Da die Zahl der Cybermobbing-Opfer stetig zunimmt, ist es dringend notwendig, Forschungen über Cybermobbing in Angriff zu nehmen, um hieraus Präventionen herauszuarbeiten sowie jene letztlich auch erfolgreich anzuwenden. Unumgänglich ist dabei, sich mit dem Thema ausführlich zu befassen und auseinanderzusetzen. Zumal Cybermobbing ein sehr komplexes sowie vielschichtiges Phänomen ist, sind Untersuchungen aus differenten Wissenschaftsbereichen erforderlich. Dies bedeutet, dass Cybermobbing u. a. aus dem soziologischen, pädagogischen, medizinischen und psychologischen Blickwinkel untersucht werden sollte, um ein sachkundiges Verständnis hiervon zu erhalten. Aus diesem Grund verfolgt die vorliegende Arbeit das Ziel, durch die linguistische Analyse der Gewaltsprache beim Cybermobbing einen Beitrag zum Verständnis jenes facettenreichen Phänomens zu leisten. Erst auf der Grundlage des Verständnisses, d. h. wie sprachliche Gewalt konstruiert ist und welche Effekte jene hervorrufen kann, können Einsicht und Kenntnis erfolgen, welche für die Präventionsentwicklung essentiell sind (vgl. Groeben, 2009, S. 121; Schwarz-Friesel, 2013, S. 234). Marx und Weidacher (2014, S. 170) werden konkreter und erklären den Nutzen einer linguistischen Analyse von Cybermobbing so: „[Eine linguistische Analyse] kann nicht verhindern, dass sich das Opfer zutiefst verletzt fühlt, aber sie kann helfen offen zu legen, warum eine Äußerung so bedrohlich, verletzend oder beängstigend wirkt. […] Wenn die Strategien und sprachlichen Mittel die ein Täter anwendet >>enttarnt<< werden können, gelingt es dem Opfer möglicherweise, die sprachliche Gewalttat für sich einzuordnen und zu relativieren.“
Aufgrund dessen soll analysiert werden, wie sich Gewalt gegen eine Person in dem heutigen ‚Netzjargon‘ äußert. Folglich sollen Textpassagen aus Beiträgen der sozialen Plattform ‚Facebook‘ herangenommen und auf ihre sprachliche Gewalt hin untersucht werden. An dieser Stelle soll noch einmal erwähnt werden, dass speziell nur sprachliche Gewalt analysiert wird, welche sich in diesem Fall konkret gegen Personen richtet und in schriftlicher Form vorliegt. Neben der im Vordergrund stehenden Analyse der sprachlichen Gewalt beider Facebook-Accounts wird zudem untersucht, ob Unterschiede im Kontext der Gewaltintensität zwischen diesen zu finden sind. Hierbei wird versucht, die These zu stützen, dass eine prominente, bewusst provokative Person eine gewaltreichere Sprache erfährt als ein Alltagsmensch.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
1.1 Beispiele von Cybermobbing
1.2 Relevanz und Ziel der Arbeit
1.3 Forschungsstand
1.4 Verwendetes Korpus
1.5 Aufbau und Struktur der Arbeit
2. Cybermobbing
2.1 Was ist Cybermobbing?
2.2 Das Prekäre an Cybermobbing
2.3 Verletzungspotential und Auswirkungen von Cybermobbing
3. Gewaltsprache
3.1 Gewalt und Sprache - Gegensätze?
3.1.1 Gewalt
3.1.2 Sprache und ihr Handlungspotenzial
3.2 Was ist Gewaltsprache?
3.3 Warum kann Sprache verletzen?
4. Strategien verbaler Gewalt
4.1 Pejoration des Eigennamens
4.1.1 Schimpfw ö rter
4.1.2 Metaphern und Vergleiche
4.1.3 Kategorisierung und Stereotypisierung
4.1.4 Pronominale Anrede
4.2 Grammatik verbaler Gewalt
4.2.1 Komparativ und Diminuitiv
4.2.2 Partikeln
4.3 Gewaltpotenzial bestimmter Sprechakte
4.3.1 Sprechakt ‚ Beschimpfen, Beleidigen ‘
4.3.2 Sprechakt ‚ Auslachen ‘
4.3.3 Sprechakt ‚ aggressives Kritisieren ‘
4.3.4 Sprechakt ‚ aggressives Auffordern ‘
4.3.5 Sprechakt ‚ Drohen ‘
4.3.6 Sprechakt ‚ Widersprechen ‘
4.4 Kurzes Resümee der herausgearbeiteten Strategien
5. Analyse der sprachlichen Gewalt zweier Facebook-Accounts
5.1 Hat die Gewaltsprache ihre Wirkung erzielt?
5.2 Das Gewaltpotenzial einiger Kommunikationsbedingungen
5.2.1 Physische N ä he bzw. Distanz und Vertraut- bzw. Fremdheit
5.2.2 Privatheit bzw. Ö ffentlichkeit und Endg ü ltigkeit
5.2.3 Dialogizit ä t bzw. Monologizit ä t
5.2.4 Synchronit ä t bzw. Asynchronit ä t
5.2.5 Spontanit ä t und freie Themenentwicklung
5.2.6 Emotion
5.2.7 Gewaltpotenzial der Oraliteralit ä t der Facebook-Sprache
5.3 Verwendete Strategien verbaler Gewalt bei Melisa Omeragic
5.3.1 Sprechakt ‚ Beschimpfen, Beleidigen ‘
5.3.2 Sprechakt ‚ Auslachen ‘
5.3.3 Sprechakt ‚ aggressives Kritisieren ‘
5.3.4 Sprechakt ‚ aggressives Auffordern ‘
5.3.5 Sprechakt ‚ Drohen ‘
5.3.6 Sprechakt ‚ Widersprechen ‘
5.4 Verwendete Strategien verbaler Gewalt bei Conchita Wurst
5.4.1 Sprechakt ‚ Beschimpfen, Beleidigen ‘
5.4.2 Sprechakt ‚ Auslachen ‘
5.4.3 Sprechakt ‚ aggressives Kritisieren ‘
5.4.4 Sprechakt ‚ aggressives Auffordern ‘
5.4.5 Sprechakt ‚ Drohen ‘
5.4.6 Sprechakt ‚ Widersprechen ‘
5.5 Kurzer Vergleich des Gewaltpotenzials beider Facebook-Accounts
6. Fazit und Schluss
7. Abbildungsverzeichnis
8. Literaturverzeichnis
8.1 Primärliteratur
8.2 Sekundärliteratur
8.3 Internetquellen
9. Anhang
9.1 Diskussionsauszüge aus dem Facebook-Account von Melisa Omeragic
9.2 Diskussionsauszüge aus dem Facebook-Account von Conchita Wurst
1. Einleitung
1.1 Beispiele von Cybermobbing
„Ich habe niemanden. Ich brauche jemanden“ (Mitic-Pigorsch, 2012). Amanda Todds schrieb diesen letzten Hilferuf auf Karteikarten, die sie schweigend in ihrem Youtube- Clip in die Kamera hält. Neun Minuten lang erzählen die Karteikarten von ihrer qualvollen Lebensgeschichte. So lernte sie einen jungen Mann im Internet kennen, vertraute ihm und schickte ihm, auf seine Bitte hin, Nacktaufnahmen von sich. Der junge Mann forderte mehr Bilder, bedrohte sie und leitete die Nacktaufnahmen, nachdem sie sich weigerte, weitere zu senden, schließlich an ihre Schulkameraden weiter. Die Fotos landeten sogar auf Facebook-Seiten, die für jeden öffentlich zugänglich waren. Ihre Mitschüler begannen sie zu beschimpfen, zu schlagen, zu demütigen. Der Horror endete jedoch nicht hinter verschlossenen Türen, sondern ging in der virtuellen Welt weiter. So entstanden im Internet eine regelrechte Hetzjagd und Verschwörung gegen die 15-jährige Kanadierin. Unzählige Schulwechsel änderten nichts an der Situation, bis Amanda letztlich zu Drogen und Alkohol griff, sogar versuchte, sich vergeblich mit Bleichmittel umzubringen. Ihr zweiter Selbstmordversuch war schließlich erfolgreich. Amanda Todds wurde nur 15 Jahre alt. Sie nahm sich am 10. Oktober 2012, nach jahrelangem qualvollem Mobbing und etwa einem Monat nach ihrem letzten Hilferuf, in Form des selbstgefilmten Youtube-Videos, das Leben. Der Fall Amanda Todds ist der weltweit Bekannteste im Kontext Cybermobbing, jedoch bei weitem nicht der einzige (vgl. Bradke, 2014, S. 3).
Der 20-Jährige Niederländer, Tim Ribberink, wurde jahrelang von Mitschülern verbal beleidigt und im Internet als ‚Loser‘ und ‚Homo‘ beschimpft. Schließlich hielt er dem grundlosen Hass nicht mehr Stand und nahm sich im November 2012 das Leben. Tim hinterließ seinen Eltern einen Abschiedsbrief mit dem folgenden Text: „Lieber Papa, liebe Mama, ich wurde mein ganzes Leben lang verspottet, getriezt und ausgeschlossen. Ihr seid fantastisch. Ich hoffe, dass ihr nicht sauer seid. Auf Wiedersehen.“ (Uni-Münster, 2012). Seine Eltern veröffentlichten diesen Brief in der Todesanzeige ihres Sohnes.
Rehtaeh Parsons wurde von vier Mitschülern bei einer Party sexuell missbraucht und dabei fotografiert. Jenes Foto verbreitete sich wie ein Lauffeuer unter ihren Mitschülern und Freunden. Nach fast zwei Jahren endlosem Mobbings im Internet, in dem sie u. a. als ‚Schlampe‘ beschimpft wurde, erhängte sich die 17-Jährige Kanadierin im April 2013 in ihrem Zimmer (vgl. Lessentiel, 2013).
Im Februar 2014 sprang eine 14-Jährige in der italienischen Gemeinde Fontaniva aufgrund von enormen Cybermobbing-Attacken in den Tod. Sie suchte in dem sozialen Netzwerk ‚Ask.fm‘ nach seelischem Beistand, da ihr Freund sie verlassen hatte. Anstatt diesem erhielt das Mädchen Beleidigungen und Aufforderungen sich umzubringen (vgl. news.ch, 2014).
In Berlin wurde im Jahr 2011 ein 17-Jähriger von Mitschülern bewusstlos geschlagen. Seine Freundin wurde über die Internetplattform ‚isharegossip.com‘ extrem gemobbt. Nachdem er diesem Treiben ein Ende bereiten und mit den Tätern reden wollte, schlugen sie ihn krankenhausreif (vgl. Berliner Morgenpost, 2011).
Zweifelsohne stellen die vorgestellten Beispiele Extremfälle dar, weshalb sie auch das mediale Interesse erregten. Dennoch sind die aufgeführten Fälle ein Indiz dafür, dass Cybermobbing mittlerweile als ein weltweites Problem gesehen werden kann. Auch wenn nicht jede Cybermobbing-Attacke zu derartigen tragischen sowie traumatischen Endszenarien führen muss, kann sie doch enorme psychische und physische Beeinträchtigungen zur Folge haben. Die Studie des Bündnisses gegen Cybermobbing von Schülern und Schülerinnen im Jahr 2013 in Deutschland ergab, dass bereits jeder vierte Schüler und jede vierte Schülerin, nach eigenem Bemessen, Opfer von Mobbingattacken im Internet war (vgl. Schneider, Katzer & Leest, 2013, S. 93). Seit der Etablierung und der beträchtlichen Zunahme virtueller Kommunikationsräume wie z. B. ‚Internet Chatrooms‘, ‚Foren‘, ‚Messenger‘, ‚öffentliche Blogs‘, soziale Netzwerke wie z. B. ‚Facebook‘, ‚StudiVZ‘, ‚Twitter‘, Videoportale wie z. B. ‚Youtube‘, ‚Myvideo‘, ‚Clipfish‘ oder Online-Games wie z. B. ‚World of Warcraft‘, existiert keine regionale Barriere mehr, um mit anderen Personen in Kontakt zu treten. Auch die eigene Hemmschwelle ist niedriger, weshalb persönliche Übergriffe kontinuierlich zunehmen (vgl. Schneider, Katzer & Leest, 2013, S. 10; Schwarz-Friesel, 2013, S. 232f.). Aufgrund des kontinuierlichen Anstiegs bezüglich der Quantität und der Intensität des Mobbings via Internet, rückt dieses Thema immer mehr in den Forschungsfokus (vgl.Polizei- Beratung; Schneider, Katzer & Leest, 2013, S. 12). Um Personen vor Cybermobbing- Übergriffen zu beschützen sowie jene Vorfälle einzudämmen, ist eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Thema erforderlich.
Mobbing, d. h. aggressives Verhalten und Handeln gegen einen Mitmenschen, der sich gegen dieses nicht wehren kann, ist als solches ein altbekanntes Phänomen und Problem in der Gesellschaft. Ein maßgeblicher Unterschied von konventionellem Mobbing zu dem modernen Cybermobbing ist zum einen der Ort des Geschehens, nämlich der virtuelle Raum des Internets, und zum anderen die Ausführungsform. Die Gewalt, welche das Mobbing-Opfer erfährt, wird nicht körperlich, sondern virtuell zugefügt. Hierbei wird die virtuelle Gewalt auf das reale Leben übertragen und entfaltet dort seinen destruktiven Effekt (vgl. Grimm & Badura, 2011, S. 88). Auswirkungen von Cybermobbing können im Gegensatz zu traditionellem Mobbing sogar als traumatischer eingestuft werden, da es jederzeit und überall stattfinden kann (vgl. Schneider, Katzer & Leest, 2013, S. 13). So kann virtuelle Gewalt entweder durch Videos oder durch schriftliche Beleidigungen, Degradierungen sowie Diffamierungen erfolgen. In Bezug auf die schriftliche Gewaltausübung muss die verletzende Wirkung in den Worten und Texten liegen. Hierbei kann angenommen werden, dass es bestimmte Sprechmuster oder Strategien geben muss, die durch ihre induzierte Gewalt den Leser emotional treffen und verwunden können. Die folgende Arbeit versucht anhand ausgewählter Facebook-Seiten, bei denen Cybermobbing öffentlich praktiziert wird, jene sprachliche Gewalt zu analysieren.
1.2 Relevanz und Ziel der Arbeit
Da die Zahl der Cybermobbing-Opfer stetig zunimmt, ist es dringend notwendig, Forschungen über Cybermobbing in Angriff zu nehmen, um hieraus Präventionen herauszuarbeiten sowie jene letztlich auch erfolgreich anzuwenden. Unumgänglich ist dabei, sich mit dem Thema ausführlich zu befassen und auseinanderzusetzen. Zumal Cybermobbing ein sehr komplexes sowie vielschichtiges Phänomen ist, sind Untersuchungen aus differenten Wissenschaftsbereichen erforderlich. Dies bedeutet, dass Cybermobbing u. a. aus dem soziologischen, pädagogischen, medizinischen und psychologischen Blickwinkel untersucht werden sollte, um ein sachkundiges Verständnis hiervon zu erhalten. Aus diesem Grund verfolgt die vorliegende Arbeit das Ziel, durch die linguistische Analyse der Gewaltsprache beim Cybermobbing einen Beitrag zum Verständnis jenes facettenreichen Phänomens zu leisten. Erst auf der Grundlage des Verständnisses, d. h. wie sprachliche Gewalt konstruiert ist und welche Effekte jene hervorrufen kann, können Einsicht und Kenntnis erfolgen, welche für die Präventionsentwicklung essentiell sind (vgl. Groeben, 2009, S. 121; Schwarz-Friesel, 2013, S. 234). Marx und Weidacher (2014, S. 170) werden konkreter und erklären den Nutzen einer linguistischen Analyse von Cybermobbing so: „[Eine linguistische Analyse] kann nicht verhindern, dass sich das Opfer zutiefst verletzt fühlt, aber sie kann helfen offen zu legen, warum eine Äußerung so bedrohlich, verletzend oder beängstigend wirkt. […] Wenn die Strategien und sprachlichen Mittel die ein Täter anwendet >>enttarnt<< werden können, gelingt es dem Opfer möglicherweise, die sprachliche Gewalttat für sich einzuordnen und zu relativieren.“
Aufgrund dessen soll analysiert werden, wie sich Gewalt gegen eine Person in dem heutigen ‚Netzjargon‘ äußert. Folglich sollen Textpassagen aus Beiträgen der sozialen Plattform ‚Facebook‘ herangenommen und auf ihre sprachliche Gewalt hin untersucht werden. An dieser Stelle soll noch einmal erwähnt werden, dass speziell nur sprachliche Gewalt analysiert wird, welche sich in diesem Fall konkret gegen Personen richtet und in schriftlicher Form vorliegt. Neben der im Vordergrund stehenden Analyse der sprachlichen Gewalt beider Facebook-Accounts wird zudem untersucht, ob Unterschiede im Kontext der Gewaltintensität zwischen diesen zu finden sind. Hierbei wird versucht, die These zu stützen, dass eine prominente, bewusst provokative Person eine gewaltreichere Sprache erfährt als ein Alltagsmensch.
1.3 Forschungsstand
In Bezug auf das Thema Cybermobbing fanden im angloamerikanischen Raum bereits seit dem Jahr 1999 Untersuchungen statt. In Deutschland hingegen begannen die ersten konkreten Studien zu jenem Bereich erst seit dem Jahr 2007 (vgl. Fawzi, 2009, S. 30). Neben zahlreichen Interviews und Fragebogenuntersuchungen konnten mittlerweile einige statistische Daten erhoben werden bezüglich der Häufigkeit, des Antriebs, der Täter- und Opferprofile, der Divergenz des Alters oder des Geschlechts im Kontext Cybermobbing (vgl. Schwarz-Friesel, 2013, S. 238).
Hinsichtlich des Themas ‚Sprachliche Gewalt‘ existieren vor allem im angelsächsischen Raum seit den 60er Jahren Forschungen bzw. wissenschaftliche Diskussionen, Analysen und Beiträge, welche durch die ‚Political-Correctness-Debatte‘ in den USA ausgelöst wurden. Die Forschungsfelder erstrecken sich hier von juristischen, politischen und philosophischen Ausarbeitungen über soziologischen zu diskurs- und gesprächsanalytischen Untersuchungen. Der US-amerikanische Soziologe Erving Goffman erforschte z. B. die Faktoren sprachlicher Gewalt und deren Auswirkungen (vgl. Goffmann 1967/ 1967a). Matsuda (1993), MacKinnon (1994) und Butler (2006) sind u. a. Autoren, die sich mit rassistischer Gewaltsprache auseinandergesetzt haben (vgl. Haller, 2012, S. 9). In Deutschland widmete sich zunächst die feministische Sprachwissenschaft der Gewaltsprache. Hierunter fallen beispielsweise Publikationen von Pusch (1984) und Trömel-Plötz (1992). Sprachliche Gewalt in Form von Hass-Sprache bzw. Hass-Reden nationalsozialistischer Propaganda, die auch als ‚braune Rhetorik‘ bezeichnet wird, wurde beispielsweise von Reinhardt Biffar (1994) untersucht. Allgemeine politische oder politisch organisierte Sprachformen lagen bezüglich ihres Gewaltinhalts im Forschungsfokus von Jörg Meibauer (2013) (vgl. Groeben, 2009, S. 115). Weitere interdisziplinäre Forschungen der Gewaltsprache wurden u. a. von Monika Schwarz- Friesel (2013) und Sybille Krämer (2005 & 2007) eingeleitet. Letztere arbeitet als Professorin für Philosophie an der Freien Universität Berlin und befasst sich seit Jahren mit sprachlicher Gewalt. Auf ihre Werke und Sammelbände, die mit ihren Kollegen, wie Steffen Kitty Herrmann oder Hannes Kuch verfasst wurden, wird in der vorliegenden Arbeit mehrmals Bezug genommen. Linguistische Analysen sprachlicher Gewalt im Kontext des Internets wurden von Sonja Kleinke (2007) unter dem Titel „Sprachliche Strategien verbaler Ablehnung in öffentlichen Diskussionsforen im Internet“ veröffentlicht. Wie zu sehen ist, untersucht die Sprachforschung in Deutschland seit einigen Jahren, wie und wodurch Gewalt in der Sprache entsteht. Bis jetzt wurde dies jedoch nicht spezifisch im kontextuellen Rahmen von Cybermobbing untersucht (vgl. Schwarz-Friesel, 2013, S. 238).
1.4 Verwendetes Korpus
Bei der Wahl der Korpora, welche in dieser Arbeit auf ihre sprachliche Gewalt hin analysiert werden sollen, wurden zwei Accounts1 gewählt, die bereits auf den ersten Blick viele demütigende und beleidigende Beiträge aufweisen. Die Suche geeigneter Accounts fand bewusst im Rahmen des sozialen Netzwerks Facebook statt, da hier mit einer hohen Zahl aktiver Nutzer gerechnet werden konnte. So besuchten im Jahr 2013 bereits 73 % aller Jugendlichen im Alter von 12 bis 19 Jahren in Deutschland täglich Online- Communities, vor allem eben Facebook (vgl. JIM-Studie, 2013, S. 29,33). Jedoch erwies sich die Suche als sehr komplex und diffizil, da zahlreiche Accounts, bei welchen anzunehmen war, dass hier Cybermobbing betrieben wurde, nicht öffentlich zugänglich bzw. nur für Gruppenmitglieder bestimmt waren. Ebenso wurden viele Accounts, bei denen Cybermobbing betrieben wurde, gelöscht, wie z. B. die Facebook-Seite ‚Darmstädter Gerüchte‘ (vgl. Stencil-Online, 2012). Demzufolge wurden Facebook- Accounts von Personen gewählt, deren Seiten öffentlich zugänglich sind und jedem die Freiheit bieten, Beiträge zu kommentieren. Zum einen ist dies der Account von Conchita Wurst. Der homosexuelle Tom Neuwirth alias Conchita Wurst gewann 2014 den ‚Eurovision Songcontest2 (ESC)‘ für Österreich. Tom Neuwirth polarisiert bewusst durch sein Auftreten als Frau mit Bart, um für persönliche Freiheit und Toleranz zu kämpfen (vgl. Conchita Wurst). Anders als beim Transvestitismus, bei dem sowohl Hetero- als auch Homosexuelle ihr Äußeres gänzlich der Geschlechtsidentität anstatt dem genetischen Geschlecht anpassen, weist Conchita in seinem3 Erscheinungsbild weibliche und männliche Geschlechtsmerkmale auf einmal auf. Er ist also ein Mann, der sich wie eine Frau kleidet und schminkt, aber zudem einen vollen, männlichen Bart trägt. Ihm ist es sozusagen ‚Wurst‘, ob er Frau oder Mann ist, weshalb er auch seinen Künstlernamen entsprechend dieser Begründung entwarf. Auf seiner Facebook-Seite teilt er öffentlich Fotos und Kommentare. Jedem Besucher seiner Facebook-Seite steht es frei, diese Fotos und Beiträge zu kommentieren.
Zum anderen wird der Facebook-Account von Melisa Omeragic auf die dort verwendete Gewaltsprache hin untersucht. Die 18-jährige Aachnerin ging im Jahr 2014 zu einem Casting der RTL-Sendung ‚Deutschland sucht den Superstar (DSDS)‘. Melisa flog bereits nach dem Casting raus und wurde nicht zum ‚Recall‘4 eingeladen, bestach aber mit ihrem sonderbaren Aussehen und ihren frechen Sprüchen (OK-Magazine, 2014). Auch sie teilt auf ihrer Facebook-Seite Fotos von sich und veröffentlicht Beiträge, die jeweils frei kommentiert werden können.
Im Anhang dieser Arbeit finden sich die verwendeten Beiträge und Kommentare beider Facebook-Accounts. Hierbei wurden speziell nur Einträge aus den Facebook-Accounts übernommen und aufgeführt, welche nicht als eindeutig positiv zu verstehen sind. Auf diese Weise wurden unwillkürlich 80 Kommentare ausgewählt. Da die Beiträge von Privatpersonen erstellt wurden, wurden deren Namen durch die Verfasserin dieser Arbeit anonymisiert und durch Nummern ersetzt, wobei die Abkürzung ‚MO‘ für den Facebook- Account von ‚Melisa Omeragic‘, die Abkürzung ‚CW‘ für den Facebook-Account von ‚Conchita Wurst‘ steht. Wichtig ist hierbei zu erwähnen, dass die Beiträge der jeweiligen Facebook-Seiten in der Regel nicht von den Account-Besitzern selbst verfasst, sondern von unterschiedlichen Personen, die diese Seiten besuchten, kommentiert wurden. Des Weiteren sind die Einträge weitestgehend chronologisch geordnet. An dieser Stelle soll darauf hingewiesen werden, dass die untersuchten Beiträge unverändert übernommen wurden und aus diesem Grund viele Orthographie- und Interpunktionsfehler enthalten sind.
1.5 Aufbau und Struktur der Arbeit
Nachdem das erste Kapitel die Aktualität und Relevanz des Themas dieser Arbeit kurz wiedergibt, widmen sich das zweite und dritte Kapitel speziell den Themen Cybermobbing und Gewaltsprache. Diese Kapitel sollen als Wissensgrundlage dienen, auf die in den weiteren Kapiteln aufgebaut werden soll. Daher wird im zweiten Kapitel Cybermobbing genau definiert, aufgezeigt, warum es so gefährlich ist und mit welchen gesundheitlichen Auswirkungen Cybermobbing-Opfer zu kämpfen haben. Im Anschluss darauf wird im Kapitel drei der Bogen zu der Waffe, mit welcher Cybermobbing ausgeführt wird, also der Sprache, gezogen. Hierbei soll zunächst geklärt werden, was als Gewalt angesehen wird, gegen wen diese sich richtet und inwiefern mit Sprache als körperloses Zeichensystem ein Gewaltakt vollzogen werden kann. Neben der Sprechakttheorie von John Langshaw Austin und John Roger Searle, die besagt, dass einige Wörter zugleich auch das vollstrecken, was sie besagen, wird an dieser Stelle auch Bezug auf die Theorie von Luis Althusser genommen, der davon ausgeht, dass ein Mensch erst durch die Anrufung einer anderen Person zum Subjekt und damit zum Teil des sozialen Systems werden kann. Dies bedeutet, dass die interaktive Kommunikation für die soziale Existenz eines Individuums essentiell ist. Daraus schlussfolgernd stellt Sprache das Fundament der individuellen Existenz in der Gesellschaft dar, kann auf diese Weise jedoch auch jene Existenz ruinieren. Aufbauend auf diese Theorie werden die Funktionen und Intentionen der Gewaltsprache aufgeführt. Im vierten Kapitel werden daraufhin verbale Strategien dargestellt, mit denen die Intentionen der Gewaltsprache verwirklicht werden kann. Das fünfte Kapitel stellt den Analyseteil dieser Arbeit dar, in dem die Beiträge zweier Facebook-Accounts auf ihre verbale Gewalt hin untersucht werden. Bevor jedoch mit der Analyse der eingesetzten verbalen Strategien begonnen werden kann, soll zunächst untersucht werden, ob die intendierte Wirkung der Einträge bei den beiden Account-Besitzern überhaupt erfolgreich war. Da Gewaltsprache als mentale Gewalt im Gegensatz zu physischer Gewalt auf ein aktives Opfer angewiesen ist, kann ihre Wirkung nur dann als erfolgreich eingestuft werden, wenn das Opfer darauf betroffen reagiert. Deswegen ist erst nach dieser Klärung die Analyse der sprachlichen Gewalt sinnvoll, um infolgedessen herauszufinden, durch welche Strategien jene Gewalt hervorgerufen wurde. Für eine vollständige Kenntnis des Gewaltpotenzials beider Facebook-Accounts soll neben der Untersuchung der verbalen Mittel auch die gegebenen Kommunikationsbedingungen durchleuchtet werden. Nach einer ausführlichen sprachlichen Analyse der beiden Facebook-Accounts sowie einem kurzen Vergleich dieser bezüglich des implizierten Gewaltpotenzials folgt ein kurzes Fazit mit Schluss.
2. Cybermobbing
Für das Verständnis dieser Arbeit im weiteren Verlauf ist es sinnvoll zu klären, was Cybermobbing eigentlich ist, weshalb hiervon eine Gefahr ausgeht, was es vom herkömmlichen Mobbing unterscheidet und welche Auswirkungen Cybermobbing auf die Opfer haben kann.
2.1 Was ist Cybermobbing?
Der Begriff Cybermobbing ist aus den Wörtern ‚Cyber‘ und ‚Mobbing‘ zusammengesetzt. Das Präfix ‚Cyber‘, welches vom griechischen Begriff ‚Kybernetike‘ stammt, kann mit ‚die Steuerkunst des Seefahrens‘ übersetzt werden. Erstmals wurde ‚Cyber‘ mit der virtuellen Welt in Zusammenhang gebracht, als es mit dem Begriff ‚Cyberspace‘ in dem Science-Fiction-Roman „Neuromancer“5 verwendet wurde (vgl. Gibson, 1987). In diesem metaphorisiert der Cyberspace eine Parallelwelt, die von Computern konstruiert wurde (vgl. Fawzi, 2009, S. 17). Das zweite Wort, nämlich ‚Mobbing‘, stammt ursprünglich von dem Englischen ‚to mob‘ ab, was ins Deutsche mit ‚anpöbeln‘ übersetzt werden kann. Der Verhaltensforscher Konrad Lorenz führte den Begriff ‚Mobbing‘ im Jahr 1963 ein, als er das Gruppenverhalten von Graugänsen beobachtete. So wurden behinderte oder kranke Gänse aus der Gemeinschaft verstoßen, was letztlich deren isolierten Tod bedeutete. Durch jenes Verhalten schützt sich die Gemeinschaft vor einer möglichen Infizierung (vgl. Dambach, 2011, S. 13). Im personellen sozialen Kontext wurde der Begriff erstmals in den 1970er Jahren in Skandinavien als Bezeichnung von Gruppengewalt gegen eine einzelne Person verwendet (vgl. Smith, Morita, Junger-Tas, Olweus, Catalano & Slee, 1999, S. 1038). Im Allgemeinen wird Mobbing als:
„aggressive Verhalten [beschrieben], das in allen sozialen Kontexten auftreten kann, in den Menschen (Kinder und Erwachsene) regelmäßig zusammenkommen und in den die Opfer ihren Angreifern nicht ohne Weiteres entfliehen können.“ Und weiter heisst es nach Olweus (1996, S. 22): „Mobbing ist dadurch gekennzeichnet, dass eine Person systematisch über eine gewisse Zeit den - oft subtilen - aggressiven Handlungen anderer ausgesetzt wird, ohne sich effizient wehren zu können.“ Fawzi (2009, S. 31) fügt noch hinzu, dass bei Mobbing ein asymmetrisches Kräfteverhältnis zwischen Täter und Opfer vorliegen muss. Hierbei muss das Ungleichgewicht nicht zwingend aus einer körperlichen oder sozialen Macht stammen, sondern kann auch entstehen, wenn der Täter im Besitz von Inhalten ist, wie z. B. persönliche Informationen, Videos oder Fotos, die dem Opfer schaden (vgl. Hinduja & Patchin, 2009, S. 18f.).
Eine allgemein gültige und einheitliche Definition von Cybermobbing gibt es bis jetzt noch nicht. Die Mehrheit der Autoren überträgt somit die Definition traditionellen Mobbings auf Cybermobbing, wobei das Medium Internet oder Handy angegliedert wird (vgl. Fawzi, 2009, S. 31). Nach Fawzi (2009, S. 32) wird demnach Cybermobbing wie folgt definiert:
„Bei Cyber-Mobbing geht es darum, dass neue Techniken, wie z. B. E- Mail, Chats, Instant Messaging Systeme (wie z. B. ICQ oder MSN) oder auch Handys eingesetzt werden, um immer wieder und mit voller Absicht andere zu verletzen, sie zu bedrohen, sie zu beleidigen, Gerüchte über sie zu verbreiten oder ihnen Angst zu machen.“
Cybermobbing kann viele Formen haben. So können Opfer verspottet, bedroht oder belästigt werden (vgl. Sitzer, Marth, Kocik & Müller, 2012, S. 13). Auch sexuelle Belästigung oder Obszönitäten zählen hierzu. Rufschädigung bzw. Bloßstellung stellt ebenso eine Form von Cybermobbing dar (vgl. Fawzi, 2009a, S. 230). Oftmals finden sich in der Fachliteratur anstelle der Bezeichnung ‚Cybermobbing‘ sinnverwandte Begriffe wie ‚Cyber-Bullying‘ oder ‚Internetmobbing‘ (vgl. Dambach, 2011, S. 13).
2.2 Das Prekäre an Cybermobbing
Herkömmlichem Mobbing, d. h. das systematische Beleidigen, Ausgrenzen oder Schikanieren einer Person, begegnet man, wie bereits erwähnt, überall dort, wo soziale Gruppen interagieren, wie z. B. in der Schule, in der Arbeit, aber auch im Alltag (vgl. Fawzi, 2009, S. 8). Dies bedeutet, dass Mobbing an sich keine neuartige Modeerscheinung darstellt, sondern seit jeher existent ist. Meist ist Mobbing die Folge bzw. die Folgeerscheinung nicht gelöster Konflikte (vgl. Marx, 2013, S. 245). Jedoch stellt sich hierbei die Frage, was Cybermobbing vom üblichen Mobbing unterscheidet.
Der auffälligste und grundsätzliche Unterschied liegt darin, dass Cybermobbing, wie der Name bereits verrät, nicht privat, sondern öffentlich im Internet stattfindet. Demnach enden die Hänseleien und Beschimpfungen nicht an der Haustür, sondern gehen in der virtuellen Welt weiter. Dies bedeutet, dass die Opfer zu jeder Zeit gedemütigt und schikaniert werden können (vgl. Kowalski, Limber, Agatston, S. 62). Das Internet bietet seinen Nutzern nicht nur einen allgemeinen Zugang, sondern auch die Opportunität, ihre eigene Meinung kundzutun und zu verbreiten (vgl. Volpers, 2011, S. 67). Eigentlich alles Aspekte, welche sowohl den demokratischen Grundgedanken als auch die damit verbundene Meinungsfreiheit sowie Meinungsbildung bestärken. Dennoch weist das Internet gerade hier einige Nachteile auf (vgl. Schwarz-Friesel, 2013, S. 1). Durch den rapiden Datentransfer können Äußerungen, Videos oder Texte in kürzester Zeit unbegrenzt viele Rezipienten erlangen. Diffamierende sowie diskriminierende Äußerungen oder Drohungen im Netz können für die Betroffenen traumatische Auswirkungen auf ihre Gesundheit und fortwährender Persönlichkeitsentwicklung haben.
Auch das reale Alltagsleben und das soziale Umfeld können damit negativ belastet werden.
Ein weiterer Grund, weshalb Cybermobbing derart gefährlich ist, stellt die herabgesetzte Hemmschwelle, eine Person zu beleidigen oder zu schikanieren, dar. Diese begründet sich zum einen aus der nicht zustande kommenden ‚Face-to-Face Situation‘ d. h. einer blinden Kommunikation (vgl. Riebel & Jäger, 2009, S. 39). Fawzi (2009, S. 28) behauptet sogar, dass „das typisch Menschliche bei der Kommunikation im Internet verloren geht bzw. enthemmtes Verhalten gefördert wird“. Zum anderen wird die verminderte Hemmschwelle durch die Möglichkeit der Anonymität verursacht. Mittels der Angabe von Pseudonymen bzw. falschen Namen sowie der Anonymisierung der IP- Adressen6 kann der Nutzer nahezu inkognito im Netz agieren (vgl. Schneider, Katzer & Leest, 2013, S. 10). Da die Nutzer schwer zu identifizieren sind und sie deswegen keine strafrechtlichen Konsequenzen für ihre kriminelle Handlungen fürchten müssen, fühlen sie sich sicher. Tabus scheinen nicht mehr zu existieren, weshalb ausfallende sowie anstößige Äußerungen, Diskriminierungen und sogar Drohungen und Mordphantasien versprachlicht werden (vgl. Schwarz-Friesel, 2013, S. 232f.).
Darüber hinaus weist das World Wide Web eine Vielzahl potentieller Mobbing-Opfer auf. Allein in Deutschland können bei Facebook im Jahre 2014 ungefähr 27 Millionen aktive Nutzer gezählt werden (vgl. Statista, 2014). Somit steigt nicht nur die Möglichkeit ein Opfer bei der enormen Auswahl zu finden, sondern auch die Simplizität des persönlichen Angreifens, da zahlreiche User viele private Informationen an die Öffentlichkeit preisgeben und auf diese Weise zu gläsernen Individuen werden. Auch durch die Abwesenheit einer räumlichen Distanz ist es einfacher, ein mögliches Opfer zu finden und es zu kontaktieren (vgl. Siever, 2011, S. 11; Schneider, Katzer & Leest, 2013, S. 10).
2.3 Verletzungspotenzial und Auswirkungen von Cybermobbing
Die möglichen Folgen von Cybermobbing sind u. a. emotionale Irritationen, Verzweiflung, Angstzustände, Depressionen, Rückzug, Anpassungsschwierigkeiten, psychosomatische Beschwerden, Selbstverletzung, Selbstmordgedanken oder Suizid. Die IKG7 -Studie bestätigte, dass durch Cybermobbing Suizidgedanken entstehen können. Bezüglich dessen gaben 24,3 % der befragten Schüler und Schülerinnen an, sich aufgrund von Cybermobbing Gedanken über Selbstmord gemacht zu haben. Etwa 10 % haben es sogar bereits versucht (vgl. Sitzer, Marth, Kocik & Müller, 2012, S. 18). Auch ein minderes Selbstbewusstsein und die Ausbildung eines aggressiven Verhaltens kann die Folge von Cybermobbing sein (vgl. Schneider, Katzer & Leest, 2013, S. 13; Kasper, 1998, S. 33-35; Fawzi, 2009, S. 12 f.). Hierbei hängt die Intensität der aufgezählten Cybermobbing-Auswirkungen mit dem Öffentlichkeitsgrad der verwendeten Kanäle ab. So bleiben die Auswirkungen in einem geringeren Ausmaß, wenn Cybermobbing über private Kommunikationskanäle ausgeübt wird im Vergleich zu sozialen Netzwerken mit einer immensen Anzahl an Rezipienten (vgl. Marx, 2013, S. 240; Schneider, Katzer & Leest, 2013, S. 13). Vor allem die emotionale Ausweg-, Macht-, und Hilflosigkeit machen Cybermobbing so belastend. Schneider et. al. (2013, S. 13) weisen darauf hin, dass einige Studien die Auswirkungen von Cybermobbing als traumatischer einstufen als konventionelles Mobbing, da es immerfort stattfinden kann. Neben den negativen Auswirkungen auf die individuelle Entwicklung kann auch die berufliche Zukunft eines Cybermobbing-Opfers beeinflusst werden. So erwähnt Fawzi (2009, S. 2), dass bereits bei 28 % der Personalchefs das Internet als Informationsquelle über den Bewerber verwendet wird und somit als mögliches Einstellungskriterium fungiert. Aber auch die Gegenwart und Zukunft im Allgemeinen betreffend, wirkt sich Cybermobbing negativ aus, da Einträge unwiderruflich im Umlauf sind und somit nie gänzlich aus dem Netz verschwinden. Der Psychologe Gmür (2002, S. 184-193) beschreibt die Auswirkung negativer Berichterstattung auf ein Cybermobbing-Opfer als Angst vor der Existenzvernichtung, d. h. einer sozialen Todesangst vor dem Verlust des Berufes, Stellung, Ansehen und Freundschaften. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass sich der psychische Schmerz, den Cybermobbingopfer erleiden müssen, letztlich auch auf die physische Gesundheit niederschlagen kann und jene Erfahrungen Narben hinterlassen.
3. Gewaltsprache
Nachdem nun ein kurzer Einblick in das Themenfeld Cybermobbing und dessen Gewaltpotenzial sowie dessen negative, gesundheitlichen Auswirkungen auf die Psyche und den Körper des Opfers gegeben wurde, soll in diesem Kapitel der Bogen zur sprachlichen Gewalt gespannt werden, mit der Cybermobbing praktisch ausgeführt wird. Bevor nun im Weiteren genauer auf das Themenfeld der Gewaltsprache eingegangen wird, soll zuvor darauf hingewiesen werden, dass in diesem Kapitel Theorien verschiedener wissenschaftlicher Bereiche, wie z. B. Linguistik, Soziologie und Psychologie Verwendung finden. Da diese Theorien inhaltlich jeweils sehr umfangreich sind, werden sie nur soweit beschrieben und erläutert, wie es für das Thema der vorliegenden Arbeit relevant erscheint.
3.1 Gewalt und Sprache - Gegensätze?
Sigmund Freud soll einst gesagt haben, dass „derjenige, der zum ersten Mal anstelle eines Speeres ein Schimpfwort benutzte, […] der Begründer der Zivilisation“ gewesen sei (Schächtele, 2009, S. 233). Dieses Zitat bestärkt die Annahme, dass Sprache die neue Waffe des rationalen und aufgeklärten Menschen ist, eine Person zu verletzen. Sprache kann demnach als Instrument zur Vermeidung, aber auch als Instrument zur Ausübung von Gewalt gesehen werden (vgl. Krämer, 2005, S. 4). Schon hier kristallisiert sich eine gewisse Polarität heraus. So assoziiert man Gewalt für gewöhnlich mit physischen Handlungen wie Schlagen, Foltern, Vergewaltigen und Zerstören (vgl. Trömel-Plötz, 1992, S. 50). Im Gegensatz dazu wird Sprache mit psychischen Äußerungen, mit denen Gewalt nur verbalisiert werden kann, in Verbindung gebracht. Beispielsweise kann man ‚Jemanden Worte an den Kopf schleudern‘ oder ‚Jemanden bis ins Mark verletzten‘. Dennoch kann nur mit einem realen Stein ein Fenster eingeschlagen werden, mit dem Wort ‚Stein‘ dagegen nicht (vgl. Posselt, 2011, S. 91; Krämer, 2007, S. 37). Wie zu sehen ist, verbinden sich bei der Frage, inwiefern Sprache jemanden verletzen kann, ein sprachliches und ein physisches Wortfeld miteinander (vgl. Butler, 1998, S. 13). Zweifellos kann Sprache jemanden verletzen, wie an den aufgeführten Cybermobbing- Fällen zu Beginn dieser Arbeit, zu erkennen ist (vgl. Haller, 2012, S. 7). Es stellt sich hier jedoch die Frage, wie mit Sprache, die nach Ferdinand de Saussure als körperloses Zeichensystem gesehen werden kann, überhaupt Gewalt ausgeübt, d. h. eine Gewalthandlung vollzogen werden kann (vgl. Schäfer & Thompson, 2011, S. 91; de Saussure, 2001, S. 13)? Diese Frage soll im weiteren Verlauf den Kernpunkt der Untersuchungen bilden.
Um sich weitreichend mit dem Phänomen der Gewaltsprache befassen zu können, ist es zunächst sinnvoll, einen Blick auf Gewalt und Sprache im Einzelnen zu werfen. So wird im Folgenden als Erstes der Gewaltbegriff erläutert. Hierbei soll geklärt werden, wie Gewalt definiert ist, wie sie sich äußert und vor allem gegen wen sie sich wendet. Die hierbei aufgeführten Erklärungen hinsichtlich des Gewaltbegriffes haben die Intention, eine weitrechende Perspektive auf Sprache zu bieten. Als zweites wird der Themenbereich der Sprache angeschnitten. Hierbei wird aufgezeigt, dass Sprache nicht nur ein beschreibendes, sondern auch ein tatsachenschaffendes Potenzial innehat. Erst nach dieser Diskussion kann der Fokus auf die sprachliche Gewaltausübung erfolgen.
3.1.1 Gewalt
Unter ‚Gewalt‘ versteht man im Allgemeinen die Anwendung von physischen oder psychischen Mittel, um einer Person oder mehreren Personen gegen ihren Willen Schaden zuzufügen oder sie dem eigenen Willen zu unterwerfen (vgl. Schubert & Klein, 2003, S. 121; Schmidt, 2004, S. 274). Hierbei geht der Begriff der Gewalt von den lateinischen Termini ‚potestas‘ und ‚violentia‘ aus. ‚Potestas‘ kann als „das Durchsetzungsvermögen in Macht- und Herrschaftsbeziehungen“ (der Brockhaus, 2008, S. 182) und ‚violentia‘ als „die rohe, gegen Sitte und Recht verstoßende Einwirkung auf Personen“ (der Brockhaus, 2008, S. 182) beschrieben werden. Bezüglich dieser Arbeit, welche sich mit der sprachlichen Gewalt und damit einer destruktiven, erniedrigenden, rechtswidrigen und unmoralischen Gewalt auseinandersetzt, erscheint die Bedeutung von ‚violentia‘ adäquat zu sein . ‚Potestas‘, als ordnungsgemäße, legale Gewalt bzw. Macht, die Ordnung schafft, erweist sich für den vorliegenden Kontext als zu positiv konnotiert (vgl. Posselt, 2011, S. 98).
Verletzende Gewalt impliziert immer einen destruktiven Charakter, um den Widerstand einer Person zu brechen (vgl. der Brockhaus, 2008, S. 182; Sader, 2007, S. 16). Meist geht ihr in abgeschwächter Form sprachliche Gewalt voraus (vgl. Struck, 2007, S. 17). Entscheidend bei der Klärung, was bezüglich der Gewalt rechtens bzw. unrecht ist, wird nicht von der Handlung des Verletzens bestimmt, sondern allein durch das Gesetz, d. h. einer imperativen Erklärung (vgl. Posselt, 2011, S. 99). Somit kann Gewalt auch juristisch sanktioniert werden.
Obwohl man Gegenstände und Tiere zerstören bzw. beeinträchtigen kann, wird dies nicht als verletzende Gewaltausübung verstanden. Nur Menschen können anderen Menschen destruktive Gewalt zufügen, nur ein Selbst oder ein Subjekt kann verletzt werden. Demnach ist der Adressat einer Gewaltausübung stets eine Person (vgl. Posselt, 2011, S. 100; Krämer, 2005, S. 34f.). Typischerweise wird dabei von einem Täter und einem Opfer gesprochen. Aus der Konsequenz, dass Gewalt nur von Personen ausgeht und nur Personen verletzt werden können, kann geschlussfolgert werden, dass die Erklärung für das Verletzungspotenzial von Sprache, welche in diesem Kontext als Mittel zur Gewaltausübung gesehen werden kann, in der Relation zwischen Personalität und Sprachlichkeit zu finden sein muss.
3.1.2 Sprache und ihr Handlungspotenzial
Wie bereits angedeutet wurde, besteht bei dem Verständnis über das Verhältnis zwischen Sprache und Gewalt ein gewisser Konflikt. Gewalt ist eine Anwendung, eine Handlung. Demgegenüber steht das körperlose Zeichensystem der Sprache (vgl. de Saussure, 2001, S. 13). Für gewöhnlich wird zwischen Sprache und Handeln eine klare Grenze gezogen. So kann der Satz ‚Ich esse einen Apfel‘ nur jene Handlung beschreiben, aber nicht ausführen. Auch im Kontext der Gewaltsprache kann daher angenommen werden, dass diese nur in der Lage zu sein scheint, von Gewalt zu berichten und Gewalthandlungen zu beschreiben, jedoch nicht zu vollziehen. Diese Annahme ist jedoch nicht ganz richtig. Mit Sprache kann man eine Handlung vollziehen. Bezogen auf die Kennzeichen einer Handlung, wie z. B. das Eingreifen in die Welt sowie die Veränderung dieser und die Voraussetzung einer Intention, zeigt sich, dass Sprache diese Kennzeichen vorweisen kann (vgl. Meibauer, 1999, S. 85). Sprache ist bezüglich dessen im Stande, trotz ihrer Körperlosigkeit, eine eigene Wirklichkeit zu erschaffen und indirekt auf den menschlichen Körper und dessen Handlung einzuwirken (vgl. Kuch, 2010, S. 229). Verfasst beispielsweise ein Journalist einen Artikel über einen Vortrag, dem er beigewohnt hat, dann ist seine nachträgliche Beschreibung dieses Vortrages auch die Wirklichkeit der Personen, die nicht anwesend waren. Hierbei ist es unwesentlich, ob die Beschreibung das reale oder ein differentes Bild des Vortrages wiedergibt. Demzufolge hat Sprache nicht nur eine beschreibende Funktion, sondern das Potenzial, Tatsachen zu erschaffen, zu verändern und letztlich sogar zu zerstören (vgl. Trömel-Plötz, 1992, S. 51; Neuhäuser, 2010, S. 365).
Durch Sprache ist es dem Menschen nicht nur möglich, Emotionen, Gedanken und Wünsche Anderen mitzuteilen und so Bezug auf die Welt zu nehmen, sondern es ist ihm möglich, mittels Sprache Personen zu verletzen, zu demütigen oder zu beleidigen (vgl. Krämer, 2005, S. 4; Schwarz-Friesel, 2007, S. 11f.,22). Darüber hinaus können andere Personen in ihrem Denken, Verhalten und zukünftigen Handeln beeinflusst bzw. von einer Sache überzeugt werden. Folglich ist es möglich, eine Person gegen eine andere aufzuhetzen. Dieses Aufhetzen kann Ausmaße einer Verbalattacke bis hin zur körperlichen Gewaltausübung annehmen. Sprache impliziert demnach selbst eine Form der Gewaltausübung und ist daher mehr als nur eine Aneinanderreihung von Worten oder ein Mittel, um Aussagen über die Welt zu machen (vgl. Haller, 2012, S. 37).
Wesentlich ist auch zu erwähnen, dass vor allem Dinge und Handlungen durch Sprache geschaffen und vollzogen werden können, die sich der physischen Erschaffung entziehen, d. h. auf nicht-symbolische Weise nicht hervorzubringen sind (vgl. Kuch & Herrmann, 2010, S. 9). Diese These wird auch durch die Sprechakttheorie, welche von John Langshaw Austin begründet und von seinem Schüler John Roger Searle fortgeführt wurde, bestärkt. Hierbei wird angenommen, dass einige Worte tatsächlich und zeitgleich auch jene Handlung vollziehen, die sie besagen (vgl. Kuch & Herrmann, 2010, S. 9f.; Krämer, 2005, S. 5). Nach Austin werden diese Äußerungen als „performativ“ beschrieben (1979, S. 28). Neben der eigentlichen Handlungsvollstreckung, wie beispielsweise Wetten oder Versprechen, haben nach Pierre Bourdieu (2005, S. 80f.) performative Äußerungen die Fähigkeit, Personen neue soziale Positionen zuzuweisen und somit Tatsachen zu schaffen. Eine Frau erhält demnach erst durch die performative Kraft der Sprache beim Trauungsakt den Status der Ehefrau. Ebenso erlangt eine Person etwa durch Verleihung eines Titels eine höhere soziale Position. Andererseits kann ein Individuum, das durch die Justizgewalt schuldig gesprochen wurde, seinen sozialen Stand in der Gesellschaft verlieren. Folglich haben performative Aussagen trotz ihrer Körperlosigkeit eine transformative Kraft (vgl. Kuch, 2010, S. 228f.). Bourdieu (2005, S. 80-82) weist ebenso darauf hin, dass eine performative Aussage, wie z. B. die Verleihung eines Titels, nur dann erfolgreich vollzogen werden kann, wenn der Sprecher die Befugnis hierfür besitzt. Er repräsentiert hierbei durch seine anerkannte Autorität symbolisch die gesellschaftliche Macht und Meinung. Folglich ist auch ein gemeinschaftliches Konsens darüber erforderlich, welche Handlung die jeweilige Äußerung impliziert, um diese erfolgreich zu vollziehen (vgl. Haller, S. 2012, S. 47). Austin zählt sprachliche Gewalt zu den ‚verdiktiven Sprechakten‘, da diese klassifizieren, bewerten und positionieren. Zudem vollziehen sie dies mit negativen Vektoren (vgl. Langton, 2007, S. 118).
Des Weiteren können sprachliche Handlungen entweder gelingen oder misslingen. Die ursprüngliche Auffassung, konstatierende Aussagesätze stets auf ihre Wahrheit oder Falschheit hin zu betrachten, fällt bei den performativen Äußerungen gänzlich weg (vgl. Haller, 2012, S. 37). Austin (1979, S. 29) erklärt dies so: „Den Satz äußern heisst: es tun. Keine der angeführten Äußerungen ist wahr oder falsch; ich stelle es offenkundig fest und begründe es nicht. […] Wenn ich vor dem Standesbeamten oder am Altar sage >>Ja<<, dann berichte ich nicht dass ich die Ehe schliesse; ich schliesse sie.“
Performative Äußerungen können nach Austin in verschiedene Sprechakte, wie der Lokution, Illokution und Perlokution, untergliedert werden. Diese Unterscheidung ist für die Betrachtung von Gewaltsprache von großer Wichtigkeit, da aus ihnen hervorgeht, dass das eigentlich Verletzende nicht in den Worten selbst liegt, sondern in den Handlungen, welche diese durch ihre Äußerung vollziehen (vgl. Haller, 2012, S. 42). Dwight Bolinger (1980, S. 1) bezeichnet Worte daher als geladene Waffen, die erst durch ihre Pragmatik, der Intention des Sprechers und der Reaktion des Adressaten hierauf, im Stande sind, ihren verletzenden Schuss abzufeuern. Eine ausführlichere Betrachtung der Sprechakte bzw. Einbettung sprachlicher Äußerungen, die im Handlungszusammenhang gewaltsam und verletzend wirken können, folgt im Kapitel 4: Strategien verbaler Gewalt.
3.2 Was ist Gewaltsprache?
An dieser Stelle wird nun versucht, alle bis jetzt aufgeführten Aspekte sprachlicher Gewalt zusammenzufassen sowie zu ergänzen, um im weiteren Verlauf darauf einzugehen, warum und wie Gewaltsprache verletzen kann. Demnach kann Gewaltsprache als Gewalthandlung gesehen werden, die durch das Mittel der Sprache einer Person, mehreren Personen oder ganzen Bevölkerungsgruppen bewusst psychischen, aber auch indirekt physischen Schaden zufügt. Die Intention verbaler Gewalt ist zum einen eine bewusste Verletzung, Kränkung, Beleidigung, Ängstigung oder Ausgrenzung einer Person und richtet sich für gewöhnlich entweder gegen die Person selbst oder gegen deren Eigenschaften, wie z. B. Hautfarbe, Geschlecht, Religion oder sexuelle Orientierung (vgl. Schwarz-Friesel & Kromminga, 2014, S. 9; Groeben, 2009, S. 116; Meibauer, 2013, S. 2). Zum anderen kann verbale Gewalt auch das Ziel der Lösung bzw. Entladung aufgestauter Aggressionen verfolgen, wobei das Ausdrucks- und Handlungsbedürfnis befriedigt und das Selbstwertgefühl gesteigert wird (vgl. Havryliv, 2009, S. 73; Scheffler, 2000, S. 119). In diesem Falle hat die Gewaltsprache für den Sender eine reinigende Funktion, die in der Psychoanalyse auch unter dem Fachterminus „Katharsis“ bekannt ist (Kiener, 1983, S. 22). Wesentlich ist zu erwähnen, dass diese reinigende Wirkung sich nur auf den Sprecher bezieht und dieser somit nicht die Absicht verfolgt, eine bestimmte Person bewusst durch seine Verbalattacken zu verletzen. Als dritter Aspekt kann die Herabsetzung und Verunglimpfung des Opfers im Beisein Anderer als Intention sprachlicher Gewalt gesehen werden. Auf diese Weise wird versucht, das Publikum von der Auffassung des Sprechers zu überzeugen und in ihrem zukünftigen Denken und Handeln zu beeinflussen (vgl. Marx & Weidacher, 2014, S. 171; Schwarz-Friesel & Kromminga, 2014, S. 11). Meist geht eine verbale Gewaltandrohung der körperlichen voraus. Sprachliche Gewalt kann zudem nicht als vollkommen körperlos beschrieben werden, da Äußerungen ebenso physische Symptome, wie z. B. das Erröten des Gesichts bei Beschämung, zur Folge haben können (vgl. Kuch & Herrmann, 2010, S. 8-11). Gewaltsprache wird durch Sprechhandlungen, also durch gewalttätige mentale Akte vollzogen, welche u. a. in Form von Beleidigungen, Beschimpfungen, Abwertungen, Demütigungen, Drohungen und Rufmord auftreten können (vgl. Trömel- Plötz, 1992, S. 50; Schwarz-Friesel & Kromminga, 2014, S. 9). Erwähnenswert ist, dass verletzende Worte nicht als Bestandteil der Sprache gesehen werden können, sondern eher als Erscheinung des kulturellen Sprachgebrauchs (vgl. Krämer, 2007, S. 35). Demnach ist Gewaltsprache kontextuell gebettet und kann dementsprechend konventionalisiert, d. h. von einer Autorität oder der Gesellschaft gestützt sein, wie es beispielsweise im Diskurs des Rassismus der Fall ist (vgl. Villa, 2010, S. 421 & Meibauer, 2013, S. 2). Darüber hinaus kann Gewaltsprache nur jemanden verletzen, der in der Lage ist, diese auch zu verstehen. Folglich muss der Rezipient Mitglied der Sprachgemeinschaft sein, der auch der Sender angehört. Zudem kann Gewaltsprache direkt, aber auch indirekt ausgedrückt werden und unterschiedlich stark ausgeprägt sein. ‚Kraut‘ ist beispielsweise eine weniger verletzende Bezeichnung für einen Deutschen als ‚Nazischwein‘ (vgl. Meibauer, 2013, S. 2f.). Wie auch bei reiner Gewaltausübung gibt es bei verbaler Gewalt einen Täter und ein Opfer (vgl. Schwarz-Friesel & Kromminga, 2014, S. 9). Bezüglich dessen wird auch hier versucht, ein asymmetrisches Kräfteverhältnis zwischen Täter und Opfer herzustellen. Dies gelingt meist durch die Herabsetzung des Kommunikationspartners bei gleichzeitiger Aufwertung des Sprechers. Im Zusammenhang mit diesem ungleichen Mächteverhältnis intendiert Gewaltsprache, eine Antwort des Gegenübers zu unterbinden, ein Weitersprechen somit zu verhindern. Gewaltsprache ist daher auch ein Mittel zur Darstellung und Festlegung des Machtverhältnisses und der sozialen Stellung beider Kommunizierenden (vgl. Krämer, 2005, S. 9f. ; Bourdieu , 1989 , S. 19). Im Gegensatz zu physischer Gewalt, welche allein durch den Täter vollzogen werden und gelingen kann, bedarf es bei der sprachlichen Gewalt einem aktiven Opfer (vgl. Heitmeyer & Soeffner, 2004, S. 40f.). Ignoriert das Opfer beispielweise die Beleidigung, schenkt ihr keinen Glauben oder kontert, schlägt der Versuch der verbalen Verletzung fehl.
3.3 Warum kann Sprache verletzen?
Bei der Frage, warum Sprache Personen verletzen kann, wird die bereits herausgearbeitete These, dass Verletzbarkeit in der Relation von Personalität und Sprachlichkeit zu finden sein muss (vgl. S. 20 dieser Arbeit), wieder aufgenommen. Im Bezug darauf kann die Beziehung einer Person zur Sprache als fundamental beschrieben werden. Durch Sprache können Informationen mitgeteilt, Gefühle geweckt oder übermittelt und somit soziale Beziehungen aufgebaut werden, welche für das menschliche Leben essentiell sind (vgl. Krämer, 2005, S. 1; Trömel-Plötz, 1992, S. 51). Als soziales Wesen ist der Mensch demnach auf Sprache angewiesen. So nährt diese den menschlichen Körper zwar nicht, aber fundiert letztlich doch seine Existenz in der Gesellschaft (vgl. Butler, 1998, S. 14). Erklärbar ist dies, wenn angenommen wird, dass der Mensch über eine Doppelkörperlichkeit verfügt, d. h. sowohl einen physisch- leiblichen Körper als auch einen sozial-symbolischen Körper besitzt, wobei letzterer sprachlich konstituiert ist (vgl. Haller, 2012, S. 8; Krämer, 2007, S. 36). Wenn ein Mensch geboren wird, erhält er einen Eigennamen, der ihn unverwechselbar macht und ihm eine soziale Identität verleiht. Erst durch den von dem Philosophen Luis Althusser, bezeichneten Vorgang der ‚Anrufung‘ oder der ‚Interpellation‘, wird der Mensch zum Subjekt und damit zum Teil des sozialen Systems (vgl. Mersch, 2010, S. 246). Dies bedeutet, dass eine Person erst zur sozialen Existenz gelangt, wenn sie von jemand Anderen angesprochen und damit als Teil der Gesellschaft anerkannt wird. Ebenso erhält diese Person einen Platz, d. h. einen spezifischen Ort im sozialen System. In dem Moment, indem sich eine Person zur Gesellschaft zählen kann, erhält sie eine sprachliche Handlungsfähigkeit, einen anderen Menschen anzurufen. Demzufolge hängt die Subjektivierung durch wechselseitige Anrufungen ab. Wesentlich ist, dass jene Subjektwerdung und die damit verbundene Platzierung nicht für immer gelten, sondern ständig durch Akte der Anrufung neu erworben und aufrechterhalten werden müssen (vgl. Butler, 1998, S. 14f.). Führt die Sprache bei der Anrufung von Anderen zur Existenz des symbolischen Körpers eines Menschen, so kann Sprache logischerweise jenen symbolischen Körper auch destruieren oder verletzen (vgl. Kuch & Herrmann, 2007, S.189).
Die Soziologen, Erving Goffman und Niklas Luhmann stellten die These auf, dass beim Aufeinandertreffen von mindestens zwei Individuen eine soziale Situation der Interaktion und somit unweigerlich Kommunikation stattfindet (vgl. Haller, 2012, S. 26f.). Die formalrationale Gleichheit zwischen den Kommunizierenden wird durch den sprachlichen Tausch gewaltsamer Worte zerstört, um ein asymmetrisches Mächteverhältnis zwischen Sender und Empfänger herzustellen. Die sprachliche Gewalt verfolgt im Allgemeinen das Ziel, den Angegriffen unterzuordnen, ihn von der sozialen Gesellschaft auszugrenzen, ihn seiner Sprachfähigkeit zu berauben, ihn so zu entmenschlichen und zum Objekt zu machen (vgl. Krämer, 2007, S. 43f.; Waldenfels, 2000, S. 14). Ein Subjekt ist demnach nicht im Stande, Selbstachtung ausbilden, wenn es erstens nicht mehr als individuelles, der Gemeinschaft zugehöriges Mitglied angesprochen und zweitens auch als solches nicht mehr behandelt wird (vgl. Iser, 2010, S. 399). Je weiter der Angegriffene von dem sozialen System platziert wird, desto bedrohlicher wird auch der Existenzverfall. Fällt der Angegriffene schließlich aus dem gesellschaftlichen Rahmen des Systems, kann er, wie Hannes Kuch und Steffen Kitty Herrmann (2007, S. 192) es formulieren, den sozialen Tod erleiden. Zu vergleichen ist dies mit einem aus der Gesellschaft verstoßenen Obdachlosen. Auf der Straße bittet er um Almosen, seine soziale Existenz ist aber so gering, dass die Anderen ihn ignorieren. Er scheint wie unsichtbar. Je weniger er jemanden ansprechen und diesem eine Antwort entlocken kann, desto mehr schwindet seine sprachliche Handlungsfähigkeit. Dies kann bis zur Handlungsohnmacht führen (Kuch & Herrmann, 2007, S. 193). Der letzte Versuch, die Aufmerksamkeit oder irgendeine Resonanz Anderer zu erhalten, wird in den meisten Fällen provoziert. Provokation, welches von dem lateinischen Wort ‚provocare‘ stammt und mit ‚herausfordern‘ übersetzt werden kann, äußert sich u. a. durch Beleidigungen, Aggressivität, einem auffälligen Äußeren oder eben einer außerordentlichen Handlung. Im dem Fall von Amanda Todd bestand ihr letzter Versuch beispielsweise in der außerordentlichen Handlung, ein Youtube-Video zu erstellen und zu veröffentlichen (Kuch & Herrmann, 2007, S. 194). Ist der sprachlich-symbolische Körper erst ‚gestorben‘, kann auch der physische Körper in solchem Maß darunter leiden, dass auch seine Existenz auf dem Spiel steht.
4. Strategien verbaler Gewalt
Im Folgenden werden nun Mittel sprachlicher Gewalt aufgezählt und beschrieben. Reinhardt Biffar (1994, S. 128) ersetzt bewusst das Wort ‚Mittel‘ durch ‚Strategie‘, da dieses eher den Charakter einer Waffe widergibt, mit der ein Rivale besiegt werden kann. Auch diese Arbeit gebraucht hinsichtlich des kontextuellen Rahmens der Gewalt im Weiteren den Begriff ‚Strategie‘. Die hier ausgewählten Strategien verbaler Gewalt wurden u. a. aus Publikationen mit Erkenntnissen verbaler Aggressionsstrategien, wie z. B. von Reinhardt Biffar (1994), Oksana Havryliv (2009) und Franz Kiener (1983) sowie aus linguistischen Studien verbaler Interaktionen wie Widersprechen von Thomas Spranz-Fogasy (1986) zusammengetragen. Nachdem bestimmte Strategien aufgezählt und beschrieben wurden, werden diese im nächsten Kapitel auf die Beiträge der beiden Facebook-Accounts angewandt, um auf diese Weise die dort verwendeten Strategien verbaler Gewalt zu entschlüsseln und herauszuarbeiten.
Wie bereits erwähnt, ist die Intention von Gewaltsprache, ausgenommen von der sprecherbezogenen Entladung negativer Emotionen, die Verletzung und Erniedrigung des Kommunikationspartners. Auch die Degradierung und öffentliche Bloßstellung sowie die soziale Ausgrenzung des Rezipienten aus einer Gemeinschaft können als Ziel verbaler Gewalt gesehen werden. Im Folgenden werden nun verschiedene Strategien aufgezählt, welche die erwähnten Ziele verfolgen. An dieser Stelle soll darauf hingewiesen werden, dass die hier vorgestellten Strategien nur einen Teil des gesamten Komplexes verbaler Gewaltstrategien darstellen. Sie wurden von der Autorin dieser Arbeit eigens zusammengestellt und aufgrund des persönlichen Ermessens als für diese Arbeit relevant eingestuft.
4.1 Pejoration des Eigennamens
Eine erfolgreiche Strategie, um eine Person verbal zu verletzten, ist, deren Eigennamen abzuwerten. Der Eigenname macht nicht nur die Einzigartigkeit eines Menschen aus, sondern garantiert diesem ebenso, ein Mitglied des sozialen Systems zu sein. Wie bereits erwähnt, transformiert die Anrufung mit dem Eigenname einen Menschen zum Subjekt, der damit zum Teil eines sozialen Systems wird und einen eigenen Platz erhält (vgl. Kuch & Herrmann, 2007, S. 188). Führt die Interpellation mit dem Eigennamen zur sozialen Existenz, können hier folglich Strategien eingesetzt werden, die die eigentliche soziale Platzierung obstruieren. Durch Pejorationen, d. h. durch die Abwertung des Eigennamens, kann beispielsweise die ursprüngliche Platzierung im sozialen System negativ verschoben werden. Im Folgenden werden nun verbale Strategien aufgezählt und knapp beschrieben, die den Eigennamen abwerten können.
4.1.1 Schimpfwörter
Die meist genutzte Strategie verbaler Gewalt ist die Verwendung eines Schimpfwortes anstatt des Eigennamens (vgl. Kuch & Herrmann, 2007, S. 186-189). Schimpfwörter, die in der Fachliteratur auch ‚pejorative Lexeme‘ oder ‚Maledikta‘ genannt werden, bilden eine Untergruppe der Interjektionen (vgl. Genzmer, 2014, S. 304). Wird anstatt des Eigennamens ein Schimpfwort verwendet, verfällt die ursprüngliche Individualität des Angegriffenen, auch gerade deshalb, weil es möglich ist, das Schimpfwort auf jeden zu übertragen (vgl. Kuch & Herrmann, 2007, S. 188). Darüber hinaus wird der Adressat bei der Ansprache mit einem Schimpfwort auch mit einer zusätzlichen Aussage über seine Person versehen. Wird z. B. Julia mit dem Schimpfwort „faule Socke“ angesprochen, erhält sie dadurch eine bestimmte Klassifizierung, nämlich faul zu sein. Dabei ist die Auffassung dieser Aussage vom Kontext abhängig. So wird das Schimpfwort „faule Socke“ im kontextuellen Rahmen ihrer Arbeitskollegen möglicherweise mit Unproduktivität, im Kontext des Freundeskreises jedoch mit Lässigkeit in Verbindung gebracht. Infolgedessen sind Schimpfwörter von der Gesellschaft, ihrer Kultur und Zeit abhängig und damit wandelbar in ihrer Bedeutung. Zumal die Intention der Gewaltsprache die Verletzung, Entwürdigung und Demütigung eines Opfers ist, wird das Schimpfwort meist so gewählt, dass es im Allgemeinen und weitestgehend negativ konnotiert ist (vgl. Kuch & Herrmann, 2007, S. 187). In der Regel werden Wörter ausersehen, die aus dem Tierreich stammen, um eine Entmenschlichung und Objektivierung des Adressaten herbeizuführen (vgl. Groeben, 2009, S. 118). Ebenso Defizite, d. h. geistige oder körperliche Mängel, aber auch unmoralische Eigenschaften wie Lügen oder Stehlen können als Maledikta verwendet werden. Anrüchige Körperteile, Fäkalien oder gesellschaftlich nicht angesehene Berufe wie Prostituierte oder Zuhälter stellen ebenfalls Bezeichnungen dar, um mit diesen eine Person bewusst abzuwerten und unterzuordnen (vgl. Havryliv, 2009, S. 49f.). Erwähnenswert ist, dass sich bei der Verwendung von Schimpfwörtern, die lexikalisch auf der niedrigsten Stilebene eingestuft werden können, die Überzeugungskraft des Senders gegenüber dem Publikum enorm reduziert. Dies kann dazu führen, dass die Zuschauer sich nicht der Auffassung des Senders anschließen und somit das Gewaltpotenzial geringer ausfallen kann (vgl. Marx & Weidacher, 2014, S. 171).
4.1.2 Metaphern und Vergleiche
Eine Metapher kann als gekürzter Vergleich bezeichnet werden, bei dem zwei Gegenstände oder Personen miteinander verglichen werden. Beide besitzen kongruente Eigenschaften. Dieses Phänomen ist auch als ‚Substitutionstheorie‘ bekannt. Das Gemeinsame beider Objekte wird oft als ‚Tertium comparationis‘ bezeichnet, das ins Deutsche mit ‚das Dritte der Vergleichung‘ übersetzt werden kann. Würde man beispielsweise eine Person als Schwein bezeichnen, wäre das Tertium Comparationis hier die Eigenschaft „stinken“, da diese sowohl dem Tier als auch dem Menschen zugewiesen werden kann (vgl. Havryliv, 2009, S. 49; Kessel & Reimann, 2005, S. 228). Wichtig ist, dass dem Adressat, der als Schwein bezeichnet wird, bewusst ist, dass dem Schwein im Allgemeinen jene Eigenschaft zugeschrieben wird, da sich sonst bei Nichtwissen der Einfluss des pejorativen Lexems verringert. Im Gegensatz zu einer Metapher wird bei einem Vergleich die Partikel „wie“ verwendet. Im Hinblick auf die intendierte Erniedrigung und Abwertung des Adressaten werden oftmals pejorative Lexeme als Metaphern oder Vergleiche anstelle des Eigennamens verwendet, die auch in diesem Fall aus dem Tierreich oder mit geistigen oder körperlichen Mängeln, Fäkalien oder anstößigen Berufen im Zusammenhang stehen (vgl. Havryliv, 2009, S. 49f.).
4.1.3 Kategorisierung und Stereotypisierung
Eine Kategorisierung und Stereotypisierung kann ebenfalls zur sprachlichen Verletzung einer Person führen. Wird anstatt dem Eigennamen eine Kategorisierung verwendet, wird das Subjekt bildlich in eine Schublade gesteckt. Individuelle Charaktereigenschaften werden von einer Typisierung substituiert. Dies bedeutet aber ebenso, dass das Subjekt auch den sozialen Ort dieser Kategorisierung einnimmt (vgl. Krämer, 2007, S. 44f.). Bezüglich dessen kann der verletzende Aspekt nur erschlossen werden, wenn dieser kulturellen Bestand hat. Als Beispiel kann die Kategorisierung „Blondine“ angebracht werden. So wird eine Blondine nur dann als Außenseiter betrachtet, d. h. negativ konnotiert, wenn sie in dem kulturellen Sprachgebrauch jener Gesellschaft als dumm und naiv gilt. Wird der Adressat als Blondine bezeichnet, erhält er einen Stempel mit den Eigenschaften, die jenem Typus zugesprochen werden. Hierdurch wissen die anderen Mitglieder automatisch, mit wem sie es zu tun haben und wie sie sich zukünftig gegenüber diesem verhalten müssen. Grundlegend kann also gesagt werden, dass mittels einer Kategorisierung eine Person von ihrer eigentlichen Identität getrennt wird und ihr stattdessen eine neue, von der Gesellschaft negativ konnotierten Identität gegeben wird (vgl. Graumann & Wintermantel, 2007, S. 149-151).
4.1.4 Pronominale Anrede
Gemäß den typischen gesellschaftlichen Etiketten sprechen sich zwei Fremde entweder mit dem jeweiligen Eigennamen oder mit einem förmlichen ‚Sie‘ an, bis ein persönliches ‚Du‘ angeboten wird. Durch diese distanzierte Anrede bezeugt der Sprecher seinen Respekt gegenüber dem Angesprochenen. Ebenso offenbart jene Anrede die soziale Stellung bzw. das Machtverhältnis beider Kommunikationspartner. In der Regel besitzt derjenige, der mit ‚Sie‘ angesprochen wird, eine höhere Stellung und dominiert diesbezüglich über denjenigen, den er mit ‚Du‘ ansprechen darf. Ein weitverbreitetes Exempel findet sich in der Schule. Obwohl der Lehrer die Schüler ‚duzt‘, müssen diese den Lehrer ‚siezen‘, da sie ihm gegenüber eine niedrigere soziale Stellung haben. Soll nun eine Person bewusst verletzt werden, kann diese von vornherein vom Sprecher ‚geduzt‘ werden. Somit wird nicht nur die typische Etikette missachtet und Respektlosigkeit zum Ausdruck gebracht, sondern der Rezipient wird hierbei automatisch herabgesetzt, der Sprecher hingegen zeitgleich aufgewertet. Ebenso verfällt bei der Ansprache mit ‚Du‘ die Einzigartigkeit einer Person, da es möglich ist, auf diese Weise jeden anzusprechen. Eine weitere herablassende Anrede wäre die Unterredung mit einer dritten Person über den Adressat. Meist wird hierbei ein Demonstrativpronomen anstelle des Personalpronomens verwendet (vgl. Hartung, 2001, S. 1351-1354; Havryliv, 2009, S. 83f.). Wird der Adressat nicht mehr als Person direkt angesprochen, kann somit seine soziale Existenz und Subjektivierung beeinträchtigt werden. Ebenso wird er auf diese Weise seiner Sprachfähigkeit beraubt, da ihm die Möglichkeit der direkten Antwort genommen wird.
4.2 Grammatik verbaler Gewalt
Neben der Pejoration des Eigennamens gibt es einige grammatikalische Strategien, die bei Anwendung verletzend wirken können. Dies kann z. B. eine grammatikalische Veränderung eines Wortes sein oder die Veränderung des inhaltlichen Verständnisses durch ein Wort.
4.2.1 Komparativ und Diminutiv
Zur Verdeutlichung der Unterlegenheit des Adressaten im Vergleich zum Sprecher können verbale Verniedlichungen oder Verkleinerungen eingesetzt werden. Diese grammatikalische Verkleinerungsform, auch ‚Diminutiv‘ genannt, kann mit Hilfe von Suffixen wie ‚-chen‘, ‚-ling‘, ‚-lein‘, ‚-ler‘ oder ‚-fuzzi‘ verwendet werden. Verkleinerungen sind in dem Kontext der Gewalt jedoch nicht als Kosenamen zu verstehen, sondern stellen meist eine sprachliche Abwertung dar, die negativ konnotiert ist, wie beispielsweise die Subjektive ‚Süchtling‘, ‚Feigling‘, ‚Nachzügler‘ oder ‚Werbefuzzi‘ (vgl. Meibauer, 2013, S. 4). Im Gegensatz dazu, wird mit der ‚Komparation‘, d. h. einer sprachlichen Steigerung, eine Aussage übertrieben, um den Adressaten zu beleidigen. Wird beispielsweise der Superlativ gewählt, wie ‚du bist das Letzte‘ oder ‚du bist das hässlichste Wesen, das ich je gesehen habe‘, soll bewusst das enorme Ausmaß dieser Beleidigung aufgezeigt werden (vgl. Genzmer, 2014, S. 218-226). Durch die Übertreibungen steigt die Intensität der verletzenden Worte an.
4.2.2 Partikeln
Einige verletzende Sätze erhalten ihr Gewaltpotenzial erst durch den Einsatz bestimmter Partikeln. So lässt sich beispielsweise aus dem Satz: ‚Die Studentin ist blond, aber sie hat ihr Abitur bestanden‘, erst durch die Partikel ‚aber‘ der herabwürdigende Inhalt erschließen (vgl. Krämer, 2007, S. 45). Im Allgemeinen haben Partikeln eine abschwächende, verstärkenden, intensivierende oder veralbernde Funktion (vgl. Genzmer, 2014, S. 278-286). So gibt es u. a. Intensitätspartikeln (ziemlich, wenig, sehr, fast, so), Negationspartikeln (gar, nicht), Modal- oder Abtönungspartikeln (schon, halt, eben, ja, vielleicht, einfach, doch, nur), Ausdruckspartikeln bzw. Interjektionen (oh, hm, hihi, ihhh, igitt) und lautmalende Partikeln, auch Onomatopoetika genannt (peng, boing, plumps) (vgl. Diewald, 2009, S. 119f.). Wie bereits erwähnt, ist es meist nur durch Partikeln möglich, das eigentlich Gemeinte aus einem Inhalt zu schließen. Sie spiegeln die Gefühle und die eigentliche Haltung des Sprechers zu dem Gesagten wider und können somit auch den Rezipienten emotional beeinflussen. Genau hierdurch erreichen Partikeln ihr Gewaltpotenzial (vgl. Linke, Nussbaumer & Portmann, 2004, S. 308).
4.3 Gewaltpotenzial bestimmter Sprechakte
In Bezug auf das Gewaltpotenzial bestimmter Sprechakte können an erster Stelle die ‚indirekten Sprechakte‘ genannt werden. Nach Searle weicht die Satzbedeutung bei indirekten Sprechakten von der wörtlichen Äußerung meist ab (vgl. Searle, 1982, S. 51). Beispielsweise stellt die Frage „Kommst du an die Milch ran?“ indirekt eine Bitte dar, die dem Hörer verstehen lassen soll, dem Sprecher die Milch zu reichen. Solche indirekten Sprechakte können nur adäquat vom Hörer verstanden werden, wenn sich dieser der Konvention jener Sätze bewusst ist, d. h. er über die außersprachliche Hintergrundinformation verfügt. Dieses Verständnis kann auch durch inferiertes Vorwissen geschlossen werden (vgl. Searle, 1982, S. 53; Heinemann, 2008. S. 122). Zusammengefasst ist für das korrekte Verstehen indirekter Sprechakte eine kognitive Schlussfolgerung des Gesagten aus der kontextuellen Situation, auch ‚primärer illokutionärer Akt‘ genannt und eine kognitive Schlussfolgerung des eigentlich Gemeintem, welches als ‚sekundärer illokutionäre Akt‘ bezeichnet wird, nötig (vgl. Searle, 1982, S. 54).
An zweiter Stelle ist in Bezug auf das Gewaltpotenzial bestimmter Sprechakte, die Betrachtung des illokutionären und perlokutionären Bereichs ratsam, da sich in diesen sprachliche Verletzungen ereignen können. Die Illokution ist hierbei nach Austin „der Akt, den man vollzieht, indem man etwas sagt.“ (1979, S. 117). Da das Gelingen eines illokutiven Sprechakts für gewöhnlich von dessen Sprecher und damit von innersprachlichen Bedingungen abhängt, kann es zu Konflikten kommen, die letztlich zu einer gewaltsamen sprachlichen Auseinandersetzung führen können (vgl. Kuch, 2010, S. 223-230). Beispielsweise lässt sich durch den Satz ‚schließ die Tür‘ nicht explizit feststellen, was der Sprecher hiermit für eine Handlung hervorrufen möchte. Es könnte sowohl eine Aufforderung, ein Befehl oder ein Ratschlag sein. Er glückt erst, wenn eine entsprechende Reaktion oder Wirkung beim Hörer erfolgreich erzielt wurde. Eben jene individuelle Reaktion bzw. Verletzbarkeit, die sich in Gefühlen, Gedanken oder Handlungen äußert, beschreibt Austin als ‚Perlokution‘ (vgl. Austin, 1979, S. 118; Langton, 2007, S. 114). An dieser Stelle zeigt sich eine weitere Problematik. Da die Perlokution von der individuellen, persönlichen Disposition des Hörers abhängig ist, ist jener Akt in Verbindung mit der Sprecherintention nicht immer fassbar. Im Hinblick auf die Analyse sprachlicher Gewalt in dieser Arbeit, kann die Perlokution daher nicht immer eindeutig bestimmt werden und nur aus den schriftlich festgehaltenen Reaktionen der jeweiligen gekränkten Person geschlossen werden. Auf diese Weise kann diagnostiziert werden, ob sich die jeweilige Person verletzt oder angegriffen fühlt (vgl. Haller, 2012, S. 43; Butler, 1998, S. 11).
Searle unterscheidet fünf verschiedene Klassifikationen von illokutiven Sprechakten. Zum einen gibt es die ‚Repräsentativa‘, die auch ‚Assertiva‘ genannt werden. Mit diesen Sprechakten können Behauptungen, Feststellungen, Vorhersagen oder Beschreibungen vollzogen werden, wobei der illokutionäre Zweck darin liegt, einen Sachverhalt als wahr oder falsch zu beurteilen. Die Sprechakte der ‚Direktiva‘, welche in Form von Befehlen, Bitten, Weisungen, Ratschlägen oder Vorschlägen auftreten, sollen den Hörer dazu bewegen, eine Handlung zu tätigen. Bei den ‚Kommissiva‘ verpflichtet sich der Sprecher zu einer zukünftigen Handlung, die mit einem Versprechen, einer Drohung oder Wette sprachlich festgehalten wird. Mit den ‚Expressiva‘, also einem Dank, Glückwunsch, Klage oder Beleidigung, drückt der Sprecher seine Einstellung zu einem Sachverhalt sowie seine Gefühlslage aus. Die ‚Deklarativa‘ letztlich haben den illokutionären Zweck des Vollzugs beispielsweise bei der Trauung, Kündigung oder Entlassung. Deklarative Verben sind zugleich performative Verben, da bei ihrer Äußerung zeitgleich auch jene Handlung ausgeführt bzw. vollzogen wird (vgl. Brinker, 2010, S. 95; Meibauer, 1999, S. 95f.; Searle, 1982, S. 26f.). Im Weiteren werden gewaltreiche Sprechakte, wie Beschimpfung, Auslachen, Auffordern, Kritisieren und Widersprechen näher erläutert.
4.3.1 Sprechakt ‚Beschimpfen, Beleidigen‘
Oksana Havryliv definiert den Sprechakt des Beschimpfens als „präsens-indikative Äußerung des Sprechens an den anwesenden oder abwesenden Adressaten in Form einer Prädikation, die sich mit dem Ziel, Emotionen abzureagieren und/oder den Adressaten zu beleidigen, vollzieht und in der sowohl die absolute als auch relative (okkasionelle) pejorative Lexik zum Einsatz kommt“ (2009, S. 69). Dieser Sprechakt kann zu den ‚Expressiva‘ gezählt werden. Gegensätzlich zu der monologischen Sprechhandlung des Schimpfens, welches nicht für einen speziellen Rezipienten bestimmt ist und lediglich zur Emotionsentladung des Senders dient, wird beim Beschimpfen bewusst eine Person mit negativen emotiven Wörtern angesprochen, um diese zu beleidigen und zu kränken (vgl. Kiener, 1983, S. 122-132). Bei Kollektivbeschimpfungen werden mehrere Adressaten angesprochen, wobei dann die pejorativen Lexeme in Pluralformen auftreten (vgl. Havryliv, 2009, S. 76). Der illokutive Sprechakt beinhaltet den perlokutiven Versuch der Beleidigung einer Person. Demzufolge ist das Handlungsziel des illokutiven Sprechaktes die Reaktion des Adressaten, die als Folge der verstandenen Beschimpfung hervorgerufen wird, nämlich beleidigt, gekränkt und verletzt zu sein sowie sich von der Beschimpfung getroffen zu fühlen (vgl. Havryliv, 2009, S. 71f.). Deswegen kann anstelle des Begriffes ‚Beschimpfung‘ auch das Synonym ‚Beleidigung‘ verwendet werden.
Darüber hinaus kann der Sprechakt ‚Beschimpfen‘ ausschließlich metasprachlich verstanden werden (vgl. Krämer, 2007, S. 35). Für gewöhnlich wird eine Sprechhandlung mit dem Wort verbalisiert und gleichzeitig vollstreckt, welches die Handlung explizit beschreibt. Beispielsweise beinhaltet der Satz ‚hiermit warne ich dich‘, bereits die intendierte Handlung des Sprechers. Bei Beschimpfungen jedoch funktioniert diese explizite Form nicht. So kann keine Beschimpfung mit dem Satz ‚hiermit beschimpfe ich dich‘ beginnen sowie effektvoll sein. Die intendierte gewaltreiche Sprechhandlung, also die Beschimpfung, glückt nur, wenn der Hörer sie entsprechend begreift. Sie kann jedoch nur aus dem Kontext verstanden werden, weshalb auch Missverständnisse möglich sind (vgl. Bergmann, Pauly & Stricker, 2005, S. 39f.).
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1 Ein Account ist ein Benutzerkonto auf einer Seite im Internet. Für gewöhnlich loggt sich der Benutzer mit seinem Benutzernamen und seinem Kennwort ein, um sich zu authentifizieren.
2 Ein internationaler Musikwettbewerb, der seit 1956 jährlich stattfinden und bei dem sowohl europäische als auch nichteuropäische Länder teilnehmen können.
3 Die Verfasserin dieser Arbeit verwendet im Weiteren bezüglich Conchitas Person das generische Maskulinum. Dies soll Conchitas Person nicht als männliche Person charakterisieren, sondern als geschlechtsneutrale Formulierung verstanden werden (vgl. Ulmi, Bürki, Verhein & Marti, 2014, S.13).
4 Zweite Etappe der Casting-Sendung. Kann man die Jury beim ersten Casting von seinem Gesangstalent überzeugen, kann diese den Kandidaten in den Recall schicken.
5 Veröffentlicht im Jahre 1984, geschrieben von William Gibson
6 Internet Protokoll- Adressen
7 Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung
- Arbeit zitieren
- Kathrin Kubitza (Autor:in), 2014, Cybermobbing. Eine Analyse sprachlicher Gewalt anhand ausgewählter Facebook-Accounts, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/321674
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