“You're the nigger, baby, it isn't me”. Rassismus, Kapitalismus und Bildung als postkoloniale Subjektivierung


Essay, 2014

14 Pages, Grade: 1,0


Excerpt


“You're the nigger, baby, it isn't me” - Rassismus, Kapitalismus und Bildung aus postkolonialer Perspektive. Einige theoretische Reflexionen.

In einer filmischen Dokumentation aus dem Jahre 1963 über einen Besuch von James Baldwin in San Francisco spricht dieser als ein schwarzer homosexueller Autor und politischer Aktivist über die Gewalt von Worten und dekonstruiert ein auch heute noch existierendes Wort zur Bennenung einer spezifischen kolonialen Subjektposition:

„Anyone's whose tried to live knows this: That what you say about anyone else … reveals you. What I think of you as being, is dictated by my own necessities, my own psychology, my own fears and desires. I'm not describing you when I talk about you, I'm describing me.“ (Diepiriye 2012, o.S.)

Später in seiner Rede stellt James Baldwin die Frage: „I've always known that I am not a nigger. But if I am not the nigger, and if it's true that your invention reveals you, then who is the nigger?” (ebd.) Er argumentiert die Antwort dann selbst: “Well, he's unnecessary to me, so he must be necessary to you. So I give you your problem back: You're the nigger, baby, it isn't me.” (ebd.).

Der Äußerungsakt von James Baldwin kann als Zeugnis einer frühen subversiv-dekonstruktivistischen bzw. dekolonialen Intervention in rassistische und gesellschaftspolitische Diskriminierungsdiskurse in den USA gelesen werden. Baldwin rekurriert hier auf jene gängige Vorstellung eines Selbst, das sich dadurch hervorbringt, dass es die Perspektive der*des Anderen einnimmt, so eine Vorstellung von sich ausbildet, um dann einen Akt der Subjektivierung durch Objektivierung vollziehen zu können (vgl. Foucault 2005, S. 270; Bröckling 2007, S. 19). Durch seinen Akt der Gegenübertragung dieser gewaltvollen Subjektivierungspraxis wendet er so die sprachliche Gewalt gegen die Gewalttäter.

Im Kontext der Ziele der Dokumentation, die im Auftrag eines kalifornischen TV-Bildungsprogramms hergestellt wurde, ist sein Beitrag gleichsam ein frühes Zeignis antirassistischer Bildungsarbeit, da hier Fragen einer antirassistischen Pädagogik bearbeitet werden, so wie sie Maria Do Mar Castro Varela und Birgit Jagusch auch für eine geschlechtergerechte und antirassistische Jugendarbeit formulieren: Es geht dabei darum, wie die Mechanismen der Konstruktion von Zugehörigkeit und Ausgrenzung funktionieren und welche Möglichkeiten es gibt, der beständigen Reproduktion von gleich und anders zu entgehen. (vgl. Castro Varela/Jagusch 2011, S. 267).

Diese Reproduktion findet nicht in einem luftleeren Raum statt, sondern sie ist, wie Bildung im Allgemeinen, ein Teil der sozialen Sphäre von Gesellschaft. Diese wird aktuell bestimmt durch das Akkumulationsregime des globalen Finanzkapitalismus, in dem sich nach Stuart Hall schon seit Langem zeigt, dass ‚Rassen‘-Beziehungen direkt mit den ökonomischen Prozessen zusammenhängen, historisch mit den Epochen der Eroberung, der Kolonisierung und der merkantislistischen Beherrschung, aktuell mit den Beziehungen eines ‚ungleichen Tauschs‘ zwischen den entwickelten Metropolen und den Satellitenregionen der Weltwirtschaft (vgl. Hall 1994, S. 92). Zudem sind westliche Gesellschaften geprägt von einer meritokratischen Leitfigur, wonach Bildungsunterschiede als ‚Begabungsunterschiede‘ definiert werden und der soziale Status so als kausales Resultat von biologischen Intelligenz und Begabungsunterschieden erscheint. Mit Heike Solga gesprochen werden soziale Ungleichheiten hier letztlich als ‚Natur‘ ontologisiert bzw. als ‚natürliche Unterschiede‘ festgeschrieben (Solga 2008, S. 24) und so letztlich ein rassistisches Erklärungssystem bereitstellt, das Macht als Dominaz praktiziert, plausibilisiert und legitimiert. Dieses wird nicht offen und bewusst getan, es gehört mit Scharathow et al. vielmehr zum Haushalt der selbstverständlich plausiblen Bilder und Imaginationen, Begründungs- und Deutungsmuster, die in einem von kolonialen, nationalistischen und eben rassistischem Schemata beeinflussten gesellschaftlichen Zusammenhang, wie dem der Bildung, gelten und wirken (vgl. Scharathow et al. 2009, S. 11).

Was James Baldwin hier noch weitgehend ohne postmodernen bzw. poststrukturalistischen theoriegeleiteten Unterbau als politische Intervention in einer Zeit, in der es in vielen Teilen der USA noch eine offene institutionalisierte Trennung zwischen Schwarzen und Weißen gab, artikuliert, illustriert ein Grundanliegen postkolonialer Theorie. Diese versucht zu fassen, wie sich die Fortschreibungen der Erfahrungen des Kolonialismus im Sinne der Konstituierung eines „Anderen“ und „Fremden“ in Form von Rassismus als gesellschaftliche Struktur etablieren, fortexistieren und stabilisieren konnte und immer noch weiter kann und wer von diesen Strukturen auf welche Weise profitiert(e) (vgl. Castro-Varela 2011. o.S.).

In dieser Sicht versucht der vorliegende Text, die Frage zu bearbeiten, was aus postkolonial-informierter Perspektive Subjektivierungsweisen und Verbindungslinien von Rassismus in der aktuellen dominierenden Gesellschaftsformation des Kapitalismus sind. Wie diese sich insbesondere im Bereich der Bildung kristallisieren und manifestieren wird überdies ausblickend skizziert.

Ausgehend von der poststrukturalistischen Idee, wonach sprachliche Zeichen Wirklichkeit repräsentieren und dies als Grundlegung postkolonialer Theorie genommen wird, kann mit Rodriguez festgehalten werden, dass Sprache dann nicht einfach eine simple Beschreibungsformel sein kann, sondern im Lichte des geografischen und historischen Kontextes ihrer Produktions- und Reproduktionsbedingungen den Anschein der Objektivität verliert (Rodriguez 2012, S. 18). Ihre Wirkungsmächtigkeit in der Produktion von Wirklichkeit setze ein asymmetrisches und hierarchisches Verhältnis fort, das koloniale Bedingungen hervorrufe, die eigentlich historisch und politisch als obsolet erscheinen würden. Diese Unzulänglichkeit zwischen der politisch faktischen Befreiung und der fortwährenden kulturellen, psychischen und sozialen Kolonisierung werde durch den Präfix „Post“ konnotiert. Sprache in der postkolonialen Theorie stellt so ein Repräsentationssystem dar, auf dessen Grundlage Räume der Performativität als illukutionäre Sprechakte und Akte der Intelligilibität sowie als durch den Verstand ontologisierte Erkenntnisprozesse initiiert und fundiert werden. Die Fragen danach wer spricht, was gesehen und wie etwas gesehen werde, berührten daher nicht nur die Ebene der Darstellung im Sinne der Sichtbarmachung, sondern auch die des Sprechens und des Gehörtwerdens (ebd.). Im Anschluss an Susan Arndt und Nadja Ofuatex-Alazard zeugen Wörter, wie das oben erwähnte N-Wort[1] als Schauplatz der Artikulation nicht nur von einer beweglichen Kurzlebigkeit menschlichen Wissens, sondern sie dienen auch seiner Archivierung und verleihen ihm auf diese Weise eine nachhaltige Beständigkeit und Macht. So gelesen, gehört, geschrieben und gesprochen seien Wörter unverzichtbares Lebenselixier von Rassismus (Arndt/Ofuatey-Alazard 2011, S. 11).

Das N-Wort kann daher in Geschichte und Gegenwart gleichsam als ein Signifikant für die Verbindungslinie aus Kolonialismus, Rassismus und Kapitalismus stehen.

Postkoloniale Interventionen als Teil eines Theoriediskurses kritischer Sozialwissenschaften weisen in der Tradition des Marxismus und Poststrukturalismus auch darauf hin, dass in rassistischen Unterdrückungs- und Diskriminierungszusammenhängen nicht jede*r immer und überall sprechen kann bzw. überhaupt gehört oder gelesen wird. Das Wirken von James Baldwin, nicht nur hier in diesem filmischen Beitrag, sondern in seinem ganzen Wirken als politischer Aktivist und Schriftsteller muss als der Versuch verstanden werden, der sogenannten „Subalterne“ eine Sprecher*innenposition zuzuweisen, so dass diese gehört wird.

Dies tat er lange bevor Gayatri Chakravorty Spivak die Frage nach der, wie sie später feststellt, nicht vorhandenen Sprecher*innenposition derjenigen Personen in einer Gesellschaft in theoretischer Weise stellt, die in einem gramscianischen Sinne nicht einer hegemonialen Klasse angehören, die diese Sicht weiterentwicklend politisch unorganisiert sind und die über kein allgemeines Klassenbewusstsein verfügen (vgl. Castro-Varela/Dhawan 2005. S. 69).

Subalternität weicht in der Sicht von Spivak insofern von der Gramscis ab, da hier nicht ausschließlich aus postkolonialer Sicht unterkomplex die Unterworfenen der Produktionsverhältnisse, also die Arbeiterklasse gemeint ist. Es geht hier insbesondere um eine Perspektive die gesellschaftliche Gruppen miteinbezieht, die in der sozialen Skala sprichwörtlich ‚ganz unten‘ zu finden sind: Subsistenzwirtschaftende und hier insbesondere weibliche Sorge- und Haushaltsarbeitende, unorganiserte besitzlose Arbeitskräfte, indigene Analphabet*innen, diejenigen, die sich im Bereich der sogenannten ‚Null-Arbeit‘ bewegen (ebd. S. 70, Spivak 2008, S. 60). Spivak besteht daher einerseits darauf, „dass das kolonisierte subalterne Subjekt unwiederbringlich heterogen ist“ (Spivak 2008, S. 49). Andererseits weist sie darauf hin, dass die „Subalterne“ in dem Verständnis von Gramsci ähnlich wie andere sogenannte ‚masterwords‘ wie beispielswiese „die Arbeiter*innen“, „die Frauen“ oder auch „die Kolonisierten“ der Versuch ist, durch gängige Begrifflichkeiten für politische Bewegungen die Erfahrungen, Perspektiven und Kämpfe minorisierter Gruppen in abstrakten Überbegriffen „einzufrieren“ (vgl. Castro-Varela/Dhawan 2005, S. 67). Dieser Ansatz, unterschiedlichste Lebenserfahrungen von Menschen durch einen universalistischen Begriff zum Ausdruck zu bringen, ist als essenzialistisches Manöver zu sehen, dass z. B. auch durch Repräsentant*innen vorangetrieben wird, die versuchen im Namen unterdrückter Gruppen zu sprechen, als gäbe es ein einheitliches politisches Subjekt, welches kollektiv durch sie sprechen würde (ebd.). Spivak bezieht die Ablehnung kollektiver Identitäten durch Repräsentation auch auf die Rolle der Intellektuellen in einer Gesellschaft, die sich oftmals als Repräsentant*innen und Sprecher*innen subalterner Gruppen ausweisen und damit das westliche Konzept stabilisieren, nach dem das Sprechen Ausdruck von Subjektivität sei (ebd.).

Es geht hierbei für Spivak um die doppelte Funktion der Repräsentation, die der Darstellung und Vertretung und wie in diesem Prozess die Anderen konstruiert werden (vgl. Rodriguez 2012, S. 26). Sie verdeutlicht dies beispielhaft an einer Kritik an Michel Foucault und Gilles Deleuze Auslassungen in einem Gespräch zum Verhältnis der Intellektuellen zur Macht. Sie wirft Foucault und Deleuze vor, auf die universalistischen Wiedereinschreibungen des Imperialismus hereinzufallen und damit in der Analyse eine „Miniaturversion dieses heterogenen Phänomens“ zu produzieren, bzw. die Annahme zu vertreten, dass subalterne Gruppen per se, „ein ‚natürlich artikulationsfähiges‘ Subjekt der Unterdrückung“ hervorbringen. Dies kommt ihrer Ansicht nach dem Versuch gleich, einer gezügelten Version des imperialistischen Narrativs des Westens aufzusitzen und dessen Hervorbringungen durch das imperialistische Projekt selbst zu ignorieren (vgl. Spivak 2008, S. 60-65).

[...]


[1] Das Wort geht auf lateinisch ‚niger‘, spanisch und portugiesisch ‚negro‘ sowie französisch ‚nègre‘ zurück, wo es schwarz bedeutet. Es ist untrennbar mit der Bezeichnungspraxis des Kolonialismus für versklavte und gezielt abgewertete Menschen afrikanischer Herkunft verknüpft. Der Begriff ist daher gänzlich ungeeignet, um Schwarze Menschen zu bezeichnen, da er zu keinem Zeitpunkt die ihm innewohnenden ideologischen Vorstellungen, Denkmuster und Hierarchien abgelegt hat (vgl. Arndt 2011, S. 653-657). Um gegen die von Weißen geschaffenen Dominanz und Hierarchieverhältnisse zu intervenieren, in denen unterschiedliche Privilegien und Zugänge für unterschiedlich stark marginalisierte Gruppen geschaffen wurden, wird der Begriff „Poeple of Colour“ als Selbstbezeichnung verwendet. Er zielt darauf, die durch die Struktur des Rassismus unmöglich gemachte Verbundenheit zwischen diskriminierten Subjekten in diesen Formen der Marginalisierung zu markieren (Dean 2011, S. 597-607).

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Details

Title
“You're the nigger, baby, it isn't me”. Rassismus, Kapitalismus und Bildung als postkoloniale Subjektivierung
College
Leuphana Universität Lüneburg  (Institut für Bildungswissenschaften)
Course
Bildungssoziologie und Soziologie sozialer Ungleichheit
Grade
1,0
Author
Year
2014
Pages
14
Catalog Number
V322077
ISBN (eBook)
9783668215283
ISBN (Book)
9783668215290
File size
431 KB
Language
German
Keywords
Soziale Arbeit, Rassismus, Antirassismus, Postkolonialität, Postkoloniale Theorie, Antirassistische Bildungsarbeit, Poststrukturalismus
Quote paper
Ole Norhausen (Author), 2014, “You're the nigger, baby, it isn't me”. Rassismus, Kapitalismus und Bildung als postkoloniale Subjektivierung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/322077

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