Über die Legitimation von Kompositionsunterricht für Kinder und Jugendliche


Bachelorarbeit, 2015

85 Seiten, Note: 1,2


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Theoretische Ansätze zur musikalischen Kreativität
2.1. Allgemein psychologische Grundlagen zur musikalischen Kreativität
2.2. Abgrenzung: Improvisation und Komposition
2.3. Entwicklung der musikalischen Kreativität
2.4. Kreativer Prozess
2.5. Bedeutung von sozialem Umfeld, Kultur und Domäne
2.6. Persönlichkeit des kreativen Künstlers

3. Aktuelle Situation in Deutschland
3.1. Kompositionsunterricht an Musikschulen
3.2. Kompositionsunterricht an Hochschulen
3.3. Kompositionsunterricht an allgemeinbildenden Schulen
3.4. Kompositionsprojekte, -klassen und -wettbewerbe
3.5. Zusammenfassung

4. Über die Legitimation von Kompositionsunterricht
4.1. Allgemeinpädagogische und individualpsychologische Aspekte
4.1.1 Pädagogische Aspekte
4.1.2. Persönlichkeitsbildung
4.2. Musikpädagogische Aspekte
4.2.1. Musikalische Bildung
4.2.2. Rezeptionsbereitschaft und ästhetische Bildung
4.2.3. Kritische Aspekte und Diskussion
4.3. Der Aspekt des sozialen Lernens
4.4. Kulturpolitische Aspekte

5. Zusammenfassung und Ausblick

6. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Während es sich in der systematischen Musikwissenschaft etabliert hat, dass die musikalische Kreativität als allgemein menschliche Fähigkeit angesehen werden kann (vgl. Hickey 2002, 2003; Petrat 2000; Bullerjahn 2011, 2005, 2010; Lehmann 2008; Azzara 2002; Guilford 1950, 1959; Liewald 1998 uvm), ist es häufig nicht Teil des eigenen Persönlichkeitskonzeptes. An- hand der enormen Anzahl der Publikationen über Konzepte für das Musikerfinden, Aspekte und Faktoren der Kreativität, lässt sich ableiten, dass die Kreativität in der Psychologie und der systematischen Musikwissenschaft ein großes Thema ist. Auch anhand der enormen An- zahl an Autoren, die sich für Kompositionsunterricht aussprechen (vgl. Kapitel 4), lässt sich ableiten, dass der Glaube an die generativen Fähigkeiten von Kindern und Jugendlichen doch vorhanden ist. Dennoch liegt die Annahme, jeder verfüge über eine gewisse musikalisch-krea- tive Begabung und habe das Potential zum Komponieren eines eigenen Werkes, vielen Men- schen fern. Zu fragen ist aber, wo die Ursachen dafür liegen: Die Ursachen können unter an- derem in der von den Medien und Gesellschaft vorgenommenen Mystifizierung von Künstler- persönlichkeiten, der Schwierigkeit des Nachvolllziehens kompositorischer Prozesse, oder der Schwierigkeit der Bewertung des Produkts liegen (vgl. Bullerjahn 2004). Zum anderen kann aber auch die nur wenig stattfindende Förderung von produktiv-musikalischen Fähigkeiten in Form von Kompositionsunterricht zu dem fehlenden Glauben an die eigene Kreativität füh- ren, weshalb die Vermutung nahe liegt, dass die generativ-musikalischen Fähigkeiten von Kindern und Jugendlichen in der Musikpädagogik an Musikschulen, allgemeinbildenden Schulen, Hochschulen und sonstigen musikpädagogischen Anwendungsbereichen zu wenig beachtet wird.

Zwar ist es durch die schöpferische Individualität und der Schwierigkeit des Nachvollziehens des Prozesses anspruchsvoller, Musikerfinden zu fördern, doch ist es von vielen Musikern ge- rade ein Hauptmotiv, die eigene Kreativität auszuleben. Somit stellt sich die Frage nach der Relevanz von Kompositionsunterricht. Auch ist zu fragen, ob nicht der Kompositionsunter- richt eine aktiveres, tieferes und mit mehr Spaß verbundenes Lernen ermöglicht, welches dar- über hinaus zu besseren musikalischen Lernergebnissen führt. Es lassen sich weiterhin mehre- re außermusikalische Faktoren nennen, welche dem Kompositionsunterricht Legitimation zu- kommen lassen. Hierzu zählt die durch das Ausleben der Kreativität mögliche voranschreiten- de Persönlichkeits- und Sozialkompetenzentwicklung. Daher lautet die These dieser Arbeit, dass der Kompositionsunterricht einen wertvollen Teil der Musikpädagogik einnehmen sollte und bisher zu wenig Beachtung findet. Im Gegensatz zum einseitig, auf Reproduktion kon- zentriertem Musikunterricht, sollte der Kompositionsunterricht stärker in der Musikpädagogik an Hochschulen, Musikschulen, Musikprojekten, sowie an allgemeinbildenden Schulen geför- dert werden. Welche Vorteile der Kompositionsunterricht im Einzelnen hat, soll daher neben der Darstellung der aktuellen Situation des Kompositionsunterrichtes in Deutschland erörtert werden. Hierzu werden zunächst die wichtigsten Grundlagen der musikalischen Kreativität beschrieben. Die allgemein psychologischen Grundlagen, die Entwicklung der musikalischen Kreativität, der kreative Prozess, die Persönlichkeit des kreativen Künstlers und die Bedeu- tung von sozialem Umfeld, Gesellschaft und Kultur, werden daher im ersten Kapitel kurz be- schrieben und bilden die Grundlage dieser Arbeit. Weiterhin werde ich bezüglich des Kompo- sitionsunterrichtes die aktuelle Situation untersuchen. Hierzu werden Kompositionsprojekte, -klassen, -wettbewerbe sowie Kompositionsunterricht an Musikschulen, Hochschulen, und allgemeinbildenden Schulen berücksichtigt. Unter Einbezug von Literatur, Ergebnissen von Studien und Erfahrungsberichten zum Komponieren und Improvisieren, sollen die Vorteile der Förderung des Musikerfindens und die damit verbundene Legitimation des Kompositions- unterrichtes auch im Hinblick auf die aktuelle Situation in der Musikpädagogik dargestellt werden.

2. Theoretische Ansätze zur musikalischen Kreativität

Da sich Kompositionsunterricht auf das Vorhandensein von musikalischer Kreativität ver- lässt, soll diese zunächst in verschiedenen theoretischen Ansätzen beschrieben werden. Hierzu zählt die Darstellung der allgemein psychologischen Grundlagen, der Abgrenzung von Impro- visation und Komposition, des Prozesses und der Entwicklung der musikalischen Kreativität sowie die Darstellung der „Künstlerpersönlichkeit“ und die Bedeutung von sozialem Umfeld, Gesellschaft und Kultur.

2.1. Allgemein-psychologische Grundlagen zur musikalischen Kreativität

Mit Kreativität wird in der Wissenschaft die menschliche Fähigkeit zu schöpferischen Denken und Handeln beschrieben (vgl. Bullerjahn 2010: 240). Kreativität ist ein Begriff für „ein Ge- füge intellektueller und nichtintellektueller (motivationaler, einstellungs,- und temperaments- mäßiger) Persönlichkeitszüge, die als Grundlage für produktive, originale, schöpferische Leis- tungen angesehen werden“ (Dorsch et al. 2009). Die musikalische Kreativität bildet einen Teilbereich der musikalischen Begabung (vgl. Bullerjahn 2010: 240). Jedoch wird der Begriff und seine vielversprechenden Erwartungen dadurch kritisiert, dass dieser noch sehr ungeklärt sei und damit auch die Forderungen und Behauptungen ungedeckt blieben (vgl. Hentig 1998: 32 ff.).1 Darüber hinaus sei das deutsche Wort Kreativität nur die Eindeutschung des Begriffes creativity, was eine nicht adäquate Übersetzung des Begriffes darstelle, da dieser sich in der Bedeutung unterscheide (ebd.).2 Daher werden häufig alternative Begriffe wie „generative musikalische Performanz“ und „musikalische Produktivität“ bedeutungsgleich mit Kreativität verwendet (vgl. Bullerjahn 2011: 23).

Viele bringen mit einem Komponisten schnell den Begriff „Genie“ in Verbindung und impli- zieren damit, das ein Komponist ohne besondere Anstrengung (Gottesgabe) besondere Poten- tiale habe (vgl. auch Bullerjahn 2004). Damit wird der Glaube an die eigene Kreativität er- stickt und die Arbeit, die hinter einer besonderen musikalisch-produktiven Leistung steckt, missachtet. Jedoch hat sich spätestens nach der Kreativitätsforschung von Guilford1 in den 1950er Jahren - zumindest in der Wissenschaft - die Annahme stark gemacht, jeder habe das Potential zu schöpferischen Denken und Handeln und damit auch zu musikalischer Produkti- vität (vgl. Hickey 2002, 2003; Petrat 2000; Bullerjahn 2011, 2005, 2010; Lehmann 2008; Azzara 2002; Guilford 1950, 1959; Liewald 1998 uvm). Die trotzdem noch vorhandene land- läufige Meinung, ein Kind habe nichts im Metier des Komponierens zu suchen, wird von Lessling zum einem in der deutschen Komponiertradition, zum anderem in der fehlenden Un- mittelbarkeit der Produktion durch die notwendige Notation des Komponierens ergründet (vgl. Lessling 2011: 15-16). Als weiteres Argument für den fehlenden Glauben an die eigene Kreativität führt Bullerjahn (2004) zum einem die fehlende Nachvollziehbarkeit des Prozesses und Aussagen der Komponisten selber (z.B.: Inspirationsquelle: Gott), zum anderem aber auch die fehlende Nachvollziehbarkeit des kreativen Einfalls vom Künstler selber sowie die Schwierigkeit der Bewertung kreativer Produkte an (vgl. Bullerjahn 2004: 2-7). Als weitere Gründe werden die Bereitschaft zur Mystifizierung von Künstlerpersönlichkeiten der Gesell- schaft, sowie das teilweise kurze oder vom Wahnsinn geprägte Leben von Künstler angeführt (vgl. Bullerjahn 2004: 5-7). Während dies vermutlich eine Ursache für den nur gering statt- findenden Kompositionsunterricht ist (vgl. Kapitel 3), kann auch festgestellt werden, dass Kompositionsunterricht weitaus mehr Bedeutung haben könnte.

Der Erklärungsansatz für die Kreativität2 berücksichtigt viele Faktoren und geht von einer In- teraktion zwischen Mensch und seinem Tätigkeitsbereich aus (vgl. Lehmann 2008: 340). Kreativität wird demnach immer von dem Umfeld, der Gesellschaft sowie der Kultur beein- flusst (ebd.).3 Doch muss beachtet werden, dass der Begriff der musikalischen Kreativität für die populäre Musik neu definiert werden muss (vgl. Kleinen 2003: 34). Kleinen (2003) nennt hier die zusätzliche gruppendynamische Dimension, die Orientierung am Musikmarkt und der Musikszene, die Nutzung von Technologie als Hilfsmittel, die Orientierung an individuellen Sinngehalten anstelle von Neuigkeit der musikalischen Strukturen (vgl. Kleinen 2003).

Für herausragende kreative Leistungen benötige ein Mensch eine bestimmte Persönlichkeit, Wissen, Fertigkeiten und Einstellungen, sowie günstige Umweltgegebenheiten (vgl. Buller- jahn 2011: 24). Wichtige Kriterien für die Bewertung von kreativen Leistungen seien „Neuheit“, „Originalität“, und „Bedeutsamkeit“ (vgl. Bullerjahn 2005: 601). Neuheit kann in dem Zusammenhang etwas persönlich Neues oder etwas historisch Neues bedeuten (vgl. Lehmann 2008: 339). Während Werke mit historischen Neuheitswert meist von professionellen Künst- lern mit besonderer Expertise geschaffen werden (vgl. Bullerjahn 2011: 24)1, können auch musikalische Laien kreative „Werke“ schaffen. Doch gilt zu fragen, welche Voraussetzungen kreative Arbeit erfordert. Hier benennt Webster (2002) ermöglichende Voraussetzungen so- wie ermöglichende Fähigkeiten und Fertigkeiten. Zu den ermöglichenden Voraussetzungen zähle Motivation, divergent-konvergentes Denken und die richtige Umwelt und Persönlich- keit (vgl. Webster 2002). Zu den wichtigen Persönlichkeitsmerkmalen würden Persistenz, Ausdauer, Zielstrebigkeit, Dominanz, Unkonventionalität, Autonomie und der Wille zum Au- ßerordentlichen gehören (ebd.: 24). Auch wenn fraglich ist, ob alle kreativen Menschen diese Persönlichkeitseigenschaften haben, lässt sich dennoch sagen, dass dies Merkmale sind, die die kreative Fähigkeit begünstigen. Die ermöglichenden Fähigkeiten und Fertigkeiten setzen sich nach Webster zusammen aus der musikalischen Begabung, dem konzeptuellen Verständ- nis und der ästhetischen Sensibilität (ebd.). Weitere kreativitätsfördernde Fähigkeiten sind von Bullerjahn (2005) benannt: Neben der Wissensspeicherung und -aktualisierung zähle der hohe Ideenfluss, die Originalität der Ideen und die Sensibilität für Probleme zu den kreativi- tätsfördernden Fähigkeiten (S. 600). Das divergente Denken (Flüssigkeit, Flexibilität und Ori- ginalität des Denkens) könne noch Weisberg als ein Kennzeichen kreativer Produktion gese- hen werden: Weisberg, welcher das divergente, kreative Denken durch die Produktion von Lösungen und das konvergente, gewöhnliche Denken durch die Anwendung von Lösungen auf Probleme beschreibt, nennt die Wichtigkeit des freien Denkens für die Kreativität (vgl. Weisberg 1989: 75-82). Auch wenn hier von diversen Autoren eine Menge von Voraussetzun- gen formuliert werden - wodurch kreatives Schaffen keinerlei leichter erscheint - muss doch hinzugefügt werden, dass sich diese Merkmale und Fähigkeiten noch herausbilden können. Auch ist möglich, dass viele Menschen diese Merkmale bereits haben, worüber sie sich wo- möglich nicht im Klaren sind.

Nun ist deutlich geworden, dass viele Faktoren für die Kreativität relevant sind. Es lässt sich zusammenfassen, dass musikalisch-generative Fähigkeiten unter den richtigen Umständen von jedermann „erlernt“ werden können: Persönlichkeitsmerkmale können sich mit der Zeit bilden, Wissen und Fertigkeiten können angeeignet werden und auf die Umwelt hat ein Individuum in der Regel auch einen Einfluss. Damit ist auch klar, dass der fehlende Glaube an die eigene musikalische Produktivität maßgeblich von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, den Merkmalen des Schöpferischen an sich, der fehlenden Tradition im Kompositionsunterricht und Komponistenaussagen, beeinflusst wird.

2.2. Abgrenzung: Improvisation und Komposition

Improvisation wird unter anderem durch die Unvorhersehbarkeit des klanglichen Ereignisses beschrieben, wobei sowohl der Hörer als auch der Ausführende betroffen ist und das Vorhan- densein oder Fehlen einer Notation kein trennscharfes Kriterium darstellt (vgl. Frisius 1996: 538-539). Geprägt ist die Improvisation von Spontanität und das sich Einlassen auf eine mu- sikalische Konversation, wobei der Konversationspartner auch man selbst sein kann (vgl. Azzara 2002: 172).

Die Komposition hat nach Sachs et. al. mehrere Aspekte: die Herstellung eines künstlerischen Gebildes (Komponieren) und das Ziel dieser Tätigkeit (das Werk) (vgl. Sachs et al. 1996: 506). Dabei ist die Komposition im Gegensatz zur Improvisation durchdacht, vorbereitet, aus- gearbeitet und niedergeschrieben (Sachs et al. 1996: 507)). Das Komponieren wird vom Im- provisieren dahingehend unterschieden, dass entgegen des Komponierens bei der Improvisati- on der Einfall und die Realisierung zeitlich nah zusammenfallen (vgl. Lehmann 2005: 345). Auch ist eine Improvisation nicht in der Weise wiederholbar wie eine Komposition (vgl. Schlothfeldt 2009: 37).

Jedoch können Improvisation und Komposition nicht als gegensätzlich bezeichnet, sondern allenfalls als Endpunkte eines Kontinuums aufgefasst werden (vgl. Lehmann 2008: 338), da auch improvisierte Stile kompositorische Elemente wie Wiederholungen, Sequenzen oder ähnliches beinhalten (Lehmann 2005: 917). Durch die fehlende Unterscheidbarkeit aus der Sicht des Zuhörers schlägt Lehmann vor, die Unterscheidung von Improvisation und Kompo- siton aus der Sicht des Musikers zu bestimmten: Der Musiker habe, je nach Musik- und Musi- zierstil, unterschiedliche Vorgaben, wobei bei improvisierter Musik weniger und bei kompo- nierter Musik mehr vorgegeben sei (vgl. Lehamn 2005: 341).1 So kann eine bestimmte Musi- zierform jede beliebige Form zwischen der Improvisation und der Komposition einnehmen, wobei die Improvisation mehr durch das freie, unvorhersehbare und nicht in der Form wieder holbare und intuitive Spielen gekennzeichnet ist und das Komponieren durch das durchdachte, ausgearbeitete und wiederholbare.

2.3. Entwicklung der musikalischen Kreativität

Die Erforschung der Entwicklung der musikalischen Kreativität stellt eine Herausforderung dar, da die Kreativitätsentwicklung auch abhängig von der Entwicklung im nichtmusikali- schen Bereich (schulischer Bereich, Metakognition, Handlungsregulation...) ist (Lehmann 2005: 945). Des weiteren hängt die Entwicklung der Kreativität eng mit der Interaktion des Individuums mit der Umwelt zusammen und kann daher schwer isoliert betrachtet werden.

Lehmann beschreibt für die Entwicklung musikalisch-generativer Fähigkeiten die Prinzipien Lernen, Übung und Expertisierung: Zuerst müssen Wissen und Fertigkeiten erworben werden, dann sorge eine lange Lernzeit für die nötige Entwicklung der Fähigkeiten, bevor das erste Werk veröffentlicht werden könne (vgl. Lehmann 2008: 349-350). Anhand von Studien zum Produktivitätsverlauf innerhalb der Lebensspanne schlägt Lehmann (2005) das Prinzip des systematischen Karriereverlaufes vor (S. 350). Damit einhergehend liegt die erste Veröffentli- chung etwa 10 Jahre nach dem Beginn des kompositorischen Schaffens (vgl. Lehmann 2005: 941). Der bewusste Beginn des Komponierens liege meist im frühen Jugendalter (Bullerjahn 2005: 612). Simonton stellte eine Hauptschaffensphase zwischen dem 30. und dem 60 Le- bensjahr fest, wobei das Maximum zwischen dem 35. und 45. Lebensjahr liege (Simonton 1997: 116).1 Auch wenn sich der Produktivitätsverlauf von Komponisten so beschreiben lässt, muss dennoch angemerkt werden, dass das nur den statistischen Normalfall beschreibt. Au- ßerhalb dieses Normalfalls werden sich auch andersartige Produktivitätsverläufe finden las- sen, da dieser unter anderem von der Domäne (vgl. Kapitel 2.5), sowie dem Leben in seiner persönlichen bzw. beruflichen Dimension des Individuums, abhängt.

Die Entwicklung des musikalischen Spiels sei durch die mit dem Alter zunehmende Bedeu- tung des sozialen Kontextes und die größer werdende Bewusstheit für persönliche und öffent- liche Ausdrucksfähigkeit gekennzeichnet (vgl. Bullerjahn 2011: 33-36). Mit dem Schulein- tritt kann durch die Schulung des konvergenten Denkens ein Kreativitätseinbruch festgestellt werden (vgl. Bullerjahn 2005: 613). Hassler stellte in einer Längsschnittstudie bei nahezu gleichbleibender musikalischer Begabung die Abnahme der Kreativität zu Beginn der Pubertät und wieder eine leichte Zunahme gegen Ende der Pubertät fest, was mit der Änderung des Hormonhaushaltes zusammenhängen könnte (vgl. Hassler und Lutzenberger 1998: 28-42). Somit kann festgehalten werden, dass die Kreativität sowohl von dem Umfeld (Bsp. Schule) als auch von der persönlichen Entwicklung abhängt.

Eins der bekanntesten Modelle1 zur Entwicklung der generativen Fähigkeiten wurde von Swanwick und Tillman (1986, 1991) entwickelt (Lehmann 2008: 351), „wonach sich auch musikpädagogisch unbeeinflusst die musikalisch-kreative Entwicklung von der reinen Mate- rialerkundung über die Meisterung überlieferter Formen hin zur reflektierten ästhetischen Wertorientierung regelhaft entwickelt“ (Bullerjahn 2010: 242) (Abd. 1). Das Modell basiert auf den theoretischen Implikationen Mastery, Imitation und Imaginative von Piaget, welcher beschreibt, dass diese Prinzipien das Spiel in der Kindheit kennzeichnen würden (vgl. Swan- wick und Tillman 1986: 306-310).2 Das Modell umfasst vier Phasen mit jeweils zwei Unter- stufen (Abd. 1). Die erste Phase (Mastery) dient der Entdeckung und dem Erlernen von In- strumenten bzw. der Stimme. Die zweite Phase (Imitation) ist gekennzeichnet von dem Ent- wickeln des persönlichen Ausdrucks, den allmählichen Auftreten von Phrasen mit metrischer Organisation, sowie dem allmählichen Annähern an musikalische Konventionen. In der drit- ten Phase (Imaginative Play) wird von den vorher erlernten Konventionen abgewichen, so- dass mit der Zeit stilistische Mittel als Basis für den eigenen, dann gefestigten Ausdruck ent- wickelt werden. Die vierte Phase (Metakognition) ist durch die Identifikation mit der Musik, sowie die Fähigkeit, musikalische Erfahrungen zu reflektieren, als auch der Bewusstheit über die Ausdrucksweise gekennzeichnet und stellt damit den musikalisch ausgereiften Menschen dar. Die vertikale Dimension unterscheidet sich durch (links) egozentrischeres, experimentel- leres und (rechts) ein konventionelleres und weniger originelles Musizieren (vgl.: Swanwick und Tillman 1986: 332-334).

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Abbildung 1: Die Musikalische Entwicklung bei Swanwick und Tillman (aus: Swanwick 1986)

Obwohl Swanwick Altersangaben zu den Stufen machte, müssen diese Stufen nicht in der Kindheit durchlaufen werden: die Phasen können auch noch bei erwachsenen Laien beobach- tet werden, weshalb die Entwicklung nicht auf Reifungsprozesse des Alters zurückzuführen ist (vgl. auch Lehmann 2008: 351). Weiterhin ist kritisch anzumerken, dass das Modell die Entwicklung bis zu einem Alter von 15 Jahren voraussagt, empirisch aber nur Material bis zu einem Alter von 11 Jahren gesammelt wurde.1 Auch muss gefragt werden, inwieweit diese Entwicklung immer regelhaft verläuft. Beispielsweise stellt das allmähliche Erlernen musika- lischer Konventionen eine zwar häufige, aber nicht bedingungshafte Station der musikalisch- generativen Entwicklung dar. Dennoch kann die letzte Phase nur mit dem vorangegangen Er- lernen der musikalischen Konventionen erreicht werden, da sonst niemals die Bewusstheit über den eigenen Ausdruck gewonnen werden kann.

Doch auch die Umwelt ist Bedeutend, was die Entwicklung der musikalischen Produktivität angeht: Hinsichtlich der Interaktion eines Individuums mit der Umwelt kann man von drei verschiedenen Interaktionsmöglichkeiten sprechen: passiv (Übernahme vom bereitgestelltem Angebot), evokativ (Umweltangebote werden gelenkt) und aktiv (Umweltangebote werden selbst gesucht) (vgl. Sachs et al. 1996: 549). Wie Lehmann schreibt, seien entwicklungspsy- chologischen Grenzen der kindlichen Möglichkeiten noch genauerer Forschung bedürftig (Lehmann 2005: 946). Festgehalten werden kann, dass die Kinder mit zunehmenden Alter ein Produkt entwickeln können und sich ihr Produkt auch merken können. Kinder sind nicht im dem Maße wie professionelle Künstler in ihren Fertigkeiten und ihrem Wissen vorbereitet und auch fehlt ihnen ein Wertebewusstsein und die Metakognition (vgl. auch Lehmann 2005: 947). Es werden unabhängig vom Alter nach der Erkundung der Materialien zunächst Aus- drucksmöglichkeiten, Formen und Wertebezogenheit erlernt und erforscht. Diese können an- schließend modifiziert, erneuert und individuell ausgestaltet und ausgewählt werden. Damit ist impliziert, dass eine Förderung der musikalischen Kreativität aus entwicklungspsychologi- scher Sicht schon frühzeitig sowohl für Breiten-, als auch für Elitenförderung sinnvoll ist (vgl. auch Bullerjahn 2003).

2.4. Kreativer Prozess

Der kreative Prozess ist durch die beteiligten unbewussten Vorgänge schwierig zu erforschen (vgl. auch Bullerjahn 2005: 603). Auch durch den kreativen Einfall, welcher sich häufig plötzlich einstellt und sich der verlässlichen Selbstbeobachtung entzieht, (ebd.) wird das erfor- schen des Prozesses erschwert.1 Der wichtigste Aspekt im Prozess des Schaffens ist nach Leh- mann die Ausarbeitung durch Versuch und Irrtum: Ideen werden entwickelt, ausprobiert und abgeändert, bis sie gefallen. Dieser Aspekt kennzeichnet sowohl die Improvisation als auch die Komposition, nur dass bei der Improvisation jede Variante der Idee gespielt wird, wäh- rend bei der Komposition nur die beste Form niedergeschrieben wird. Auch muss bedacht werden, dass der Prozess und damit auch das Ergebnis abhängig von der Situation und Dispo- sition des Künstlers sind (Bullerjahn 2005: 606).1

Die Phasen des musikalisch-kreativen Schaffens können an Anlehnung an Wallas (1926) in Präperation (Informationssammlung und Definition des Problems), Inkubation (möglicher- weise unbewusste Weiterverarbeitung in Schaffenspausen), Illumination (intuitiv wirkender Einfall, der als Erkenntnissprung erscheint und zur Problemlösung beiträgt) und Verifikation (gewissenhafte Überprüfung, Modifikation und Ausarbeitung der Idee) unterteilt werden (vgl. Bullerjahn 2005: 603-605). Weisberg (1989) kritisiert jedoch den mit dem „Aha-Erlebnis“ verbundenen Erkenntnissprung und geht von einem auf dem vorhandenem Wissen aufbauen- den modifizierenden Problemlösungsvorgang aus (vgl. Weisberg 1989: 74). Damit wird Be- schreibungen, wie „der Göttliche Funke“ für den kreativen Einfall, die Argumentationsgrund- lage entzogen. Alles, was an Ideen hervorgebracht wird, hat seinen Ursprung im vorangegan- gen Handeln und Denken, auch wenn dieser schwer nachzuvollziehen ist. Vermutlich verleitet gerade die Schwierigkeit der Ursprungsfindung Künstler zu der Annahme, sie seien ein Medi- um o. ä.. Auch der starre Ablauf dieser Phasen wurde bereits von Weisberg kritisiert, welcher in einem Experiment mit Dichtern und Kunstmalern die zeitliche Überschneidung der vier Phasen zeigte (vgl.: Weisberg 1989: 45).2 Auch ist zu fragen, ob sich die Phasen auf den Pro- zess des Improvisierens anwenden lassen, denn hier fallen Einfall, Verarbeitung und Realisa- tion zeitlich sehr nah zusammen.

In Anlehnung an die oben genannten vier Phasen, bildete Preiser ein Modell, welches den Schaffensprozess unter Einbezug der Umwelt betrachtet. Angefangen bei der Person-Umwelt Interaktion und der problembezogenen Informationssammlung, ohne die keine kreative Leis- tung stattfinden kann, kann der kreative Prozess im Folgenden zwei Wege einschlagen: den inspirierenden, unbewussten und den organisierenden, bewussten und rationalen Vorgang.3 Weiter verläuft das Phasenmodell mit der Überprüfung und Ausarbeitung und der Kommuni- kation und der Realisation des Lösungsansatzes, wobei bei jeder dieser Phasen mit der Umwelt interagiert wird (vgl. Preiser 1976: 42-49). Auch wenn dieses Modell nur teils auf die Improvisation anwendbar ist, ist es doch in Bezug auf die Interaktion mit der Umwelt aufschlussreich.1

Dem Gedächtnis und der Fähigkeit zur Vorausplanung werden von Lehmann besondere Be- deutung für das Improvisieren zugesprochen (Lehmann 2005: 924). Die Rückkopplung des Gehörs sei bei der Improvisation parallel zu der motorischen Ausführung „am Aufbau von Er- wartungen und neuen Ideen der Fortführung beteiligt“ (Lehmann 2005: 930), wodurch sich die Bedeutsamkeit der zeitnahen akustischen Rückmeldung bei der Ausführung ergibt. Leh- mann formuliert darüber hinaus das Herausfiltern von relevanten Informationen (intern gene- riert oder extern aufgenommen), sowie das Zusammenfassen von kleineren Einheiten (Einzel- tönen) zur größeren Einheiten (Phrasen, Kadenzen) als besondere Aspekte der Improvisation (ebd..). Weiterhin spricht Lehmann bei einer Improvisation von der in der Vorstellung antizi- pierten Fortführung und der Bedeutsamkeit der automatisierten Abläufe2, welche die zentrale Exekutive entlasten, von Improvisatoren aber häufig als hinderlich empfunden würden (vgl. Lehmann 2005: 925). Jedoch ist es auch nicht so, dass nur automatisierte Pattern aus dem Langzeitgedächtnis zusammengesetzt werden. Lehmann geht eher von einem komplexen ge- nerativen Prozess aus (Lehmann 2008: 346). Die Prozessmerkmale von Lehmann gelten bis auf die Bedeutung der motorischen Automatismen jedoch auch für das Komponieren (Leh- mann 2005: 925). Beim Improvisieren benötigt man also Aufmerksamkeit für mehrere Ebe- nen gleichzeitig: einmal die voraus planende Ebene, und dann die ausführende Ebene.3 Da dies sehr anspruchsvoll sein kann, werden automatisch häufig Wiederholungen und kontinu- ierliche leichte Variationen verwendet. Im dem Zusammenhang lässt sich auch feststellen, dass angewendete Patterns vorher zumindest in ähnlicher Form schon einmal gespielt bzw. geübt worden sein müssen, damit die Aufmerksamkeit nicht zusätzlich von der motorischen Ebene beansprucht wird.

Der Prozess des Komponierens ist mehr als das Improvisieren "in weiten Teilen eine bewuss- te und zielgerichtete Handlung des Problemlösens“ (Bullerjahn 2003: 107). Die Einfälle stam- men möglicherweise aus dem Unterbewusstsein, werden aber einer gründlichen Bewertung unterzogen (ebd.).1 Als Prozessmerkmal kann deswegen die Oszillation zwischen bewussten und unbewussten Ebenen der subjektiven kognitiven Struktur angesehen werden (Bullerjahn 2005: 605). Das Komponieren kennzeichnet sich dadurch, dass der Komponist Zeit hat, sich Details zu überlegen, ohne dabei gleichzeitig etwas anderes tun zu müssen. Während sich Im- provisationen auch spontan ergeben können, ergeben sich Kompositionen eher geplant und werden zielgerichtet weiterverfolgt.

Es kann somit festgehalten werden, dass der Prozess des Schaffens ein in weiten Teilen be- wusster Vorgang ist, bei dem vorher und nachher eine Interaktion mit der Umwelt stattfinden kann. Bei der Improvisation ist die motorische Umsetzung sowie das Gedächtnis, die akusti- sche Rückmeldung und die Fähigkeit voraus zu planen von besonderer Bedeutung. Auch gibt es gibt nicht den kreativen Prozess, es ist vielmehr ein Zusammenwirken von Person und ihrer aktuellen Disposition, Situation (äußere Bedingungen), Umwelt und Art des Schaffens (Im- provisieren/Komponieren), sowie der Domäne (Kapitel 2.5), in welcher man tätig ist.

2.5. Bedeutung von sozialem Umfeld, Kultur und Domäne

Da ein Individuum immer einen gewissen Kontakt mit seinem Umfeld hat, stellt sich die Fra- ge, inwieweit Individuen von außen beeinflusst werden. Anhand der starken kulturellen Un- terschiede und den damit verbundenen ästhetischen Einstellungen, Regeln, Praktiken und Normen lässt sich vermuten, dass der Einfluss des kulturellen und sozialen Umfeldes nicht zu unterschätzen ist.

Burnad benennt die Einflussfaktoren auf die Kreativität eines Individuums mit dem schuli- schen und außerschulischen Kontext, der Gesellschaft und der Kultur, welche sich jeweils aus mehreren Personengruppen zusammensetzen (vgl. Abd 2) (vgl. Burnad 2006: 354-355).

Nach Burnad sei für die Entwicklung der musikalischen Kreativität die persönliche, soziale und kulturelle Biographie zentral. Burnad nimmt an, dass bezogen auf die Kreativität die indi- viduelle und die soziale Welt der Kinder interagieren. Dabei würden die Anzahl der kulturel-

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Abbildung 2: Das Netzwerk der kulturellen Systeme der Kreativität (aus: Burnad 2006: 355)

len und gesellschaftlichen Einflussfaktoren mit dem Alter zunehmen. Da die Entwicklung der musikalischen Kreativität von weitaus mehr als nur dem Alter determiniert wird, kehrt sich Burnad ab von einer Alters- oder Phasen basierten Entwicklung der musikalischen Kreativität (vgl. Burnad 2006: 354-369).1 Jedoch ändern sich Umweltbedingungen häufig parallel zu dem Alter, sodass das Alter einen recht guten Hinweis auf die Entwicklungsstufe gibt, diese aber nicht eindeutig bestimmen kann.

Doch ist zu fragen, in welcher Weise die soziale und die individuelle Welt des Kindes mit der Kultur verbunden ist und von ihr beeinflusst werden. Dies betreffend halt Csikzentmihalyi (1999) das Systemmodell der Kreativität aufgestellt (Abd. 3).

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Abbildung 3: Systemmodell der Kreativiität nach Csikzentmihalyi (aus: Csikzentmihalyi 1999: 315)

Nach diesem Modell wird das kreative Produkt und dessen Entstehung von mehreren Fakto- ren beeinflusst: zum einem von der Kultur (welche sich aus mehreren Domänen zusammen- setzt), der Gesellschaft (bestehend aus verschiedenen sozialen Feldern, welche sich aus Indi- viduen einer bestimmten Domäne zusammensetzen) und zum anderem von dem Individuum selbst. Zum einem werde ein Individuum von Traditionen, kulturellen Praktiken wie Regeln und Normvorgaben einer Kultur beeinflusst, zum anderem werde das von dem Individuum geschaffene Produkt automatisch von dem sozialen Umfeld bewertet, was über die Bedeutung des Produkts innerhalb der Domäne entscheidet. Auch beeinflusst von der Beschaffenheit des Feldes und der Domäne sowie den Fertigkeiten des Individuums und den sozialen Beziehun- gen, könne ein kreatives Produkt nach Csikzentmihalyi grundsätzlich als ein soziales Kon- strukt gelten (vgl. Csikzentmihalyi 1999).1 Das Systemmodell von Csikzentmihalyi kehrt sich ebenso wie Burnad ab von einer entwicklungsbezogenen Sichtweise und gibt eine Erklärungs- möglichkeit für kulturelle Entwicklung. Diese hängt nach Csikzentmihalyhi nicht nur von der Anzahl der kreativen Individuen und deren Fertigkeiten ab, sondern auch von der Offenheit des Feldes gegenüber der Produkte und der zu Verfügung stehenden Ressourcen (vgl. Csik- zentmihalyi 1999).

Auch können gesellschaftliche Rahmenbedingungen festlegen, wer überhaupt kreativ sein darf und welche Praktiken erlaubt sind (Lehmann 2008: 343). Bezogen auf die Entwicklung der musikalischen Kreativität lässt sich sagen, dass ausgehend von einem eher ungeschliffe nen Ausdruck allmählich Konventionen übernommen werden, und die bewussten Abweichungen davon die Ausbildung des eigenen Stils ausmachen (Bullerjahn 2005: 613).

Doch auch die Beschaffenheit der Domäne ist ein Aspekt, der über Unterschiede im Werde- gang, der Motivation und dem kreativen Prozess Aufschluss geben kann. Bullerjahn (2003) untersuchte die Unterschiede der klassischen und der populären Domäne in einer Befragungs- studie von Teilnehmern bundesweiter Wettbewerbe der klassischen und populären Domäne. Die klassische Domäne zeichne sich durch den frühen Beginn der kompositorischen Tätigkeit (10J.), dem mehrheitlichen Hauptinstrument Klavier und durch das Lernen in institutionellen Rahmenbedingungen aus. Dabei sei die Entscheidung für die Domäne von dem höherem Ni- veau und dem höherem Anspruch geprägt. Bei der populären Domäne sei die Entscheidung für die Domäne eher hedonistisch getroffen, der Beginn des Komponierens liege später (15 J.) und es werde mehr autodidaktisch und informell gelernt. Das Hauptinstrument bei der populä- rem Domäne sei die Gitarre; die Bandtätigkeit spiele bei den ersten Kompositionsversuchen häufig eine wichtige Rolle. Weiterhin unterscheide sich der Kompositionsprozess der Domä- nen dahingehend, dass in der populären Domäne, im Gegensatz zur kunstmusikalischen Do- mäne, häufig konzeptlos und intuitiv vorgegangen werde. Auch werde häufig in der Band komponiert, wobei das Jammen und Improvisieren hier häufig eine große Rolle bei der Illu- minationsphase spiele (vgl. Bullerjahn 2003: 111-120). Damit kann festgestellt werden, dass sich das Komponieren in der Ausübung und Motiven je nach Domäne erheblich unterscheiden kann.

Nun lässt sich also schlussfolgern, dass kreatives Handeln niemals alleine steht: es steht im- mer im Kontext einer Kultur, der Gesellschaft und dem sozialen Umfeld. So kann das Umfeld die Kreativität hemmen oder fördern, das Produkt bewerten und dadurch die Entstehung der Produkte beeinflussen (vgl. auch Lehmann 2005: 922). Darüber hinaus entscheiden häufig ge- sellschaftliche Rahmenbedingungen auch über die Art, wie Musik geschaffen wird (Buller- jahn 2011: 29), und prägen ästhetische Paradigmen ebenso wie die Legitimation und die Theorie der Kreativität (Lehmann 2005: 920). Es lässt sich schlussfolgern, dass gerade Kinder durch die Umwelt musikalisch sozialisiert werden. So erlernen diese häufig zunächst Normen, und Regeln der Kultur bevor sie - wenn überhaupt - zu einem eigenem Ausdruck kommen. Doch selbst dann wird die Entstehung des Produktes, durch die gesellschaftlichen Rahmenbe- dingungen sowie den sozialen Kontakten (dem Feld) des Individuums, beeinflusst.

2.6. Persönlichkeit des kreativen Künstlers

Das Stereotyp des genialen Künstlers geht von einer Verbindung von Genie1 und Wahnsinn aus, was teilweise von Selbstäußerungen von Komponisten und Biographien gestützt werde (Bullerjahn 2005: 609). Zumal Genie nach Weisberg ein von der Gesellschaft verliehene und damit schwammige Zuschreibung ist (vgl. Weisberg 1989), lässt sich darüber hinaus fragen, ob dieser Zuschreibung nicht einzelne historische Persönlichkeiten überbewertet werden. Das Selbstbild von Komponisten ist nach De la Motte-Haber (1996) geprägt von dem Wunsch nach Selbstaktualisierung, wobei sie ihre Begabung kennen und ihre Leistungen hoch ein- schätzen (De la Motte-Haber, Helga et al. 1996: 343). Auch der Faktor, Künstler seien aus- dauernd, diszipliniert und motiviert beziehungsweise fleißig, wird in der Literatur besonders hervorgehoben (vgl. Feist 1999: 278; De la Motte-Haber, Helga et al. 1996: 343; Bullerjahn 2005: 609-610). Doch gilt zu fragen, wo die Ursachen für dieses Leistungsstreben liegen. Möglicherweise erleben Künstler diese Motivation als ein Müssen, wobei sie sich bei nicht er- reichen der Motive schlecht fühlen. Dabei könnte der Wunsch nach Selbstaktualisierung den Antrieb zur schöpferischen Tätigkeit bilden, da Komponieren durch musikalisches Voran- kommen auch als Selbstaktualisierung gesehen werden kann.

Aber auch krankhafte Symptome und Wahnsinn werden häufig in Verbindung mit Kreativität gebracht (vgl. Csikzentmihalyi 1999: 331; Ludwig 1995; Feist 1999: 277-278). Feist be- schreibt kreative Menschen unter Einbezug von zahlreichen Studien als emotional, sensitiv und ängstlich (Feist 1999: 277-278). Die Sensibilität und Ängstlichkeit könnte ein Faktor sein, welcher krankhafte Symptome und Wahnsinn begünstigen. De la Motte-Haber verkennt jedoch die Abhängigkeit von Genie und Irrsinn und sieht die Melancholie nicht als Quelle der musikalischen Inspiration (vgl. De la Motte-Haber, Helga et al. 1996). Auch wenn es ein eine Verbindung von Wahnsinn und Kreativität gibt, sollte man diese nicht überbewerten: Obwohl jeder Mensch potentiell kreativ sein kann, zeigen vergleichsweise wenige Menschen krank- hafte Symptome.

Auch antisoziale Persönlichkeitsmerkmale werden von Feist in Zusammenhang mit Kreativi- tät gebracht: Introversion, Unabhängigkeit, das Anzweifeln von Normen, sowie Ablehnung, Distanziertheit und Unfreundlichkeit, werde gehäuft bei kreativen Künstlern festgestellt (vgl. Feist 1999: 278-279). Weiterhin beschreibt Feist unter Einbezug von zahlreichen Studien die Offenheit für Erfahrungen, Fantasie und Vorstellungskraft sowie eine hohe Impulsivität und eine geringe Gewissenhaftigkeit als Merkmale von Künstlern (vgl. Feist 1999: 275-277). Weiterhin wird die Beharrlichkeit im Verfolgen eigener Wege (Bullerjahn 2005: 609), ein breites Interessensspektrum, Unabhängigkeit von Kritik, Selbstvertrauen, die Gewissheit, kreativ zu sein, (Weisberg 1989: 102), Radikalismus (Kemp 1996: 216), Risikobereitschaft, Abenteuerlust (De la Motte-Haber, Helga et al. 1996: 334), Sensibilität für Probleme (Csik- zentmihalyi 1999: 331), sowie Neugier (Csikzentmihalyi 1999) und die Fähigkeit ein Publi- kum emotional zu bewegen (Weisberg 1989: 144) mit Kreativität beziehungsweise musikali- scher Kreativität in Zusammenhang gebracht. Fraglich ist nun aber, welche Persönlichkeitsei- genschaften die wesentlichen bzw. wichtigen sind. Die Unabhängigkeit von Kritik kreativer Personen halte ich für fragwürdig, denn zumindest ihres eigenen Werkes betreffend, scheinen Künstler teilweise geradezu empfindlich zu sein (vgl. Rauchfleisch 1990: 338). Auch ist denkbar, dass gerade musikalisch-kreative Menschen wenig Selbstvertrauen besitzen, weshalb sie eine Art Zuflucht in der Musik suchen. Weiterhin kann die bedingungshafte Verbindung von musikalischer Kreativität und der Fähigkeit, ein Publikum emotional zu bewegen in Frage gestellt werden: Der Fall eines hoch kreativen Menschen, der aber nicht fähig ist vor ein Pu- blikum zu treten und dieses zu bewegen, ist durchaus denkbar. Auch lässt sich anmerken, dass die Ergebnisse in diesem Bereich teilweise widersprüchlich sein können. So stellte beispiels- weise Graebsch, entgegen der Ergebnisse von Feist, die Angepasstheit an Normen als kenn- zeichnend für kreative Personen fest (vgl.: Graebsch 1997: 136). Es lässt sich also schlussfol- gern, dass man nicht im Einzelnen genau sagen kann, welche Charaktereigenschaften kreative Menschen haben, da hier viele unterschiedliche Ausprägungen und Kombinationen möglich sind. Als wichtig erachte ich aber den Faktor, dass kreative Menschen emotional sensibel bzw. stark emotional sind, da dieser Faktor ganz unterschiedliche Verhaltensweisen und Per- sönlichkeitseigenschaften beeinflussen kann.

Ein weitere Frage, welche bereits häufig diskutiert wurde, ist die Frage nach dem Zusammen- hang zwischen Intelligenz und Kreativität (Bullerjahn 2005: 600).1 Die Befunde über den Zu- sammenhang von Kreativität mit Intelligenz sind sehr divergent (einen Überblick hierzu gibt de la Motte haber 1996, S. 332). Es lässt sich sagen, dass ein gewisses Maß an Intelligenz not-

[...]


1 Auch Luhman (1988) führt ausführlich Kritik an dem Begriff der Kreativität an.

2 So sei der deutsche Begriff spekulativ ausgelegt; das gemeinte sei zu einem eigenem Wesen verselbständigt worden (vgl. Hentig 1998).

1 Die Kreativitätsforschung erlebte mit Guilford eine Wende, welcher unter anderem darlegte, dass jeder Mensch kreativ sein könne. Hierzu ausführlich: Guilford 1950; 1959

2 Einen Überblick über die Definition von Kreativität unterschiedlicher Autoren gibt Running (2008)

3 Vergleiche auch Csikzentmihalyi 1999 bzw. Kapitel 2.5

1 Bullerjahn unterscheidet hier zwischen Neuerern (verändern einen Bereich), Introspektierern (reflektieren eigene und fremde Kreationen), Beeinflussern (initiieren fremde Kreationen und Handlungen) und Meistern (perfektionieren eine bestimmte Domäne) (Bullerjahn 2011: 24).

1 Lehmann betont dabei, dass jeder Musikstil bestimmte Bezugspunkte und Vorgaben hat (beispielsweise be stimmte Melodie- oder Harmonierfolgen) und benennt die geschätzte Improvisationsleistung unterschiedlicher musikalischer Gattungen (vgl. Lehmann 2005: 919).

1 Jedoch hängt das auch von der Musikgattung ab: Lehmann stellte in einer Auswertung von Veröffentli - chungsdaten fest, dass bei Sinfonien das Produktionsmaxima früher als bei Operetten und Orchesterwerken (Lehmann 2008: 350).

1 Hickey gibt einen Überblick über die darüber hinaus bestehenden Modell zur kreativitätsbezogenen Entwick lung (Hickey 2002).

2 Entwickelt wurde das Modell durch die Zuordnung einer Altersstufe von Kinderkompositionen (3-11 J.) durch unabhängige Urteilende und die anschließende Untersuchung der musikalischen Merkmale der Kompositionen (vgl. Swanwick und Tillman 1986: 306-335).

1 In der Publikation von 1991 wurde dieses Modell weiter erforscht und validiert (vgl. Swanwick 1991).

1 Auch Gehirnstrommessungen stellen eine Möglichkeit der Erforschung kreativer Prozesse dar: Petschke (1997) stellte bei einer Gehirnstrommessung bei unterschiedlichen musikalischen Aktivitäten die Kooperation von weit auseinander liegenden Gehirnregionen, sowie die starke Beanspruchung des Gehirns durch Komponieren fest (vgl. Petschke 1997: 16-23).

1 Es können beispielsweise Termindruck, ökonomische Sachzwänge oder persönliche Befindlichkeiten die Entstehung des Werkes beeinflussen (vgl. Bullerjahn 2005: 606). Es werden häufig von Künstlern bestimmte Rahmenbedingungen aufgesucht, um die kreative Stimmung zu fördern (vgl. Lehmann 2005: 924).

2 Auch von Behne gibt Anlass zum Überdenken der vier Phasen von Wallas. Hierzu ausführlich: Behne 1994

3 Auch Bahle (1982) formuliert schon zwei unterschiedliche Wege des Problemlöseverhaltens. Der Inspirati onstypus arbeitet eher unbewusst und improvisatorisch und der Arbeitstypus arbeitet eher bewusst und geplant arbeitet (vgl. Bahle 1982: 341-350). Hierzu auch Bahle (1986, S. 341 ff.)

1 Weitere Modelle und Forschungsergebnisse bezüglich des kreativen Prozesses werden von Hickey 2002 er- läutert (Hickey 2002).

2 Auch die motorische Umsetzung ist bei der Improvisation durch das zeitliche Beisammenliegen von Einfall und Realisation zentral: zur Erleichterung der Arbeitsgedächtnis können Motorprogramme aus dem Langzeitgedächtnis abgerufen und zusammengebaut werden (vgl. Lehmann 2005: 930).

3 Nach Hiley zeichnet sich der Prozess des Improvisierens durch eine flexible Aufmerksamkeitsverteilung aus, worunter ein assoziativer, tagträumerischer Zustand entsteht, welcher der Ideengenerierung dient (vgl. Hiley et al. 1996: 589).

1 Auch der Prozess des Improvisierens wird von Johnson-Laird (2002) so dargestellt, dass zunächst passende Muster generiert (vorbewusst) werden, welche danach einer (bewussten) Bewertung unterzogen werden (Johnson-Laird 2002.).

1 Auch Bullerjahn (2011) schlussfolgert, dass es keine universellen Stufen der kreativen Entwicklung gibt. (vgl. hierzu Bullerjahn 2011, S. 30)

1 In ähnlicher Weise argumentiert Elliott über das Zusammenspiel kreativer Leistungen und dem sozialen und kulturellen Umfeld. Hierzu ausführlich: Elliott 1995

1 Weisberg (1989) kritisiert grundlegend den Geniebegriff und beschreibt diesen als eine Eigenschaft, die einem Künstler von der Gesellschaft verliehen wird, wobei die Kriterien dafür sich mit der Zeit verändern. Ein Genie ist also nach Weisberg kein Persönlichkeitsmerkmal sondern eine Zuschreibung der Gesellschaft (vgl. Weisberg 1989: 121; 178).

1 Es lassen sich nach Sternberg und O´Hara unterschiedliche mögliche Beziehungen beschreiben: Kreativität als Unterkategorie, Intelligenz als Unterkategorie, beides ist identisch oder ist unabhängig voneinander (vgl. Sternbeg und O`Hara 1999). Hierzu ausführlich: Sternberg und O´Hara 1999: Creativity and intelligence Sternbeg und O`Hara 1999

Ende der Leseprobe aus 85 Seiten

Details

Titel
Über die Legitimation von Kompositionsunterricht für Kinder und Jugendliche
Hochschule
Justus-Liebig-Universität Gießen  (Musikwissenschaft und Musikpädagogik)
Note
1,2
Autor
Jahr
2015
Seiten
85
Katalognummer
V323934
ISBN (eBook)
9783668232136
ISBN (Buch)
9783668232143
Dateigröße
1195 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
über, legitimation, kompositionsunterricht, kinder, jugendliche
Arbeit zitieren
Taavi Wenk (Autor:in), 2015, Über die Legitimation von Kompositionsunterricht für Kinder und Jugendliche, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/323934

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