Das Mängelwesen bei Arnold Gehlen und Herder. Eine Gegenüberstellung


Dossier / Travail de Séminaire, 2016

22 Pages, Note: 1,3


Extrait


Gliederung

1. Vorbemerkungen zur philosophischen Anthropologie

2. Der Mensch als Mängelwesen
2.1 Das Mängelwesen bei Herder
2.1.1 Vernunft und Verstand als Kompensation
2.1.2 Die Sprache
2.1.3 Die Schule als Konsequenz des menschlichen Instinktmangels
2.2 Weiterführende Gedanken Gehlens
2.2.1 Das organische Mängelwesen
2.2.2 Das Instinkt Mängelwesen
2.2.3 Entstehung des Mängelwesens
2.3 Gehlens Handlungstheorie
2.4 Gehlens Institutionenlehre
2.5 Der kulturschaffende Mensch

3. Herder und Gehlen - Eine Gegenüberstellung

4. Literaturverzeichnis

5. Quellen

1. Vorbemerkungen zur philosophischen Anthropologie

Die philosophische Anthropologie als Forschungsgebiet entstand in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und zählt damit zu den jüngeren wissenschaftlichen Disziplinen. Ihre Fragestellungen und der Gegenstand ihrer Betrachtungen werden jedoch seit nun mehr als 2000 Jahren durchdacht.

Neben den „Gründervätern“ der modernen philosophischen Anthropologie Scheler und Plessner, entwickelte Arnold Gehlen die These vom Menschen als Mängelwesen, welches ihm zufolge aufgrund seiner angeborenen Ausstattung eine Ausnahme unter allen Lebewesen darstellt. Gehlen formulierte seine These in Anlehnung antiker Vorbilder, darunter Anaxagoras und Platon, welche sich eingehend mit der Rolle des Menschen im Tierreich auseinandersetzten. Obwohl Scheler, Plessner und Gehlen gemeinsam in der Biologie eine Begründung für das menschliche Wesen sehen, stellt Gehlen bei seinem Denkansatz die Defizite des Menschen gegenüber dem Tier in seinen Betrachtungsmittelpunkt.

Im Mittelpunkt Gehlens These steht der Schlüsselterminus1 des Mängelwesens. Diese These vom Menschen als Mängelwesen soll als Untersuchungsgegenstand in der vorliegenden Arbeit herangezogen werden. Neben den Konsequenzen, welche sich unweigerlich daraus ableiten und formulieren lassen, soll die Entwicklungsgeschichte, ausgehend von Johann Gottfried Herder, dargestellt werden. Herder, der mit seiner 1772 erschienenen Abhandlung über den Ursprung der Sprache das Stichwort vom Menschen als Mängelwesen vorgibt, dient Gehlen als Vorläufer. Er wies darin auf die Tatsache hin, „Daß der Mensch den Thieren an Stärke und Sicherheit des Instinktes weit nachstehe“[1] [2], war jedoch zeitgleich davon überzeugt, dass Lücken und Mängel doch nicht den Charakter seiner Gattung bilden können.[3]

Dieser „Keim zum Ersätze“[4], wie Herder konstatiert, führt bei beiden Philosophen zu teils gemeinsamen, aber auch konträren, sich daraus ableitenden Denkansätzen. Inwiefern Gehlen Herders ursprüngliche Idee des Mängelwesens übernimmt, weiterdenkt oder korrigiert soll als Fragestellung die folgenden Kapitel begleiten und in einer abschließenden Gegenüberstellung sein Fazit finden.

2. Der Mensch als Mängelwesen

2.1 Das Mängelwesen bei Herder

Mit seiner 1772 publizierten Abhandlung über den Ursprung der Sprache schafft Herder bemerkenswerte Anknüpfungspunkte für die philosophische Anthropologie des 20. Jahrhunderts. Den Mittelpunkt Herders

Anthropologie bilden vier Kernthesen. 1. das Nichtvorhandensein einer spezifischen Umwelt des Menschen, 2. die Reflexionsfähigkeit des Menschen, 3. der Mensch als Mängelwesen und die sich daraus ableitende Entwicklung der Sprache und 4. die menschlichen Sinne in Wechselwirkung mit seiner geistigen Sphäre.[5]

Um einen späteren Vergleich zwischen Herder und Gehlen vornehmen zu können werden im Folgenden Teilaspekte Herders Anthropologie näher verdeutlicht. Hierbei stehen der Kompensationsgedanke, welcher bei Gehlen ebenfalls eine herausragende Rolle einnimmt, sowie die Folgen des menschlichen Instinktmangels, im Vordergrund.

2.1.1 Vernunft und Verstand als Kompensation

Herder definiert, im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen, Vernunft durch die Begriffe Reflexion und Besonnenheit als eine „seiner Gattung eigene Richtung aller Kräfte“[6]. Hiermit grenzt er seinen Vernunftbegriff von der Sichtweise ab, diese sei „eine neue, ganz abgetrennte, in die Seele hineingedachte Kraft “,[7]

Diese Vernunft steht bei Herder im Zentrum des Unterschiedes zwischen Mensch und Tier. Er sieht sie als „künstlichen Instinkt“, welcher, dem bei seiner Geburt unfertigen Menschen, als Ausgleich mitgegeben wird. Auf diesem Weg kommt es zur Kompensation des angeborenen

Instinktmangels.[8] Inwiefern hierbei die Sprache für Herder eine Rolle spielt, soll im folgenden Kapitel Betrachtung finden.

Herder zufolge werden die dem Menschen innewohnenden tierischen Instinkte hierdurch „unterdrückt“[9]. Arnold Gehlen übernimmt in seinem 1940 erschienenem Werk Der Mensch Herders These von der Rolle der Vernunft. Im Sinne der Aufklärung sieht Herder jedoch die Vernunft von einem Leitgedanken aus Humanität und Liebe getragen, diese sollen eine inhumane Pervertierung der selbigen verhindern. In diesem Punkt unterscheiden sich die Ansichten Herders und Gehlen, da Letzterer die Entwicklung der Vernunft hin zu einer unterdrückenden Zucht deutlich pessimistischer einschätzt.[10]

Herder zufolge wird der Mensch in eine „offene Welt“ hineingeboren, im Gegensatz zum Tier besitzt er somit keinen „Kreis“ an den seine Sinne und Instinkte angepasst sind. Diese Erkenntnis fasst Herder zusammen, indem er sagt, „daß je schärfer die Sinne der Thiere, und je wunderbarer ihre

Kunstwerke sind, desto kleiner ist ihr Kreis, desto einartiger ist ihr Kunstwerk“.[11]

Für Herder wächst der Mensch in einen freien Raum, welcher nur mit Hilfe von Vernunft Bearbeitung finden kann. Diese Bearbeitung führt zu Selbsttätigkeit. In Konkurrenz zu Kant stellt die Vernunft für Herder aber keinen angeborenen Automatismus dar, sondern kann nur, wie das spätere Kapitel zeigen wird, mit Hilfe von Sprache aktiviert und nutzbar gemacht werden.[12] [13]

Wenn Herder von der größeren menschlichen Sphäre spricht, in die der Mensch hineinwächst, meint er ohne die Begrifflichkeit zu kennen, dasselbe wie Gehlen, wenn dieser von „Entlastung“ spricht. Doch erst Gehlen nutzt die Vordenkerrolle Herders, um darauf aufbauend, seine These der Entlastung zu formulieren.

2.1.2 Die Sprache

Herder zufolge besitzt der Mensch von Geburt an die „schlummernde Vernunft“11,, welche für ihn das Hauptcharakteristika der menschlichen Existenz darstellt. Jedoch unterscheidet er sehr wohl zwischen der Vernunft als reine Anlage und der ausgebildeten Vernunft.[14] Letztere kann der Mensch lediglich durch den Prozess der „Besinnung“[15] verwirklichen. An dieser Stelle erkennt Herder wohl als Erster den entscheidenden Einfluss der Sprache auf diese Entwicklung, wenn er sagt: „Wäre der Mensch taub, so bliebe er stumm. Wäre er taubstumm, so käme der Mensch nie ohne Sprache zu Ideen der Vernunft[16]

Nur allein durch das Mittel der Sprache ist es dem Mensch möglich von den Erfahrungen und dem Wissen früherer Generationen zu profitieren. Nur so gelangt der Mensch im Lauf der Zeit zu einer höher entwickelten Vernunft[17], das Tier hat diese Möglichkeit nicht.

Auch Arnold Gehlen greift mehr als 150 Jahre später diese These auf, unterscheidet sich jedoch in der Gewichtung ihrer Bedeutung gegenüber dem handelnden Aspekt beim Menschen. So spricht Gehlen von der „Sprachförmigkeit der menschlichen Handlungen“ und sieht somit auch die Sprache in der menschlichen Handlung begründet. So kommt auch der Philosoph Liebruck zu dem Schluss, Gehlen suche nach ursprünglichen Strukturen des Menschseins vor der Sprache. Herder unterstreicht hingegen den Vorrang der Sprache gegenüber der Handlung, indem er sagt: die „Erfindungder Sprache [...] so natürlich, als er einMensch ist“.[18]

Den Zustand des Menschen bei seiner Geburt sieht Gehlen ebenfalls weitaus pessimistischer als sein Vorgänger Herder. So fängt der Mensch von Geburt an bei einem Nullpunkt an, für Herder hingegen wächst jeder in eine vorgegebene Art der Perzeptionsverarbeitung hinein.[19]

Es sei an dieser Stelle noch kurz erwähnt, dass Herder die Vorstellung ablehnt, Gott habe den Menschen die Sprache gelehrt. Er sieht in der Sprachentwicklung die Leistung des Menschen, erkennt jedoch ihren göttlichen Ursprung in der menschlichen Seele.[20]

2.1.3 Die Schule als Konsequenz des menschlichen Instinktmangels

Der Mensch hört niemals auf zu lernen, da er „am meisten zu lernen hat“[21], so beschreibt Herder den lebenslangen Lernvorgang des Menschen, der seinen Ursprung in der unspezifischen Umgebung der menschlichen Spezies hat. Der Erwerb der Fähigkeiten zum Überleben im offenen Kreis des Menschen ist existenziell, da ihm, anders als dem Tier, keine Determinanten auferlegt wurden. Herder drückt dies aus indem er schreibt: „sind die Gränzen unserer Vollkommenheiten auch nicht so eingeschränkt, geschlossen und unbeweglich fest gesetzt: ein Mensch kann daher, weil die Schranken seiner Kräfte, von Natur, unbestimmt sind, in ein offenes freyes Feld hinein gehen, vieles lernen, und von einer Geschicklichkeit und Stufe derselben zu höheren schreiten“ 22 23

Wie im vorangegangen Kapitel erwähnt, ist der Mensch das einzige Lebewesen, das an Erfahrungen bereits vergangener Generationen partizipieren kann. Dieser Wissensaustausch ist kennzeichnend für den Menschen und nur durch Kommunikation, das heißt Sprache, möglich. Herder entwickelt aufbauend auf die Frage, inwiefern der Mensch als Mängelwesen überhaupt in der Lage ist diese Selbstbildung vorzunehmen und von fremdem Wissen zu profitieren, seine Theorie der Schule. „ Was wir wissen, wissen wir durch andre. Was wir gebrauchen und zu brauchen selbst lernen müssen, haben andere erfunden, das ganze menschliche Geschlecht ist gewissermaßen eine durch alle Jahrhunderte fortgesetzte Schule “[22] Das Wissen und den Erfahrungsschatz der Menschheit zu ordnen und zu tradieren ist Aufgabe der Schule. Herder erkennt diesen nie aufhörenden Prozess, wenn er sagt: „Lasset uns lernen, was wir lernen können: denn es ist schon da [...] Lasset uns hinzutun, was wir hinzutun können, damit wir in der großen Schule der Menschheit auch unsern Platz würdig besitzen, und mehr zurücklassen, als wir empfangen haben “[23]

Des Weiteren misst Herder der Schule eine zweite Bedeutung bei, da er in ihr als Institution einen Ersatz zum vorhandenen Instinktmangel des Menschen sieht. Schon hier lassen sich die Ursprünge für Gehlens spätere Institutionenlehre erahnen.

[...]


1 Vgl. Karl-Siegbert Rehberg, Existentielle Motive im Werk Arnold Gehlens, in: H. von Klages und H. Quaritsch (Hrsg.), Zur geisteswissenschaftlichen Bedeutung Arnold Gehlens, Berlin 1994, S.504.

2 Dietrich Böhler, Arnold Gehlen. Handlung und Institution, in: Josef Speck (Hrsg.), Grundprobleme der großen Philosophen. Philosophie der Gegenwart, 2. Aufl., Göttingen 1981, S.271.

3 Ebd.

4 Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 5. Basel 1980, S.712.

5 Stefan Greif u.a., Herder Handbuch, Paderborn 2016, S.696.

6 Bernhard Suphan, Herders sämtliche Werke, Hildesheim 1967, S.461.

7 Ebd.,S.463.

8 Siegfried Hartmut Sunnus, Die Wurzeln des modernen Menschenbildes bei J. G. Herder, Nürnberg 1971, S.87f..

9 Suphan, Werke(wieAnm.6), S.479.

10 Sunnus, Die Wurzeln (wie Anm. 8), S.91.

11 Suphan, Werke (wie Anm. 6), S.483.

12 Ebd., S.93.

13 Suphan, Werke (wie Anm. 6), S.498.

14 Sunnus, Die Wurzeln (wie Anm. 8), S.94f..

15 Suphan, Werke (wie Anm. 6), S.504.

16 Ebd., S.506.

17 Sunnus, Die Wurzeln (wie Anm. 8), S.96.

18 Suphan, Werke (wie Anm. 6), S.520.

19 Sunnus, Die Wurzeln (wie Anm. 8), S.96.

20 Ebd., S.98.

21 Suphan, Werke (wie Anm. 6), S.82.

22 Suphan, Werke (wie Anm. 6), S.484. Sunnus, Die Wurzeln (wie Anm. 8), S.92. FHA, Band 9/2, S.461f..

23 Ebd., S.462.

Fin de l'extrait de 22 pages

Résumé des informations

Titre
Das Mängelwesen bei Arnold Gehlen und Herder. Eine Gegenüberstellung
Université
University of Hagen  (Philosophisches Institut)
Cours
Praktische Kulturphilosophie
Note
1,3
Auteur
Année
2016
Pages
22
N° de catalogue
V323501
ISBN (ebook)
9783668226739
ISBN (Livre)
9783668226746
Taille d'un fichier
556 KB
Langue
allemand
Mots clés
mängelwesen, arnold, gehlen, herder, eine, gegenüberstellung
Citation du texte
Luise Viktoria Ruß (Auteur), 2016, Das Mängelwesen bei Arnold Gehlen und Herder. Eine Gegenüberstellung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/323501

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