Übergewicht und Adipositas stellen unverändert eine große gesundheitspolitische Herausforderung dar. Zum einen durch deren weitreichende Verbreitung und zum anderen birgt eine lang bestehende Adipositas erhebliche gesundheitliche Risiken. Da oftmals mehrere Organsysteme in Mitleidenschaft gezogen werden, sind viele Betroffene multimorbid. Adipositas verursacht daher erhebliche Kosten.
Es besteht eine unüberschaubare Vielzahl an Methoden zur Gewichtsreduktion. Die Grundlage und erfolgversprechendste Methode bildet die Basistherapie, bestehend aus einer Kombination von Ernährungs-, Bewegungs- und Verhaltenstherapie. Jedoch ist für die psychosomatische Betrachtungsweise von Übergewicht und Adipositas ebenso ein multifaktorieller Verstehensansatz unabdingbar. Im Vordergrund jeder Therapie sollte immer die langfristige und dauerhafte Gewichtsabnahme bzw. -stabilisierung stehen. Folglich sollten alle Strategien auf eine sichere, nebenwirkungsarme, effektive und kostengünstige Vorgehensweise abzielen und eine Rückfallprophylaxe mit einschließen. Da psychosozialer Stress ein Prädiktor für Rückfälle in alte Verhaltensmuster ist, ist es sinnvoll, Methoden zur Stress- und Spannungsreduktion in verhaltenstherapeutischen Programmen zu vermitteln. Zudem scheint das Erlernen einer Entspannungsmethode förderlich, da Essen im Kontext von Adipositas häufig als dysfunktionale Entspannungsmethode Anwendung findet. Derzeit existierende Interventionsprogramme bestehen zwar überwiegend aus allen Eckpfeilern der Basistherapie, allerdings reflektieren sie die Faktoren genetische Disposition, Ernährung, Bewegung, mentaler Umgang mit dem Problem, soziale Situation sowie psychosoziale Konstellation mit unterschiedlicher Gewichtung, oftmals wird der Ernährungsmodifikation und der Bewegungstherapie jedoch die größte Bedeutung zugesprochen. Verhaltenstherapeutische Maßnahmen, die Stressmanagement-Komponenten beinhalten und alternative Stressbewältigungsmöglichkeiten zum Essen in emotionalen Situationen aufzeigen, werden weitaus weniger praktiziert, weswegen nur eine geringe Anzahl wissenschaftlich evaluierter Studien aufzufinden ist.
Da die Prävalenz von Übergewicht und Adipositas in der Erwachsenenbevölkerung in Deutschland trotz aller Bemühungen weiterhin auf hohem Niveau liegt, und Betroffene im Vergleich zu Normalgewichtigen vermehrt unter psychischen Störungen leiden, besteht diesbezüglich ein enormer Handlungsbedarf, an dem die vorliegende Arbeit ansetzt.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung und Problemstellung
2 Zielsetzung
3 Gegenwärtiger Kenntnisstand
3.1 Entstehung und Verlauf von Stressprozessen
3.1.1 Definition von Stress
3.1.2 Stressoren
3.1.3 Die Stressreaktion
3.1.4 Biopsychosoziale Grundlagen der Stressreaktion
3.1.4.1 Biologische Perspektive
3.1.4.2 Soziologische Perspektive
3.1.4.3 Psychologische Perspektive
3.1.5 Stressmodelle
3.1.5.1 Cannon und Selye
3.1.5.2 Stressmodell von Lazarus
3.1.5.3 Salutogenetischer Ansatz
3.1.6 Stressbewältigung
3.1.6.1 Proaktive Bewältigung
3.1.6.2 Individuelle und strukturelle Stressbewältigung
3.1.6.3 Das Zwei-Prozess-Modell
3.2 Adipositas: Begriff, Entstehung, Stresspotentiale und Therapiemethoden
3.2.1 Definition und Klassifikation von Übergewicht und Adipositas
3.2.2 Prävalenz der Adipositas
3.2.3 Ursachen und Folgen
3.2.3.1 Lebensqualität und Barrieren im Alltag
3.2.3.2 Ernährungs- und Bewegungsverhalten
3.2.3.3 Psychosoziale Aspekte
3.2.4 Herkömmliche Bestandteile einer Adipositastherapie
3.2.4.1 Ernährungsmodifikation
3.2.4.2 Körperliche Aktivität/Training
3.2.4.3 Verhaltensmodifikation
3.2.4.4 Kombinierte Interventionen
3.2.5 Therapieziele und Voraussetzungen für den Therapieerfolg
3.2.6 Aktuelle Forschungslage bzgl. des Zusammenhangs von Stress und Adipositas
3.2.7 Status quo der Wirksamkeit von Stressmanagement-Programmen für adipöse Erwachsene
4 Methodik
4.1 Literaturrecherche
4.1.1 Recherchethemen und Definition der Fragestellung
4.1.2 Aufstellung der Suchbegriffe
4.1.3 Bestimmung der Recherchedatenbanken
4.1.4 Suchstrategie
4.1.5 Ein- und Ausschlusskriterien
4.1.6 Auswahl der relevanten Studien
4.2 Entwicklung eines Stressmanagement-Programms für adipöse Erwachsene
4.2.1 Zielsetzung und Nutzen des Programms
4.2.2 Zielgruppe
4.2.3 Einsatzbereiche
4.2.4 Rahmenbedingungen
4.2.5 Aufbau, Inhalte und Lernziele
4.2.6 Detaillierte Darstellung der Programmeinheiten
4.2.7 Mögliche Probleme bei der Programm-Durchführung
4.2.8 Verhaltensmodifikation
4.2.9 Sicherstellung der Programmqualität und des Programmerfolges
5 Ergebnisse
5.1 Ergebnisdarstellung der Literaturrecherche
5.2 Darstellung der Kernaspekte des konzipierten Stressmanagement-Programms
6 Diskussion
6.1 Gesamtdiskussion und praktische Implikationen für zukünftige Interventionen
6.2 Interpretation der Ergebnisse unter den Aspekten der Problemstellung
6.3 Grenzen der vorliegenden wissenschaftlichen Arbeit
6.4 Schlussfolgerung und Ausblick
7 Zusammenfassung
8 Literaturverzeichnis
9 Abbildungs-, Tabellen-, Abkürzungsverzeichnis
9.1 Abbildungsverzeichnis
9.2 Tabellenverzeichnis
9.3 Abkürzungsverzeichnis
Anhang
Anhang 1: Anleitungen zur PMR
Anhang 2: Anleitungen zur Atementspannung
1 Einleitung und Problemstellung
Übergewicht und Adipositas stellen unverändert eine große gesundheitspolitische Herausforderung dar (Samsel, 2008). Zum einen durch deren weitreichende Verbreitung, da schon die Mehrheit der Erwachsenen kein gesundheitlich wünschenswertes Gewicht mehr hat und zum anderen birgt eine lang bestehende Adipositas erhebliche gesundheitliche Risiken. Da oftmals mehrere Organsysteme in Mitleidenschaft gezogen werden, sind viele Betroffene multimorbid. Adipositas verursacht daher erhebliche Kosten. Vor allem leiden adipöse Menschen aber unter ihrem Selbstbild, das nicht dem Ideal der Gesellschaft entspricht. Die Reaktionen der Umwelt sind oftmals negativ und reichen von mangelnder Akzeptanz bis hin zu Ablehnung und Ausgrenzung (Wirth & Hauner, 2013, S. V). Vorurteile, Diskriminierungen und Stigmatisierungen, mit denen Adipöse konfrontiert werden (Fabricatore & Wadden, 2004), haben zudem zur Folge, dass sie oft unter einem vermindertem Selbstwertgefühl leiden, sich sozial zurückziehen und depressiv fühlen (Sarlio-Lähteenkorva & Lahelma, 1999). Adipositas führt somit auch auf psychosozialer Ebene zu erheblichen Beeinträchtigungen und geht mit einer verminderten Lebensqualität einher (Kolotkin, Meter & Williams, 2001). In emotionalen Situationen wie Ärger, Aufregung und Anspannung berichten Adipöse von einem vermehrten Essbedürfnis (Ellrott & Pudel, 1998). Da häufig eine Kopplung negativer emotionaler Zustände und der Nahrungsaufnahme besteht, führen seelische Probleme und Störungen dann zu Veränderungen des Ess- und Bewegungsverhaltens und haben eine anhaltende positive Energiebilanz zur Folge (Wirth & Hauner, 2013, S. 90). Aufgrund der genannten Faktoren tragen psychische Belastungen wesentlich zur Auslösung und Aufrechterhaltung der Adipositas bei (Ellrott & Pudel, 1998; Stroebe, 2002).
Es besteht eine unüberschaubare Vielzahl an Methoden zur Gewichtsreduktion. Die Grundlage und erfolgversprechendste Methode bildet die Basistherapie, bestehend aus einer Kombination von Ernährungs-, Bewegungs- und Verhaltenstherapie (Deutsche Adipositas Gesellschaft e. V. [DAG], 2014, S. 42; National Heart, Lung, Blood Institute [NHLBI], 1998, S. 83). Jedoch ist für die psychosomatische Betrachtungsweise von Übergewicht und Adipositas ebenso ein multifaktorieller Verstehensansatz unabdingbar (Herpertz, 2008). Im Vordergrund jeder Therapie sollte immer die langfristige und dauerhafte Gewichtsabnahme bzw. -stabilisierung stehen. Folglich sollten alle Strategien auf eine sichere, nebenwirkungsarme, effektive und kostengünstige Vorgehensweise abzielen und eine Rückfallprophylaxe mit einschließen (Wirth, 2008, S. 264). Da psychosozialer Stress ein Prädiktor für Rückfälle in alte Verhaltensmuster ist, ist es sinnvoll, Methoden zur Stress- und Spannungsreduktion in verhaltenstherapeutischen Programmen zu vermitteln (Herpertz, De Zwaan & Zipfel, 2008, S. 332). Zudem scheint das Erlernen einer Entspannungsmethode förderlich, da Essen im Kontext von Adipositas häufig als dysfunktionale Entspannungsmethode Anwendung findet (Wirth & Hauner, 2013, S. 313). Derzeit existierende Interventionsprogramme bestehen zwar überwiegend aus allen Eckpfeilern der Basistherapie, allerdings reflektieren sie die Faktoren genetische Disposition, Ernährung, Bewegung, mentaler Umgang mit dem Problem, soziale Situation sowie psychosoziale Konstellation mit unterschiedlicher Gewichtung (Samsel, 2008), oftmals wird der Ernährungsmodifikation und der Bewegungstherapie jedoch die größte Bedeutung zugesprochen. Verhaltenstherapeutische Maßnahmen, die Stressmanagement-Komponenten beinhalten und alternative Stressbewältigungsmöglichkeiten zum Essen in emotionalen Situationen aufzeigen, werden weitaus weniger praktiziert, weswegen nur eine geringe Anzahl wissenschaftlich evaluierter Studien aufzufinden ist (Shaw, O'Rourke, Del Mar & Kenardy, 2005).
Die Mehrzahl vorhandener Stressmanagement-Programme deutet jedoch darauf hin, dass diese präventiv (Roohafza et al., 2014), während einer Adipositastherapie (Christaki et al., 2013; Cox et al., 2013) sowie zur Gewichtsstabilisierung und langfristigen Stressverarbeitung nach einer Maßnahme (Elder, Gullion et al., 2012) gewinnbringend eingesetzt werden können. Programme, die zudem verschiedene Methoden zur Entspannungsinduktion integrieren, weisen ebenso hohe Effektstärken auf (Katzer et al., 2008). Bestimmte Entspannungsverfahren wie Progressive Muskelrelaxation (PMR; (Christaki et al., 2013; Manzoni et al., 2008; Manzoni et al., 2009; Pawlow, O'Neil & Malcolm, 2003), verschiedene Formen von Yoga (Braun, Park & Conboy, 2012; Kristal, Littman, Benitez & White, 2005; Rioux & Ritenbaugh, 2013; Rioux, Thomson & Howerter, 2014), Achtsamkeitstraining (Alberts, Mulkens, Smeets & Thewissen, 2010; Alberts, Thewissen & Raes, 2012; Dalen et al., 2010; Daubenmier et al., 2011; Tapper et al., 2009) und andere Mind-Body-Interventionen (Alert et al., 2013; Elder, Ritenbaugh et al., 2007; Elder & Gullion et al., 2012) bieten sich in diesem Kontext beispielsweise an. Da die Prävalenz von Übergewicht und Adipositas in der Erwachsenenbevölkerung in Deutschland trotz aller Bemühungen weiterhin auf hohem Niveau liegt (Mensink et al., 2013) und Betroffene im Vergleich zu Normalgewichtigen vermehrt unter psychischen Störungen leiden (Legenbauer, Burgmer, Senf & Herpertz, 2007), besteht diesbezüglich ein enormer Handlungsbedarf, an dem die vorliegende Arbeit ansetzt.
Anmerkung zur Verwendung von männlichen und weiblichen Formulierungen: Als Tribut an die Lesbarkeit der vorliegenden Master-Thesis wurde von der expliziten Ausformulierung der weiblichen Schreibweise i. d. R. Abstand genommen.
2 Zielsetzung
Ziel dieser Arbeit ist die Darstellung der aktuellen Forschungslage bezüglich des Zusammenhangs zwischen Stress bzw. psychischen Belastungen sowie der Entstehung und dem Vorhandensein einer Adipositas. Vor allem aber soll veranschaulicht werden, welche Erkenntnisse zur Wirksamkeit verschiedener Stressmanagement-Programme für adipöse Erwachsene vorliegen. Auf Basis der gewonnenen Informationen zum aktuellen Stand der Forschung soll ein Stressmanagement-Programm für adipöse Erwachsene konzipiert werden, welches darauf abzielt, Stressbewältigungskompetenzen zu vermitteln und einen sinnvollen Beitrag zur Bekämpfung einer vorhandenen Adipositas zu leisten sowie den psychosozialen Leidensdruck Betroffener zu verringern und folglich deren Wohlbefinden, Selbstwertgefühl und Lebensqualität zu steigern.
3 Gegenwärtiger Kenntnisstand
Dieses Kapitel soll eine Wissens- und Informationsgrundlage schaffen und die aktuelle Forschungslage sowie den Status quo übersichtlich darstellen. Basierend auf den gewonnenen Erkenntnissen zur Entstehung und dem Verlauf von Stressprozessen sowie den Hintergründen und Stresspotentialen der Krankheit Adipositas, bildet dieser Teil der Arbeit die Basis für die weitere Vorgehensweise.
3.1 Entstehung und Verlauf von Stressprozessen
In der modernen Leistungsgesellschaft sind „Stress“ und „Stressbewältigung“ zu Schlüsselbegriffen im öffentlichen sowie im wissenschaftlichen Gesundheitsdiskurs geworden. Im Zentrum etlicher wissenschaftlicher Studien steht die Frage, wie Menschen mit Alltagsbelastungen umgehen sollen. Um einen Einblick in die Thematik zu geben, befasst sich der folgende Teil mit ausgewählten Begriffsdefinitionen, den Grundlagen der Stressreaktion, Konzepten der Stressforschung und -entstehung sowie diversen Bewältigungsstrategien.
3.1.1 Definition von Stress
Schaut man sich die Genese des Begriffes Stress an, so lassen sich unterschiedliche Konzeptionen erkennen. Im Englischen bedeutet das Wort Stress Druck, Kraft, Anspannung. Ursprünglich geht es auf den lateinischen Begriff „strictus“ zurück, gleichbedeutend mit stramm, eng und straff aus dem Deutschen. Das Wort „strangulieren“ hat hier ebenso seine Herkunft und stimmt sinngemäß mit den negativen Auswirkungen überein, die Stress auf den Menschen ausüben kann: sich eingeengt, unter Druck gesetzt fühlen, angespannt sein, nach Atem ringen (Rusch, 2012, S. 17).
Während sich die aktuelle wissenschaftliche Beschäftigung nicht mehr überblicken lässt, war dies zu Beginn der Stressforschung anders. Walter B. Cannon (1871-1945) verwendete 1914 erstmals die Bezeichnung Stress – welche bis dato nur in der Metallverarbeitung gebräuchlich war – in einem physiologischen und psychologischen Zusammenhang. Mit seinem Modell der Homöostase, das körpereigene Regulierungsprozesse beschreibt, stellte er wichtige allgemeine Voraussetzungen für die weitere Forschung bereit. Inspiriert von den Forschungen Cannons, lassen sich Mitte der 1930er bis Ende der 1950er Jahre weitere Anfänge der Stressforschung zurückverfolgen. Eine entscheidende Rolle spielt dabei auch der österreichisch-ungarisch-kanadische Mediziner und Biochemiker Hans Selye (Kury, 2012, S. 55). Selye (1907-1982), der als Pionier der Stressforschung gilt, führte den Stressbegriff in den 1940er Jahren des 20. Jahrhunderts in die Medizin ein und bezeichnete damit ganz allgemein die Auswirkungen von Belastungen auf lebende Körper. In seinen Forschungsarbeiten fand Selye heraus, dass unterschiedliche körperliche und seelische Belastungen zu charakteristischen körperlichen und seelischen Veränderungen führen können, wenn sie langfristig andauern. Die Entstehung von Stress sowie seine Folgen für die Gesundheit wurden fortan von Wissenschaftlern aus unterschiedlichen Disziplinen intensiv erforscht (Kaluza, 2014, S. 4). Wie kaum ein anderer Begriff aus den Humanwissenschaften erfährt der Stressbegriff seit nun 40 Jahren eine anhaltende Popularisierung. Es gibt kaum einen Bereich des Alltags, der nicht mit Stress assoziiert wird: Stress am Arbeitspatz, in Schule und Kindergarten über den Leistungs-, Beziehungs- und Freizeitstress bis hin zum Stress im Krankenhaus, im Straßenverkehr und auch im Urlaub. Oft mischt sich in die Klage über ein Zuviel an Stress ein Unterton von Stolz mit ein, der Stress zu einem Zeichen der Wichtigkeit der eigenen Person macht, zu einem Statussymbol, welches Anerkennung von anderen verspricht (Kaluza, 2011, S. 12). Auch in der Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft ist der menschliche Organismus zunehmend komplexen Belastungen ausgesetzt, auf die er reagieren muss. Laut Techniker Krankenkasse (2009) klagen mehr als 80 % der Deutschen über Stress. Bei etwa jedem Dritten ist die Anspannung schon zum Dauerzustand geworden. Das Phänomen Stress berührt dabei jede Bevölkerungsschicht, unabhängig von Alter und sozialem Status. Wer oft gestresst ist, ist anfälliger für körperliche und seelische Erkrankungen. Jeder fünfte Befragte ist davon überzeugt, dass der Stress bei ihm bereits gesundheitliche Auswirkungen hat. Stress wird dabei primär als etwas Belastendes, Unangenehmes und Bedrohliches wahrgenommen, was auch unter dem Terminus Distress gefasst wird. Deutlich seltener wird Stress als etwas Stimulierendes, Motivierendes angesehen, wofür der Begriff Eustress steht (Cooper & Dewe, 2004).
3.1.2 Stressoren
Stress besitzt immer einen Auslöser, den Stressor. Laut Greif, Bamberg und Semmer (1991, S. 13) versteht man unter Stressoren „hypothetische Faktoren, die mit erhöhter Wahrscheinlichkeit Stress auslösen“. Kaluza (2011, S. 13) bezeichnet Stressoren als alle äußeren Bedingungen, in deren Folge es zur Auslösung einer Stressreaktion kommt. Dabei kann es sich um unterschiedlichste Situationen handeln. Die Bedingungen sind individuell verschieden und führen somit nicht bei jeder Person zu Stress. In der Fachliteratur finden sich viele Möglichkeiten, Stressoren zu gruppieren (Nerdinger, Blickle & Schaper, 2011). Beispielsweise können sie wie folgt eingeteilt werden (Kaluza, 2011, S. 13):
Physikalische Stressoren (Lärm, Hitze, Kälte, Nässe), körperliche Stressoren (Verletzung, Schmerz, Hunger, Behinderung), Leistungsstressoren (Zeitdruck, quantitative und/oder qualitative Überforderung, Prüfungen), soziale Stressoren (Konkurrenz, Isolation, zwischenmenschliche Konflikte, Trennung, Verlust). Stress ist eine sehr subjektive Erfahrung. Hinter jeder „Stressgeschichte“ steht ein ganz spezifisches Bündel von inneren (verhaltens- und wertorientierten) und/oder äußeren (verhältnisorientierten) Stressursachen, die sich durchaus gegenseitig beeinflussen können (Bernhard & Wermuth, 2011, S. 16).
3.1.3 Die Stressreaktion
Die Stressreaktion umfasst alle Prozesse, die vom menschlichen Organismus als Antwort auf den Stressor in Gang gesetzt werden (Greiner, Langer & Schütz, 2012, S. 20 f.; Kaluza, 2011, S. 13). Ob ein Stressor tatsächlich eine Stressreaktion auslöst, hängt im Allgemeinen von der subjektiven Einschätzung eines Menschen ab und ob dieser eine Situation als bedrohlich oder leicht zu bewältigen beurteilt. Die Stressreaktion signalisiert somit das Erreichen der individuellen Leistungsgrenze (Rusch, 2012, S. 31). Die Antworten auf eine Stressreaktion können auf der körperlichen, auf der behavioralen und auf der kognitiv-emotionalen Ebene ablaufen (Kaluza, 2011, S. 13 f.): Auf der körperlichen Ebene der Stressreaktion kommt es zu verschiedenartigen Veränderungen, die insgesamt zur körperlichen Aktivierung sowie Energiemobilisierung führen. Spürbar sind diese Veränderungen beispielsweise an einem schnelleren Herzschlag, erhöhter Muskelspannung oder einer schnelleren Atmung. Hält diese Aktivierungssituation über einen längeren Zeitraum an, so führt dies u. U. zu negativen Folgen für die Gesundheit. Die behaviorale Ebene der Stressreaktion umfasst jegliches „offene“ Verhalten, das von Außenstehenden zu beobachten ist und somit alles, was die betreffende Person sagt und wie sie handelt. Oft sind folgende Stressverhaltensweisen erkennbar: Hastiges und ungeduldiges Verhalten, Betäubungsverhalten, unkoordiniertes Arbeitsverhalten und konfliktreicher Umgang mit anderen Menschen. Die kognitiv-emotionale Ebene der Stressreaktion umfasst hingegen das so genannte „verdeckte“ Verhalten und bezeichnet intrapsychische Vorgänge, die für Außenstehende nicht direkt erkennbar sind. Dazu zählen alle Gedanken und Gefühle, die bei einer mit Stress konfrontierten Person ausgelöst werden können. Häufige Stressreaktionen auf dieser Ebene sind: Gefühle der inneren Unruhe, der Nervosität und des Gehetztseins, Gefühle der Unzufriedenheit und des Ärgers, Angst, Gefühle und Gedanken der Hilflosigkeit, Selbstvorwürfe, kreisende, „grüblerische“ Gedanken, Leere im Kopf („black out“), Denkblockaden, Konzentrationsmängel und ein „Tunnelblick“. Die genannten Ebenen der Stressreaktion treten im Normalfall gemeinsam auf und bestehen dabei nicht losgelöst voneinander, vielmehr beeinflussen sie sich wechselseitig. Somit können sie die Stressreaktion „aufschaukeln“, damit verstärken und verlängern. Eine günstige gegenseitige Beeinflussung und Dämpfung der Stressreaktion ist jedoch ebenfalls möglich. Durch den Abbau körperlicher Stressreaktionen, z. B. durch Sport oder Entspannungsübungen, kann beispielsweise eine kognitive und emotionale Beruhigung erfolgen.
Individuelle Stressverstärker in Form von persönlichen Motiven, Einstellungen und Bewertungen, spielen in diesem Zusammenhang ebenso eine bedeutende Rolle und tragen dazu bei, dass Stressreaktionen ausgelöst oder verstärkt werden. Sie sind sozusagen der „eigene Anteil“ des Betroffenen am Stressgeschehen. Beispiele für persönliche Stressverstärker sind ein ausgeprägtes Profilierungs- oder Perfektionsstreben und die Unfähigkeit, die eigenen Leistungsgrenzen zu akzeptieren, ebenso wie die Vorstellung unentbehrlich zu sein und als Einzelkämpfer die Unterstützung von anderen abzulehnen. Heute ist bekannt, dass Stressreaktionen nicht bei allen Menschen in allen Belastungssituationen in gleicher Weise ablaufen, sondern individuell und situativ verschieden sind. Ebenso sind Reaktionen auf Stress sowohl genetisch bedingt als auch durch Lernerfahrungen beeinflussbar (Kaluza, 2011, S. 14).
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass zunächst verschiedene Stressoren unterschiedliche Stressreaktionen auf allen genannten Ebenen auslösen (Situationsspezifität). Dabei stehen je nach Art der Belastung unterschiedliche Emotionen im Vordergrund. Während Menschen in Bedrohungssituationen tendenziell mit Angst und Unsicherheit reagieren, herrschen bei Verlust oder Schädigung eher Ärger und Wut oder Trauer und Verzweiflung vor. Ferner stellen sich unter Belastung unterschiedliche körperliche Reaktionen ein. Während manche unter Stress besonders stark über den Verdauungstrakt reagieren, leiden andere mehr unter Verspannungen oder Schmerzen (Reaktionsspezifität; Greiner et al., 2012, S. 22).
3.1.4 Biopsychosoziale Grundlagen der Stressreaktion
Nachdem zuvor die verschiedenen Ebenen der Stressreaktion dargestellt wurden, beschäftigt sich der folgende Teil der Arbeit mit den biopsychosozialen Grundlagen der Stressreaktion. Es werden hier die biologische, die psychologische und die soziologische Perspektive voneinander unterschieden.
3.1.4.1 Biologische Perspektive
Das zentrale Nervensystem umfasst das Gehirn und das Rückenmark. Es ist für die Aufnahme und Verarbeitung der von außen eindringenden Reize sowie die Regulierung des Ablaufes aller Körperfunktionen zwischen den Organen und Systemen verantwortlich. Dabei teilt sich das vegetative Nervensystem in Sympathikus und Parasympathikus. Beide sorgen dafür, dass die körperliche Balance immer wieder hergestellt wird. Die Abstimmung und Steuerung der komplexen Körperfunktionen übernimmt das Hormonsystem durch ein Zusammenspiel von 30 Hormonen, die von den endokrinen Drüsen (z. B. Hypophyse, Schilddrüse, Nebenniere) gebildet werden. Die physische Stressreaktion läuft über zwei Stressachsen im Körper ab, an denen die genannten Systeme beteiligt sind: Zum einen über den sympathischen Zweig des autonomen Nervensystems – die Sympathikus-Nebennierenmark-Achse (SNA) – , der v. a. über die Freisetzung der Katecholamine Adrenalin und Noradrenalin wirksam wird, und zum anderen über die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HHNA), welche die Freisetzung des primären Stresshormons Cortisol steuert (Rusch, 2012, S. 31 f.). Im folgenden Abschnitt werden beide Achsen sowie deren Bedeutung für die Gesundheit des Menschen erläutert.
Sympathikus-Nebennierenmark-Achse:
Der Stressor setzt im Stammhirn Noradrenalin frei und aktiviert damit den Sympathikus. In Bruchteilen von Sekunden schütten die Nervenenden des Sympathikus ihrerseits Noradrenalin aus und setzen die Aktivierung der peripheren Organe in Gang (Hirn- und Rückenmarksnerven). Ferner stimuliert er das Nebennierenmark vermehrt Adrenalin freizusetzen, welches ins Blut gelangt und zahlreiche Veränderungen im Körper bewirkt (Rusch, 2012, S. 32). Bereits Cannon (1929) beschrieb, dass bei physischen und emotionalen Reizen wie Schmerz oder Wut die Menge des Hormons Adrenalin im Blut zunimmt und daraufhin Herzschlag, Blutdruck und Blutzuckerspiegel ansteigen und sich die Durchblutung von Herz, Gehirn und Muskulatur verbessert. Durch die periphere Ausschüttung der Katecholamine Adrenalin und Noradrenalin wird der Organismus in kurzer Zeit darauf vorbereitet, einer drohenden Gefahr durch eine „Kampf- oder Fluchtreaktion“ zu begegnen (Stein, 2007). Der Körper befindet sich in Alarmbereitschaft und ist zu schnellen Reaktionen befähigt. Prozesse, die in dieser Situation weniger bedeutsam sind, wie die Magen-, Darm- und Blasentätigkeit sowie die Durchblutung innerer Organe werden zurückgefahren (Rusch, 2012, S. 32).
Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse:
Die HHNA wurde erstmals von Selye (1936) beschrieben, der zuvor biochemische Reaktionen auf unterschiedlichste länger anhaltende Belastungen untersucht hatte. Bei länger dauernden Stressreaktionen startet der Körper eine Gegenreaktion, um die Alarmbereitschaft zurückzufahren und den damit einhergehenden hohen Energieverbrauch zu drosseln. Für diesen Vorgang ist der zweite Strang des vegetativen Nervensystems, der Parasympathikus, verantwortlich. Über Gehirnsignale von Hypothalamus und Hypophyse wird ein Botenstoff ausgesendet, der die Nebennierenrinde zur Produktion von Cortisol stimuliert (Rusch, 2012, S. 32). Cortisol wirkt beruhigend auf den Kohlenhydrat-, Fett-, und Eiweißstoffwechsel, was für die Bewältigung von Stress von wesentlicher Bedeutung ist. Aus diesem Grund wird Cortisol häufig als „Stresshormon“ bezeichnet (Stein, 2007). Damit die hormonelle Stressreaktion nicht überhandnimmt, besitzt das System einen Rückkopplungsmechanismus. Dieser sorgt dafür, dass die Höhe des Cortisolspiegels im Blut an die übergeordneten Schaltstellen im Hypothalamus und in der Hypophyse zurückgemeldet wird (negative Rückkopplung; Kaluza, 2011, S. 19).
Stress als Abweichung von der Homöostase:
Nach Kaluza (2011, S. 15) bezeichnet der Begriff Stress einen psychophysischen Zustand, in dem Abweichungen von der Homöostase vorliegen, die durch die verfügbaren, routinemäßigen Reaktionen des Individuums nicht kompensiert werden können. Bereits vor mehr als einem Jahrhundert beschrieb der französische Physiologe Claude Bernard, dass Organismen danach streben, ein beständiges „inneres Milieu“ aufrechtzuerhalten. Cannon (1929) prägte dafür den Begriff der Homöostase. Das innere Milieu reagiert sehr störanfällig auf Veränderungen der Außenwelt. Der Organismus versucht daher im Energieaustausch mit der Umwelt Sollwerte seiner physiologischen Systeme durch beständige Anpassungsprozesse einzuhalten. Dies erfolgt mithilfe endokriner und autonom-nervöser Steuerungsvorgänge in Form von Regelkreisen, bei denen der Istwert kontinuierlich mit dem Sollwert verglichen und bei Abweichungen dem Sollwert durch geeignete Systemveränderungen angeglichen wird, Abweichungen innerhalb einer gewissen Schwankungsbreite werden jedoch toleriert. Dabei handelt es sich um ein Fließgleichgewicht, bei dem die Istwerte dauernd um den Sollwert schwanken. Diese homöostatische Selbstregulation funktioniert nur, solange die äußeren Lebensbedingungen weitestgehend konstant bleiben bzw. solange der Organismus in einer weitgehend unveränderlichen Lebensumwelt bleibt. Große Soll-Ist-Diskrepanzen, die durch starke, plötzliche oder neuartige Störungen in der Umwelt oder vom Organismus selbst durch das Aufsuchen neuer Reizumgebungen aktiv herbeigeführt werden, können durch die verfügbaren routinemäßigen Reaktionen nicht kompensiert werden (Kaluza, 2011, S. 15). Es kommt zur „Notfallreaktion“ (Cannon, 1929), die der Stressreaktion gleichgesetzt werden kann. Die Reize, die die Abweichungen der Homöostase bewirken, sind die Stressoren. Evolutionsbiologisch betrachtet stellte die Entwicklung der Stressreaktion besonders für jene Lebewesen, die bewegungsfähig und in der Lage waren, ihre Umgebung zu wechseln, einen entscheidenden Vorteil für das Überleben dar. Andererseits waren Lebewesen mit starren, instinktiven Verhaltensweisen insbesondere in unvorhersehbaren Gefahrensituationen in erheblichem Nachteil (Hüther, 2014, S. 22 ff.).
Akute körperliche Stressreaktionen:
Hans Selye war der erste, der die körperliche Stressreaktion systematisch untersuchte. Er bezeichnete diese als Allgemeines Anpassungssyndrom (AAS; Selye, 1936). Damit brachte er zum Ausdruck, dass es sich um eine unspezifische Reaktion eines Organismus auf jedwede Art von Belastung handelt, die der Anpassung des Organismus an diese Belastung dient. Zu den kurzfristigen körperlichen Auswirkungen der Stressreaktionen zählen (Kaluza, 2011, S. 15 f.):
- Atmung: Die Bronchien erweitern sich und die Atmung wird schneller. Daraus folgt eine gesteigerte Sauerstoffaufnahme.
- Herz-Kreislauf: Das Herz wird schneller durchblutet. Die Herzschlagrate sowie der Blutdruck steigen an. Die Blutgefäße des Herzens, des Gehirns sowie der großen Arbeitsmuskeln weiten sich. Gleichzeitig verengen sich die Blutgefäße der Haut, der Körperperipherie und des Verdauungstraktes. Auf diese Weise kommt es zur Umverteilung des Blutes mit dem Ergebnis einer verbesserten Durchblutung und Energieversorgung von Herz, Gehirn und Muskulatur.
- Muskulatur: Die Durchblutung der Skelettmuskulatur wird verbessert und damit die Versorgung mit Sauerstoff und Energie in Form von Fetten zur Verbrennung in den Muskeln sichergestellt. Die Muskelspannung sowie die Reflexgeschwindigkeit sind erhöht, der Körper bereitet sich auf Muskelarbeit vor.
- Stoffwechsel: Zuckerreserven aus der Leber werden vermehrt in das Blut abgegeben (Glukoneogenese) und besonders für den Verbrauch im Gehirn bereitgestellt. Fettsäuren aus den Fettvorräten des Körpers werden freigesetzt (Lipolyse) und zur Verbrennung in den Muskeln ins Blut abgegeben. Parallel wird die Verdauungstätigkeit von Magen und Darm gehemmt. Der Speichelfluss reduziert sich. Der Organismus stellt sich auf eine katabole Stoffwechsellage, d. h. auf Energieverbrauch ein.
- Sexualität: Das sexuelle Verlangen (Libido) verringert sich und die Freisetzung von Sexualhormonen wird reduziert. Auch die Genitalhormone werden weniger durchblutet, die Hoden des Mannes produzieren weniger Spermien.
- Immunsystem: Unter akuter Stressbelastung kommt es zu einem Anstieg der natürlichen Killerzellen im Blut. Dadurch können Fremdkörper, die beispielsweise über offene Wunden in die Blutbahn gelangt sind, schnell erkannt und unschädlich gemacht werden. Allerdings drosselt das Immunsystem bereits nach 30-60 Minuten seine Funktionen, um überschießende Immunreaktionen in Form von allergischen Reaktionen zu verhindern und Entzündungsreaktionen zu dämpfen.
- Schmerz: Durch die vermehrte Ausschüttung körpereigener Schmerzhemmstoffe, der Endorphine, kommt es zu verminderter Schmerzempfindlichkeit bis hin zur so genannten Stress-Analgesie.
Neuronale Stressreaktionen:
Die vorab dargestellte körperliche Stressreaktion wird erst durch ein kompliziertes Zusammenspiel zwischen dem zentralen und dem vegetativen Nervensystem sowie dem Hormonsystem möglich. In diesem Abschnitt werden einzelne Aspekte aus den komplexen neuronalen, endokrinen und vegetativen Prozessen herausgegriffen, die für das Verständnis der wichtigsten Wirkungszusammenhänge notwendig sind. Die neuronalen Stressreaktionen spielen sich auf mehreren Ebenen ab, die miteinander interagieren. An der zentralen Auslösung der peripheren Stressreaktion sind v. a. die folgenden Hirnteile beteiligt (Kaluza, 2011, S. 17):
Der Neokortex ist der phylogenetisch jüngste Teil des menschlichen Gehirns und für die Wahrnehmung sowie alle kognitiven Prozesse zuständig, er ist gewissermaßen das „Denkhirn“. Die Wahrnehmung neuartiger und als bedrohlich eingestufter Reize geht mit einer unspezifischen Aktivierung des präfrontalen assoziativen Kortex einher, einer Hirnregion, die insbesondere für die Interpretation sensorischer Informationen und für die Antizipation von Ereignissen verantwortlich ist. Beim limbischen System handelt es sich um ein gürtelförmig um den Hirnstamm gruppiertes Areal neuronaler Netze, die über vielfältige auf- und absteigende Bahnen eine Verbindung zwischen dem Kortex und älteren, tiefer gelegenen Hirnregionen herstellen. Das limbische System ist die erste Schaltstelle für die Verarbeitung von sensorischen Informationen (Thalamus) und hat eine zentrale Bedeutung für die Entstehung von Emotionen (Amygdala) sowie für die Regulation vegetativer Funktionen (Hypothalamus), gewissermaßen ist es daher das „Eingeweide- und Gefühlshirn“. Der Hirnstamm ist der phylogenetisch älteste Teil des Gehirns. Hier wird u. a. die Motorik gesteuert. Gelegentlich bezeichnet man es als „Reptiliengehirn“. Im Übergang vom Gehirn zum Rückenmark befindet sich ein kleines Zellkerngebiet, der Locus coeruleus („blauer Kern“), welches für die Stressreaktion von besonderer Bedeutung ist. Diese Nervenzellen produzieren etwa drei Viertel des gesamten Noradrenalins im Gehirn, einen der wichtigsten Neurotransmitter, der auch bei der Auslösung der Stressreaktion eine entscheidende Rolle spielt.
Bei der Konfrontation mit einem neuen Reiz (potentieller Stressor) werden die einkehrenden Informationen in den drei beschriebenen Hirnteilen verarbeitet und zwischen ihnen weitergeleitet. Unter Umständen kommt es zu einer Stressreaktion. Laut Kaluza (2011, S. 17) geschieht dies folgendermaßen: Die von den Sinneszellen übermittelten Informationen laufen zunächst im Thalamus zusammen. Hier entsteht ein erstes, aber sehr ungenaues Bild der Situation. Dieses Bild wird an die Hirnrinde weitergeleitet, in der eine genauere Verarbeitung der Information stattfindet. Bei der Wahrnehmung einer Gefahr breitet sich die Aktivierung der assoziativen Kortexareale in tiefer liegende Hirnregionen des limbischen Systems aus. Die Amygdala, der Mandelkern, in dem phylogenetisch alte Emotionsprogramme gespeichert sind, ist hier von besonderer Bedeutung. Durch die Aktivierung dieser Emotionsprogramme kommt es zu einer kortikalen Erregung, der eine Qualität (Angst, Wut, Trauer) zugeordnet wird. Über absteigende Nervenfasern kommt es zur Stimulierung des zentralen noradrenergen Systems, des Locus coeruleus. Die dadurch ausgelöste vermehrte Freisetzung des Neurotransmitters Noradrenalin bewirkt eine unmittelbare Stimulierung der SNA. Sofern es innerhalb der sympathischen Aktivierungsprozesse zu einer schnellen Bewältigung der als bedrohlich eingestuften Situation kommt, erlischt die initiale Aktivierung und die Stressreaktion wird beendet. Nach geringer Zeit zerfällt das Noradrenalin und die sympathische Aktivierung nimmt ab. Der Körper beruhigt sich. Andernfalls erweist sich die Situation als schwerer kontrollierbar und die Aktivierung bleibt bestehen, Noradrenalin wird weiterhin freigesetzt, die dauerhafte sympathische Aktivierung wird aufrechterhalten und breitet sich in höher liegende Hirnregionen aus. Das führt zu einer verstärkten Aktivierung des präfrontalen Kortex und des limbischen Systems, v. a. der Amygdala. Es kommt zu einem sich aufschaukelnden und ausbreitenden Erregungsmuster zwischen Kortex, limbischem System und Hirnstamm, welches schließlich spezielle Kerngebiete im Hypothalamus erfasst. Die Aktivierung der hypothalamischen Neurone führt zur Stimulierung der zweiten Stressachse, der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse.
In den bisherigen Darstellungen wurde das Gehirn ausschließlich als Ausgangspunkt der Stressreaktion betrachtet, es ist jedoch zugleich ihr Zielorgan. Der Neurobiologe Hüther (2014, S. 30) spricht in diesem Zusammenhang vom „Zentralen Adaptationssyndrom“. Sowohl Noradrenalin als auch Adrenalin haben weitreichende Auswirkungen auf die Funktionsweise des Gehirns. Von besonderer Bedeutung sind dabei die Auswirkungen der beiden Stresshormone auf neuronalen Verschaltungen im Gehirn. Forschungsergebnisse weisen darauf hin, dass Noradrenalin zu einer Stabilisierung bereits vorhandener neuronaler Schaltkreise beiträgt, während chronisch erhöhte Cortisolspiegel eher zur Destabilisierung und Degeneration neuronaler Schaltkreise führen. Das während einer Stressreaktion freigesetzte und im Blut vorhandene Cortisol gelangt problemlos ins Gehirn. Dort bewirkt es in Abhängigkeit von Dosis und Dauer der Einwirkung nachhaltige Veränderungen der Nervenzellen. Langanhaltender Stress und die damit einhergehende Cortisolausschüttung führen zur Unterdrückung der Synthese und Ausschüttung von neurotrophen Faktoren. Zudem reduziert sich die Zahl der Rezeptoren für eine Reihe von Neurotransmittern (Serotonin, Dopamin, Noradrenalin), woraus eine Störung der Kommunikation zwischen den Nervenzellen resultiert (Kaluza, 2011, S. 20).
3.1.4.2 Soziologische Perspektive
Formen und Merkmale von Stressoren:
Wie erwähnt werden Störgrößen, die die physische und psychische Homöostase gefährden, als Stressoren bezeichnet. Sie können körperlicher, physikalischer oder auch chemischer Art sein und sie können im Informationsaustausch mit der Umwelt oder in der sozialen Interaktion entstehen. In diesem Zusammenhang geht es nicht um die Einhaltung physiologischer Sollwerte bzw. die Erfüllung vitaler körperlicher Bedürfnisse, die Homöostase ist hier aufgrund der Bedrohung selbstwertrelevanter Sollwerte in Form von zentralen psychischen Motiven und Bedürfnissen (Anerkennung, Sicherheit, Kontakt, Selbstverwirklichung) gefährdet. Starke Abweichungen von psychischen Sollwerten bewirken ebenso wie die Soll-Ist-Diskrepanzen in den physiologischen Systemen eine Auslösung von Stressreaktionen (Kaluza, 2011, S. 28). Hüther (1997) postuliert, dass die wichtigsten und häufigsten Ursachen für die Aktivierung chronischer Stressreaktionen psychosoziale Konflikte, die Unerreichbarkeit von gesteckten Zielen, die Unerfüllbarkeit von Wünschen und Bedürfnissen oder ein Überschuss an Informationen sind. Ob und inwieweit einer Situation Stressorqualität zukommt, kann streng genommen erst im Nachhinein und anhand der aufgetretenen Reaktion entschieden werden. Dennoch lassen sich einige übergreifende Merkmale nennen, durch die jene Situationen charakterisiert werden können, in denen Stressreaktionen wahrscheinlich sind (Kaluza, 2011, S. 28): Die Intensität und Dauer, der Grad der Bekanntheit bzw. Neuheit, die verhaltensmäßige Kontrollierbarkeit, die Vorhersehbarkeit, die Mehrdeutigkeit bzw. Transparenz der Situation und die persönliche Valenz („ego-involvement“). Stressreaktionen werden durch die genannten Situationsmerkmale nicht vollständig determiniert.
Die im Folgenden erläuterten Einflussfaktoren – kritische Lebensereignisse, Arbeits- und Alltagsbelastungen – spielen bei der Entstehung von Stress ebenso eine wichtige Rolle.
Kritische Lebensereignisse:
In den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts etablierte sich die Life-Event-Forschung als eigenständiger Bereich der Stressforschung. Seitdem untersuchten zahlreiche Studien die gesundheitlichen Folgen kritischer Lebensereignisse („life events“ (Brown & Harris, 1989; Filipp & Aymanns, 2010). So konnte wissenschaftlich nachgewiesen werden, dass einschneidende Lebensereignisse wie Tod des Partners, Geburt eines Kindes, Trennung oder Scheidung, Umzug oder Arbeitsplatzwechsel nicht zu unterschätzende Stressoren darstellen (Dohrenwend & Dohrenwend, 1974; Filipp, 1981; Geyer, 1999). Nach Holmes und Rahe (1967) kann jegliche Art der Abweichung von täglicher Routine, die vom Individuum eine lebensverändernde Anpassung oder Umstellung erfordert, als belastend wahrgenommen werden. Die Konfrontation mit einer Vielzahl von kritischen Lebensereignissen innerhalb eines bestimmten Zeitraums kann somit für den betroffenen Menschen starke Belastungen mit sich bringen, die sich krankheitsauslösend und/oder -verstärkend auswirken können. Holmes und Rahe publizierten aufgrund ihrer Beobachtung über das zeitliche Zusammentreffen von wichtigen Ereignissen im Leben eines Menschen und dem Auftreten von Krankheiten die so genannte „Social Readjustment Rating Scale“ (SRRS), die 43 prägnante Lebensereignisse oder Lebensveränderungen enthält. Anhand entsprechender empirischer Forschungsbefunde war es möglich, jedes dieser Ereignisse aufgrund des damit verbundenen notwendigen Anpassungsausmaßes mit einer bestimmten Punktzahl („life change units“; LCU) zu gewichten. In der überwiegenden Zahl der Studien wurde zumeist eine statistische Signifikanz zwischen dem LCU-Summenwert einerseits und dem Auftreten unterschiedlichster körperlicher und psychischer Störungen andererseits gefunden. Insgesamt sind jedoch eher die subjektive Wahrnehmung, Bewertung und Verarbeitung eines kritischen Lebensereignisses dafür verantwortlich, ob es zu einer gesundheitlichen Schädigung kommt, als das Eintreten des Ereignisses an sich (Kaluza, 2011, S. 29).
Arbeitsbelastungen:
Während bei Kindern und Jugendlichen stressbehaftete Situationen vor allem mit den zentralen Lebenswelten Familie und Schule verbunden sind, kommt im Erwachsenenalter der Arbeit eine zentrale Bedeutung zu. Neue Herausforderungen in der Arbeitstätigkeit und -organisation wie zunehmende Bildschirmtätigkeit oder zeitliche und örtliche Flexibilisierung führen zu einem veränderten arbeitsbedingten Belastungs- und Krankheitsspektrum. Neben körperlichen Belastungen und damit verbundenen Erkrankungen und Arbeitsunfällen sind vor allem kognitive psychosoziale Belastungen in den letzten Jahren gestiegen (Walter, 2006, S. 131). Erfolg im Beruf ist zudem häufig das alleinige Kriterium, welches den Platz und Wert des einzelnen Menschen in der Gesellschaft bestimmt (Heide, 2000). Aus den genannten Anforderungen heraus hat sich die soziologisch orientierte Stressforschung entwickelt. Die beiden „wichtigsten“ Modelle dieser Forschungsrichtung werden im Folgenden kurz dargestellt und erläutert:
Nach dem „Anforderungs-Kontroll-Modell“ (Karasek & Theorell, 1990) sind stressgefährdete Arbeitsplätze vor allem durch hohe quantitative Arbeitsanforderungen und einen geringen Grad an Kontrolle über den Arbeitsablauf bzw. einen geringen Entscheidungsspielraum am Arbeitsplatz gekennzeichnet. Betroffene können ihre Aufgabe nicht aktiv und erfolgsgesteuert bearbeiten und machen die Erfahrung, wesentliche Aspekte ihrer Umwelt nicht kontrollieren zu können. Klassisches Beispiel ist die Fließbandarbeit, wobei eine vergleichbare Konstellation auch in vielen Dienstleistungsberufen besteht. Ganz unabhängig von ihrem erblichen oder verhaltensbedingten Risiko sind Inhaber solcher Arbeitsplätze zwei- bis viermal mehr gefährdet vorzeitig, d. h. im Alter zwischen 35 und 65 Jahren, kardiovaskuläre Krankheiten zu entwickeln (Karasek, Bauer, Marxer & Theorell, 1981). Fehlt außerdem der soziale Rückhalt am Arbeitsplatz durch Kollegen und Vorgesetzte und Beschäftigte haben das Gefühl alleine gelassen bzw. nicht unterstützt zu werden, so erhöht sich das kardiovaskuläre Risiko noch weiter (Johnson & Johansson, 1991). Ergebnisse internationaler epidemiologischer Studien weisen darauf hin, dass ein geringer Handlungs- und Entscheidungsspielraum in Kombination mit hohen Anforderungen eine Risikoverdopplung für das Auftreten von kardiovaskulären Erkrankungen sowie depressiven Störungen zur Folge hat (Siegrist & Dragano, 2008).
Im „Modell der beruflichen Gratifikationskrisen“ (Siegrist, 1996) steht nicht der Aspekt der Kontrollierbarkeit einer Arbeitsaufgabe im Vordergrund, sondern die Belohnung, die für eine vollbrachte Arbeitsaufgabe gewährt wird. Missverhältnisse zwischen hoher Verausgabung am Arbeitsplatz und geringer Belohnung werden in diesem Modell als Distress erzeugende Gratifikationskrisen betrachtet. Als Belohnungen werden hierbei nicht nur monetäre Entlohnung, sondern auch Anerkennung für eine erbrachte Leistung sowie berufliche Aufstiegsmöglichkeiten und Sicherheit des Arbeitsplatzes angesehen. Hohe Verausgabung entsteht nicht nur durch externe Anforderungen wie Zeitdruck, sondern ebenso durch eine individuelle Verausgabungsbereitschaft. Alle für das Modell der beruflichen Gratifikationskrisen vorliegenden internationalen prospektiven epidemiologischen Studien zeigen, dass die Kombination von hoher Verausgabung und niedriger Belohnung zur Erhöhung des Risikos für kardiovaskuläre Erkrankungen um das Zwei- bis Viereinhalbfache sowie für depressive Störungen um das Eineinhalb- bis Dreieinhalbfache führt (Siegrist & Dragano, 2008). Zudem konnten Maslach und Leiter (2001) in ihren umfassenden Untersuchungen zum Burn-out-Syndrom sechs strukturelle Bedingungen der modernen Arbeitswelt identifizieren, welche zu lang anhaltenden Belastungen und schließlich zur Erschöpfung führen: Arbeitsüberlastung, Mangel an Kontrolle, unzureichende Belohnung, Zusammenbruch der Gemeinschaft, Fehlen von Fairness und widersprüchliche Werte.
Insgesamt kann festgehalten werden, dass besonders stressgefährdete Arbeitsplätze durch eine Kombination von hohen quantitativen und/oder qualitativen Anforderungen mit geringen Handlungs- und Entscheidungsspielräumen und fehlender sozialer Unterstützung am Arbeitsplatz sowie mangelnder Anerkennung der Arbeitsleistung gekennzeichnet sind (Kaluza, 2014, S. 58).
Alltagsbelastungen:
Alltagsbelastungen („daily hassles“) sind meistens noch stärker mit Gesundheitskriterien verbunden als kritische Lebensereignisse (Kanner, Coyne, Schäfer & Lazarus, 1981; Lazarus, 1984). Nach Lazarus und De Longis (1983, S. 247) sind darunter „irritating, frustrating, distressing and troubled relationships that plague us day in day out“ zu verstehen. Von ausgesprochener Bedeutung sind chronische, d. h. lang andauernde Belastungen sowie häufig wiederkehrende Belastungen im Alltag eines Individuums. Dazu zählen (Kaluza, 2011, S. 32):
- Belastungen, die bei der Erfüllung von Aufgaben in Beruf, Familie und Freizeit entstehen
- Belastungen, die sich aus der Interaktion mit anderen Menschen in Form von psychosozialen Konflikten und Spannungen ergeben
- Belastungen, die sich aus sich unfreiwillig aufdrängenden Gedanken ergeben: Gedankliche Beschäftigung mit vergangenen negativen Ereignissen oder Antizipation zukünftiger negativer Ereignisse
- Belastungen, die sich aus der Überflutung mit Informationen, dem zunehmenden Zwang zur Mobilität sowie der Überhäufung mit Konsumgütern ergeben.
3.1.4.3 Psychologische Perspektive
Das transaktionale Stresskonzept:
Innerhalb der psychologischen Stressforschung nehmen kognitive Stressmodelle eine zentrale Stellung ein. Sie befassen sich mit der Wahrnehmung, Informationsverarbeitung und Problemlösung von Reizen. Ein Reiz, der eine bestimmte Intensität überschreitet, ist jedoch nach kognitionspsychologischer Sichtweise nicht (wie bei Selye) per se ein Stressauslöser. Erst die subjektive Interpretation des Reizes entscheidet, ob er als Stress auslösend empfunden wird. Der wichtigste Vertreter kognitiver Stressmodelle, Richard Lazarus, sieht Stresssituationen als komplexe Wechselwirkungen zwischen den Anforderungen der Situation und der handelnden Person (Walter, 2006). Nach der Stresstheorie von Lazarus und Folkman (1984) ist psychologischer Stress eine besondere Beziehung zwischen der Person und der Umwelt, die vom Individuum als etwas bewertet wird, was seine Ressourcen beansprucht oder überfordert und sein Wohlbefinden gefährdet. Stress kann also nicht objektiv definiert werden. Entscheidend ist vielmehr die Art und Weise, wie jemand die Umwelt wahrnimmt und die jeweilige Situation bewertet. Lazarus und Folkman berücksichtigen in diesem Ansatz somit auch interindividuelle Unterschiede. Die Basis jeder Situationsbewertung sind persönliche „Sollwerte“. Diese sind im Laufe der Biografie geformte individuelle Ausprägungen menschlicher Grundbedürfnisse wie das Bedürfnis nach Liebe, Intimität und Zugehörigkeit, nach Selbstverwirklichung und Autonomie sowie nach Umweltkontrolle und Sicherheit (Kaluza, 2011, S. 34). Stress entsteht, wenn das persönliche Wohlbefinden durch eine zu starke Abweichung von den individuellen Sollwerten gefährdet erscheint (Lazarus & Folkman, 1984). Neben der Situationsbewertung spielt das Coping, d. h. die Bewältigungsstrategie, im transaktionalen Stressmodell von Lazarus eine bedeutende Rolle. Darauf wird an späterer Stelle dieser Arbeit noch detaillierter eingegangen.
Präkognitive Emotionen:
Bei den im Stressmodell von Lazarus beschriebenen kognitiven Bewertungsprozessen handelt es sich nur selten um bewusst und willentlich durchgeführte Denkoperationen, vielmehr laufen sie stark automatisiert ab und beruhen auf Erfahrungen, grundsätzlich sind sie jedoch einer bewussten Reflexion zugänglich. Emotionale und körperliche Stressreaktionen sind oftmals schneller als die Kognitionen, d. h. bevor sich die Person mit der belastenden Situation auseinander setzen konnte, werden reflexartige körperliche Stressreaktionen wie Herzklopfen, Schwitzen, Muskelanspannung etc. ausgelöst (Kaluza, 2011, S. 36). Die moderne Hirnforschung fand heraus, dass das limbische System, das „Gefühlshirn“, den eigentlichen Denkprozessor, die Hirnrinde, etwa wie bei einem Kurzschluss umgehen kann und für dieses Phänomen sorgt. Zunächst werden alle Informationen, die von den Sinnesorganen stammen, an den Thalamus, einen Teil des limbischen Systems, und von dort aus an die Hirnrinde weitergeleitet. In der Hirnrinde werden nun alle Rohsignale verarbeitet und interpretiert. Die verarbeiteten Sinnesreize werden an die Amygdala übermittelt, in der emotionale Prozesse gespeichert sind und ausgelöst werden (Le Doux, 1999). Le Doux konnte weitere Reizleitungen entdecken, die ihren direkten Weg vom Thalamus zur Amygdala einschlagen und dort schnelle emotionale Reaktionen auslösen. Demnach können Gefühle ungefiltert vom Bewusstsein ausgelöst werden und das Verhalten beeinflussen. In bedrohlichen Situationen kann diese Kurzschlusshandlung lebensrettend sein. Andererseits können körperliche und emotionale Stressreaktionen auftreten, die sich im Nachhinein betrachtet als unangemessen herausstellen. Emotionen eilen den Kognitionen zwar voraus, sind jedoch einer bewussten Reflexion zugänglich und durch eine Umbewertung der Situation schließlich auch veränderbar (Kaluza, 2011, S. 36). Übungen zur Entwicklung einer „inneren Achtsamkeit“ haben sich diesbezüglich als hilfreich erwiesen (Kabat-Zinn, 1998; Linehan, 1996).
Stressverschärfende Einstellungen:
Habituelle, biografisch gewordene Einstellungen und Motivkonstellationen präformieren die individuellen Bewertungsprozesse innerhalb des Stressgeschehens. Diese so genannten stressverschärfenden Einstellungen prägen den Stil der Bewertung und des Umgangs mit Alltagsbelastungen. Laut Kaluza (2011, S. 37) tragen vor allem drei unterschiedliche Komplexe von Einstellungen und Motiven zur Entstehung aktueller stressbezogener Transaktionen bei: Perfektionistische Kontrollambitionen, Arbeitssucht und enttäuschte Erwartungen. Zwischen den genannten Komplexen bestehen fließende Übergänge, Mischformen und Abstufungen. Die Gedanken der Betroffenen, die unter perfektionistischen Kontrollambitionen leiden, werden von einem starken Bestreben dominiert, möglichst alles in ihrer Umgebung unter Kontrolle zu haben. Dies zeigt sich in Perfektionismus, der Unfähigkeit zu delegieren, Ungeduld/Reizbarkeit/Irritierbarkeit bei Störungen und in der Verdrängung von Entspannungsbedürfnissen. Oftmals fehlt ihnen das Vertrauen in die Geordnetheit und Verlässlichkeit der Welt sowie in die Zuverlässigkeit anderer Personen. Das ständige Bemühen um Kontrolle zehrt schließlich an den Energiereserven der Betroffenen und bringt sie in Erschöpfungskrisen, die sie selbst nicht wahrnehmen. Arbeitssucht („workaholism“) beschreibt hingegen einen unaufhörlichen Drang oder Zwang, ständig an die Arbeit zu denken. Das beobachtbare Verhalten Arbeitssüchtiger überlappt sich in vielerlei Hinsicht mit dem Verhalten eines Menschen mit perfektionistischen Kontrollambitionen. Während sich bei Letzteren das Kontrollbestreben auf außerberufliche Lebensbereiche wie das Familienleben oder die Hobbies erstreckt, bezieht es sich bei Arbeitssüchtigen ausschließlich auf die Arbeit. Zwischen normalem und süchtigem Arbeitsverhalten besteht keine klare Grenze. In der Literatur wird Arbeitssucht jedoch oft als Übersteigerung des normalen, erwünschten Lebensstils in der Arbeitsgesellschaft dargestellt, in der die Arbeit den Lebensmittelpunkt und das Zentrum der eigenen Identität bildet. Sehnsucht nach Anerkennung, ein labiles Selbstbewusstsein sowie Versagensängste sind manchmal der Hintergrund für die Entstehung einer Arbeitssucht.
Eine weitere stressverschärfende Einstellung auf dem Weg hin zum Burn-out bilden enttäuschte Erwartungen. Meist beginnt dieser Entwicklungsweg mit einer idealistischen, enthusiastischen Anfangsphase. Betroffene sind stark engagiert, ideenreich, stecken sich hohe Ziele, sind optimistisch und überschätzen ihre Möglichkeiten. Nach einiger Zeit schleichen sich Frustrationen ein, weil sich die gesteckten Ziele nicht erreichen lassen oder nur unter unvertretbar hohem Aufwand zu realisieren sind. Anstatt sich von dem unerreichbaren Ziel zu distanzieren und sich neu zu orientieren, arbeiten sie so lange an diesem Ziel, bis die Energielosigkeit eintritt. Allmählich schleichen sich Gefühle der Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit ein. Der emotionale und soziale Rückzug beginnt und der Weg ins Burn-out ist geebnet (Kaluza, 2011, S. 39 f.).
3.1.5 Stressmodelle
Seit der Einführung des Stressbegriffs durch Selye haben verschiedene Stresstheorien versucht, den Zusammenhang zwischen Stressoren und Stressreaktion darzustellen. Dabei haben sich die Modelle mit wachsendem Erkenntnisstand weiterentwickelt (Rusch, 2012, S. 21).
Folgender Abschnitt beschäftigt sich mit grundlegenden Stressmodellen und stellt diejenigen, die den jetzigen Erkenntnistand besonders geprägt haben, ausführlicher dar. Die im Vorangegangen dargestellten Definitionen und Merkmale des Stressbegriffs werden erweitert und vertieft, zunächst zeigt Tabelle 1 jedoch eine Übersicht der bekanntesten wissenschaftlichen Stresstheorien.
Tab. 1: Übersicht verschiedener Stressmodelle (modifiziert nach Walter, 2006, S. 64)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
3.1.5.1 Cannon und Selye
Walter Cannon beschreibt mit seiner Theorie „Flight-or-fight“ den physiologischen Vorgang einer Stressreaktion. Das Stammhirn hat dabei eine wesentliche Bedeutung: Es reagiert reflexartig auf alles Unerwartete. In kürzester Zeit wird in diesem Gehirnsektor die Bedrohlichkeit der Situation eingeschätzt und die Entscheidung zu einer der alternativen Reaktionsmöglichkeiten („Kämpfen oder Fliehen“) getroffen. Laut Cannon ruft ein Stressor einen Fluchtmechanismus hervor, der auf der Ausschüttung von Adrenalin, Noradrenalin sowie der Sympathikuswirkung beruht. Dazu gehören u. a. Erhöhung der Durchblutung, gesteigerte Herzaktivität und Blockierung des Magen-Darm-Traktes. Der menschliche Organismus arbeitet unter Stress somit auf Hochtouren. Die Bewältigung des stresserzeugenden Reizes durch Kampf- oder Fluchtverhalten war in der Zeit der „Jäger und Sammler“ sinnvoll und überlebensnotwendig. Heute äußern sich die körperlichen Reaktionen immer noch auf dieselbe Art und Weise. Bei Stress wird die gesamte Energie für die Muskelkraft mobilisiert und bereitgestellt. Die Muskulatur verkrampft und es entsteht ein Überschuss an angestauter Energie im Körper (Cannon, 1929). Selye sah, ebenso wie Cannon, in Stress die unspezifische Reaktion des Organismus auf jede Art von Störung der Homöostase und unterschied dabei Stressoren (Reize) von Stress (Reaktion). Er beobachtete, dass Stress nicht immer gesundheitsschädlich sein muss und sowohl positiv (Eustress) als auch negativ (Distress) erlebt werden kann. Im Fokus seiner biologischen Stresstheorie stand für ihn als Endokrinologen zunächst die körperliche, insbesondere die hormonelle Veränderung im Organismus durch physikalische oder chemische Reize (Walter, 2006, S. 64 ff.). Seine Erkenntnisse gewann er durch Untersuchungen an Laborratten, denen er eine Substanz aus den Eierstöcken von Rindern injizierte. Er stellte fest, dass sie Symptome zeigten, die sonst bei körperlicher Schädigung durch Belastung auftraten: Die Nebenniere wuchs an und entleerte ihre Sekrete, Thymus, Milz, Lymphknoten und andere lymphatische Strukturen schrumpften, in Magen und Darm traten Geschwüre auf. Das von Selye beschriebene AAS, welches die Anpassung des Organismus an die Stressreaktion beschreibt, basiert auf dieser Grundlage und gliedert sich in drei Phasen (Rusch, 2012, S. 22 f.):
1. Alarmreaktion: In dieser Phase wird der Mensch mit der Gefahrensituation konfrontiert, sein Gleichgewicht wird gestört und er beginnt, alle seine Kräfte für die Stressbewältigung zu mobilisieren. Es kommt zur Sympathikus- und Nebennierenmarksaktivierung sowie zur Ausschüttung von Adrenalin. In dieser Alarmphase wird die Blutzufuhr zum Gehirn, zu den Muskeln und zum Herzen optimiert.
2. Widerstandsphase: In dieser Phase erreicht die Mobilisierung der Adaptionskräfte ihren Höhepunkt. Der Organismus leitet nun die Stressabwehr ein. Wird jedoch die Anforderungskapazität des Organismus deutlich überschritten, so erfolgt (theoretisch) der Tod. Reicht die Anpassungsfähigkeit aus, um der Situation standzuhalten, jedoch nicht um den Stress zu bekämpfen, tritt das Erschöpfungsstadium ein.
3. Erschöpfungsstadium: In diesem Stadium geht die Kapazität der Anpassungskräfte verloren. Der Organismus kann nicht mehr ausreichend Energie bereitstellen, er ist erschöpft und die Stressbewältigung kann nicht mehr gewährleistet werden.
3.1.5.2 Stressmodell von Lazarus
Im transaktionalen Stressmodell von Lazarus (1991) wird − wie bereits unter 3.1.4.3 dargestellt − davon ausgegangen, dass nicht die Beschaffenheit der Reize oder der Situation für die Stressreaktion von Bedeutung ist, sondern die individuelle kognitive Verarbeitung durch den Betroffenen. Jeder Mensch bewertet eine Belastung und die Bedrohlichkeit einer Situation somit verschieden. Lazarus unterscheidet dabei drei Stufen der Situationsbewertung (Bernhard & Wermuth, 2011, S. 35):
1. Primäre Bewertung („primary appraisal“): Situationen werden als positiv, irrelevant oder potentiell gefährlich (stressend) bewertet. Wird die Situation als stressend erlebt, erfolgt die Bewertung in weiteren drei verschiedenen Abstufungen: als Herausforderung, als Bedrohung oder als Schädigung/Verlust.
2. Sekundärbewertung („secondary appraisal“): Hier wird nun überprüft, ob die Situation mit den verfügbaren Ressourcen bewältigt werden kann. Wenn die Ressourcen ausreichend sind, kommt es zur Stressreaktion. Je nach Situation, Persönlichkeit und kognitiven Strukturen der Person wird eine Bewältigungsstrategie entworfen. Den Umgang mit dieser Bedrohung bezeichnet man als Coping. Mögliche folgende Verhaltensweisen sind Kampf oder Flucht, Verhaltensalternativen, Änderung der Bedingung oder Verleugnung der Situation. Je nach Erfolg oder Misserfolg der angewendeten Bewältigungsstrategie lernt das Individuum mit der Zeit zu selektieren.
3. Neubewertung („reappraisal“): Sie basiert auf dem Erfolg bzw. Misserfolg der angewandten Bewältigungsstrategie. Im positiven Fall lernt der Mensch, Bedrohungen als Herausforderungen zu sehen und kann damit Probleme adäquat lösen.
3.1.5.3 Salutogenetischer Ansatz
In den 1970er Jahren prägte Aaron Antonovsky (1923-1994) den Ausdruck „Salutogenese“ als komplementären Begriff zu Pathogenese. Nach seinem Salutogenese-Modell ist Gesundheit kein Zustand, sondern vielmehr ein Prozess, der durch das Kohärenzgefühl einer Person beeinflusst wird. Dieses Gefühl ist eine globale Orientierung und beschreibt, in welchem Ausmaß ein Mensch ein durchdringendes, existentielles Grundvertrauen in sein Dasein hat. Das Kohärenzgefühl besteht aus drei wesentlichen Faktoren (Bernhard & Wermuth, 2011, S. 32):
1. Gefühl von Verstehbarkeit (sense of comprehensibility): Die Fähigkeit des Menschen bekannte und unbekannte Reize und Wahrnehmungen als geordnete, konsistente, strukturierte Informationen verarbeiten zu können.
2. Gefühl von Handhabbarkeit bzw. Bewältigbarkeit (sense of manageability): Das Vertrauen des Menschen, dass ihm die Ressourcen zur Verfügung stehen, um den Anforderungen, die diese Reize und Wahrnehmungen stellen, zu begegnen.
3. Gefühl von Sinnhaftigkeit bzw. Bedeutsamkeit (sense of meaningfulness): Die Überzeugung, dass diese Anforderungen Herausforderungen sind, für die sich Anstrengung und Engagement lohnen.
Ein starkes Kohärenzgefühl erlaubt es dem Menschen, flexibel auf Anforderungen zu reagieren. Es mobilisiert die Ressourcen, die für die spezifische Situation erforderlich sind, und wirkt somit als flexibles Steuerungsprinzip, welches den Einsatz verschiedener Verarbeitungsmuster (Copingstrategien) in Abhängigkeit von den Anforderungen anregt (Bernhard & Wermuth, 2011, S. 32). Nach Antonovsky besteht das Geheimnis der Gesundheit darin, dass man sich die Welt auch in negativen Situationen erklären kann und dass man davon überzeugt ist, die Anforderungen des Lebens durch die eigene Kraft und/oder durch soziale Unterstützung anderer bewältigen zu können (Kaluza, 2011, S. 46).
3.1.6 Stressbewältigung
Ob und wie sich Belastungen auf die Gesundheit eines Menschen auswirken, hängt auch davon ab, welche Strategien vom Betroffenen bei der Auseinandersetzung mit diesen Belastungen angewendet werden. Diese Strategien werden unter dem Begriff der Bewältigung („Coping“) zusammengefasst, der neben der Bewertung („appraisal“) das zweite zentrale Konzept im Stressmodell von Lazarus darstellt (Kaluza, 2011, S. 50). Copingstrategien dienen dazu, die negativen Konsequenzen von Stressoren zu verhindern oder zu reduzieren (Krohne, 2009; Zapf & Semmer, 2004). Nach dem transaktionalen Stressmodell lassen sich hierbei folgende zwei Herangehensweisen unterscheiden (Greiner et al., 2012, S. 20):
Beim problemorientierten Coping („problem-focused forms of coping“) versucht die Person den Stressauslöser in der Person-Umwelt-Beziehung zu beheben. Dies geschieht, indem sie der zugrunde liegenden umwelt- oder personenbezogenen Ursache aktiv durch Handlungen entgegen tritt. Das emotionsorientierte Coping („emotion-focused forms of coping”) hingegen bezieht sich auf den Abbau der Emotionen, die durch den Stress ausgelöst werden (z. B. Ärger, Wut). Dies geschieht, indem die Person nicht mehr an das stressauslösende Ereignis denkt oder sich ablenkt. Dabei findet jedoch kein Eingriff in die Umwelt oder Situation statt. Neben den genannten Copingstrategien unterscheiden Lazarus und Folkman (1984; 1987) weitere Bewältigungsarten: Die Suche nach Informationen, direktes Handeln, Unterlassung von Handlungen und intrapsychisches Coping. Dabei kann jede dieser vier Arten unter bestimmten Umständen eine eher problemlösende oder emotionsregulierende Funktion erfüllen. Weber (1990) kritisiert dieses Modell als unzureichend und hält es für sinnreicher, nach subjektiven Intentionen, d. h. nach der persönlichen Funktionalität eines Verhaltens hinsichtlich der präferierten Ziele eines Individuums, anstatt nach Funktionen zu gliedern. Diese persönlichen Absichten lassen sich in vier verschiedene Facetten einteilen: Regulation von Emotionen, Lösung des zugrunde liegenden Problems, Erhaltung des Selbstwertes und Steuerung von sozialen Interaktionen.
Allgemein ist jedoch zu beobachten, dass Bewältigungsversuche meistens nicht nur einem Zweck dienen, sondern multifunktional sind (Laux & Weber, 1993). Hinzu kommt, dass bei einem bestimmten Problem oftmals verschiedenartige Copingstrategien nacheinander angewendet werden, da sie jeweils zu unterschiedlichen Zeiten sinnvoll sind und sich zudem in ihrer Wirkung ergänzen können. Zusätzlich existieren weitere Einflussfaktoren, die bei der Stressbewältigung hilfreich sein können (Greiner et al., 2012, S. 25). Im Folgenden werden drei verschiedene Bewältigungsformen eingehend beschrieben.
3.1.6.1 Proaktive Bewältigung
Copingstrategien lassen sich nach dem transaktionalen Stressmodell hinsichtlich ihres Ansatzpunktes in das bereits erläuterte problem- oder emotionsorientierte Coping unterteilen. Eine weitere Unterscheidung liegt in aufgabenbezogenem, emotionsbezogenem und Vermeidungscoping. Klassische Versuche, übergeordnete Dimensionen zu finden, implizieren ein reales oder hypothetisches Stressereignis, welches entweder schon stattgefunden hat oder in der Zukunft liegt. Laut Schwarzer (2004, S. 160) fehlt hierbei die positive Seite von Coping im Sinne eines Wachsens der Persönlichkeit, des Meisterns von Anforderungen sowie des Strebens nach Lebenszielen. Das Konzept „proaktives Coping“ entstand vor dem Hintergrund dieser Annahme und verfolgt die Blickrichtung, dass das Leben insgesamt stressreich ist und der Mensch ständig Belastungen ausgesetzt ist, inklusive der positiven Herausforderungen und Chancen (Aspinwall & Taylor, 1997; Schwarzer, 2000). Ergänzend zu den früheren Copingdimensionen wird eine systematische Unterscheidung zwischen reaktivem, antizipatorischem, präventivem und proaktivem Coping getroffen (Schwarzer & Knoll, 2003; Schwarzer & Taubert, 2002). Den vier alternativen Perspektiven von Coping liegt eine Zeitachse zugrunde sowie unterschiedliche Grade von Gewissheit über das fragliche Stressereignis (Schwarzer & Schulz, 2003). Abbildung 1 zeigt die vier Arten von Coping in einem zweidimensionalen System.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1: Vier Arten von Coping in einem zweidimensionalen System (Schwarzer, 2004, S. 161)
Reaktives Coping bezieht sich auf die Anstrengungen, mit einem bereits eingetretenen Ereignis umzugehen, z. B. indem Schaden oder Verlust kompensiert werden. Beispiele können Ehescheidung, ein Unfall oder Versagen im Beruf sein. Das Coping kann sich dann darauf ausrichten, Ziele umzudefinieren, Sinn zu suchen oder das Verlorene wiederherzustellen. Antizipatorisches Coping unterscheidet sich davon insofern, als das Stressereignis noch nicht stattgefunden hat. Es handelt sich dabei um die Bemühung mit einer bekannten bevorstehenden Bedrohung umzugehen. Als Beispiele können ein Zahnarztbesuch, eine anstehende Prüfung, ein öffentlicher Auftritt, die Pensionierung oder ein Abgabetermin genannt werden. Falls es der betreffenden Person nicht gelingt, diese Herausforderung zu bewältigen oder zu minimieren, können Schaden oder Verlust drohen. Beim präventiven Coping geht es um unbekannte potentielle Risiken in der Zukunft. Beispiele hierfür sind Ängste schwer zu erkranken, ein Opfer von Kriminalität zu werden oder in eine Naturkatastrophe verwickelt zu sein. Derartige Risiken motivieren Menschen dazu, sich für unvorhersehbare Ereignisse des Lebens vorzubereiten und Ressourcen aufzubauen. Dazu zählen das Abschließen einer Lebensversicherung oder das Anlegen von Geld. Proaktives Coping ist in mancher Hinsicht mit dem präventiven Coping vergleichbar. Auch hier geht es um die Langzeitperspektive und hohe Ungewissheit. Menschen, die sich proaktiv verhalten, bauen allgemeine Ressourcen auf, die ihnen bei einer erfolgreichen Lebensführung und der Zielerreichung helfen. Charakteristisch ist jedoch die positive kognitive Einschätzung über das Leben als Herausforderung durch selbst gesetzte Lebensziele. Proaktives Coping wird durch Selbstwirksamkeit begünstigt. Der Mensch ist der Überzeugung, dass er in der Lage ist, sich den Herausforderungen des Lebens stellen zu können, schwierige Ziele zu erreichen und sie gegen eventuell auftretende Widerstände verteidigen zu können (Schwarzer, 2004, S. 161 f.).
3.1.6.2 Individuelle und strukturelle Stressbewältigung
Um die vielfältigen Möglichkeiten der Stressbewältigung in eine gewisse Ordnung zu bringen, unterscheidet Kaluza (2011, S. 50 ff.) zwischen individueller und struktureller Stressbewältigung. Er charakterisiert zudem drei Hauptwege des individuellen Stressmanagements, die im Folgenden dargestellt werden.
Instrumentelles Stressmanagement:
Der Ansatzpunkt des instrumentellen Stressmanagements sind die Stressoren. Es geht darum diese zu reduzieren oder gar auszuschalten, indem beispielsweise der Arbeitsplatz umorganisiert wird oder Arbeitsabläufe verändert werden. Instrumentelles Stressmanagement erfolgt dabei auf konkrete, aktuelle Belastungssituationen und zielt proaktiv auf die Verringerung und Ausschaltung zukünftiger Belastungen ab. Es richtet sich zudem auf eine möglichst stressarme Gestaltung der eigenen Arbeits- und Lebensbedingungen aus. Beispiele für diesen Weg sind: Informationen suchen, Arbeitsaufgaben delegieren, persönliche Zeitplanung verändern, Fortbildungen besuchen, „Nein“ sagen, nach Unterstützung suchen und ein soziales Netzwerk aufbauen, Klärungsgespräche führen, Arbeitsaufgaben gezielt strukturieren sowie persönliche bzw. berufliche Prioritäten definieren Für die Erfüllung der jeweiligen Anforderungen sind eine ausreichende Sachkompetenz sowie sozial-kommunikative Kompetenzen und Selbstmanagementkompetenzen, d. h. die Fähigkeit zu eigenständigem und zielgerichtetem Handeln, erforderlich.
Kognitives Stressmanagement:
Der Ansatzpunkt dieses Weges liegt bei den stressverschärfenden persönlichen Motiven, Einstellungen und Denkmustern, also bei den persönlichen Stressverstärkern. Die Bewältigungsbemühungen beziehen sich sowohl auf aktuelle Bewertungen konkreter Belastungssituationen als auch auf situationsübergreifende, habituelle Bewertungsmuster. Vor allem geht es um die Veränderung von Bewertungen situativer Anforderungen, eigener Regulationsmöglichkeiten und bestehender „Sollwerte“ in Form von Normen, Werten und Zielen sowie um die Veränderung von generalisierten Einstellungen wie beispielsweise perfektionistischen Leistungsansprüchen, Hilflosigkeitseinstellungen oder übersteigerten Kontrollambitionen. Beispiele für kognitives Stressmanagement sind:
- Perfektionistische Leistungsansprüche kritisch überprüfen und eigene Leistungsgrenzen akzeptieren lernen
- Schwierigkeiten nicht als Bedrohung, sondern als Herausforderung sehen
- Sich mit alltäglichen Aufgaben weniger persönlich identifizieren, mehr innere Distanz wahren
- Sich nicht im alltäglichen Kleinkrieg verlieren, den Blick für das „Wesentliche“, das, was mir wirklich wichtig ist, bewahren
- Sich des Positiven, Erfreulichen, Gelungenen bewusst werden und dafür Dankbarkeit empfinden
- An unangenehmen Gefühlen von Verletzung oder Ärger nicht festkleben, sondern diese loslassen und vergeben lernen
- Weniger feste Vorstellungen und Erwartungen an andere haben, die Realität akzeptieren
- Sich selbst weniger wichtig nehmen, falschen Stolz ablegen und „Demut“ lernen.
[...]
- Arbeit zitieren
- Leonie Gath (Autor:in), 2015, Der Einfluss von Stress auf Adipositas. Entwicklung eines Stressmanagement-Programms für adipöse Erwachsene, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/323606
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