Von der politischen Bildung zur politischen Partizipation. Dokumentation "Precious Knowledge"


Seminararbeit, 2016

72 Seiten, Note: 1,00

Anonym


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Politische Bildung
2.1. Lehrpläne
2.2. Lehrerrolle
2.3. Auseinandersetzung mit dem Lehr- und Lernmaterial
2.4. Dialog
2.5. Nachhaltiges Lernen durch eigene Erkenntnisse
2.6. Politische Partizipation
2.7. Theorie & Praxis
2.8. Grenzen der politischen Bildung und Aktion

3. Precious Knowledge
3.1. Einleitung
3.2. Kontext

4. Dokumentation
4.1. Einleitung
4.2. Schulorganisation und ihr Konzept
4.2.1. Die Einbeziehung der Kultur
4.2.2. Lehrmaterial
4.2.3. Solidaritätsgemeinschaft
4.3. Unterrichtsmethoden
4.3.1. Regeln
4.3.2. Eigenständiges Arbeiten
4.3.3. Kritisches Denken im Dialog
4.3.4. Lehrer-Schüler-Verhältnis und das gemeinsame Lehrmaterial
4.4. Politische Partizipation
4.5. Grenzen des Mexican-American/Raza Studies Program

5. Fazit

6. Literaturverzeichnis

7. Anhang

1. Einleitung

Politische Bildung, wie auch Partizipation, wird oft und all zu geme mit Demokratie gleichgesetzt. Ohne Demokratie keine politische Bildung, keine Partizipation und vice versa. Obwohl beide eng miteinander verzahnt sind, ist ihre Reziprozität nicht per se demokratiefördernd. Es scheint eher als ob politische Bildung, Partizipation sowie der Begriff der Demokratie austauschbar sind und auch für die Ausübung von Menschenrechten, Freiheit, Chancengleichheit, freie Meinungsäusserung, das Recht auf freie und so weit wie möglich objektive Berichterstattung und Informationen stehen können. Wenn die Begriffe allerdings für alles stehen können, dann auch für ungleiche Chancenverteilung, repressive Toleranz oder Manipulation, dementsprechend Anpassung an den Status quo. Der Begriff Demokratie stammt ursprünglich aus der Antike und gabjedem männlichen Bürger (ausser Sklaven und Metöken) die gleichen politischen Rechte. Auch wenn die heutige Umsetzung an (Menschen-) Rechten viel näher an den Grundgedanken der Demokratie heranreicht als einst, lösen politische Rechte damals wie heute nicht die sozialen und ökonomischen Ungleichheiten, sondern können diese zusätzlich verschlimmern. Das derzeit signifikanteste Merkmal dieser Benachteiligung ist nicht mehr die Differenz zwischen Mann und Frau, auch wenn diese im 21. Jahrhundert in den westlichen Ländern trotz der ratifizierten Menschen- und Kinderrechte, welche den Frauen, Männern und Kindern die gleiche Ausübung ihrer politischen Rechte zusichern, noch nicht gänzlich überwunden ist, sondern dass die Verwirklichung der politischen Rechte eng an die Schichtzugehörigkeit gekoppelt ist. Laut Hebestreit und Korte (2015) verdeutlicht die empirische Partizipationsforschung, „dass vor allem der sozioökonomische Status in engem Zusammenhang mit politischer Beteiligung steht. So zeigen vor allem Personen mit hohem sozioökonomischen Status positive Einstellungen zum politischen System und eine höhere Kompetenz und Bereitschaft zur politischen Beteiligung“ (S. 24). Dieser unterschiedliche Grad an Ausübung der politischen Rechte zeigt sich nicht nur bei Wahlen sowie beim Gewählt-Werden, sondern auch bei den nicht-institutionalisierten Beteiligungsformen wie etwa Petitionen, Referenden oder Demonstrationen. „Auch die politische Involvierungjenseits von Wahlen hängt ab von sozioökonomischen Ressourcen. [...] Personen, die nicht wählen, partizipieren auch kaum in anderen Beteiligungsverfahren“ (Geißel, 2015, S. 39 f.).

In der griechischen Polis sollte „jederfreie Bürger in dem Umfange allseitig gebildet [...] [sein, d. Verf.], dass er in öffentlichen Dingen sinnvoll mitreden und auch ein öffentliches Amt übernehmen konnte“ (Detjen, 2011, S. 125). Erlaubten die damaligen Stadtgrössen eine Umsetzung der direkten Demokratie in dem Sinne noch, dass alle freien Bürger an wichtigen Entscheidungsprozessen eingebunden wurden, so treten heute bereits alleine bei diesem Punkt aus rein organisatorischer Perspektive Probleme auf. Veränderte Gesellschaftsstrukturen verlangten folglich eine Anpassung des antiken Demokratieverständnisses, was zur liberalen bzw. repräsentativen Demokratie führte, die sich dadurch auszeichnet, dass Repräsentanten aus dem Volk per Wahl und nicht mehr per Losung ausgewählt werden und diese für den Willen der Mehrheit des Volkes stehen und diesen umzusetzen versuchen (vgl. Biedermann, 2006). Die Machtdelegierung an Einige durch das Volk, schliesst eigentlich zugleich mit ein, dass die Bürger immer noch das politische Treiben mitverfolgen und verstehen können und sie, wenn ihnen die Arbeit und das Handeln der Politiker nicht gerecht, im Sinne der Nachhaltigkeit für kommende Generationen, nicht zukunftsorientiert genug erscheint, sie ihr Unbehagen ohne Furcht vor Repression, in Form konventioneller und unkonventioneller Partizipation preisgeben können. Denn gerade von dieser aktiven Mitarbeit der Gesellschaft und der Bürger lebt die Demokratie. Sie weist auf Missstände hin, welche es für eine Solidargemeinschaft zu beheben gilt.

In diesem Sinne ist es allerdings dringend notwendig die politische Bildung umzugestalten, um einem demokratisch emanzipatorischen Konzept gerecht zu werden. Auch wenn man Kinder und Jugendliche stets angemessen belasten sollte, könnte eine erste politische Bildung im kleinen Rahmen bereits ermöglichen, dass Schüler und Schülerinnen mit Problemen und Themen aus ihrer Gemeinde konfrontiert werden, was dazu beitragen könnte, dass sie sich späterhin vermehrt mit der Politik, der eigenen Umwelt und gemeinschaftlichen Problemen auseinandersetzen werden und diese versuchen, auf politischer Ebene oder durch politische Partizipation, zum Positiven hin zu verändern. „Durch Analyse der herrschenden politischen und sozio-ökonomischen Verhältnisse [sollen, d. Verf.] die Alltagsprobleme und auch ihre [, die der Schüler, d. Verf] eigene Verwobenheit in die Verhältnisse verständlich werden. Daraus könne das Interesse an Veränderung der Verhältnisse und aktives Handeln - auch und vor allem in unkonventionellen Formen - entstehen“ (Lösch, 2011, S. 12). Das Paradox in der heutigen Gesellschaft liegt allerdings darin, dass demokratiebewusste und engagierte Bürger gefordert werden, „während andererseits echte Mitwirkungsmöglichkeiten in der „postdemokratischen“ Zuschauerdemokratie immer mehr ausgehöhlt werden“ (ebd., S. 12). Ein Ideal um Veränderungen zu bewirken, sowie politische Ungleichheit zu vermindern, sieht Geissel (2015) darin, dass auch bildungsferne Schichten die Möglichkeit zur politischen Bildung geboten bekommen, welche besonderes Augenmerk auf politische Mobilisierung legt.

Politik-, Politiker- oder Parteienverdrossenheit; wie man es auch nennen mag, das Phänomen des Desinteresses am Treiben des Staates und deren Repräsentanten schwebt offenkundig in der Luft. Nach Widmaier und Nonnenmacher (2011) keimt diese Gleichgültigkeit bei Jugendlichen vor allem dadurch auf, dass ihren Interessen zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Aber was wenn das Desinteresse der Jugendlichen durch die Politik selbst entsteht? Und zudem die politischen Vorbilder der Jugendlichen, etwa ihre Eltern, Verwandte oder Freunde nicht mehr an die Politik glauben, da die Politiker sich selbst mehr durch Lügen, falsche Versprechen und scheinbar neurotische Machtgier charakterisieren, als durch gesellschaftliche Wohltaten, Nähe zum Bürger oder Abgabe von Privilegien? So verwundert es kaum, dass immer weniger Menschen den Weg zur Wahlurne finden und sich auch sonst aus politischen Angelegenheiten weitestgehend heraushalten möchten. Dass die Machthaber diese demokratische und politische Teilnahmslosigkeit auf der einen Seite öffentlich ansprechen und den politischen Bildungsunterricht zur Förderung der politischen Teilnahme gutheissen, u.a. um den Staatsapparat in Gang zu halten und den demokratischen Mindestansprüchen gerecht zu werden, aber auf der anderen Seite den Schulen und Lehrpersonen nicht die nötigen Hilfsmittel zur Hand geben, um aufgeschlossene, kritische und am politischen Geschehen teilnehmende Schüler zu bilden, scheint doch paradox. Verfolgt man historisch diese Spur, lässt sich laut Schmiederer (1977) erkennen, dass es politische Bildung immer gab, auch wenn diese unterschiedlich bezeichnet wurde: „Nationalerziehung, vaterländische Bildung, Staatsbürgerkunde, Gemeinschaftskunde [...] Keine gesellschaftlich herrschende Klasse und keine Regierung hat es sichje nehmen lassen, das Schulwesen - direkt oder indirekt, explizit oder implizit - als Forum zur Verbreitung der "richtigen", d.h. ihr genehmen politischen Auffassungen und Gesellschaftsbilder zu nutzen“ (Schmiederer, 1977, S. 22). Folglich kann es nach Reheis (2014) zu einem Teufelskreis kommen: „Je weniger die politisch Verantwortlichen an politisch gebildeten Bürgern interessiert sind, desto schlechter werden sie die politische Bildung mit Ressourcen ausstatten. Undje schlechter die politische Bildung ausgestattet ist, desto geringer wird die Chance, die politisch Verantwortlichen dazu zu zwingen, der Politischen Bildung einen höheren Stellenwert zu geben“ (S. 2).

Folgendermassen muss der politische Unterricht umgestaltet werden um einem demokratisch emanzipatorischen Konzept gerecht zu werden. Auch wenn man Kinder und Jugendliche stets angemessen belasten sollte, könnte eine erste politische Bildung im kleinen Rahmen bereits ermöglichen, dass Schüler und Schülerinnen mit Problemen und Themen aus ihrer Gemeinde konfrontiert werden, was dazu beitragen könnte, dass sie sich späterhin vermehrt mit der Politik, der eigenen Umwelt und gemeinschaftlichen Problemen auseinandersetzen werden und diese versuchen, auf politischer Ebene oder durch politische Partizipation, zum Positiven hin zu verändern. „Durch Analyse der herrschenden politischen und sozio-ökonomischen Verhältnisse [sollen, d. Verf.] die Alltagsprobleme und auch ihre [, die der Schüler, d. Verf] eigene Verwobenheit in die Verhältnisse verständlich werden. Daraus könne das Interesse an Veränderung der Verhältnisse und aktives Handeln - auch und vor allem in unkonventionellen Formen - entstehen“ (Lösch, 2011, S. 12). Das Paradox in der heutigen Gesellschaft liegt allerdings darin, dass demokratiebewusste und engagierte Bürger gefordert werden, „während andererseits echte Mitwirkungsmöglichkeiten in der „postdemokratischen“ Zuschauerdemokratie immer mehr ausgehöhlt werden“ (ebd., S. 12). Ein Ideal um Veränderungen zu bewirken, sowie politische Ungleichheit zu vermindern, sieht Geißel (2015) darin, dass auch bildungsferne Schichten die Möglichkeit zur politischen Bildung geboten bekommen, welche besonderes Augenmerk auf politische Mobilisierung legt.

Eine zusätzliche Erschwernis stellt sich der Entwicklung des politisch interessierten Schülers dahingehend, dass dieser nicht die Möglichkeit geboten bekommt, positive Erfahrungen im politischen Bereich, wie z.B. durch selbst aufgeworfene und erarbeitete Projekte zu einem in seiner unmittelbaren Umgebung liegendem Problem zu machen. Die politische Bildung bleibt so häufig auf einer theoretischen und oberflächlichen Ebene stecken und führt demzufolge zu der vorhin angesprochenen Passivität des Schülers bzw. Bürgers, auch angesichts der Tatsache, dass die Schüler zwar vielleicht notweniges Wissen anhäufen, dieses jedoch zuvor noch nie konkret anwenden konnten und ihnen so anstelle eines Gefühls der möglichen gesellschaftlichen Veränderbarkeit von Problemen, eher ein Gefühl der Machtlosigkeit und Ohnmacht vermittelt wird. Politische Bildung in der Schule verkommt infolgedessen schnell zu einem weiteren Schulfach, in welchem mehr wert auf das Lernen von Theorie, als auf Umsetzung und Anwendung des Wissens gelegt wird. Hinsichtlich einer solchen Ausgangslage soll sich in dieser Arbeit mit einem konkreten Beispiel politischer Bildung auseinandergesetzt werden, denn wichtig zu erwähnen ist auch, dass eine solch pessimistische Politikverdrossenheit nicht jedermann teilt. Youniss und Yates (1997), Himmelmann (2001) und Biedermann (2006) u.a. erwähnen in diesem Zusammenhang, dass im Leben der Jugendlichen die konventionell parlamentarische Politik zwar eine untergeordnete Rolle spielt, sie dies jedoch nicht davon abhält sich für Themen aus ihrer Umwelt zu interessieren und hier wenn möglich aktiv zu werden, so dass öfters geschlussfolgert wird, dass „nicht etwa die Jugend politikverdrossen sei, sondern die Politik jugendverdrossen“ (Biedermann, 2006, S. 18).

Demnach sollen in diesem Beitrag hauptsächlich die Bedingungen in der Schule und im Klassensaal erforscht werden, um darzulegen wie politische Bildung, durch das Zusammenbringen von Theorie und Praxis dazu führen kann, dass Schüler nicht nur nachhaltigeres Wissen und Interesse in puncto Politik und gesellschaftliche Probleme entwickeln, sondern auch, dass die Schüler ihre politischen Rechte tatsächlich wahrnehmen, Lösungen zu gesellschaftlichen Problemen selbstständig erarbeiten können und diese zudem konkret umzusetzen, bzw. sich dafür einzusetzen versuchen. Die politische Bildung bleibt nichtsdestotrotz ein breites Feld, in welchem es ohne ausführliche Darlegung des Begriffs zu Missverständnissen kommen könnte. Eine Definition des Begriffs „politische Bildung“ ist so unumgänglich, zumal sicher gestellt werden soll, dass Autor und Leser das Gleiche unter dem verstehen, was zusammen mit der „politischen Partizipation“ als Werkzeug dieser Arbeit dienen soll.

Die angesprochene Umgestaltung der politischen Bildung hängt allerdings von vielen Faktoren, wie etwa der Lehrerolle, dem Lehrinhalt oder dem Verhältnis zwischen Schüler und Lehrperson ab. Vor allem alternative und aussergewöhnliche Projekte können dahingehend an der recht steifen Fassade des Bildungssystems kratzen, stossen so allerdings auch auf verschiedene Hürden und Grenzen. Diese Voraussetzungen und Grenzen für politische Bildung, welche zur politischen Partizipation führen kann, sollen anhand dieser Arbeit und der Dokumentation „Precious Knowledge“ aufgearbeitet werden. Die Dokumentation „Precious Knowledge“ begleitet eine Schule in ihrem Alltag und in ihrem Kampf gegen die Schliessung ihres neuen Programms. Nachdem über 50% ihrer lateinamerikanischen Schüler die Schule jährlich abbrechen, führte die Schule in Tucson, Arizona (USA), das Konzept der „Mexican-American/Raza Studies“ ein. Dieses Konzept soll, des verbesserten Leseflusses halber, „MAS“ abgekürzt werden. Das MAS lehnt sich an einen antiautoritären Lehrstil, sowie auf Lehrmaterialien im Interesse des Schülers an, was dazu führen soll, dass diese motivierter mitarbeiten und die Schule gerne besuchen. Das MAS nutzt zudem die Kultur der Schüler (über 90% der an der MAS teilnehmenden Schüler haben lateinamerikanische Wurzeln) um nicht nur das Lernen interessanter zu machen, sondern auch um von der Geschichte bis hin zur Gegenwart auf politische und gesellschaftliche Probleme hinzudeuten, um so Lösungsansätze zu erarbeiten und diese auf einer ersten Ebene von der Schule hin zur Gemeinschaft umzusetzen. Für die Erarbeitung der Fragestellung wird dementsprechend in einem ersten Schritt die politische Bildung und die politische Partizipation theoretisiert und die wichtigsten Punkte gezielt vertieft. Anschliessend wird versucht die Fragestellung, anhand der zusammengefassten Dokumentation „Precious Knowledge“ in Verbindung mit der zuvor erarbeiteten Theorie zu beantworten. Die Verschriftlichung der Dokumentation (Anhang) erlaubt es die Dokumentation in

Sequenzen einzuteilen, um so Zusammenhänge leichter und deutlicher erfassen und interpretieren zu können. Um den Lesefluss in dieser Arbeit nicht zu beeinträchtigen, wird bei wörtlichen Zitaten die deutsche und die schweizerdeutsche Grammatik gelten, so dass Wörter wie z.B. daß oder stoßen kein [sic] dahinter vermerkt bekommen. Ebenso werden alle weiteren geschlechtsspezifische Begriffe im Singular und Plural männlich angeschrieben, so z.B. der Schüler und die Schüler.

Aus dem Grund, dass die Dokumentation Precious Knowledge eine nachhaltige Wirkung auf mich hat und ich mich demzufolge intensiver mit dieser Schule und ihrem Konzept auseinandersetzen will, komme ich zu folgender Fragestellung für meine Seminararbeit:

Von der politischen Bildung zur politischen Partizipation dargestellt anhand der Dokumentation Precious Knowledge „Welche Bedingungen müssen in der politischen Bildung vorherrschen, damit politische Partizipation überhaupt erst möglich wird?“

2. Politische Bildung

Politische Bildung versteht sich hier als „eine in die Zukunft weisende, fortschrittliche, den bestehenden gesellschaftlichen Zustand transzendierende“ und nicht als eine „affirmative, den Status quo konservierende und die bestehenden Herrschaftsverhältnisse verteidigende Funktion“ (Schmiederer, 1977, S. 22). Politische Bildung als Unterrichtsfach in einer öffentlichen Schule unterliegt als staatliche Institution „dem Einfluß [sic] der gesellschaftlich mächtigen Gruppen“ (ebd. S. 26), sie korreliert „ihre Schwerpunkte, Perspektiven, Intentionen usw. mit dem „Zeitgeist“ der konkreten Politik“ (Mickel, 1993, S. 508) und kann demzufolge „niemals losgelöst von den historischen Konstellationen und politischen Auseinandersetzungen existieren“ (Reheis, 2014, S. 11). Die Lehrerbildung, die Schulorganisation, die Lehrpläne sowie die Unterrichtsverhältnisse beeinflussen die politische Bildung. Alle diese Bedingungen spielen unmittelbar eine Rolle für die Ausgestaltung der politischen Bildung sowie die Art und Weise was und wie politische Bildung sein und welchen Nutzen sie haben kann. Politische Bildung kann nicht als Allheilmittel für das Lösen der gesellschaftlichen Probleme angesehen werden, da die aufgezählten Einflussfaktoren alle „der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung, der Einflüsse sozialer[r] Interessen im Bildungsbereich und [...] [den, d. Verf.] Machverhältnisse[n] in Staat und Gesellschaft“ (Schmiederer, 1977, S. 26) unterliegen. Politische Bildung mit dem Ziel mündige und unabhängige Schüler zu bilden, die nach einer gerechteren Welt streben, in welcher nicht nur die Interessen der Bürger wahrgenommen werden, sondern auch Kritik am Bestehenden ausgeübt und reflexiv über die Gegenwart mit dem Ziel der Lösung von Problemen nachgedacht wird, kann dennoch als Ausgangspunkt und Impuls für Veränderungen in der Gesellschaft dienen. So beschreibt Schmiederer (1977) weiter, dass dieser Ausgangspunkt als zur Wehrsetzung gegen den Status quo, zur Demokratisierung der Gesellschaft, zur Emanzipation des Menschen und dem Loslösen „irrationaler Herrschaft von Menschen über Menschen“ (S. 38) führen kann. Deswegen muss allerdings neben der „Aneignung von politischem Wissen und der Schärfung des politischen Urteilsvermögens“ (Widmaier & Nonnenmacher, 2011, S. 7) auch konkrete politische Partizipation, sprich Handlungskompetenz gefördert werden (vgl. Patzelt, 2004), welche in dieser Arbeit anschliessend noch ausgearbeitet werden soll.

Wie bereits erwähnt ist die politische Bildung verschiedenen gesellschaftlichen Einflussfaktoren ausgesetzt, welche in einer eng verwobenen und strukturell zusammenhängenden Gesellschaft automatisch zustande kommen. Sollte politische Bildung und politische Partizipation allerdings als „gouvernementales Instrument“ benutzt werden um „Subjekte zu regieren, muss der Wert für politische Bildung durchmessen werden“ (Friedrichs, 2015, S. 144), da die Unterdrückung so nur durch eine scheinbare Teilnahme verschleiert wird. Wird politische Bildung „ernst genommen, so ist politische Bildung nicht neutral, sondern selbst ein Stück eigentümlicher politischer Tätigkeit: sie ist für die Interessen des Lehrlings, des Arbeiters, des 'Sozialfalles', des Jugendlichen und somit folgerichtig gegen die Interessen des Meisters, des Unternehmers, der Fürsorgebehörde, der Schulbehörde usw., allgemeiner: sie ist für die Interessen des jeweils Schwächeren, Ärmeren, Unterprivilegierten“ (Giesecke, 1970, zit. nach Hufer, S. 69). Folglich steht politische Bildung für die im bestehenden System Benachteiligten ein. Auf dem Prinzip einer Solidargemeinschaft basierend, schliesst die revolutionär-progressive politische Bildung „mit dem Ziel einer Systemtransformation“ (Mickel, 1993, S. 508) selbstverständlich alle Schüler und Bürger, aus bildungsnahen und -fernen sowie sozioökonomisch starken und schwachen Milieus ein. Allerdings wäre es zweifellos „illusorisch, Schule und Politische Bildung als den Hebel zur Reform der Gesellschaft anzusehen. Schon der Versuch, durch kritisch-rationale, die bestehenden Verhältnisse analysierende und Vorurteile und Verschleierungen aufdeckende Erziehung und Bildung das Potential für gesellschaftliche Veränderungen zu verstärken, wird in der Regel mit den in der Gesellschaft herrschenden Interessen kollidieren und auf den massiven Widerstand der um ihre Privilegien fürchtenden Gruppen und der um ihre Autorität besorgten >Obrigkeit< stoßen“ (Schmiederer, 1977, S. 26 f.).

Infolgedessen kann in dieser Arbeit nicht nur auf die Voraussetzungen der politischen Bildung, sondern auch auf deren Grenzen eingegangen werden. Wie auch der Begriff der politischen Bildung, benötigen die verschiedenen Bedingungen umfänglichere Darbietungen, welche nun nacheinander dargelegt werden sollen.

2.1. Lehrpläne

Eine politische Bildung, welche mündige und aktiv am Gemeinschaftsleben teilnehmende Bürger bilden will, benötigt überdies auch veränderte Lehrpläne, demzufolge modifizierte Bildungsinhalte und -ziele. Sie kann sich nicht weiterhin auf die Umsetzung staatlicher Lehrpläne basieren, welche die individuellen Anstrengungen an ein für alle gleiches Durchschnittsmass anpassen, um so ein Konkurrenzdenken in die Köpfe der Kinder zu implementieren, das durch Prüfungen weiter verstärkt wird (Reheis, 2014, S. 45). In dieser Arbeit sollen allerdings die Auswirkungen solcher Lehrpläne, wie z.B. der Verstärkung sozioökonomischer Kriterien, der Ökonomisierung der Bildung oder der verfrühten Weichenstellung für zukünftige Bildungschancen, nicht vertieft werden.

Die traditionellen Lehr- und Lerninhalte bedürfen einer Veränderung hinsichtlich der Breite und Tiefe des Lernmaterials. Wenn sich Schüler konkret angesprochen fühlen sollen, sich am Unterricht nicht nur wegen der Noten zu beteiligen und dadurch dass sie intrinsisch durch den Unterricht selbst motiviert wurden, sich eventuell auch ausserschulisch über ein Thema weiter zu informieren, dann müssen die Lerninhalte aus den Problemen der Schüler und ihrer unmittelbaren Umwelt stammen. Dieser wirklichkeitsnahe „Ansatz, der einen direkten Bezug des Unterrichts zum realen gesellschaftlichen und politischen Geschehen herstellt und durch die Einsicht in die Zusammenhänge zwischen politisch-gesellschaftlichen Vorgängen und dem individuellen Leben der Schüler diesen dazu verhilft, ihren eigenen politischen Standort im Kampf der gesellschaftlichen Interessen zu finden“ (Schmiederer, 1977, S. 52), erlaubt keinen rigiden und vorher strikt festgelegten Lehrplan durch die Lehrperson, noch weniger durch Dritte. Welche Inhalte in einem Lehrplan festgelegt werden sollen, bleibt in der politischen Bildung ein unausweichliches und konflikthaftes Thema. Gerade wenn sich Lehrinhalte nicht in verschiedene Teilbereiche, wie es z.B. oft in einzelnen Fachdisziplinen der Fall ist, aufteilen und lehren lassen, da das Verständnis eines bestimmten Problems zu sehr auf dem Wissen vorheriger Probleme und Bereiche (Gesellschaft, Politik, Ökonomie, Psychologie, Recht usw.) basiert und ineinander verwoben ist, kann die Auswahl der Inhalte nicht von den Schülern, Lehrpersonen und der Schulsituation losgelöst bestimmt werden, zumal dieser Werdegang anschliessend eine Überforderung aller Teilnehmenden bewirken kann (vgl. Schmiederer, 1977). „Verursacht werden solche Fehler vor allem durch Bildungspläne, die bis heute versuchen, alle >relevanten Bereiche< von Politik und Gesellschaft zu umfassen, und die darüber hinaus auch noch detaillierte Stoffpläne beinhalten und so den Unterricht mit viel zu umfassenden Themen und mit allzu großen Stoffmengen belasten“ (ebd., S 91 f.). Schmiederer (1977) weist zudem darauf hin, dass wenn Grundelemente eines Unterrichts schon vorher fest bestimmt sind, dies zu einer manipulativen Einschränkung führen kann und daraus folgend die „politisch-gesellschaftliche Realität in ihrer Vielseitigkeit und Problematik [...] mit Sicherheit verfehlt“ (S. 96) wird. Wichtig wäre es demzufolge die politische Didaktik beim Schüler selbst anzusetzen: „bei seinen Bewußtseinsstrukturen [sic], seinem Sozialcharakter, seinen Sprachgewohnheiten, seinen schichtspezifischen Vorurteilen, Apathie und Motivationen, seinem allgemeinen und seinem politischen Entwicklungsstand“ (ebd., S.104). Denn nur so kann eine emanzipatorische Wirkung eintreten, „wenn der Unterricht für den Schüler nicht >gleichgültig< bleibt, d.h. wenn der Schüler sich selbst in den Themen wiederfindet, wenn er sich ständig selbst mitdenken muß“ (ebd., S. 104). Später soll noch auf die Fülle von Lehrmaterial, deren Vermittlung sowie den Lernprozess selbst detaillierter eingegangen werden. Eines steht hier jedoch bereits fest; in der politischen Bildung überwiegt die Qualität die Quantität.

Politische Bildung, mit dem Ziel der Emanzipation und Demokratisierung der Schüler, wird aber durch neue oder veränderte Lehrpläne alleine die gewünschten Resultate nicht bewirken. Nur mit Hilfe neuer Formen des Unterrichts und institutionellen Bedingungen setzt die Schule den unumgänglichen Rahmen für die Voraussetzung der erwünschten und hier angesprochenen politischen Bildung. Schmiederer (1977) zählt folgende Ausgangsbedingungen als unabdingbar: „das Wecken neuer Bedürfnisse, die Sensibilisierung gegen Unterdrückung, Not und Elend, die Einübung von Solidarität und Kollektivbewußtsein [sic]“ (S. 43). Doch diese „verlangen nicht nur neue kognitive, sondern insbesondere auch neue psychische und soziale Voraussetzungen, wie z.B. die Überwindung von Vorurteilen und autoritären Strukturen, von Leistungszwang und Konkurrenzdenken sowie die Stärkung des Selbstbewußtseins [sic]“ (S. 43).

An die Lehrpläne anknüpfend sollen nun die Unterrichtsbedingungen selbst beleuchtet werden, wobei der Schwerpunkt auf der Lehrerrolle, dem Verhältnis zwischen Schüler und Lehrer, der Interaktion zwischen den Schülern selbst sowie der Lernart liegen. Unterpunkte, z.B. wie der Unterricht selbst stattfindet oder inwieweit die politische Bildung in Zusammenhang mit Manipulation oder Indoktrination gebracht werden kann, sollen anhand der aufgezählten zentralen Punkte dargestellt und inVerbindung gebracht werden.

2.2. Lehrerrolle

Auf die Lehrerausbildung soll in dieser Arbeit nicht vertieft eingegangen werden, da diese selbst einer eigenständigen Analyse bedürfte und je nach Kontext stark variiert. Trotzdem soll erwähnt werden, dass die Ausbildung der Lehrer nicht der einzige, aber gerade in einer postdemokratischen Atmosphäre dennoch einen wichtigen Pfeiler der politischen Bildung darstellen könnte. Rückblickend auf die 1970er Jahre in Deutschland beschreibt Nonnenmacher (2011), dass viele kritische Lehrpersonen, angestossen durch den politischen Zeitgeist und die öffentlichen Debatten um die Curricula, den Weg in die Schulen fanden, um dort in gesellschaftskritischen Lehrveranstaltungen strukturanalytisch, aktuelle Konfliktfälle aufzugreifen, was nicht wenige politische Aktionen, wie z.B. dem Verteilen von Flugblättern oder Schülerstreiks, zur Folge hatte. Eine derart politische Auslegung des Schulunterrichts über den Klassensaal hinweg ist in heutigen westlichen Ländern und deren gesellschaftlichen Zeitgeist eher dürftig vorstellbar. Durch die Ökonomisierung der Bildung zielen die Schulen und demgemäss auch die Lehrerausbildung vermehrt auf das Kompetenzlehren, welches Schüler in einen weitestgehend rigiden Lehrplan einbindet, dessen Erreichen mehr Gedächtnistraining, als kritisches oder politisches Denken benötigt. Die auszubildenden Lehrer können sich, ähnlich wie die Schüler, den Bedingungen dieser Ökonomisierung der Bildung nur schwer entziehen. Die politische (Aus-)Bildung der Lehrpersonen fällt entsprechend bescheiden aus, wobei gerade die Ausbildung der Lehrpersonen den Anstoss zu einer vertieften Auseinandersetzung mit der politischen Bildung geben könnte, um diese wieder in die Klassensäle hereinzutragen.

Ungeachtet der Ausbildung bleibt die Gestaltung des Unterrichts schlussendlich doch noch an die Lehrperson geknüpft, wobei diese sich bewusst sein muss, dass sie während ihrer Arbeit expliziten und impliziten institutionellen Regeln und Verhaltensweisen unterworfen ist, welche ihr Verhalten, ihre Lehrweise und ihre eigene Person angreifbar machen, falls die Unterrichtsmethoden „über den Rahmen der »allgemein anerkannten Spielregeln< [...] [hinausgehen, d. Verf.]“ (Schmiederer, 1977, S: 53). Nach Lange (1970) jedoch kann sich keine Lehrperson aus der politischen Bildung heraushalten, da sie sich durch ihr Lehrverhalten immer gleich mit positioniert.

„Es gibt keine andere als politische Pädagogik, und je unpolitischer eine Pädagogik sich versteht, desto gefährlicher sind ihre politischen, ihre herrschaftsstabilisierenden Wirkungen.

Ob der Erzieher Politik macht, ob seine Bemühungen politische Wirkungen hat, steht für ihn gar nicht zur Disposition. Es kann nur darum gehen, welche Politik ein Erzieher macht, die der Unterdrücker oder die der Unterdrückten“ (Lange, 1970, S. 17).

Giesecke unterscheidet hier zwischen Lehrpersonen, welche sich ausserschulisch selbst in gesellschaftskritische Themen vertiefen und diese dementsprechend so transparent und präzise wie möglich mit den Schülern gemeinsam erarbeiten können und jenen, welche ein „reduziertes Verfahren“ bevorzugen und „von Sachverhalten zu wenig verstehen. Es ist kein Kunststück, jedes politisches Thema ohne viel Sachverstand auf eine Handvoll >Urphänomene< hinzulenken“ (Giesecke, 1970, zit. nach Schmiederer, 1977, S. 97). Lange (1970) erkennt allerdings bereits in dieser Handlungsweise einen Fortschritt, denn seiner Meinung nach liegt schon dort ein revolutionäres Verfahren im Gange, wo Lernen mehr als nur Fütterung ist. „Aussicht auf Erhaltung des Status quo besteht hinfort nur noch da, wo man Menschen dazu bringt, das Lernen zu verlernen“ (Lange, 1979, S. 23).

Das Lernen wieder auf kritische Auseinandersetzung mit dem Lernstoff hin zu erlernen, benötigt dennoch zuerst einen Wandel in der schulischen Rollenauslegung, die Freire (1970) mit dem Begriff des „Lehrer-Schüler“ und „Schüler-Lehrer“ beschreibt. Die vorherrschende autoritäre Rolle der Lehrperson im Klassensaal verankert sich laut Freire im „Bankiers-Konzept“, welches dazu dienen soll „Menschen in Automaten zu verwandeln“ (S. 60). Das Bankiers-Konzept findet sich auch heutzutage in den Schulen leider noch, wenn auch nicht in allen Punkten gleichzeitig und in abgeschwächter Form, all zu oft wieder. Es charakterisiert sich dadurch, dass Lehrer lehren und Schüler belehrt werden sollen. Lehrer denken, sind allwissend und sind die, die auf die Schüler einreden oder mindestens immer das letzte Wort haben und so meistens bereits im Vorhinein das festlegen was sie hören wollen. Die Schüler hingegen werden belehrt, wissen nichts und sollen bestenfalls immer brav zuhören und nicht zu viel über den Lerninhalt nachdenken. Sie bekommen das Lernmaterial und den Lehrplan so vorgelegt, wie der Lehrer glaubt, dass es für sie richtig sei. Dabei haben die Schüler keine Macht an der Planung mitzuarbeiten, sie sollen höchstens eine Illusion erschaffen bekommen, in welcher sie durch das Handeln des Lehrers selbst zu handeln glauben, folglich werden Schüler zu Objekten des Lehrers gemacht; er selbst nimmt die Rolle des Subjektes ein (vgl. Freire, 1979). Freire beschreibt als letzten Punkt des Bankiers-Konzeptes, dass es „nicht überraschend [sei, d. Verf.], daß das Bankiers-Konzept der Erziehung Menschen a l s anpaßbare, beeinflußbare [sic] Wesen betrachtet. Je mehr die Schüler damit beschäftigt sind, die Einlagen zu stapeln, die ihnen anvertraut sind, um so weniger entwickeln sie jenes kritisches Bewußtsein [sic] [...] Je vollständiger sie die passive Rolle akzeptieren, die ihnen aufgenötigt wird, desto stärker neigen die dazu, sich der Welt einfach so, wie sie ist, und der bruchstückhaften Schau der Wirklichkeit, die ihnen eingelagert wurde, anzupassen. Die

Möglichkeit der Bankier-Erziehung, die kreative Kraft der Schüler zu minimalisieren oder zu vernichten und ihre Leichtgläubigkeit zu stimulieren, dient den Interessen der Unterdrücker, denen es darum geht, daß die Welt weder erkannt noch verwandelt wird“ (Freire, 1970, S. 58 f.).

Demnach ist die autoritäre Rolle der Lehrperson in dem Sinne anzupassen, dass nicht mehr nur die Lehrperson lehrt und über die Auslegung des ganzen Unterrichts entscheidet, sondern dass nun alle Teilnehmenden beide Rollen, die des Lehrers und des Schülers einnehmen können und demgemäss die Schüler nicht mehr nur die Rolle des rein passiven Adressaten ausfüllen, welche es mit möglichst viel Material zu füllen gilt. Diese entscheidende und wesentliche Betrachtungsweise des Lehrens und Lernens bedingt zunächst der Einsicht der Lehrperson, dass ein Wandel nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch im Klassensaal nötig ist. Inwiefern die Lehrerausbildung zu dieser Einsicht beitragen könnte, soll hier, wie oben erwähnt, nicht dargelegt werden. Nicht nur muss die Lehrperson sich hinsichtlich ihrer Rolle als Hauptausleger des Lehr- und Lernprozesses bewusst werden, sondern auch, dass sie selbst mit ihrem Verhalten den Status Quo befürwortet und verstärkt, so z.b. bezüglich der Reproduktion von sozioökonomischen Ungleichheiten durch die Schule oder der unkritischen Auseinandersetzung der Schüler mit ihrer Umwelt.

Die Rollenverteilung fängt bereits beim ersten Schultag und in der ersten Unterrichtstunde an, denn von Beginn an soll sich zwischen den Schülern, aber auch in ihrer Verbindung mit der Lehrperson ein solidarisches Gemeinschaftsgefühl entwickeln. Diese solidarische Einstellung zielt nicht nur auf das Wohlbefinden im Unterricht, als welches ermöglicht, dass Schüler sich gerne einbringen und wissen, dass ihre Meinung gehört und geschätzt wird, sondern ebenfalls darauf, dass ein neues Rollenverständnis entsteht, das sich auf Schüler wie Lehrer positiv auswirken soll. Es stellt sich dem Bankiers-Konzept konsequent entgegen und baut die Schüler bei allen Entscheidungen weitestgehend mit ein, so dass das hierarchische Verhältnis zumindest nicht mehr offensichtlich erkennbar ist und dem Schüler die Freiheiten einräumt, welche er für seine Entwicklung benötigt. Über die Basis der Beziehung, in welche die Lehrperson mit seiner Klasse treten will, wird vom ersten Tag an entschieden und bezieht sich auch auf die Festlegung des Lehr- und Lerninhalts.

2.3. Auseinandersetzung mit dem Lehr- und Lernmaterial

Das Lernen vereinfacht sich insgesamt, wenn das zu Erlernende einen selbst interessiert, da es folglich motivierende Effekte ausübt. Das Lernmaterial sollte nicht nur bezüglich der politischen Bildung behutsam ausgewählt werden, sondern in jeden schulischen Fächern. Die Auswahl der Inhalte ist dementsprechend schwerwiegend, da falsch ausgewählte Themen das Interesse und die Motivation hemmen, das Lernen erschweren und demgemäss das Gelernte oft nur auswendig gelernt und wiedergegeben, nicht aber verstanden wird und folglich langfristig nicht abgespeichert bleibt. Es fuhrt ebenso dazu, dass Schüler sich schnell überfordert fühlen und das zu Lernende deswegen nicht verstehen, weil die Lehrperson die Inhalte nicht auf die Ressourcen der Schüler abgestimmt hat und demgemäss politische Bildung keine Früchte tragen kann. Politische Bildung basiert auf Themen, welche sich nicht nur in einen bestimmten Bereich einordnen lassen, sondern oft aufeinander aufbauen oder miteinander in Verbindung stehen (vgl. Schmiederer, 1977), umso wichtiger ist die Berücksichtigung der Schüler. Themeninhalte können demnach an die Politik, die Ökonomie, die Geschichte oder andere Unterrichtsfächer oder Lebensbereiche anknüpfen und sind deshalb nicht in einzelne Schulfächer auflösbar. Das Lehrmaterial kann demnach dem Schüler nicht einfach aufgedrängt werden. Die Lehrperson sollte sich bei der Wahl der Inhalte an den bereits vorhandenen Vorkenntnissen seiner Klasse orientieren oder gemeinsam mit den Schülern Themen aus ihrer Umwelt behandeln. Letztere Möglichkeit wäre die optimalere, da die Lehrperson so nicht nur einen leichteren Überblick für die Interessen der Klasse erhält, sondern auch davon ausgehen kann, dass die Klasse, durch das Mitsprachrecht und das selbstständige Auswählen der Lerninhalte von Anfang an motiviert an die Sache herantreten werden und zudem öfters reale und konkrete Themen aus ihrer Umwelt auswählen. „Die erste Voraussetzung dafür, daß sich die Schüler für den politischen Unterricht überhaupt interessieren, ist die Wahl konkreter und realer Probleme aus dem politisch-gesellschaftlichen Bereich. [...] Nur am realen Problem kann der Schüler lernen, die Relevanz politisch-soziologischer Betätigung zu begreifen, die Bewältigung seiner sozialen Umgebung zu üben und einzusehen, daß der politische Unterricht ihm hilft, seine eigene Situation besser zu verstehen“ (Schmiederer, 1977, S. 99). Das zu erlernende Wissen kann sich also nicht nur auf Abstraktes und in der Vergangenheit Verweilendes basieren, sondern soll, wenn möglich, immer wieder mit der Gegenwart in Zusammenhang gebracht werden. Weiter fügt Schmiederer (1977) hinzu, dass „Politische Bildung, die politische Aufklärung mit dem Ziel der Politisierung der Schüler sein soll, ist nur möglich, wenn ihre Inhalte den Schüler >erreichen<, d.h. wenn dieser begreift, daß die Inhalte des Unterrichts ihn auch tatsächlich etwas angehen, und daß er von den behandelten Themen betroffen ist. Das aber heißt: Die politische Didaktik muß beim Schüler selbst ansetzen, sie muß von ihm ausgehen und an seiner Situation, seinen Problemen und Interessen anknüpfen. [...] Eine emanzipatorische Wirkung kann nur eintreten, wenn der Unterricht für den Schüler nicht >gleichgültig< bleibt, d.h. wenn der Schüler sich selbst in den Themen wiederfindet, wenn er sich ständig selbst mitdenken muß . Politisches Interesse ist um so eher zu erzielen, je mehr der Schüler das Problem als sein Problem erkennen kann, als etwas, das ihn und sein Leben betrifft. Politische Apathie beruht weitgehend auf dem Unvermögen, die eigenen Schwierigkeiten und Probleme auf gesellschaftliche Sachverhalte zu beziehen“ (Schmiederer, 1977, S. 104f).

Die Lehrperson ist nicht nur mehr reiner Wissensvermittler, sondern erlaubt dem Schüler mit in den Prozess der Themenfindung einzusteigen. Die Bildungsarbeit wird so von der Lehrperson mit dem Schüler organisiert und nicht vom Lehrer für oder über den Schüler, währendem die Welt als Vermittler agiert, „eine Welt, die beide Seiten beeindruckt und herausfordert und Ansichten oder Meinungen darüber hervorruft“ (Freire, 1970, S. 76). Ähnlich wie Schmiederer sieht Freire (1970) die Themenauswahl als elementar an und soll unbedingt von Situationen ausgehen, „die dem einzelnen vertraut sind, [wenn, d. Verf.] dessen Thematik untersucht wird, so daß er [der Schüler, d. Verf.] die Situationen leicht erkennen kann (und damit zugleich seine eigene Beziehung dazu)“ (S. 91 f.). So entsteht für den Schüler die Möglichkeit eigene Erfahrungen mit in den Unterricht einzubringen und diese zusammen mit anderen zu verarbeiten, um daraus eigene Ansichten, Vorurteile und politische Einstellungen immer wieder zu durch- und überdenken. Durch weitere von seinen Mitschülern eingebrachte lebensnahe Beispiele lernt der Schüler Situationen selbständig zu analysieren, ihre politische Bedeutsamkeit zu interpretieren, so dass der Schüler schlussendlich „seine eigene Situation und das Geschehen in seinem Alltagsleben soziologisch und politisch zu begreifen“ (Schmiederer, 1977, S. 106) lernt.

Abgesehen davon, dass die Interessen der Schüler als Ausgangspunkt der Unterrichtsarbeit dienen sollen, ist es nötig, der Klasse und dem einzelnen Schüler während den einzelnen Unterrichtseinheiten genügend Freiraum bei der Auseinandersetzung mit dem Lehrmaterial zu geben. Politische Bildung hat durch die Aufnahme der Sorgen und Konflikte der Schüler das Ziel, diese gesellschaftlich zu begründen und verständlich zu machen, so dass dem Schüler ermöglicht wird die eigene Situation in einen gesellschaftlichen Zusammenhang zu stellen, der ihm erlaubt „die gesellschaftliche Situation im Hinblick auf das Schicksal der Individuen zu interpretieren“ (ebd., S. 69). Damit dieses Unterfangen jedoch möglichst produktiv ausfällt und bestimmte Urteile und Wertungen nicht einfach aufgedrängt werden, soll sich die Lehrperson und die Klasse einem zu behandelndem Thema weitestgehend vorurteilsfrei nähern (vgl. ebd.). Zu oft werden Probleme zügig bewertet und klassifiziert. Hofmann (1977) sieht diesen Vorgang für die politische Bildungsarbeit als einschränkend und hemmend an, „wenn vorweg feststeht, daß ein Tatbestand zu verwerfen oder zu bejahen sei, so wird schon bei der Ermittlung des Sachverhalts wählend vorgegangen“ (Hofmann, 1961, zit. nach Schmiederer, 1977, S. 77). Diesbezüglich bleibt es eine Voraussetzung des politischen Unterrichts, dass der Lehrer sich zuerst wertabstinent verhält und der Klasse die Möglichkeit bietet sich selbst mit dem Gegenstand auseinanderzusetzen, um sich eine eigene Meinung zu bilden. Diese Auseinandersetzung, wenn nötig unterstützt durch die Lehrperson, soll den Schülern helfen, bevor bewertet und geurteilt wird, Zusammenhänge, Strukturen und Entwicklungen zu verbinden und zu verstehen, denn ,,[n]ur wenn es gelingt, den Gegenstand in allen seinen Dimensionen und Interdependenzen zu erfassen, ihn in seinen gesellschaftlichen Zusammenhang zu stellen, kann ein vom Gegenstand losgelöstes Werten vermieden werden“ (Schmiederer, 1977, S. 77). Auf diesem Weg können sich die Schüler kritisch mit dem Thema befassen und eigene Ideen untereinander ausdiskutieren, ohne dabei ständig auf die Meinung des Lehrenden zu warten und diese nur als richtig oder falsch anzusehen. Die Manipulation, welche dadurch entstehen würde, dass die Lehrperson den Schülern seine eigene Meinung ständig aufdrücken würde, sieht Schmiederer (1977) als die viel gravierendere Gefahr, als das Problem, dass Schüler während ihrer Arbeit falsch urteilen oder bewerten. Dies stellt zudem einen wichtigen Prozess in der politische Bildung dar, welcher beabsichtigt einen mündigen, dementsprechend selbständig denkenden Schüler zu bilden.

Die Zurückhaltung der Lehrperson sowie die eben erwähnte Vorurteilsfreiheit kann allerdings keineswegs mit fehlendem politischen Engagement von Seiten der Lehrperson her gleichgesetzt werden. Im politischen Unterricht werden ohnehin Werteentscheidungen und -urteile eingehen und das pädagogische Verhalten der Lehrperson besteht nicht darin seine eigene Meinung zurückzuhalten, sondern sie mit Massen und im richtigen Zeitpunkt mit den Schülern zusammen zu diskutieren, denn: „Wo jedermann urteilt, kann der Lehrer nicht schweigen“ (Engelhardt, 1968, zit. nach Schmiederer, 1977, S. 78), zumal wenn die Klasse nach der Meinung ihrer Lehrperson fragt. In diesem Fall hält Nonnenmacher (2011) die passive Lehrerrolle für unangebracht, da es „die Tugend der Meinungslosigkeit, des Sich-Heraushaltens, des Nicht-Flagge-Zeigens“ (S. 91) fördert. Nonnenmacher (2011) rät der Lehrperson dennoch, die eigene Meinung mindestens am Anfang zurückzuhalten und diese erst am Schluss, nachdem alle Argumente offengelegt und diskutiert wurden, mitzuteilen, allerdings unter der Prämisse, dass die Schüler wissen, dass jede Meinung, durch die unterschiedliche Gewichtung der vorhandenen Argumente, verschieden ausfallen und trotzdem noch gültig sein kann. Zwischen Manipulation und Hilfestellung kann in der Schule oft nur ein schmaler Grad liegen. Es ist jedoch ein Unterschied, ob die Meinung des Lehrers als die einzige oder nur als weitere unter vielen zählt. Ebenso gilt dies, wenn die Schüler die Lehrperson um Rat beten. In diesem Fall soll die Lehrperson laut Nonnenmacher (2011) „seine Beratungsfunktion nicht dazu benutzen, die Schüler zu einem politischen Tun oder Unterlassen aufzufordern. Wohl aber sollte er ihnen das Wissen vermitteln, das sie brauchen, um sich für ihre eigenen politischen Interessen vernünftig engagieren zu können“ (S. 146 f.). Dieser Dialog zwischen Schüler und Lehrperson benötigt einer spezifischeren Darlegung.

2.4. Dialog

Die Wertschätzung der anderen Person und deren Meinung kann nur dem wechselseitigen Erklären und Anhören, also dem Dialog entspriessen. Nach Freire (1970) kann so „das menschliche Leben nur durch Kommunikation seinen Sinn erhalten“ (S. 62). Über Lerninhalte nachdenken, sich eigene Gedanken über Probleme machen und diese gemeinsam mit anderen ausdiskutieren, fördert das Denken der Schüler und verrät ebenso viel über die Denkart der Lehrperson. „Das Denken des Lehrers gewinnt seine Echtheit nur durch die Echtheit des Denkens des Schülers. Der Lehrer kann nicht für seine Schüler denken, noch kann er ihnen sein Denken aufnötigen. Echtes Denken, ein Denken, das mit der Wirklichkeit zu tun hat, findet nicht im Elfenbeinturm, der Isolierung statt, sondern nur im Vorgang der Kommunikation“ (ebd., S. 62). Freires (1970) Pädagogik missbilligt das Bankiers-Konzept gänzlich und fördert stattdessen, dass Lehrpersonen vermehrt mit ihren Schülern in den Dialog treten. Dieses gegenseitige Miteinander führt dazu, dass auch die Lehrperson belehrt wird und nicht nur sie es ist die lehrt.

„So werden sie miteinander für einen Prozeß [sic] verantwortlich gemacht, in dem alle wachsen. In diesem Prozeß [sic] sind Argumente, die auf „Autorität“ begründet sind, nicht länger gültig. Um wirken zu können, muß Autorität auf der Seite der Freiheit sein und nicht ihr Gegenüber. Hier lehrt niemand einen anderen, noch ist jemand selbst gelehrt. Vielmehr lehren Menschen einander, vermittelt durch die Welt, durch die Erkenntnisobjekte, die in der Bankiers-Erziehung vom Lehrer „besessen“ sind“ (Freire, 1970, S. 64 f.).

Die Erkenntnisobjekte gehören nicht mehr der Lehrperson, sondern werden zum gemeinsamen Gut für den eintretenden Dialog und die Reflexion zum Gegenstand. Die Schüler sind so nicht mehr nur brave Zuhörer, sondern werden vielmehr zu „kritischen Mitforscher[n] im Dialog mit dem Lehrer“ (ebd., S. 65) und den Mitschülern. Die politische Bildung nach Freire zielt auf die Bewusstmachung von Problemen durch das eigene Denken und der Auseinandersetzung mit seiner konkreten Umwelt. Freire (1970) erwähnt, dass der Dialog sich auf konkrete Erfahrungen und Probleme aus der Welt der Schüler beziehen soll und gerade dadurch, dass „die Schüler in zunehmenden Maß vor Probleme gestellt werden, die sich ihnen in der Welt und mit der Welt stellen, werden sie sich mehr und mehr herausgefordert und verpflichtet fühlen, diese Herausforderungen zu beantworten. Weil sie die Herausforderung innerhalb eines Gesamtzusammenhangs und als mit anderen Problemen verknüpft, aber nicht als theoretische Frage erkennen, neigt das daraus resultierende Begreifen dazu, mehr und mehr kritisch zu sein, und wird so immer weniger entfremdet. Die Antwort auf die Herausforderung schafft neue Herausforderungen, gefolgt von neuem Verstehen, und allmählich kommt der Schüler dazu, sich als verpflichtet zu begreifen“ (Freire, 1970, S. 66).

[...]

Ende der Leseprobe aus 72 Seiten

Details

Titel
Von der politischen Bildung zur politischen Partizipation. Dokumentation "Precious Knowledge"
Hochschule
Université de Fribourg - Universität Freiburg (Schweiz)
Note
1,00
Jahr
2016
Seiten
72
Katalognummer
V324240
ISBN (eBook)
9783668236301
ISBN (Buch)
9783668236318
Dateigröße
708 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Politische Bildung, Partizipation, Precious Knowledge
Arbeit zitieren
Anonym, 2016, Von der politischen Bildung zur politischen Partizipation. Dokumentation "Precious Knowledge", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/324240

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