E-Partizipation und E-Governance. Chancen und Risiken von online-basierten kommunalen Bürgerhaushalten in Nordrhein-Westfalen

Allheilmittel gegen Politikverdrossenheit?


Dossier / Travail, 2014

86 Pages, Note: 1,3


Extrait


Inhalt

1. Einleitung

2. Theorie
2.1. Partizipation als Grundpfeiler der Demokratie
2.2. Deliberative Demokratie nach Habermas
2.3. Deliberative Demokratie und das Internet

3. Forschungsstand
3.1. Problemaufriss
3.2. Kommunaler Bürgerhaushalt – Definition, Ziele und Entwicklung
3.3. Kommunaler Bürgerhaushalt – Nordrhein-Westfalen
3.4. Chancen online-basierter kommunaler Bürgerhaushalte
3.5. Risiken online-basierter kommunaler Bürgerhaushalte

4. Forschungsdesign
4.1. Erhebungsinstrument: Qualitatives Experteninterview
4.2. Auswertungsinstrument: Qualitative Inhaltsanalyse
4.3. Fallauswahl
4.3.1. Bonn
4.3.2. Hilden
4.3.3. Wuppertal

5. Auswertung
5.1. Chancen
5.2. Risiken
5.3. Potenzialanalyse

6. Fazit

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Anhang

Interviewleitfaden

Transkripte der Interviews

Dirk Lahmann, Bonn

Dieter Hoffmann, Wuppertal

Heinrich Klausgrete, Hilden

Codesystem Maxqda

1. Einleitung

„Keiner ist mehr offline. Ein Leben ohne Internet ist eine Illusion.“

(Krammer 2014: 49)

Die Ministerpräsidentin Nordrhein-Westfalens Hannelore Kraft forderte in einer Regierungserklärung vom 12.09.2012.: „ Wir brauchen eine neue Politik der Beteiligung im digitalen Zeitalter. Das heißt: mehr aktive Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern, mehr Transparenz von Politik und Verwaltung, mehr Zusammenarbeit zwischen Verwaltung und Verbänden.“ (Landesregierung NRW 2012). Am 27.04.2014 verabschiedete Nordrhein-Westfalen als erstes Bundesland eine Open-Government-Strategie und liegt damit voll im Trend. Open Government ist in diesem Kontext ein Sammelbegriff für eine neue Art des „kollaborativen“ und offenen Regierens, die eng mit der Kommunikation über digitale Kanäle verknüpft ist. Eine solche Änderung vom „klassischen“ Regieren hin zu einer neuen, offenen Staats­kunst bedeutet nicht nur die reine Implemen­tation von Internetportalen für Bürger[1], viel wichtiger ist ein umfassender Kulturwechsel auf höchster politischer Ebene und in der Verwaltung (vgl. von Lucke 2010: 7) – ein Wandel der politischen Kultur und der Beziehung zwischen dem Staat und seinen Bürgern.

Der Cyberspace ist inzwischen zu einem der zentralen Umschlagplätze politischer Kommunikation und Meinungsbildung avanciert (vgl. Martini 2014: 11). Politiker und Wissenschaftler streiten jedoch seit Anbeginn des digitalen Zeitalters um dessen Bedeutung für die moderne Demokratie. In politikwissenschaftlichen Debatten werden die Folgen digitaler Kommunikation häufig als Freund oder Feind demokratischer Ideale stilisiert (vgl. Yang 2008: 1). Skeptiker sehen im Internet eine Gefährdung durch den „Digital Divide“, die Manifestierung neuer Eliten, eine Verflachung politischer Inhalte und einen Zerfall einer gemeinsamen Öffentlichkeit etc. (vgl. Jacob/ Thomas 2014: 38). Euphoriker hingegen sehen im digitalen Raum eine Möglichkeit zur Umsetzung des habermaschen Ideals vom herrschaftsfreien Raum und verständnisorientierten Deliberation (vgl. Kersting/ Schmitter/ Techsel 2008: 59f.) und verweisen hierbei immer wieder auf die revolutionäre Schlagkraft der digitalen Kommunikation im Zusammenhang mit dem arabischen Frühling (vgl. Wagner/ Schlögel 2014: 211f.). Die Entwicklung innovativer Instrumente beinhalte eine Wiederbelebung demokratischer Prinzipien, wie Partizipation und Machtkontrolle auf der Basis eines „Empowerments der Bürgerschaft (vgl. Kersting/ Schmitter/ Techsel 2008: 59f.). Diese neue Form der Bürger-Staat-Beziehung gilt einigen als Allheilmittel gegen die weitverbreitete Politikverdrossenheit der deutschen Gesellschaft (vgl. Roleff 2012: 20; Kersting, Schmitter/ Techsel 2008: 59f.). und als Möglichkeit, die wachsende Kluft zwischen der politischen Elite und dem Bürger einzureißen (vgl. Dreyer 2014: 21).

Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass immer mehr Politiker die sogenannte E-Partizipation für sich entdecken: Die Einbeziehung der Bürger in politische Prozesse auf digitaler Ebene bietet eine enorme Kosten- und Zeitersparnis gegenüber herkömmlicher offline Beteiligungsverfahren, sodass in den vergangenen Jahren in Deutschland viel mit Onlinepartizipationsverfahren experimentiert wurde (vgl. Schulze-Wolf 2007: 9) – es herrsche sogar ein „Überbietungswettbewerb“ (Martini 2014: 11). Neben Online-Dialogangeboten von Bund und Ländern, erfreuen sich vor allem kommunale Bürgerhaushalte wachsender Beliebtheit. Der kommunale Haushalt ist zwar ein eher sperriges Thema, jedoch auch ein idealer strategischer Ausgangspunkt, um Bürger in den politischen Prozess zu integrieren (vgl. Schaerffer/ Pauly 2004: 8). In der vorliegenden Hausarbeit soll daher das Potenzial von online-basierten kommunalen Bürgerhaushalten eruiert werden – können online-basierte Bürgerhaushalte als Allheilmittel gegen Politikverdrossenheit dienen? Dabei wird zunächst eine demokratietheoretische Brücke zur habermaschen deliberativen Demokratietheorie geschlagen. Im Forschungsstand wird die aktuelle Problemlage der Politik aufgezeigt. Im Anschluss soll das Thema kommunale Bürgerhaushalte, die neue Qualität von online-gestützten E-Partizipationsverfahren sowie deren Risiken und die Chancen herausgearbeitet werden. Um das Potenzial solcher Verfahren zu ermessen, wurden drei Experteninterviews in den Städten Bonn, Hilden und Wuppertal geführt. Im empirischen Teil dieser Arbeit werden diese Interviews entlang der zuvor herausgestellten Chancen und Risiken analysiert und zu einer anschließenden Potenzialanalyse zusammengeführt.

2. Theorie

2.1. Partizipation als Grundpfeiler der Demokratie

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

In der Demokratieforschung werden in der Regel drei essenzielle Grundpfeiler für eine nachhaltige und stabile Demokratie unterschieden: Transparenz, Le­gitimation und Partizipation (vgl. Roleff 2012: 17). Transparenz soll politischen Interessenslagen und den Prozess politischer Willensbildung sichtbar machen und gewährleistet so die notwendige Kontrolle politischer Herrschaft. „Von dem Gedanken beseelt, dass die gut informierte Öffentlichkeit der beste Garant gelebter Volkssouveränität ist, legt sie die Grundlage für eine erfolgreiche Einbeziehung des Bürgers in die staatliche Entscheidungsfindung.“ (Martini 2014: 13). Transparenz ist somit eine Grundvoraussetzung für Partizipation. In Anlehnung an Kaase, ist Beteiligung von Individuen ein konstituierender Bestandteil von politischen Systemen. Unter politischer Partizipation werden dabei alle Verhaltensweisen von Bürgern verstanden, die nach Einflussnahme auf politische Entscheidungen auf das politische System streben (vgl. Kaase 2011 zitiert nach Heidbreder/ Feller/ Frieß 2013: 605). Partizipation verbreitert nicht nur die Wissensbasis, auf deren Grundlage der Staat seine Entscheidungen trifft - und damit auch die Entscheidungsqualität - sie trägt auch dazu bei, dass die Bürger das Entscheidungsergebnis besser nachvollziehen und verstehen können (vgl. Martini 2014: 13). In einer Demokratie müssen die Regierenden ihre politischen Entscheidungen gegenüber den Bürgern legitimieren und Akzeptanz dafür schaffen. Politische Systeme stehen daher permanent unter Anpassungsdruck, um die Grundlagen ihrer Existenz zu sichern (vgl. Wölk/ Oertel/ Oppermann/ Scheermesser 2008: 45). Die Legitimität demokratisch verfasster politischer Systeme speist sich aus Input- (Zustimmung zur Herrschaftsform) und Output-Legitimation (Ausübung der Herrschaft) (vgl. Decker/ Lewandowski/ Solar 2013: 10). „ Während politische Partizipation auf der Outputseite zu einer verbesserten Problemorientierung und somit zu besserer Politik führt, stellt sie zudem eine erhöhte Input-Legitimation her. Erfolgreiche Partizipation steigert das Political Efficacy-Bewusstsein[2]. […] Dieses steigert die Input-Legitimation des politischen Systems und bewirkt gleichzeitig eine erhöhte Beteiligungsbereitschaft.“ (Kersting 2008: 14).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Ladder of Citizen Participation (eigene Darstellung)

Arnsteins (1969) Konzept „Ladder of Citizen Participation“ gilt als Klassiker der normativen partizipativen Demokratietheorie und dient der Kategorisierung von Partizipationsinstrumenten (s. Abb. 1). Als unterste der acht-stufigen Leiter sieht er „Instrumente der Inklusion“, die aber tatsächlich eine „Nicht-Beteiligung“ darstellen, da die Möglichkeit der Mitgestaltung nur scheinbar vorhanden ist. Arnstein bemängelt dabei, dass politische Eliten die Bürger zwar zur Teilhabe animieren, aber die zentrale Intention darin besteht, die Teilnehmer zu „belehren“ (Manipulation) oder zu „kurieren“ (Therapie), um die Machtposition der Eliten nur noch weiter zu bestärken. Eine tatsächliche Bürgermacht findet nur auf den oberen drei Stufen statt (vgl. Kersting 2008: 15).

2.2. Deliberative Demokratie nach Habermas

Habermas' Theorie über das „kommunikative Handeln“ legt den Grundstein für ein Konzept der „deliberativen Demokratie“, das durch Partizipation an einem offenen, herrschaftsfreien Diskurs – eine „ideale Sprechsituation" – durch Argumente fundiert und durch gegenseitige Empathie und Konsensfindung geprägt ist (s. Habermas 1991, 1996) (vgl. Kersting 2008: 13f.). Mit dem Begriff der „deliberativen Politik“ beschreibt er ein demokratisches Verfahren für den Prozess der politischen Meinungs- und Willensbildung und legt Voraussetzungen dar, die erfüllt sein müssen, um in einem Diskurs aller Beteiligten zu konsensfähigen Meinungen zu kommen, die dann in Politik umgesetzt werden (vgl. Habermas 1992 zit. nach Wölk/ Oertel/ Oppermann/ Scheermesser 2008: 13f.):

- Sachgerechte Informationen müssen vorhanden sein, die von den Diskursteilnehmern verarbeitet werden können. Es muss zudem einen öffentlichen argumentativen Austausch von Informationen geben, der alle Beteiligten gleichberechtigt einbezieht.
- Die Beteiligung muss chancengleich und frei von externen wie internen Zwängen sein.
- Die Themen dieses öffentlichen argumentativen Austausches müssen solche sein, die für alle Beteiligten von Bedeutung sind – sie müssen somit von den Beteiligten selbst festgelegt werden.
- Es muss zudem die Unbegrenztheit des Diskurses gewährleistet sein, um das Erreichen von stabilen Ergebnissen zu ermöglichen.

Eine so verstandene deliberative Öffentlichkeit erweitert zum ei­nen den politischen Handlungsspielraum von […] Bürgern eines demokrati­schen Staats, indem diese über die Teilhabe an Wahlen hinaus die Möglichkeit erlangen, ihre politischen Überzeugungen und Argu­mente in den politischen Prozess einzuspei­sen.“ (Jacob/ Thomas 2014: 35f.). Die deliberative Demokratietheorie sieht den Mangel an Beteiligungsmöglichkeiten als den Ursprung politischer Apathie an (vgl. aktuelle Situation der Politverdrossenheit). Habermas (1991) verweist in dieser Hinsicht auf die Notwendigkeit individueller Autonomie und die soziale Verantwortung der „demokratischen Persönlichkeit“, die durch „Empowerment“ erreicht werden kann (vgl. Kersting 2008: 13f.)

2.3. Deliberative Demokratie und das Internet

Mit dem Aufkommen des Internets war schon früh die Hoffnungen auf den Abbau von Informationsungleichheiten und eine Belebung demokratischer Diskurse verbunden (vgl. Schmidt 2012: 3f.): Im Internet kann nun jeder Ein­zelne nicht nur Informationen aufnehmen, sondern auch aktiv eigene Informatio­nen und Argumente einer breiteren Öffent­lichkeit zur Verfügung stellen während die herkömmlichen Massenmedien („ Gatekeeper “, Roleff 2012: 15) die Themensetzung und den Zugang regeln (vgl. Jacob/ Thomas 2014: 36). Diese potenzielle Ausweitung der Öffentlichkeit geht zugleich mit einer Abnahme der Bedeutung ökonomischen Kapitals für den Zugang zur Öffentlichkeit einher. Für die Bürger und andere Organisationen entfallen durch die neuen technischen Möglichkeiten des Internets eine Vielzahl jener Kosten, die bisher nötig waren, um Zugang zur Öffentlichkeit zu erhalten. „ Das Habermas’sche Ideal eines Diskurses, an dem alle Betroffenen sich unabhängig von ihren ökonomischen Ressourcen in gleicher Weise beteiligen können, scheint somit in greifbare Nähe zu rücken.“ (Siedschlag 2012: 172). Doch Habermas selbst sieht neben dem Potenzial des Internets einen „herrschaftsfreien Diskurs“ zu schaffen auch Nachteile:

"Die Nutzung des Internets hat die Kommunikationszusammenhänge zugleich erweitert und fragmentiert. Deshalb übt das Internet zwar eine subversive Wirkung auf autoritäre Öffentlichkeitsregime aus. Aber die horizontale und entformalisierte Vernetzung der Kommunikationen schwächt zugleich die Errungenschaft traditioneller Öffentlichkeiten. Diese bündeln nämlich innerhalb politischer Gemeinschaften die Aufmerksamkeit eines anonymen und zerstreuten Publikums für ausgewählte Mitteilungen, sodass sich die Bürger zur gleichen Zeit mit denselben kritisch gefilterten Themen und Beiträgen befassen können. Der begrüßenswerte Zustand an Egalitarismus, den uns das Internet beschert, wird mit der Dezentralisierung der Zugänge zu unredigierten Beträgen bezahlt." (Habermas 2008: 161)

Das Internet hat also ein „Doppelgesicht“: Zwar birgt es die Möglichkeit eine diskursive Sphäre und Beteiligung der Bürger zu schaffen, aber es besteht auch die Gefahr einer Fragmentierung der Öffentlichkeit (vgl. Yang 2008: 8f.). Der Gesellschaftsphilosoph Han geht angesichts der jüngeren Entwicklungen des Internets sogar soweit, das „ Ende des kommunikativen Handelns “ zu prophezeien (vgl. Han 2013 zitiert nach Yang 2008: 8f.).

3. Forschungsstand

3.1. Problemaufriss

In diesem Problemaufriss soll ein Bogen gespannt werden, warum die aktuell häufig konstatierte Krise der Politik vermehrt zu einem Ruf nach mehr Bürgerbeteiligung, insbesondere in Form von E-Partizipation führt.

Soeben wurde in der Theorie konstatiert, dass drei Kriterien maßgeblich zu einer stabilen Demokratie beitragen: Legitimation, Transparenz und Partizipation. Viele Politikwissenschaftler machen jedoch ein wachsendes Legitimationsdefizit des politischen Systems fest (vgl. Wölk/ Oertel/ Oppermann/ Scheermesser 2008: 9). Die Gründe dafür sind vielschichtig: Wesentlicher Bestandteil dieser Krise ist der Vertrauensverlust in die politische Elite und die wachsende Kluft zwischen Staat und den Bürgern (vgl. Dreyer 2014: 21; Creutzburg 2012: 73) – diese werfen der Politik mangelnde Dialogfähigkeit vor (vgl. Schulz 2012: 42f.; Hagedorn 2007: 21).[3]Die Substanzverluste der Demokratie haben sich verstärkt. Gesprächsstörungen im Sinne eines gestörten Dialogs zwischen Politik und Bürgern nehmen zu.“ (Korte 2012: 51f.). Auch eine weit verbreitete Verachtung der etablierten Politik, auch in den höher gebildeten Kreisen, wird beobachtet (vgl. Kersting 2008: 42f.; Korte 2012: 51). Häufige Reaktionen auf die wahrgenommene Repräsentationslücke der etablierten Politik (vgl. Creutzburg 2012: 73) sind entweder Apathie und Politikverdrossenheit oder die Artikulation durch nicht etablierte Verfahren der Willensbildung, wie zunehmend heftigere Proteste (vgl. Korte 2012: 57). „ Neben der Gesprächsstörung zweifeln viele Bürger am Leistungsvermögen der politischen Institutionen. Die Zeitkrise des Politischen treibt alles an.“ (Korte 2012: 58). Politische Entscheidungen müssen in einer globalisierten Welt immer schneller gefällt werden und das auf der Grundlage von einer rapide steigenden Komplexität. Durch diesen Zeitmangel nimmt im politischen Raum Informalität in der Willensbildung und Entscheidungsvorbereitung zu – das bedroht die Transparenz des politischen Systems (vgl. Korte 2012: 59f.). Bei dem Bürger entsteht leicht der Eindruck, „ Politik finde hinter verschlossenen Türen statt, werde im stillen Kämmerlein gemacht.“ (Schulz 2012: 42f). Demokratisch gewählte Parlamente geben zunehmend Entscheidungskompetenzen an oft nur indirekt legitimierte Exekutiven ab, sowie an zunehmend wichtiger werdende Expertengremien (vgl. Kersting 2008: 41f.). Zudem werden klassische staatliche Aufgaben häufiger privatisiert, sodass hier Entscheidungskompetenzen entfallen. Gleichzeitig verlagern sich Kompetenzen häufig weg von den bislang dominierenden nationalen Parlamenten hin zu supranationalen Institutionen, wie der EU. „ In einer durch Finanzkrisen, Privatisierungswellen und Postparlamtarismus geprägten Entwicklung erfahren die gewählten Parlamentarier trotz Professionalisierung einen Kompetenzverlust. “ (vgl. Kersting 2008: 43f.). Vor dem Hintergrund dieses umfangreichen Kompetenzverlustes wird insbesondere in den unteren Bildungsschichten Politik ausschließlich als Rivalität zwischen Politikern im Rahmen von Wahlen gesehen - hieraus resultiert nicht selten politische Apathie und Desinteresse. In höher gebildeten Gruppen zeigt sich zwar durchaus ein Interesse an politischen Inhalten, doch auch hier können trotz hohen politischen Kenntnisstands, politischer Zynismus und ein mangelndes Efficacy -Bewusstsein festgestellt werden. Neben dem Verlust von Entscheidungskompetenzen werden zudem Steuerungsdefizite und mangelnde Effektivität staatlicher Programme wahrgenommen. „ Politik wird als wenig einflussreich wahrgenommen, wodurch der Eindruck des bloßen Machtkampfes um Privilegien zwischen Parteien und Politikern verstärkt wird.“ (Kersting 2008: 44f.).

Die wachsende Politikverdrossenheit und die Legitimationskrise finden durchaus Gehör bei den politischen Eliten. Da die Parteien seit der Auflösung der traditionellen sozialen Milieus nicht mehr wie früher in der Lage sind als zentrale Plattform von Partizipation zu fungieren (vgl. Kersting 2008: 42f.), müssen neue Konzepte herangezogen werden – Bürgerbeteiligung und Instrumente direkter Demokratie werden häufig als Antwort auf Politikverdrossenheit und ein verändertes Partizipationsbedürfnis genannt (vgl. Dreyer 2014: 21). Eine repräsentative Umfrage der Bertelsmann Stiftung (2011) zum Interesse der Bevölkerung an politischer Beteiligung bestätigt die häufig angebrachte Beobachtung, dass die Bevölkerung mehr Mitsprache an politischen Prozessen einfordert: Der Trend gehe „ zu verbindlichen Beteiligungsprojekten, aber auch kommunale Fragestellungen - wie Bürgerhaushalte - interessieren die Bürger.“ (Bertelsmann Stiftung 2011: 1). Dabei sprachen sich 78 Prozent der Befragten für direktdemokratische Beteiligungsformen wie Volksentscheide aus. Aber auch das Interesse an Bürgerhaushalten ist groß: Fast die Hälfte der Befragten (47%) sagte aus, dass sie an solchen Entscheidungen schon einmal mitgewirkt haben oder gern mitwirken würden (vgl. ebd.: 1). Doch wie ist eine umfassende Mitwirkung der Bürger am besten zu realisieren?

Das Internet bietet sich als kostengünstiges und effektives Medium an (vgl. Koop 2010: 14). Durch die fast basisdemokratisch zu nennenden Grundzüge des Internets sind ideale Voraussetzungen gegeben, um demokratische Beteiligungsverfahren zu etablieren, da sich viele Instrumente der Internet-Community wie Foren oder Chats hervorragend eignen, um in angepasster Form in Beteiligungsverfahren eingesetzt zu werden (vgl. Schulze-Wolf 2007: 9). E-Partizipation steht in diesem Sinne für Verfahren, mit denen Entscheidungsträger mit Hilfe des Internets Bürger an einem Kommunikationsprozess zur Vorbereitung politischer Entscheidung beteiligen. „ Im Mittelpunkt steht dabei die Inwertsetzung von Diskursoptionen, die sich aus den Eigenschaften computervermittelter Kommunikation ableiten lassen, hier insbesondere aus dem Zusammenspiel von Ortsunabhängkeit, Zeitunabhängigen und Textbasiertheit.“ (Märker 2007: 152f.).

Der bestehende Wille zu mehr Bürgerbeteiligung seitens Politik speist sich zum einen aus der Erkenntnis, dass das aktuelle politische System eine Reihe von Defiziten aufweist. Relativ neu ist hingegen die Hoffnung, „ diese Defizite könnten im Wege staatlicher Initiativen durch das Internet ausgeglichen werden.“ (Wagner 2014: 212). Wie realistisch diese Hoffnung ist, bleibt in der Wissenschaft umstritten – die Trennlinie der Diskussion verläuft zwischen den Extremen von Euphorie und Skepsis (vgl. Yang 2008: 1). Viele verweisen auf das große Potenzial und die enorme Reichweite des Internets im Allgemeinen (vgl. Krammer 2014: 51ff.) und darauf, dass die Politik die Hilfe des Bürgers nötig habe, um seine Krise zu überwinden (vgl. Daniel 2005: 9). „ Die Vernetzung, die das Internet ermöglicht, legt das Fundament für eine neue kommunikative Logik. Sie etabliert ein neues Diskursmodell politischer Herrschaft.“ (Martini 2014: 11). Jedoch mehren sich auch Studien, die dem Internet eine eher schlechte Bilanz in Bezug auf seine politische Wirkungsmächtigkeit ausstellen. Meißelbach (2009) konstatiert in einer Zusammenfassung über das Potenzial des Web 2.0, dass das Interesse von Internetnutzern an politischen Inhalten äußerst gering ist und dass mit politischen Angeboten hauptsächlich jene erreicht werden, die auch offline bereits politische Angebote wahrnehmen. Zwar kann der Staat durch die neuen Möglichkeiten des Internets eine nie dagewesene Transparenz schaffen, jedoch kritisiert Meißelbach, dass es den staatlichen Angeboten noch an der notwendigen Akzeptanz fehlt. Er vermutet jedoch, dass dieser Mangel mit der Nichtausschöpfung des vollen Potenzials des Web 2.0 zusammenhängt (vgl. Meißelbach 2009: 99ff.). Auch die Bertelsmann Stiftung räumt in der zuvor erwähnten Umfrage ein, dass Bürgerbeteiligung im Internet möglicherweise in der öffentlichen Diskussion bislang überschätzt wurde: Fast die Hälfte (48%) lehnt Online-Befragungen für sich ab, viele (54%) sind nicht für Abstimmungen im Internet zu haben und mehr als zwei Drittel (67%) würden keine eigenen Beiträge in Blogs oder Internet-Foren verfassen (vgl. Bertelsmann Stiftung 2011: 1). E-Partizipationsversuche, wie z.B. die Diskussionsplattform Adocracy, eingesetzt durch die Enquete-Kommission Internet und digitale Gesellschaft des deutschen Bundestages, verweisen jedoch durchaus auf praktische Erfolge, die relativ kurzfristig erreicht werden konnten (vgl. Roleff 2012: 17f.; Creutzburg 2012: 84).

Das Potenzial von Instrumenten der E-Partizipation mit einer Abwägung von Risiken und Chancen, lässt sich jedoch schwerlich in einer Hausarbeit erschöpfend darstellen, sodass der Untersuchungsgegenstand auf ein in Deutschland inzwischen häufig zum Einsatz kommendes Instrument im lokalen Kontext von Nordrhein-Westfalen beschränkt wird: Der kommunale Bürgerhaushalt.

3.2. Kommunaler Bürgerhaushalt – Definition, Ziele und Entwicklung

Von den Haushaltsentscheidungen sind alle Bürger direkt oder indirekt betroffen. Umso erstaunlicher ist es, dass das Interesse der Bürgerschaft an der Vorbereitung der Haushaltssatzung sehr begrenzt ist und von den bereits vorhandenen Beteiligungsrechten kaum Gebrauch gemacht wird (vgl. Schaerffer/ Pauly 2004: 4). Das Modell des kommunalen Bürgerhaushalts stammt aus Brasilien: In der Hafenstadt Porto Alegre (1,4 Mio. Einwohner) wurde 1989 den Bürgern die Möglichkeit eingeräumt sich direkt am Haushaltsverfahren zu beteiligen, um die steigenden Schulden und die grassierende Korruption in den Griff zu bekommen. Das Modell fand zunächst in zahlreichen brasilianischen Städten Nachahmer und wird seit Ende der 1990er inzwischen in vielen deutschen Kommunen erprobt (vgl. Nitschke 2005: 94; Holterkamp 2008: 222; Weber 2005: 23f.). Mit der Einführung eines Bürgerhaushalts werden in der Regel drei zentrale Ziele verfolgt (vgl. Schaerffer/ Pauly 2004: 9):

1. Transparenz für die Bürgerschaft über den Haushalt und die Haushaltsplanung schaffen.
2. Beteiligung der Bürger ermöglichen und so den Dialog zwischen Bürgerschaft, Politik und Verwaltung verbessern.
3. Entscheidungshilfen für die Politik generieren.[4]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Klassische Beteiligungsformate und Bürgerhaushalte (Sintomer/ Herzberg/ Roecke 2010)

Der Bürgerhaushalt stellt eine neue Qualität der Beteiligung dar, die insbesondere durch die Rechenschaftslegung über den Umgang mit den Bürgervorschlägen erreicht werden kann (vgl. Herzberg 2010).

Beim kommunalen Bürgerhaushalt geht es, anders als bei klassischen Beteiligungsformen darum, dass die Bürger nicht nur in Kontakt zur Politik und Verwaltung treten, um über einen politischen Sachverhalt zu verhandeln, sondern vor allem auch darum, dass sie sich untereinander austauschen und vernetzen. Eine solche „horizontale“ Verständigung konnte in Porto Alegre und bei anderen Bürgerhaushalten beobachtet werden. Allerdings reicht dies als Definition noch nicht aus (vgl. Herzberg/ Sintomer/ Allegretti/ Roecke/ Alves: 11). In Anlehnung an das Projekt „Europäische Bürgerhaushalte“ werden folgende fünf Bedingungen als Definitionsgrundlage angelegt (vgl. Herzberg 2010):

1. Im Zentrum der Beteiligung stehen finanzielle Angelegenheiten, es geht um begrenzte Ressourcen.
2. Die Beteiligung findet auf der Ebene der Gesamtstadt oder auf der eines Bezirks mit eigenen politischen und administrativen Kompetenzen statt.
3. Es handelt sich um ein auf Dauer angelegtes und wiederholtes Verfahren. Ein einmaliges Referendum zu haushalts‑ oder steuerpolitischen Fragen ist kein Bürgerhaushalt.
4. Der Prozess beruht auf einem eigenständigen Diskussionsprozess, der mittels Internet oder Versammlungen geführt wird. Eine schriftliche Befragung allein ist demnach kein Bürgerhaushalt.
5. Die Organisatoren müssen Rechenschaft in Bezug darauf ablegen, inwieweit die im Verfahren generierten Vorschläge aufgegriffen und umgesetzt werden.[5]

Die meisten Bürgerhaushalte unterlaufen zudem drei Phasen (vgl. Lars Holterkamp 2008: 223f.):

1. Informationsphase - nach der Haushaltseinbringung im Stadtrat werden die Bürger über den Gesamthaushalt in verständlich aufbereiteter Form informiert.
2. In der Konsultationsphase wird den Bürgern in Bürgerforen (on- oder offline) die Möglichkeit gegeben über Prioritäten bei den Sparmaßnahmen oder den Investitionsmaßnahmen zu diskutieren.
3. In der Rechenschaftsphase soll der Rat durch Broschüren bzw. Internetangebote darüber Auskunft geben, welche Beteiligungsprozesse von ihm umgesetzt bzw. warum bestimmte Ergebnisse nicht umgesetzt wurden.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 3: Kommunale Bürgerhaushalte in Deutschland im Vergleich (buergerhaushalt.org 2014)

Die Onlineplattform buergerhaushalt.org gibt alljährlich einen alljährlichen Statusbericht über die Entwicklung kommunaler Bürgerhaushalte in Deutschland heraus (s. Abb. 3):

Die aktuellen von Daten von 2013 zeigen, dass von 432 erfassten Kommunen insgesamt 87 entweder einen Bürgerhaushalt eingeführt haben oder ihn aktuell fortführen – NRW liegt mit 44 eingeführten und 16 fortgeführten Bürgerhaushalten an der Spitze der Bundesländer. Zudem kann einerseits ein stetiges Wachstum von Bürgerhaushalten seit Messbeginn (2008) konstatiert werden, jedoch gibt es vermehrt Kommunen, die ihre Bemühungen wieder einstellen (häufig unter „Kein Status“ gezählt) (vgl. Ruesch, M./ Ermert, J. 2014: 4ff.). Bürgerhaushalte in Deutschland greifen stark auf das Internet zurück – Tendenz jedes Jahr steigend. Die meisten Bürgerhaushaltsverfahren (30) nutzen demnach das Internet als primären Beteiligungskanal und greifen parallel auf unterstützende Vor-Ort-Beteiligung. Bürgerhaushalte, die ausschließlich über Online-Foren oder spezielle Beteiligungsplattformen realisiert werden, bilden mit etwas Abstand die zweitgrößte Gruppe in dieser Verteilung (23) (vgl. Ruesch, M./ Ermert, J. 2014: 11).

3.3. Kommunaler Bürgerhaushalt – Nordrhein-Westfalen

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 4: Projektkommunen "Kommunaler Bürgerhaushalt" (Schaerffer/ Pauly 2004)

Das Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen und die Bertelsmann Stiftung haben 2000 gemeinsam das Modellprojekt „Kommunaler Bürgerhaushalt“ initiiert. In sechs Projektkommunen wurden verschiedene Instrumente erprobt, um den kommunalen Haushalt für die Bürgerschaft verständlich aufzubereiten und die Bürger im Dialog mit Politik und Verwaltung in den Prozess der Haushaltsaufstellung einzubeziehen (vgl. Schaerffer/ Pauly 2004: 6; Pröhl 2005: 18; Holterkamp 2008: 224). Als Projektkommunen wurden mit Castrop-Rauxel, Emsdetten, Hamm, Hilden, Monheim am Rhein und Vlotho Städte mit unterschiedlicher Einwohnerzahl, Lage und Struktur ausgewählt. Die Entscheidungskompetenz des Stadtrates sollte durch das Modellprojekt in keiner Weise tangiert werden – die Bürger sollten nicht entscheiden sondern beraten. Der Schwerpunkt des Bürgerhaushaltsverfahrens lag bei den teilnehmenden NRW-Kommunen daher eindeutig auf den Säulen Transparenz und Information sowie Rechenschaftslegung (vgl. Rüttgers 2008: 6f.). Nach Ablauf des Projektes 2004 führten jedoch drei Städte trotz der eigens entwickelten Konzepte ihre Bürgerhaushalte nicht weiter – Gründe dafür waren finanzielle Notlagen (Castrop-Rauxel) und ein verhältnismäßig großer Aufwand im Vergleich zur Resonanz (Monheim) (vgl. Holterkamp 2008: 224, 229f.). Das größte Hemmnis von Bürgerhaushalten In NRW sieht Holterkamp hierin: „ Aufgrund der kommunalen Haushaltskrise haben in den letzten Jahren die Aufsichtsbehörden einen immer stärkeren Einfluss auf die kommunalen Haushalte. Insbesondere in nordrhein-westfälischen Kommunen gelingt es immer weniger die Verwaltungshaushalte auszugleichen, mit der Folge, dass Haushaltssicherungskonzepte ausgewiesen werden müssen. [...] Bei diesen Rahmenbedingungen und Akteurskonstellationen ist die Beteiligung der Bürger an der Haushaltsplanung sicherlich nicht unproblematisch “ (vgl. Holterkamp 2008: 228f.).

3.4. Chancen online-basierter kommunaler Bürgerhaushalte

In der Wissenschaft und in der kommunalen Praxis werden Bürgerhaushalten hohe Leistungen für die Input- und Output-Legitimität des kommunalen Systems zugeschrieben: Auf der Inputseite wird eine höhere Transparenz, eine stärkere Akzeptanz von Konsolidierungsmaßnahmen und eine breite Inklusion unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen erwartet. Die Output-Legitimität des politischen Systems soll dadurch erhöht werden, dass durch die Nutzung von gesellschaftlichem Wissen gemeinsam mit der Verwaltung problemadäquatere Lösungen entwickelt werden (vgl. Meißelbach 2009: 110). Durch die Aktivierung Bürger („Empowernment“) und ehrenamtlichem Engagements sollen die zunehmend bescheideneren kommunalen Ressourcen ergänzt werden. Die Beteiligung soll Kommunalpolitiker darüber hinaus zu sparsameren Haushalten anleiten und gesellschaftliche Widerstände gegen Konsolidierungsmaßnahmen abbauen helfen (vgl. Holterkamp 2008 226f.). Die Bürger werden besser informiert, setzen sich so mehr mit den Inhalten auseinander und „lernen“, wie der demokratische Prozess funktioniert – Politik wird dadurch „erfahrbar“ gemacht und ein Verständnis für die Entscheidungsprobleme von Politik kann gefördert werden (vgl. Creutzburg 2012: 84; Hagedorn 2007: 20f.). Durch die Entwicklung eines kontinuierlichen Dialogs zwischen Bürger, Politik und Verwaltung, des Aufbaus einer „stabilen Beteiligungs-Infrastruktur“ (Banner 2005: 21f.) kann nach und nach Vertrauen in die Politik zurückgewonnen werden (vgl. Hagedorn 2007: 21f.; Schulz 2012: 42f.). Zusammenfassend lassen sich folgende Chancen für Bürgerhaushalte ausmachen (vgl. Nitschke 2005: 94f.; von Lucke 2010: 10):

- neuer Dialog zwischen Verwaltung, Politik und Bürgerschaft (Wandel politischer Kultur).
- gemeinsame Gestaltung der schwierigen finanziellen Situation und konkrete Anregungen für Sparmöglichkeiten sowie alternative Einnahmequellen.
- Einbindung der Bürger als Impulsgeber und Betroffene des Prozesses.
- differenziertes Meinungsbild zu geplanten oder investiven Vorhaben.
- erhöhte Transparenz und Akzeptanz haushaltspolitischer Entscheidungen.

Mit Hilfe des Internets können Politik und Verwaltung grundsätzlich mehr Menschen schneller an politische Informationen und Entscheidungsprozessen teilhaben lassen. Insofern Informiertheit die Grundlage jeglicher Partizipation ist, kann Online-Kommunikation politische Teilhabe verbessern und erweitern (vgl. Wölk/ Oertel/ Oppermann/ Scheermesser 2008: 12f.). Die Bertelsmann Stiftung, die bereits im NRW Modellprojekt „Kommunaler Bürgerhaushalt“ involviert war (s. S. 12), fasst die Vorteile von E-Partizipation wie folgt zusammen (vgl. Koop 2010: 22):

- Vereinfachung der direkten und zielgruppenspezifischen Ansprache interessierter und betroffener Gruppen (bessere Erreichbarkeit vor allem jüngerer Bürger).
- Vereinfachung der Bereitstellung und Übermittlung von Informationen.
- Verringerung von Kosten durch Onlineangebote.
- Zeitliche und örtliche Unabhängigkeit.
- Bündelung aller Beiträge und Vorschläge auf einer einzigen Plattform.
- Umfangreiche Strukturierbarkeit und Anpassungsfähigkeit der Verfahren auf die jeweiligen Bedarfslagen und Bedingungen.
- Möglichkeit der öffentlichen und gleichberechtigten Interaktion zwischen den Konsultationsteilnehmern und mit der Verwaltung.
- hohe Transparenz ohne zusätzlichen Aufwand und Vereinfachung der Auswertung.
- Affektabbau und Protesten vorbeugen.

3.5. Risiken online-basierter kommunaler Bürgerhaushalte

Kritisch ist zunächst anzumerken, dass verschiedene Studien darauf hinweisen, dass das Interesse der Bürger am Haushaltsverfahren teilzunehmen im Vergleich zu konkreten Projekten nicht sehr ausgeprägt ist[6] (vgl. Holterkamp 2008: 229f.). Hinzu kommt, dass spätestens im Notfallhaushaltsrecht der Haushaltsplan nur wenig aussagekräftig ist und wesentliche Entscheidungen in nichtöffentlichen Verhandlungen mit Aufsichtsbehörden verlagert werden. Durch Partizipation würden dann bei den Bürgern Erwartungen geweckt, die hinterher systematisch enttäuscht werden (vgl. Holterkamp 2008: 231). Aber auch in Kommunen mit günstiger Haushaltslage, ist die Umsetzung der Ergebnisse des Bürgerhaushaltes nicht immer ein Selbstläufer. Viele Kommunalpolitiker sehen das Budgetrecht als das Königsrecht der kommunalen Vertretungskörperschaften an (vgl. Holterkamp 2008: 232). „ Die Fachleute der Verwaltung sehen ihr Sachverstandsmonopol, die Kommunalpolitiker ihr Repräsentationsmonopol und die Lobbyisten ihr Zugangsmonopol zu den kommunalen Entscheidern infrage gestellt. Der hinzutretende neue Mitspieler - der Bürger - bringt die Spielregeln der etablierten Akteure durcheinander. Volksgewählte Bürgermeister wachsen in eine wichtige Moderatorenrolle hinein.“ (Banner 2005: 21f.). Kontraproduktiv ist zudem, wenn Politiker Bürgerbeteiligung weniger als verbindliche politische Partizipation verstehen, sondern mehr als öffentlicher PR oder als Alibiveranstaltung (vgl. Wölk/ Oertel/ Oppermann/ Scheermesser 2008: 9f.; Martini 2014: 13f.). In einem Artikel auf (vgl. buergerhaushalt.org 2014) wurden einzelne Risiken wie folgt zusammengefasst:

- Die Beteiligung geht nicht weit genug oder wird als Scheinbeteiligung wahrgenommen.
- Kompetenzabgabe der Politiker untergräbt die repräsentative Demokratie.
- Das Kosten-Nutzen-Verhältnis in Zeiten leerer Kassen ist fragwürdig.
- Bürger sind nicht qualifiziert genug – Haushaltsplanung ist zu komplex und die Vorschläge dementsprechend kaum verwertbar.
- Wunschkonzerte wecken falsche Erwartungen und führen zu Enttäuschungen.
- Enttäuschung der Bürger über Prozess oder Umsetzung steigert Politikverdrossenheit.

Nicht nur die bloße Einbindung der Bürger in das Haushaltsverfahren bietet Risiken, sondern auch die Fokussierung auf online-basierte E-Partizipation birgt Nachteile. Am häufigsten wird hier eine Spaltung der Gesellschaft („Digital Divide“) in Onliner und Nicht-Onliner, sowie höher und niedriger Gebildeter problematisiert (vgl. Krammer 2014 51ff.; Wagner/ Schlögel: 212, 215f.): „ Die Implikationen dieser infrastrukturellen und sozial-gesellschaftlichen Unterschiede in der Internetnutzung sind nicht trivial. […] Regieren und Verwalten im und über das Internet ermöglicht in vielen Punkten eine erweiterte demokratische Teilhabe, aber eben nicht für alle Bürger in gleichem Maße.“ (Roleff 2012: 16). Meißelbach weist darauf hin, dass das Interesse von Online-Nutzern an politischen Angeboten nicht besonders hoch ist und daher meist nicht neue Nutzer, sondern die „üblichen Verdächtigen“ erreicht werden. Es besteht zudem die Gefahr einer neuen Elitenbildung und die Reproduktion von Machtsymmetrien (vgl. Meißelbach 2009: 99ff.). Aufgrund der noch geringen Akzeptanz solcher Angebote (vgl. ebd. 2009: 101f.), ist es umso wichtiger auch außerhalb des Internets darauf aufmerksam zu machen und Bekanntheit zu schaffen. Zusammenfassend können zudem folgende Punkte genannt werden (vgl. Wölk/ Oertel/ Oppermann/ Scheermesser 2008: 50f.; Koop 2010: 23):

- Durch mangelhaftes Feedback seitens der Verantwortlichen und mangelnder Transparenz, was mit ihren Vorschlägen passiert, kann die Politikverdrossenheit der Nutzer noch vergrößert werden.
- Die Ziele der interaktiven Dialogangebote werden häufig nicht explizit formuliert.
- Stimmungs- und Meinungsbilder sind nicht repräsentativ.
- Die hohe Geschwindigkeit und Flüchtigkeit der Kommunikation kann zu einer Trivialisierung politischer Inhalte und Abläufe führen.
- Manipulationsanfälligkeit der Portale durch extremistische Gruppen oder durch Hacker.
- Mangelnde personelle und finanzielle Ressourcen aufseiten der Verwaltung.
- Unzureichende Planung für Durchführung und Nachbereitung.
- Mangelnder Gestaltungsspielraum und keine Einbettung des Verfahrens in den Verwaltungskontext.

4. Forschungsdesign

4.1. Erhebungsinstrument: Qualitatives Experteninterview

Mit dem qualitativen Interview ist es möglich retrospektiv an relevante Informationen über den stattgefunden Prozess – die online-basierten Bürgerhaushalte – jenseits einer Standardisierung zu gelangen: „ Qualitative Interviews eröffnen dem Wissenschaftler die Chance, Hintergrundinformationen und Daten über informelle Kontakte und über die unterschiedlichen Wahrnehmungen im politischen Entscheidungsprozess zu erhalten. “ (Blatter/ Janning/ Wagemann 2007: 60f.). Von den verschiedenen qualitativen Interviewformen eignen sich nur einzelne Varianten für eine Anwendung in der Politikwissenschaft: „ Eine Mischform aus episodischem und problemzentriertem Interview stellt das leitfadengestützte Experteninterview dar, das häufig als Basis für die Fallrekonstruktion von politischen Entscheidungsverläufen, von Veränderungen und Konfliktlinien in Politikfeldern […] angewandt wird.“ (ebd.: 62). Diese Mischform bietet sich auch für den vorliegenden Untersuchungsgegenstand an, da eine detaillierte Untersuchung des Prozesses allein auf Grundlage der online teils weiterhin verfügbaren, teils bereits gelöschten Inhalte nicht hinreichend gewährleistet werden kann.

Die gewählte Methode der Experteninterviews soll zur Herstellung einer ersten Orientierung in einem relativ neuen Themenkomplex und zur Schärfung des Problembewusstseins beitragen. Diese Interviewart eignet sich neben theoretischen Überlegungen auch aus forschungspraktischen Gründen besonders in der explorativen Phase des Forschungsprozesses, da „ das Experteninterview eine konkurrenzlos dichte Datengewinnung zeitlich und ökonomisch weit aufwendigeren teilnehmenden Beobachtung, Feldstudie, einer systematischen quantitativen Untersuchung usw. [ermöglicht]. “ (Bogner/ Littig/ Menz et al. 2005: 7). Wegen der begrenzten theoretischen Grundlagen und des zunächst unbekannten Wissens der Experten ist ein offenes, nicht standardisiertes Vorgehen zweckmäßig (ebd.: 37). Auf der Basis der theoretischen Vorüberlegungen wurde ein Interviewleitfaden erstellt, der die zunächst als relevant im Sinne der Forschungsfrage identifizierten Sachverhalte umfasst. Der Interviewleitfaden ist kein fixes Konstrukt und stellt eher eine Richtschnur dar, die die unbedingt zu stellenden Fragen enthält (vgl. Gläser/ Laudel 2010: 42). Als Experten können in diesem Kontext Personen gelten, die maßgeblich in die Planung und oder der Durchführung eines Online-Bürgerhaushaltes involviert waren (s. Kapitel 4.3. Fallauwahl S.18f.).

4.2. Auswertungsinstrument: Qualitative Inhaltsanalyse

Zur Auswertung qualitativer Interviews bietet sich natürlich die qualitative Inhaltsanalyse an. Der Ansatzpunkt der qualitativen Inhaltsanalyse besteht darin, die Vorteile dieser systematischen Technik zu nutzen, ohne in vorschnelle Quantifizierung abzurutschen (vgl. Mayring 2008: 42f) und die Offenheit von qualitativen Forschungsmethoden zu nutzen. Die qualitative Inhaltsanalyse versucht, aus der großen Gesamtmenge der im Forschungsprozess anfallenden Textdaten die für die Forschungsfragen relevanten Passagen herauszufiltern (vgl. Gläsner/ Laudel 2009: 200). „ Sie muss deshalb als ein nach expliziten Regeln vorgehendes Verfahren zur Reduktion von Datenmengen und zur Explizierung der Kernaussagen oder Kernthemen verstanden werden. “ (Blatter/ Janning/ Wagemann 2007: 74f.).

Es ist zu betonen, dass es nicht eine einheitliche Methode qualitativer Inhaltsanalyse gibt, sondern eine Sammlung verschiedener, mehr oder weniger komplexer Verfahren (vgl. Diekmann 2009: 609). Die Inhaltsanalyse muss daher an den konkreten Gegenstand, das Material angepasst sein und auf die spezifische Fragestellung hin konstruiert werden. Für eine anerkannte Vorgehensweise der qualitativen Inhaltsanalyse steht Mayring (2010), der eine streng strukturierte Vorgehensweise vertritt. Der Grundgedanke hinter dieser Methode lässt sich folgendermaßen beschreiben: „[Die] Qualitative Inhaltsanalyse will Texte systematisch analysieren, indem sie das Material schrittweise und mit einem theoriegeleitet am Material entwickelten Kategoriensystem bearbeitet. “ (Mayring 2002: 114). Es soll in der Inhaltsanalyse gerade im Gegensatz zu freier Interpretation gelten, dass jeder Analyseschritt im Auswertungsprozess auf eine begründete und getestete Regel zurückgeführt werden kann (vgl. Mayring 2010: 48f.). Im Zentrum einer guten Inhaltsanalyse steht demnach immer die Entwicklung eines Kategoriensystems. Es legt fest, welche Aspekte aus dem Material herausgefiltert werden sollen (vgl. Mayring 2002: 114). Die Kategorien werden in einem Wechselverhältnis zwischen den theoretischen Vorannahmen und dem konkreten Material entwickelt. Die „Zuordnungsregeln“ zu den jeweiligen Kategorien müssen vor Ablauf definiert werden, jedoch sollten sie während der Analyse überarbeitet und rückgeprüft werden (vgl. Mayring 2010: 49/59). Mit dieser Vorgehensweise wird die Offenheit qualitativer Methoden für die Entwicklung des Kategoriensystems genutzt, jedoch orientiert sich die Vorgehendweise aufgrund seiner hohen Regelgeleitetheit und intersubjektiven Nachvollziehbarkeit an der quantitativen Inhaltsanalyse (vgl. Gläsner/ Laudel 2009: 200f).

Die Inhaltsanalyse mit ihrem sehr systematischen Vorgehen eignet sich besonders für die Umsetzung am Computer (vgl. Mayring, 2008: 100). Für die Vorgehensweise nach Mayring ist vor allem das Programm MAXQDA geeignet (vgl. Diekmann 2009: 614f.; Mayring 2010: 112f.), das in der Auswertung zum Einsatz gekommen ist.

4.3. Fallauswahl

Anhand einer Internetrecherche (u.a. buergerhaushalt.org) wurden zunächst Kommunen und Städte in Nordrhein-Westfalen mit einem kommunalen Bürgerhaushalt identifiziert, wo mindestens einmal ein online-basiertes Konzept zur Grundlage der Durchführung benutzt wurde. Daraufhin wurden die zuständigen Ansprechpartner der Beteiligungsprojekte auf Seiten der Kommune direkt kontaktiert. Aus forschungsökonomischen Gründen wurde jedoch die Auswahl auf relativ nah gelegene Kommunen beschränkt. Aus den Rückläufen wurden in einem weiteren Schritt drei Kommunen ausgewählt: Entscheidungskriterium war hier die Unterschiedlichkeit der jeweiligen Projekte, so dass mit Bonn, Hilden und Wuppertal drei Städte mit signifikant verschiedenen Bürgerhaushalten und Ansprechpartnern ausgemacht werden konnten.

4.3.1. Bonn

Bereits ab 2005 wurde in Bonn versucht eine (offline) Beteiligung der Bürger am Haushalt zu etablieren, die Teilnehmerzahlen blieben jedoch äußert gering (vgl. Stadt Bonn 2011: 2). Nach der Kommunalwahl im Jahr 2009 haben sich Rat und Verwaltung das Ziel gesetzt, die Beteiligung von Bürgern an Entscheidungsprozessen auch außerhalb von formalen Verfahren zu stärken. 2010 wurde von der Verwaltung das Projekt Neue Formen der Bürgerbeteiligung in der Bundesstadt Bonn vorgelegt. Das Zentrum für Evaluation und Methoden (zem) der Universität Bonn wurde beauftragt, eine qualitative Vorstudie potenziellerThemen zu erstellen. Begründet durch die Ergebnisse der Vorstudie und der problematischen Haushaltssituation wurde im Juni 2010 im Rat der Beschluss gefasst, eine Beteiligungsmöglichkeit für die Bürger am Doppelhaushalt 2011/2012 mit Fokus auf Haushaltskonsolidierung einzuführen.[7] Die Bürger konnten einerseits Konsolidierungsvorschläge der Verwaltung und Politik (insgesamt 107) bewerten und andererseits eigene Vorschläge zur Haushaltskonsolidierung einbringen (Auswahl später in einer Top-50-Liste) (vgl. Zebralog 2012: 4). Als Einstieg in die verstärkte Bürgerbeteiligung sollte ein möglichst niedrigschwelliges Verfahren gewählt werden. Die Stadt Bonn entschied sich daher dazu das Internet als Informations- und Beteiligungsmedium zu nutzen (vgl. ebd.: 5). Unterstützt wurde die Stadt dabei durch den Online-Dienstleister Zebralog.

Der erste Dialog zum Haushalt unter dem Slogan Bonn packt’s an! lief vom 18.01. bis zum 16.02. 2011 und die Freischaltung der Plattform fand im Rahmen einer Informationsveranstaltung statt (vgl. ebd.: 7). Neben einer Teilnahme an der Onlinebeteiligung standen den Teilnehmern, insbesondere denen, die keinen eigenen Internetzugang besaßen, mehrere öffentliche Internetterminals in Bonn zur Verfügung (vgl. ebd.: 11). Darüber hinaus gab es mehrere (offline) Infoveranstaltungen, Informationen über Flyer und Broschüren sowie Zeitungsannoncen, um das Projekt zu bewerben (vgl. ebd.: 15f.). Die Anzahl der Seitenaufrufe[8] lag bei 2.073.807 und für die Teilnahme am Verfahren haben sich 12.739 Personen online registriert (vgl. ebd.: 22). Die Stadt Bonn hat 2011 einen Rechenschaftsbericht über die Umsetzung der Vorschläge vorgelegt (vgl. Stadt Bonn 2011). Mit einer geringeren Beteiligung als im Vorjahr ging der zweite Bürgerdialog zum Haushalt 2013/2014 am 10.05.2012 zu Ende. Das Verfahren wurde jedoch verändert: Es gab keine Diskussionsvorschläge der Verwaltung und Vorschläge durften über drei Themenfelder eingereicht werden (vgl. Stadt Bonn 2014). Jedoch ist bislang kein Rechenschaftsbericht der Stadt online verfügbar. Rund 1.750 Teilnehmer hatten sich auf dem Portal registriert und 245 Vorschläge gemacht - diese wurden über 31.000 Mal bewertet. Insgesamt hatte die Internetseite rund 500.000 Klicks zu verzeichnen. Am 14.11. bis zum 12.12.2014 fand der dritte Bürgerdialog zum Haushalt 2015/2016 statt. Im Fokus stand wieder Haushaltskonsolidierung: Anhand von 25 Verwaltungsvorschlägen und Bürgervorschlägen konnte erneut diskutiert und bewertet werden. Es gab fast 11.000 Besuche, rund 4.400 registrierte Nutzer, 390 Bürgervorschläge sowie über 76.000 Bewertungen (vgl. Stadt Bonn 2014).

Seit Januar 2010 ist „Bürgerbeteiligung“ als Aufgabengebiet im Dezernat des Oberbürgermeisters angesiedelt. Der Dezernatsleiter Dirk Lahmann wurde aufgrund seiner Zuständigkeit für ein Experteninterview ausgewählt und am 17.10. interviewt.

4.3.2. Hilden

Die Industriestadt Hilden (57.000 Einwohner) im Kreis Mettmann gehört zu den wenigen Beispielen in Deutsch­land, in denen der Bürgerhaushalt parteiübergreifend als etabliert und nachhaltig gelten kann.“ (Herzberg, Sintomer, Allegretti, Roecke, Alves 2014: 21). Von 2002 bis 2004 hat Hilden am Pilotprojekt „Kommunaler Bürgerhaushalt der Bertelsmann Stiftung und des nordrhein-westfälischen Innenministeriums teilgenommen (s. S. 12). Seither führt die Stadt ihren kommunalen Bürgerhaushalt konsequent jährlich weiter. Damit bietet sie heute das in Deutschland älteste und kontinuierlichste Angebot für Bürgerbeteiligung am kommunalen Haushalt. Neben der Möglichkeit für Bürgerinnen und Bürger, Vorschläge zum kommunalen Haushalt einzureichen, liegt ein besonderer Schwerpunkt auf der Phase der Information. Dazu Günter Scheib, Bürgermeister der Stadt Hilden von 1994 - 2009: „ Ohne entsprechende Wissensgrundlage macht es keinen Sinn, mit den Bürgern in die Diskussion einzusteigen. “ (zit. in: Schaerffer/ Pauly 2004: 17). Ein Hildener Modell gibt es jedoch nicht. Bemerkenswert ist vielmehr die Vielfalt an Instrumenten, die die Stadt im Laufe der Jahre erprobt hat (vgl. Stadt Hilden 2014; Bürgerhaushalt.org 2013b; Schaerffer/ Pauly 2004: 16):

- Bierdeckel als Informationsmedium mit den wichtigsten Haushaltsdaten
- Großveranstaltungen mit umfangreichen Informationsbroschüren 2002/2004/2005/2006
- Kommunale Bürgerforen 2007/2008
- Großer Ideenwettbewerb 2009
- Hildopoly – eine spielerische Informationsveranstaltung 2003/ 2010
- Online-Dialog 2011/2012[9]
- Eine Stadtrundfahrt zur anschaulichen Erläuterung der Verwendung der kommunalen Haushaltsmittel 2013/2014/2015[10]

Angesichts erhöhter Schulden setzt Hilden mittlerweile auf ein sparori­entiertes Verfahren. Jedes Jahr wird ein Zufallspool an Bürgern per Post angeschrieben, um sie persönlich für den Bürgerhaushalt einzuladen. Eine Hierarchisierung der Vorschläge findet nicht statt. Rechenschaftsbericht wird nicht erstellt, jedoch erhält jeder Bürger per Brief eine persönliche Antwort, ob und gegebenenfalls wann sein Anliegen umgesetzt wird (vgl. Herzberg/ Sintomer/ Allegretti/ Roecke, Alves 2014: 21). Es gibt auch eine eigene Facebook-Seite, die allerdings eher für allgemeine Belange der Stadt genutzt wird.[11]

Interviewpartner in Hilden war Heinrich Klausgrete, Kämmereileiter und von Anfang an maßgeblich in dem Projekt involviert. Das Interview fand am 27.11. statt.

4.3.3. Wuppertal

Die Informationslage bezüglich des Bürgerhaushaltes stellt sich in Wuppertal schwierig dar, da die Stadt weder online noch in schriftlicher Form (z.B. Dokumentation) über den stattgefundenen Bürgerhaushalt 2012/2013 berichtet. Die eigens dafür geschaffene Internetplattform ist ebenfalls nicht mehr online. Wie auch buregerhaushalt.org (vgl. 2013a) feststellen musste, gibt es zudem Verwechselungsgefahr: Die Internetplattform, die bei der Recherche am deutlichsten hervortritt - http://www.buergerhaushalt-wuppertal.de/wp/ - ist keine städtische Homepage, sondern wird vom Kompetenznetz Bürgerhaushalt betreut. Diese Initiative wirbt seit 2009 für mehr Bürgerbeteiligung am Haushalt und für mehr Mitbestimmung bei städtischen Entscheidungen.[12] Zwar konnte eine Dokumentation aller Bürgervorschläge auf der Website gesichert werden, jedoch ist es nicht einfach den Prozess detailliert anhand der einzelnen Artikel zu rekonstruieren. Anfang 2013 gab es eine Veranstaltung der Verwaltung, wo Bürger ihre Wünsche zum Ablauf des Beteiligungsverfahrens äußern durften und es fanden darüber hinaus zwei Beteiligungsphasen (10.06. - 8.07./ 9.09. - 7.10.) auf dem Onlineforum statt. Die eingereichten Bürgervorschläge (Top-50-Liste) wurden von der Verwaltung zwar anhand eines Ampelsystems ausgewertet, einen Rechenschaftsbericht über die Umsetzung gibt es allerdings nicht. Das Online-Portal wurde von dem Dienstleister Ontopica betreut (vgl. Hoffmann 2013).

Einfacher stellt sich die Datenlage hinsichtlich der zweiten Auflage des Bürgerhaushaltes 2014/2015 dar. Da das Experteninterview jedoch vor dem Ratsbeschluss stattgefunden hat, können die neuen Erkenntnisse leider nicht in dieser Arbeit berücksichtigt werden. Am 17.10. wurde Dieter Hoffmann, Gründer und treibende Kraft hinter dem Kompetenznetz Bürgerhaushalt, als Experte interviewt.

5. Auswertung

5.1. Chancen

Der Wille zur Errichtung einer neuen Beteiligungskultur und einer aktiveren Einbindung der Bürger ist in allen drei untersuchten Städten klar zum Ausdruck gekommen, jedoch auf unterschiedliche Weise. In Wuppertal ist dieser Prozess durch den Bürgerverein Kompetenznetz Bürgerhauhalt, die verstärkt Öffentlichkeitsarbeit und Informationsveranstaltungen organisiert haben, angestoßen worden. In Bonn hingegen handelt es sich um einen reinen top-down Prozess: Sich ergebend aus einer komplizierten Machtkonstellation heraus, kam es zu einem Wettbewerb zwischen den Grünen mit dem Oberbürgermeister der SPD, der das Thema Bürgerbeteiligung stärker vorantreibt. In Hilden war ebenfalls der Bürgermeister die treibende Kraft sich zum Modellprojekt „Kommunaler Bürgerhaushalt“ (s. S. 12) anzumelden und ein regelmäßiges Angebot zu etablieren. In diesem Sinne, geht insbesondere Lahmann immer wieder darauf ein, dass es insgesamt einen politischen Wandel braucht, um einen kontinuierlichen Dialog auf Augenhöhe zwischen den Bürgern, Politik und Verwaltung zu realisieren und nicht nur hin und wieder eingesetzte Partizipationsverfahren (vgl. „stabile Beteiligungsinfrastruktur“ S. 13):

„Und das alles gibt im besten Fall dann später eine Win-Win-Situation und es gibt tatsächlich so etwas, wie Bürgerbeteiligung 3.0. Wo man wirklich dann im...also nicht im Sinne von Friede, Freude, Eierkuchen, sondern es wird immer Konfliktsituationen geben, aber wenn die gerahmt sind, dann können wir die auch aushalten.“ (Lahmann, Wandel politischer Kultur: 49-49[13] ).

Hier wird zudem darauf verwiesen, dass die Wut und Politikverdrossenheit auch Ausdruck finden soll in E-Partizipation, als eine Art Katalysator. Klausgrete war es in diesem Zusammenhang auch wichtig zu erwähnen, dass ein großes Ziel der Beteiligung auch darin bestehe, Protest vorzubeugen - nach dem Motto „man hätte sich ja beteiligen können“ (vgl. Chancen S. 13).

In allen untersuchten Städten wurde von einer quantitativ hohen Zahl an Beiträgen und Vorschlägen auf der Online Plattform berichtet, aber auch über einen lebhaften und aufeinander bezogenen Dialog über Kommentare. Lahmann berichtet in Bonn von 1.500 Vorschlägen im ersten Lauf (allerdings über ein Drittel weniger im zweiten) und in Wuppertal habe es 200 Vorschläge gegeben, so Hoffmann. In Hilden gab es 2011 ganze 13.878 Seitenaufrufe, 115 gemeldete Nutzer und 178 Beiträge. Die bessere Erreichbarkeit eines größeren und vielfältigeren Teilnehmerkreises durch online-basierte Partizipationsinstrumente wurde neben der relativ leichten Umsetzbarkeit als Vorteile von Online-Verfahren genannt (vgl. Chancen S. 13):

„[…] alleine 2011 und 2012 zusammen […] waren das weit über 15.000 Leute, die sich dann in irgendeiner Form mit Bürgerhaushalt auseinander gesetzt haben. Und damit auch mit dem Thema Bürgerbeteiligung. Das ist doch überhaupt nicht zu toppen.“ (Lahmann, bessere Erreichbarkeit, 51-51)

Die Einschätzungen der Qualität der eingereichten Vorschläge gehen dabei auseinander: Hoffmann gab an, dass überwiegend hochwertige Vorschläge gemacht wurden, während Lahmann meinte, dass die Bürger nicht tief genug drin stecken, um Vorschläge zu machen, die Stadt substantiell weiterbringen – zwar seien Einsparungen vorgenommen worden, allerdings nicht in gewünschtem Maße. Er und Klausgrete sprachen den Bürgern eine gewisse lokale Kompetenz zu, dass sie besser wissen, wo was vernachlässigt wurde (z.B. Schlagloch) als der Verwaltungsangestellte (vgl. Chancen S. 12). Durch die Kommentare zu den Verwaltungs- bzw. Diskussionsvorschlägen könne man zudem besser einschätzen, welche Leistungen dem Bürger wichtiger seien als andere und so auch eine gewisse Akzeptanz für Sparmaßnahmen schaffen. Dabei seien die Bürger sogar teilweise restriktiver als die eigenen Politiker, die vor zu großen Kürzungen zurückschrecken, so Lahmann. Akzeptanz für den Haushalt werde auch geschaffen, indem Verständnis für den haushaltspolitischen Prozess und die Entscheidungsprobleme von Politikern geschaffen werde(vgl. Chancen S. 12f.). Wichtig dafür sei nicht die die Schaffung einer größeren Aufmerksamkeit für den Haushalt, sondern vor allem das Aufklären und das Erklären ebendessen. Wichtig sei es dem Bürger zu erklären, dass die Stadt über wenig freie Mittel verfüge und dass man an der einen Stelle etwas weg nehmen muss, will man an der anderen Stelle etwas hinzugeben. Besonders in Hilden spielt eine aktive Informationspolitik eine wichtige Rolle. Man habe daher stark darauf Wert gelegt, dass alle im Forum gestellten Fragen, innerhalb von 24 Stunden beantwortet werden. Aber auch in Bonn wurde mittels der Online-Plattform in graphisch gut aufbereiteter Form Wert darauf gelegt den haushaltspolitischen Prozess verständlich darzulegen. Es geht dabei auch darum, den Haushalt für den Bürger transparent zu machen (vgl. Chancen S. 13). Transparenz war in den Interviews ein größeres Stichwort: Es ist nicht nur wichtig dem Bürger den Haushalt darzulegen, sondern es muss auch Transparenz über den ganzen Prozess und das Ziel des Bürgerdialoges geschaffen werden. Hoffmann ging hier besonders weit, indem er von der Politik und Verwaltung einforderte, dass sie die Bürger noch vor Beginn eines Bürgerhaushaltes involvieren also mitentscheiden, sie mitentscheiden wollen – also auch eine Offenheit gegenüber des Verfahrens.

[...]


[1] Um die Lesbarkeit zu vereinfachen, sind in der vorliegen­den Hausarbeit die zur Gleichstellung von Mann und Frau gebräuchlichen Schreibweisen nicht durchgängig verwen­det worden. Bei allen männlichen Bezeichnungen sind selbstverständlich die Frauen gleichermaßen angesprochen.

[2] „Political Efficacy“ beschreibt das subjektive Vertrauen in die Möglichkeit der Einflussnahme auf politische Entscheidungsprozesse (vgl. Pateman 1970 zitiert nach Kersting 2008: 14).

[3] Viel genanntes Beispiel ist hier der aufkeimende Protest gegen den Bau von Stuttgart 21 und als aktuelles Beispiel mangelnder Kommunikation und Responsivität können die Pegida -Proteste in Dresden aufgeführt werden.

[4] Häufig werden Bürgerhaushalte auch vor dem Hintergrund der Haushaltssanierung eingeführt, bzw. um eine größere Akzeptanz ebendieser zu erreichen (vgl. Nitschke 2005: 94).

[5] Eine detaillierte Typisierung von Bürgerhaushalten, die u.a. länderspezifische Merkmale und Zielvorstellungen herausarbeitet, kann an dieser Stelle nicht gewährleistet werden (s. dazu ausführlicher: Herzberg/ Sintomer/ Allegretti/ Roecke, /Alves 2014: Bürgerhaushalte weltweit). Wichtig ist in diesem Zusammenhang nur zu erwähnen, dass es sich bei den Modellen von kommunalen Bürgerhaushalten, die in Deutschland zum Einsatz kommen, nicht um direktdemokratische Instrumente handelt – die Letztverantwortung obliegt in der Regel weiterhin der Politik (vgl. Holterkamp 2008: 222f.).

[6] Zum Teil werden Bürgerhaushalte aus Mangel an Interesse wieder eingestellt (s. S. 12)

[7] Als Vorbild für die geplante Bürgerbeteiligung galt daher die von der Stadt Solingen durchgeführte Beteiligung „Solingen spart!“ im Frühjahr 2010. http://www.solingen-spart.de/ [zuletzt geprüft am: 31.12.2014]

[8] www.bonn-packts-an.de [zuletzt geprüft am 31.12.2014]

[9] Online-Portale sind nicht mehr online verfügbar

[10] Weitere Informationen können auf der Internetseite der Stadt eingesehen werden: http://www.hilden.de/sv_hilden/Unsere%20Stadt/Rathaus/Amt%20f%C3%BCr%20Finanzservice/B%C3%BCrgerhaushalt/ [zuletzt geprüft am 02.01.2014]

[11] https://de-de.facebook.com/Hildener.Buergerhaushalt?fref=nf [zuletzt geprüft am 02.01.2014]

[12] http://www.buergerhaushalt-wuppertal.de/wp/uber-uns/kompetenznetz/ [zuletzt geprüft am 02.01.2014]

[13] Aus Gründen der eindeutigen Zuweisbarkeit, werden hier der Interviewte, die Kategorie und die Codenummer genannt.

Fin de l'extrait de 86 pages

Résumé des informations

Titre
E-Partizipation und E-Governance. Chancen und Risiken von online-basierten kommunalen Bürgerhaushalten in Nordrhein-Westfalen
Sous-titre
Allheilmittel gegen Politikverdrossenheit?
Université
University of Duisburg-Essen  (NRW School of Governance)
Cours
Überwachte Freiheit? Netzpolitik als digitale Herausforderung für die Praxis des Politikmanagements
Note
1,3
Auteur
Année
2014
Pages
86
N° de catalogue
V324091
ISBN (ebook)
9783668244634
ISBN (Livre)
9783668244641
Taille d'un fichier
1214 KB
Langue
allemand
Mots clés
Netzpolitik, praktische Politikmanagement, Direkte Demokratie, Bürgerbeteiligung, Bürgerhaushalt, E-Governance, Demokratie im Internet, E-Partizipation
Citation du texte
Lena Rickenberg (Auteur), 2014, E-Partizipation und E-Governance. Chancen und Risiken von online-basierten kommunalen Bürgerhaushalten in Nordrhein-Westfalen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/324091

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