physiognomie dargestellt. Die Darstellung der Sünder oder Ungläubigen als Lepra- oder Syphiliskranke mit zerfressenen Gesichtern war im Spätmittelalter und in der Renaissance dominant. Der Ekel dient zu dieser Zeit der Darstellung von sozialer oder ökonomischer Erniedrigung und lässt den Zuschauer vor der drohenden Scham zurückweichen.

In jeder weiteren Epoche sind solche Darstellungen des Hässlichen, des Verfalls und des Todes in der Literatur und der bildenden Kunst zu finden.

Auch wenn die Hinweise auf die Thematisierung des Ekels in der bildenden Kunst nicht zu leugnen sind, werde ich mich in dieser Arbeit auf den Ekel in der Literatur beschränken.

Ziel dieser Arbeit ist es, darzustellen, wie sich der Ekel vorrangig in der deutschen, aber auch europäischen Literatur, ausgehend von der ästhetischen Theorie des 18. Jahrhunderts bis zur Moderne, entwickelt hat.

In dieser Arbeit werde ich, beginnend mit der ästhetischen Theorie des 18. Jahrhunderts, die Entwicklung des Ekels in der Literaturtheorie und in der Kunst an ausgewählten Beispielen darstellen. Die Epochen und Strömungen der Aufklärung, Klassik, der Romantik, des Naturalismus und der Dekadenz bis zum Expressionismus werden dabei behandelt. In den herausgegriffenen Zeitabschnitten ist das Thema Ekel entweder durch eine theoretische Diskussion präsent oder es ist eine Hinwendung zum Ekelhaften in der Literatur offensichtlich, die auffallend für die jeweilige Zeit war. Absicht der Arbeit ist es, eine Antwort auf die Frage zu finden, inwieweit sich die Einstellung der Theoretiker und Künstler gegenüber dem Phänomen Ekel ändert und sich daraufhin in ihren philosophischen und literarischen Werken niederschlägt.

Ekel im Wandel der Jahrhunderte

1. Ekel in der ästhetischen Theorie des 18. Jahrhunderts

Die moderne Ästhetik, als das System der fünf schönen Künste (Malerei, Skulptur, Architektur, Musik und Poesie), ist erst im 18. Jahrhundert entstanden. Sie ist das Produkt einer Entwicklung, in deren Verlauf sich die Kunst als autonome Disziplin etablierte. Die Kunst löste sich von dem Stigma einer erlernbaren Begabung, die im Verbund der liberalen Künste eine untergeordnete Rolle spielte und wurde zu einer eigenständigen Fachrichtung neben der Ethik und der Wissenschaft.[5]

Zu Anfang spielten in der Ästhetik lediglich die Kategorien des Schönen, Komischen und Erhabenen eine Rolle. In dieser Schönheitslehre des Makellosen war der Endzweck der Kunst die Darstellung des Schönen, das Vergnügen bereiten sollte. Das Hässliche fand erst Eingang in die Ästhetik, nachdem die Definition des Schönen zum Problem geworden war. Ab diesem Zeitpunkt wurde auch das dem Hässlichen Analoge der künstlerischen Darstellung würdig empfunden.

Der Ekel wurde als unangenehme Empfindung gedeutet, die keiner ästhetischen Darstellung, zugänglich war und die keine Betrachtungslust auslöste, im Gegensatz zum Schrecklichen, Grauenhaften und auch zum Hässlichen.

Schlegel machte im Vorwort zu Batteux’ „Einschränkung der schönen Künste“[6] zum ersten Mal den Ekel als die Grenze des Ästhetischen deutlich:

Nur der Ekel ist von denjenigen unangenehmen Empfindungen ausgeschlossen, die durch Nachahmung ihre Natur verändern lassen.

Hier würde die Kunst all ihre Arbeit umsonst verschwenden.[7]

Es scheint, dass das Ekelhafte genau das Gegenteil des Gefallens ist und somit die Grenze des Ästhetischen markiert. Daher ist es sehr nützlich, um die Differenz von ästhetisch und nicht-ästhetisch zu betonen.

Moses Mendelssohn war einer der ersten, der sich mit dem Thema Ekel auseinandersetzte. Er ermahnte zum Widerstand gegen die vom Ekel ausgehende Denkhemmung und wagte es „die Natur des Ekels näher zu betrachten“.[8] Zu seiner Zeit meinte „,eckel sein’ [...] das, was abstößt, als auch die zu heikle Sensibilität, die sich zu leicht von etwas abstoßen lässt“.[9] Die Verdopplung des ,eckel-seins’ auf den Seiten des Objekts und des Subjekts führte zu einer Blockade möglicher Einsichten in den Ekel, denn „nur wer sich selbst nicht zu eckel ist, kann sich erkennend der ,Natur des Eckels’ stellen“.[10]

1760 beginnt die erste Ekel-Debatte, der nicht nur Mendelssohn, sondern auch Lessing, Herder und Kant folgten. Als gründender Moment wird die Etablierung des Ästhetischen und des idealen Schönen und die Einsicht in die Natur des Ekels gesehen. Ekel ist nicht nur extremer Gegenpol des Schönen, denn auch die makellose Schönheit selbst birgt die Gefahr des Abscheulichen. Mendelssohn gab zu bedenken, dass auch der Ekel am bloß Angenehmen, an übermäßiger Süße möglich ist.[11] Der Sättigungsekel entsteht dadurch, dass man das Schöne ,satt’ hat und nicht mehr davon konsumieren kann, aber der Zufluss desselben nicht aufhört.[12]

Wird aber in der Kunst das Unangenehme mit dem Angenehmen vermischt, so wird die Aufmerksamkeit gefesselt und die zu frühe Sättigung verhindert. Etwas am Schönen selbst verlangt demnach nach der Supplementierung durch ein Nicht-Schönes, nach einer Verunreinigung, um die Übersättigung zu vermeiden. Mit dieser Strategie reagierten die Theoretiker auf die Gefahr der Übersättigung.

Auch in einem anderen Ekelparadigma, dem Ekel an sexueller Erfüllung, ist der Sättigungsekel zu finden. Bietet sich das Objekt der bereits befriedigten Begierde weiter an, kann Lust sehr schnell in Ekel umschlagen. Anscheinend sind schöne Empfindungen demzufolge immer von Ekel bedroht. Als Gegenmittel wurden im 18. Jahrhundert Regeln für unendliche Variationen und unendliches Vorspiel aufgestellt, die auch Eingang in die ästhetische Theorie fanden. Die Kunst durfte nur solche Lust bereiten, die noch steigerungsfähig war. „Versage Dir Vergnügen, um ihn immer nur im Prospect zu behalten“,[13] formuliert Kant den Grundsatz. Das Gesetz der Ästhetik war die unendlich steigerbare Vorlust. Demzufolge war diese Leidenschaft an der Kunst als einzige ästhetisch, denn sie besaß allein eine Sicherung vor Übersättigung.

Die Regel des fruchtbaren Augenblicks setzte dieses Gesetz in den künstlerischen Imperativ um. Lessing schrieb vor, „in dem ganzen Verfolge eines Affects“[14] immer seinen maximalen Sättigungswert, „die höchste Staffel desselben“[15] zu vermeiden, „damit der Einbildungskraft freies Spiel bleibt“[16] und wir „desto mehr hinzu denken können“.[17] Ansonsten tritt ohne Zweifel der Ekel ein.

Das Schöne ist in der Ästhetik nun nicht mehr Alleinherrscher. Es neigt dazu, schnell ins Ekelhafte umzuschlagen und trägt den Ekel so tendenziell in sich. Diese Tatsache bestätigt zugleich die Wichtigkeit nach der Frage des ästhetischen Vergnügens am Unangenehmen, nach der paradoxen Lust an der Unlust.

Eine Antwort darauf bietet u.a. auch die Theorie des bürgerlichen Trauerspiels. Die Zuschauer empfinden Vergnügen am Schrecken, weil er in ihnen das Mitleid erweckt und sie deswegen die Menschlichkeit spüren lässt. Der Schrecken in der Kunst erzielt unangenehme Empfindungen in schwächerem Maße als die Realität, ist im Gegensatz zu ihr aber folgenlos. Je größer das Entsetzen am Anfang ist, desto schöner ist das Gefühl der Erkenntnis des Künstlichen.

Die Empfindung des Ekels ist „allezeit Natur, niemals Nachahmung“,[18] betonte Schlegel. Er berief sich dabei auf eine Erfahrung, die alles andere als selbstverständlich ist, „die widrige Empfindung des Eckels erfolgt, vermöge des Gesetztes der Einbildungskraft, auf bloße Vorstellung in der Seele, der Gegenstand mag für wüllkürlich gehalten werden oder nicht“.[19]

Die Beziehung von Ekel und Einbildungskraft unterliegen nach Mendelssohn einer doppelten Logik von Ausschluss und Inkorporation. Einerseits gehört der Ekel nur den „allerdunkelsten Sinnen“,[20] zu und ist damit streng geschieden von den Bereichen distanz- und intellektvermittelnder Vorstellungen, andererseits vermag die Einbildungskraft einen Wiedereintritt des Ekels zu vollbringen. Der Ekel steht im Gegensatz zur Kunst, denn wegen seines kurzen Funktionskreises lässt er keine Zeit für Distanz, die für die Kunst gerade wichtig ist, er erlaubt keine Reflexion, die zum Schock führen würde. Dadurch ist der Anteil an intellektueller Verarbeitung gering. Selbst die Vorstellung des Ekels aktiviert in der Assoziation die Struktur der Gleichgültigkeit gegen die Natur-Kunst-Differenz und lässt so auch die Unterscheidung von Wirklichkeit und Nachahmung auseinanderbrechen. Ist die Illusion der schönen Kunst perfekt, ist wiederum die Gefahr des Sättigungsekels gegeben, wie oben gesagt. Es gilt insofern, dass das Ekelhafte nicht allein der maximale Gegenwert des Schönen ist, sondern die absolute gelingende Täuschung von Natur und Kunst, die aufhört, Täuschung zu sein, „weil sie im Kollaps der Opposition jede Kunstdifferenz ebenso ausbricht, wie jedes distinktive Realitätszeichen“.[21]

Für Mendelssohn stand im Laufe der Ekeldebatte so der Angriff der allerdunkelsten Sinne auf dem Spiel, mit der Gefahr, dass leitende Merkmale des Ästhetischen zusammenbrachen.[22] Der Geschmacks- und Geruchssinn sowie das Gefühl sind dem Ekel am meisten ausgesetzt. Den Gesichtssinnen ist das Widerliche schon durch die Erinnerung und Assoziation unerträglich,[23] denn eigentlich „giebt es keine Gegenstände des Eckels für das Gesicht“.[24] Wegen der Zugehörigkeit des Ekels zu den „allerdunkelsten Sinnen“[25] hatte er für Mendelssohn keinen Anteil an den schönen Künsten, denn diese arbeiten nur für die deutlichen Sinne und das Gehör. Einzig die Nahsinne (riechen, schmecken) sind demnach der Gefahr des Ekels ausgesetzt. Die Kunst hebt sich aber gerade von diesen ab. Demnach hätte bloßer Ekel keinen Platz in der Kunst. Der Ekel in der Kunst ist nur Erinnerung, Assoziation oder Metapher. Solche Metaphern sind aber gefährlich, weil sie zugleich Metonymien der „allerdunkelsten Sinne“[26] sind. So erreichen auch wahre Ekelempfindungen das Feld der schönen Künste. Wenn man betrachtet, dass Ekel zuvor als einzig unangenehme Empfindung der Natur festgelegt wurde, gerät nun die Unterscheidung von Kunst und Natur ins Wanken. Die Künste sollten die Natur nur vortäuschen. Die Kunst ist nur schön, wenn man sich bewusst ist, dass es Kunst ist, doch wie Natur aussieht. Diese Täuschung entzieht den niederen Sinnen ihre Grundlage, denn sie sind stumpf für Täuschung. Im Ekel aber kollabiert dieser Grundssatz, denn der Ekel hat in der Kunst die gleiche Wirkung, wie in der Natur.[27] Lessing ließ unter bestimmten Umständen den Ekel in der Literatur zu.[28]

Ähnlich verfuhr Herder. Er versuchte, durch die Modifikation der Winckelmannschen Unterscheidung von Haupt- und Nebenwerk[29] dem Ekelhaften eine begrenzte Lizenz zu verschaffen. In einem Nebending muss gelegentlich auch das Schlechtere in der Form toleriert werden, wenn in der Hauptsache die Kunst gezeigt wurde.[30] Das Kunstschöne verlangt anscheinend geradezu nach der Unterstützung durch ein Nicht-(nur)-Schönes, wie schon erwähnt wurde. Denn, wenn nur das Schöne gezeigt würde, so schliche sich bald ein mattes Einerlei ein, das das Gefühl der Übersättigung birgt.

Der Ekel kann auch ins Feld des Lächerlichen und Komischen einfließen, wenn die Kunst nicht das Ekelhafte seinetwegen will, sondern „um das Lächerliche und Schreckliche dadurch zu verstärken“.[31] Erst als Teil der Symbolik des Lächerlichen wird das Abscheuliche signifikant. Dieser, betonte Lessing, funktionalisierte Ekel ist etwas anderes als der „bloße Ekel“,[32] der tabuisiert ist. In dieser Form ist das Abscheuliche in der Kunst gleichsam zugelassen, das Tabu des bloßen Ekels bleibt aber bestehen. Auch diese Vermischung von Ekel und Schönem kann in bloßen Ekel umschlagen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Ekel nicht nur der Gegenpol und der Sättigungswert des Schönen ist. Er begegnet uns auch in seiner Mitte als funktionale Beimischung anderer Affekte oder als notwendiger Kontrastwert des Hauptgesetztes. Er ist fast überall, immer anzutreffen.

Im folgenden Kapitel möchte ich darstellen, wie in der klassischen Epoche mit dem Ekel und seinen Ausprägungen umgegangen wurde. Die Einflüsse klassischer Schönheitsideale waren zu dieser Zeit die prägensten Faktoren im Umgang mit dem Ekelphänomen, der zumeist auf die Vermeidung des Hässlichen und Ekligen abzielte.

2. Die Anti-Ekelideale der Antike und ihre Einflüsse auf die Klassik

Die klassische Epoche war geprägt von ihrer engen Beziehung zur Antike. Es war Charakteristikum der Zeit, dass sich Gehalt und Gestalt der Kunst am Beispiel vor allem der griechischen Dichter, teils auch der lateinischen Autoren, orientierten. Maß und Form gingen vor Neuheit und Kraft. Die antike Kunst sollte aber nicht nachgeahmt, sondern mit dem neugeweckten Sprachsinn zum Vorbild genommen werden.

Zu dieser Zeit regten besonders die Schriften Johann Joachim Winckelmanns die Autoren zu kunsttheoretischen Schriften an, die sich mit der Antike befassten. Winckelmann vertrat die These, dass der gute Geschmack „welcher sich mehr und mehr durch die Welt ausbreitet“[33] sich zuerst „unter dem griechischen Himmel bildete“.[34] Er forderte seine Leser auf, den Griechen künstlerisch zu folgen, um auch ihrerseits groß und unnachahmlich zu werden. Die griechischen Götterstatuen und nicht nur die Natur sah er als ideale Schönheiten an. Da meistens dort, wo Schönheit ist auch die Hässlichkeit und mit ihr auch der Ekel ihren bzw. seinen Platz hat, setzt an dieser Stelle eine neuerliche Ekeldiskussion ein.

2.1 griechische Statuen als Vorbild der idealen Schönheit

Winckelmann sah die antiken Götterstatuen als das Idealbild des Schönen an.

Die Meisterstücke der griechischen Kunst zeigen uns eine Haut, die nicht angespannet, sondern sanft gezogen ist über ein gesundes Fleisch, welches dieselbe ohne schwülstige Ausdehnungen füllet und bei allen Bewegungen der fleischigen Teile der Richtung desselben vereinigt folget.[35]

Der Idealkörper hat nicht eine einzige Delle oder Falte, er bildet durch die ununterbrochenen Teile seines Leibes eine vollkommene Einheit. Jegliche Oberflächendifferenz wird vermieden und „mit einem fühlbaren Gypse über[zogen]“.[36] Jede Falte, jede Höhlung, jede Ecke wäre eklig und würde die glatte Oberfläche stören. Aus diesem Grund musste jeder Oberflächendefekt oder jede Unreinheit ausgemerzt werden. Dazu wird auch vom wahren Körperbau abgelenkt. An Körperstellen, wo sonst nur Haut über dem Knochen ist, wie Schlüsselbein oder Ellbogen, werden Kanten zugunsten ebener Oberflächen abgerundet.

In der klassisch-ästhetischen Sichtweise des Körpers galt nur das Äußere als schön, die Oberfläche sollte als exklusives Ganzes dargestellt werden. Sie wurde von jeglichem Inneren losgetrennt, denn schon Adern waren wie „kriechende Würmer“[37] und bargen somit Ekelgefahr.

Alles, was nur irgendwie an den verwesenden Leichnam erinnert, wurde aus der Nähe des Schauenden verbannt. Ekelantizipierende Merkmale wurden schlicht als Krankheit deklariert und wegdefiniert. Am idealen Menschen war kein Platz für Krankheit oder eklige Hässlichkeit.

Bei diesem idealen Körper ist jede Tiefe oder Körperöffnung eine widerliche Bedrohung für die gewünschte ununterbrochene Hautlinie. Das Körperinnere, die Organe sowie alle Prozesse der Resorption und Ausscheidung bleiben in der Orientierung an der Fassade nicht nur unsichtbar, sie fallen erst recht unter die Zusätze, die peinlich zu vermeiden sind. Winckelmann betonte, dass die idealschönen Gestalten nicht nur der störend aufliegenden „Nerven und Sehnen“[38] entbehren können, sie haben auch für „die Nahrung unseres Körpers bestimmte Theile nicht von Nöthen“.[39]

Obwohl Ästhetik und Anatomie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einen Aufschwung erlebten, sind es doch zwei entgegengesetzte Wissenschaften, die sich gegenseitig ausschlossen.[40] Für Künstler war schon das bloße Studium des unter der Haut liegenden eher gefährlich als nützlich. Wenn nicht nur die Ausscheidungen des Körpers, sondern buchstäblich seine inneren Organe auf der Außenseite sichtbar werden, kann es sich im Feld des Ästhetischen nur um das Ekelhafte handeln, das das Grässliche oder das Lächerliche unterstützt.[41]

Um das Eklige zu vermeiden, stellte man sich den Körper als Schale vor, aus dem alles herausgenommen ist. Er hat kein Innenleben und scheint wie aus Marmor gehauen. Die Organe sind genauso unsichtbar, wie Seele und Geist es sein sollten, auf sichtbare Weise. Es soll so aussehen, als ob sie Organe hätten, damit jeder Gedanke an ihr Innenleben gleichsam verdrängt wird.[42]

Trotzdem hat aber der Idealkörper Zonen, die ins Körperinnere und aus ihm heraus führen. Solche Zonen sind die Körperöffnungen, wie Mund oder auch Nase und die Genitalien. Sie sind Signifikate des Ekels und verlangen nach einer strengen Reglementierung. Selbst die kleinste Andeutung der Körperöffnungen ist zu heikel.

Wieder eröffnet die Regel der Sättigungsvermeidung ein unabschließbares Wechselspiel von Sehen und Denken. „Je mehr wir sehen, desto mehr müssen wir dazu denken können“.[43] Es darf nicht soweit kommen, dass aus zuviel Schönem wieder der Ekel entsteht.

Eine besonders ekelhafte Körperöffnung ist der aufgesperrte Mund. Er ist ein Tor ins Innere und führt zu Assoziationen mit dem geöffneten Schoß. Es wird verworfen und als ekelhaft in die Lehre vom Schönen integriert und durchaus auch positiv umkodiert. Winckelmanns Fixierung auf das Griechische veranlasste die Integration des aufgesperrten Mundes als Ekel-Chiffre in den Texten Lessings und Herders. Er erklärte, dass der Mund, dessen Lippen geschlossen sind und der keine sichtbaren Zähne zeigt, der schönste Teil des Körpers ist.[44] Die Regel der äußerst mäßigen Lippenöffnung muss dort idealisierend wirken, wo der Gegenstand einen Schmerzausdruck oder einen Schrei erwarten lässt, wie es z.B. bei Laokoon der Fall ist. Dort wird der Schmerz allein durch den Ausdruck der Sehnen und Muskeln ausgedrückt. Ein Laokoon mit aufgesperrtem Mund wäre hingegen unvorstellbar. Es zeigt sich eine orale Verletzungsgefahr für das Schöne durch den Ekel des geöffneten Mundes. Zum einen ist die Oberfläche unterbrochen, zum anderen ist der Blick ins Innere freigegeben. Fraglich ist hingegen, ob der Mund, wie öfters beschrieben, auch ein Stellvertreter für die Vagina oder den Anus ist. Sollte es ein Bild für die Vagina sein, wäre das Verbot des offenen Mundes auch eine Regel, die den Sexualekel verhindern soll oder den Ekel vor der Geburt. Die Geburt ist aber nur ein Ekelparadigma, weil mit ihr auch das zu Tage treten von Kot, Urin und Blut assoziiert wird.[45] Als lebensschenkender Vorgang ist sie nicht eklig.

[...]

[1] Saner, Hans: Macht und Ohnmacht der Symbole. Essays. Basel 1993, S. 273 Anm. 1.

[2] Horaz: Oden und Epoden (lat.-dt.). Übersetzt und herausgegeben von Bernhard Kytzler, Stuttgart 1978.

[3] Horaz: Oden und Epoden (lat.-dt.).

[4] http://images.zeno.org/Kunstwerke/I/big/1770051a.jpg, aktualisiert am 21.04.2016

[5] Vgl. Funk, Holger: Ästhetik des Häßlichen. Beiträge zum Verständnis negativer Ausdrucksformen im 19. Jh. Berlin 1983, S. 86.

[6] Batteux, Charles: Einschränkung der schönen Künste auf einen einzigen Grundsatz. Aus dem Französischen übersetzt und mit Abhandlungen begleitet von Johann Adolf Schlegel. Hildesheim/New York 1976.

[7] Batteux, Charles: Einschränkung der schönen Künste auf einen einzigen Grundsatz , S. 111.

[8] Mendelssohn, Moses: 82. Literaturbrief. J. A. Schlegel zu Batteux’ Kunsttheorie. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe, Bd. 5,1 (Rezensionsartikel in Briefe, die neueste Literatur betreffend, 1759-1765, bearbeitet von Eva J. Engel). Stuttgart 1991, S. 131.

[9] Menninghaus, Winfried: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung. Frankfurt a.M. 1990, S. 39.

[10] Ebd., S. 39.

[11] Mendelssohn, Moses: 82. Literaturbrief, S.132.

[12] Menninghaus, Winfried: Ekel, S. 40.

[13] Kant, Immanuel: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. In: Kants gesammelte Schriften (KGS). Hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1907, Bd. 7, S. 237.

[14] Lessing, Gotthold Ephraim: Laokoon. In: Ders.: Werke, Bd. 6. Kunsttheoretische und kunsthistorische Schriften. Darmstadt 1974, S. 26.

[15] Lessing, Gotthold Ephraim: Laokoon, S. 26.

[16] Ebd.

[17] Ebd.

[18] Batteux, Charles: Einschränkung der schönen Künste auf einen einzigen Grundsatz, S. 112.

[19] Ebd.

[20] Mendelssohn, Moses: 82. Literaturbrief, S. 131.

[21] Menninghaus, Winfried: Ekel, S. 69.

[22] Vgl. Mendelssohn, Moses: 82. Literaturbrief, S. 131.

[23] Vgl. Dieckmann, Herbert: Das Abscheuliche und Schreckliche in der Kunsttheorie des 18. Jahrhunderts. In: Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen. Hrsg. von Hans Robert Jauß. München 1968, S. 309.

[24] Dieckmann, Herbert: Das Abscheuliche und Schreckliche in der Kunsttheorie des 18. Jahrhunderts, S. 131.

[25] Mendelssohn, Moses: 82. Literaturbrief, S.131.

[26] Ebd.

[27] Menninghaus, Winfried: Ekel, S. 68.

[28] Vgl. Lessing, Gotthold Ephraim: Laokoon, S 158.

[29] In einem Nebending muss gelegentlich auch das Schlechtere toleriert werden, wenn in der Hauptsache die vollkommenen Kunst gezeigt wird.

[30] Vgl. Herder, Johann Gottfried: Die Plastik von 1770. In: Der.: Sämtliche Werke, Bd. 8. Hrsg. von Bernd Suphan. Hildesheim 1967, S. 1-165.

[31] Lessing, Gotthold Ephraim: Laokoon, S. 165.

[32] Lessing, Gotthold Ephraim: Laokoon, S. 158.

[33] Winckelmann, Johann Joachim: Kunsttheoretischen Schriften. Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst. Baden-Baden/Straßburg 1962, S. 1.

[34] Ebd.

[35] Winckelmann, Johann Joachim: Kunsttheoretischen Schriften. Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst, S. 11-12.

[36] Herder, Johann Gottfried: Die Plastik von 1770. In: Ders.: Sämtliche Werke, Bd. 8. Hrsg. von Bernd Suphan. Hildesheim 1967, S. 102.

[37] Ebd.

[38] Winckelmann, Johann Joachim: Kunsttheoretischen Schriften. Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst, S. 15-16.

[39] Ebd.

[40] Vgl. Menninghaus, Winfried: Ekel, S. 83.

[41] Vgl. Lessing, Gotthold Ephraim: Laokoon, S. 165.

[42] Vgl. Menninghaus, Winfried: Ekel, S. 85.

[43] Lessing, Gotthold Ephraim: Laokoon, S. 26.

[44] Vgl. Winckelmann, Johann Joachim: Kunsttheoretischen Schriften. Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst, S. 65.

[45] Vgl. II.1.2.

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Details

Titel
Der Ekel im Wandel der Jahrhunderte. Entwicklung des Ekels in der Literaturtheorie und in der Kunst
Hochschule
Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen
Note
1,7
Autor
Jahr
2003
Seiten
49
Katalognummer
V321571
ISBN (eBook)
9783668202481
ISBN (Buch)
9783668202498
Dateigröße
826 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Ekel, Ekel und Literatur
Arbeit zitieren
Simone Meyer (Autor:in), 2003, Der Ekel im Wandel der Jahrhunderte. Entwicklung des Ekels in der Literaturtheorie und in der Kunst, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/321571

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