Die Autonomie- und Unabhängigkeitsbewegung Sardiniens nach dem Zweiten Weltkrieg


Diploma Thesis, 2004

76 Pages, Grade: 2,7


Excerpt


Inhalt

Einleitung

1. Die Geschichte Sardiniens
1.1 Die Nuraghenkultur (1500 bis 500 v. Chr.)
1.2. Sardinien und die Römer (238 v. Chr. bis 450 n. Chr.)
1.3. Christianisierung
1.4. Die Richterzeit
1.5. Die spanische Herrschaft
1.6. Das „Königreich Sardinien“ unter der Herrschaft der Savoyer
1.6. Sardinien als Teil des Gesamtstaates Italien

2. Hauptproblemfelder
2.1. Sprache und Kultur
2.2. Wirtschaftslage
2.3. Militärbasen in Sardinien

3. Die Parteien der Autonomie- und Unabhängigkeitsbewegung
3.1. Partito Sardo d’Azione
3.2. Indipendèntzia Repùbrica de Sardigna
3.3. Sardigna Natzione Indipendentzia

4. Heutige Situation

Schlusswort

Anhang

Bibliographie

Einleitung

Sardinien gehört zu Italien. Fragt man einen Italiener, was er über Sardinien weiß, bekommt man oft die Antwort, Sardinien sei eine wunderschöne Urlaubsinsel mit traumhaften Stränden, die Sarden seien sehr gastfreundlich und sprächen manchmal einen sonderbaren Dialekt. Die Natur sei noch natürlich und in Sardinien sei alles noch ursprünglich. Kaum ein Italiener weiß, dass Sardisch kein italienischer Dialekt ist, sondern eine eigene Sprache, und dass diese Sprache einen Teil der gravierenden Unterschiede ausmacht, die Sardinien vom italienischen Festland trennen. Die „Ursprünglichkeit“ der Insel ist zum Teil auf den wirtschaftlichen Rückstand zurückzuführen, der Sardinien zu einem Teil des unterentwickelten Mezzogiorno[1] macht. Ein sardischer Freund sagte mal zu mir: „Noi siamo stati opressi e posseduti dallo stato italiano con la forza, impedendoci nostro sviluppo culturale ed economico portandoci alla schiavitù.” Das ist wohl der Eindruck, der die heutige Unabhängigkeitsbewegung motiviert. Das Bewusstsein für die eigene Kultur und die Rückständigkeit der wirtschaftlichen Lage keimte allerdings schon im 19ten Jahrhundert auf und hat eine Bewegung entstehen lassen, die sich bis heute für die Unabhängigkeit Sardiniens vom italienischen Zentralstaat einsetzt.

Im ersten Teil dieser Arbeit soll aufgezeigt werden, dass die Geschichte der Insel von der Besetzung durch verschiedene Mächte geprägt ist. Der zweite Teil erläutert die daraus entstandenen historischen sowie aktuellen Problemfelder.

Die Geschichte der traditionsreichsten Autonomiebewegung wird im dritten Teil erläutert. Außerdem beschreibt das Kapitel die Parteien und Bewegungen, die sich von der Autonomiebewegung als Unabhängigkeitsbewegungen abgespalten haben, weil ihnen der autonomistische Gedanke nicht weit genug gegangen ist. Im letzten Teil wird die heutige politische Landschaft Sardiniens beschrieben.

1. Die Geschichte Sardiniens

Diese Einführung in die Geschichte Sardiniens soll die Beweggründe für die Entstehung der Autonomie- und Unabhängigkeitsbewegung deutlicher machen, als es die ausschließliche Beschreibung der Entstehung der Autonomie- und Unabhängigkeitsbewegung nach dem Zweiten Weltkrieg könnte.

Die ältesten Spuren der Besiedelung stammen aus der Altsteinzeit. Es wurden Steinwerkzeuge gefunden, deren Alter auf ca. 150.000 Jahre geschätzt wird.

Während der Jungsteinzeit entwickelte sich die so genannte Ozierikultur, in der unter anderem Handel mit Südfrankreich und Norditalien betrieben wurde. Das Handelsgut war Obsidian.

Die Menschen dieser Kultur hinterließen auf Sardinien die ersten Denkmäler und bestatteten ihre Toten in Grabhöhlen, die „Domus de janas“ (Feenhäuser) genannt wurden. In diesen Grabhöhlen fand man großzügige Grabbeigaben aus Silber und Kupfer.

1.1 Die Nuraghenkultur (1500 bis 500 v. Chr.)

In der Bronzezeit entwickelte sich die Nuraghenkultur, sie wurde benannt nach den von ihren Menschen errichteten Steintürmen, den Nuraghen.

Die Nuraghen waren die Hauptwohnsitze der jeweiligen Sippe, erbaut aus großen Steinblöcken. Sie gehören zu den höchstentwickelten Megalithbauten des gesamten Mittelmeerraums. Es wird vermutet, dass es mehr als 10.000 Nuraghen gab, von denen heute noch ca. 3000 erhalten sind. Ihr wehrhafter Charakter, manche Nuraghen wurden zu großen Festungsanlagen ausgebaut, lässt darauf schließen, dass die einzelnen Sippen untereinander verfeindet waren.

Die Nuragher pflegten wirtschaftliche Beziehungen im gesamten Mittelmeerraum. Das seltene Kupfer war ein begehrtes Gut, mit dem die Nuragher Handel trieben und es zum Beispiel an Zypern und an Mykonos veräußerten.

Als die mykenische Kultur ca. 1000 v. Chr. unterging, gewannen die Phönizier immer mehr Macht im Mittelmeerraum. Sie errichteten auf Sardinien Handelsniederlassungen mit Einverständnis der nuraghischen Stammesoberhäupter, begannen aber bald die Insel zu kolonialisieren. Die dadurch in Bedrängnis geratenen Nuragher griffen die neu errichteten Handelsstädte an um ihr Territorium zu verteidigen. Es folgte eine Besetzung durch die Karthager (von den Römern Punier genannt), die in der Zeit von 500 bis 238 v. Chr. fast die ganze Insel unter ihre Herrschaft bringen konnten. Das führte auch zur ethnischen und kulturellen Verschmelzung der beiden Völker.

Einzige Ausnahme blieb das Gebiet der späteren Barbagia, das aufgrund seiner Lage in den Bergen des Landesinneren schwer zu erreichen war.

1.2. Sardinien und die Römer (238 v. Chr. bis 450 n. Chr.)

Im Jahr 238 v. Chr. wurde Karthago im zweiten punischen Krieg endgültig von den Römern geschlagen. Nach erbitterten Kämpfen in den Küstenregionen der Insel gegen die punische oder punisierte Bevölkerung und gegen die Urbevölkerung im Landesinneren war hundert Jahre später fast die ganze Insel unter römischer Kontrolle.

46 v. Chr. wurde Sardinien zur römischen Provinz und diente fortan als Kornkammer Roms. Die Römer bauten vier große Straßen, auf deren Fundament z. T. das heutige Straßennetz aufgebaut ist, um die ganze Insel zu erschließen und gelangten auch in die Region der Barbagia (von lat. Barbaria). Die Einwohner dieser Region lehnten sich noch bis ca. 19 v. Chr. gegen die Fremdherrschaft auf.

1.3. Christianisierung

Das Christentum kam wahrscheinlich schon im ersten Jahrhundert n. Chr. durch christianisierte Juden, die von den Römern nach Sardinien verbannt worden waren, auf die Insel.[2]

Im Jahr 455 n. Chr. bereiteten die Vandalen unter Fürst Geiserich der Herrschaft der Römer ein Ende. Schon ca. 80 Jahre später geriet die Insel aber durch Kaiser Justinian unter byzantinischen Einfluss[3] und unter Papst Gregor dem Großen wurde im sechsten Jahrhundert die Christianisierung der Insel mit der Missionierung der Barbagia abgeschlossen.[4]

Die Ausbreitung des Islams änderte die Machtverhältnisse im Mittelmeerraum. Die Sarazenen griffen Spanien, Südfrankreich, Süditalien und Sizilien, später auch Sardinien und Korsika an. Sie eroberten im neunten Jahrhundert auch sardische Küstengebiete. Byzanz war mit der Rückeroberung süditalienischer und sizilianischer Gebiete beschäftigt und verlor Sardinien aus den Augen. Ab 827 war Sardinien komplett von Byzanz isoliert.

1.4. Die Richterzeit

Wegen der Isolierung und der drohenden Gefahr durch die Sarazenen entwickelten sich autonome politische Strukturen. Die so genannten Judikate entstanden: Cagliari, Torres, Arborea und Gallura. Jedes dieser unabhängigen sardischen Gebiete wurde von einem iudike, einem Richter, regiert. Da die Insel weiterhin durch die Sarazenen bedroht war, waren die Judikate auf die Hilfe der beiden Seemächte Genua und Pisa angewiesen, die die Sarazenen 1016 an der sardischen Küste besiegten und so auf der Insel Privilegien errangen. Diese Privilegien baute Pisa im Judikat Cagliari soweit aus, dass das Judikat seine Unabhängigkeit im Jahr 1257 verlor und Pisa die Herrschaft übernahm. Der Norden der Insel stand unter dem Einfluss beider Seemächte und sowohl Torres als auch Gallura verloren ihre Autonomie.

Seit Mitte des 13ten Jahrhunderts bemühten sich die Päpste, die Judikate abzuschaffen, und als 1326 der aragonesische Herrschaftsanspruch durch den vom Papst gekrönten Alfons IV verwirklicht wurde, war es ihnen fast gelungen. Das einzige Judikat, das seine Unabhängigkeit bewahrte, war Arborea, das sich unter seiner judicissa Eleonora d’Arborea bis 1478 gegen die Eroberer zur Wehr setzte.[5] Eleonora d’Arborea entwickelte die Carta de Logu, eine Sammlung und Modifizierung aller zu ihrer Zeit relevanten Gesetzestexte in sardischer Sprache. Diese Carta de Logu galt bis 1827.

Als Eleonora 1404 starb, brachen Erbfolgestreitigkeiten aus, in denen zuerst die Aragonesen die Oberhand behielten.[6] Spanien und Aragonien einigten sich aber schon 1479 und Sardinien fiel an das spanische Königreich.

1.5. Die spanische Herrschaft

Während der spanischen Herrschaft wurde Sardinien von einem Vizekönig und einem Parlament regiert, dessen Mehrheit aus spanischem Adel und Vertretern des hohen Klerus bestand.

„Neben einer Oberschicht aus Spaniern und deren Günstlingen bestand eine archaische Hirtenzivilisation mit eigenen Gesetzen und Gebräuchen fort. So wurde eine feudale und statische Gesellschaftsstruktur gefestigt, welche die spanische Zeit überdauerte und bis in die Gegenwart wirkt. Während die Erträge der Insel in die spanische Staatskasse flossen, wurden die wirtschaftlichen Bedürfnisse der Bevölkerung vernachlässigt.“[7]

Während der ersten Zeit der spanischen Herrschaft war Katalanisch die Amtsprache, sie wurde erst Ende des 16ten Jahrhunderts durch Spanisch ersetzt.

Im Jahr 1700 starb der spanische König Karl II ohne Erben zu hinterlassen.[8] Als Konsequenz des Spanischen Erbfolgekrieges fiel Sardinien zuerst an das Haus Habsburg, Kaiser Karl VI tauschte 1718 die Insel aber gegen Sizilien ein. Sardinien wurde dem Piemont zugesprochen und Viktor Amadeus II von Savoyen wurde zum König von Sardinien ernannt.[9]

1.6. Das „Königreich Sardinien“ unter der Herrschaft der Savoyer

Unter Viktor Amadeus II wurden zahlreiche Untersuchungen über den sozio-ökonomischen Zustand der Insel durchgeführt. Dadurch wurde zwar guter Wille durch den Monarchen gezeigt, die Insel aber brauchte konkrete Taten. Der Vizekönig umschrieb den Zustand der Insel so:

„Il peggior male di questo paese, è che la nobiltà è povera, il paese misero, la gente è sfaccendata e senza alcuna attività, l’aria malsana, senza che ci si possa porre rimedio.”[10]

Zu diesem Zeitpunkt war Sardinien in Händen von Banditen und der Handel lag so gut wie brach.

Unter König Karl Emanuel III wurde der Graf Giovan Battista Boggino als Minister eingesetzt.[11] Dieser setzte sich als erster ernsthaft für die Entwicklung der Wirtschaft, Verwaltung und Kommunikation der Insel ein.[12] Er ließ unter anderem die Universität von Cagliari wiedereröffnen und richtete Schulen ein, die von Mitgliedern des Jesuitenordens geleitet wurden.

Ein großes zu lösendes Problem stellten die Banditen dar. Die Regierung in Turin schickte den Markgrafen di Rivarolo nach Sardinien und binnen weniger Jahre gelang es ihm, die Übergriffe der Banditen zu großen Teilen einzudämmen, wenn auch seine Methoden als zu grausam eingestuft wurden; die Mehrheit der verhafteten Banditen fand ihr Ende am Galgen.[13]

Trotz der Bemühungen Bogginos um die Modernisierung kam es in den 80er Jahren des 18ten Jahrhunderts immer wieder zu Aufständen der sardischen Bevölkerung gegen die feudalen Tributpflichten. Auch nachdem der Angriff französischer Truppen erfolgreich durch sardische Milizen abgewehrt worden war, kam aus dem Piemont nicht die erhoffte und erwartete Hilfe zur Verbesserung der Lage der Insel. 1794 wurden durch die sardische Führungsklasse fünf Forderungen, die so genannten cinque domande[14], an Turin überbracht. Diese fünf Forderungen

„…[zielten auf] eine von der sardischen Führungsklasse geführte Entwicklung Sardiens im Rahmen des Königreiches[ab].“[15]

Nach der Ablehnung der fünf Forderungen durch Viktor Amadeus III brach in Sardinien eine Revolte aus, in deren Folge die Familie des Vizekönigs mitsamt ihrem Gefolge von der Insel vertrieben wurde.[16] Die Führer dieser Revolte waren Gerolamo Pitzolo, Vincenzo Sulis und Giovanni Maria Angioy. Nach Beginn der Revolte spaltete sich die Gruppe der Revolutionäre in zwei Parteien. Die Liberalen sammelten sich in Cagliari um Angioy, während sich das konservative Lager in Sassari bildete. Mit der Zeit überwog die „anti-piemontesische“ Stimmung die „anti-liberale“ und Angioy beschloss Cagliari zu besetzen. Er wurde vom Vizekönig zum Gesetzlosen erklärt und nachdem in Oristano die Rebellen geschlagen worden waren und die Repressalien durch die Krone immer bedrohlicher wurden, floh Angioy nach Frankreich, um Napoleon davon zu überzeugen Sardinien zu besetzen. Dies blieb jedoch ohne Erfolg. Angioy starb 1808 im Exil.[17]

Am 24. Februar 1799 schiffte Karl Emanuel IV von Savoy sich mit seiner kompletten Familie nach Cagliari ein und kurz nach der Ankunft rief er für alle Rebellen eine Generalamnestie aus. Er ernannte seinen Bruder Karl Felix zum Vizekönig, der die Insel bis 1821 regierte.[18] In den Jahren des Verbleibs des piemontesischen Hofs auf Sardinien setzten sich eine tief greifende Veränderungen auf der Insel ein, es wurden weitere Schulen gegründet und in Cagliari das Archäologische Museum eröffnet. An der Universität in Cagliari wurden neue Fakultäten gegründet. Außerdem wurde eine Kommission gegründet, die die Modifikation der Gesetze zur Aufgabe hatte. 1827 wurde der so genannte Codice Feliciano veröffentlicht. Die Hauptneuerung war die Abschaffung der körperlichen Strafe und der Folter. Am 6. April 1822 wurde der erste Meilenstein für die Verbindungsstraße von Cagliari nach Porto Torres gelegt.[19]

Eine der prägnantesten staatlichen Eingriffe in dieser Zeit war das Editto delle chiudende, das den sich zusehends verschärfenden Konflikt zwischen den Bauern und den Hirten auflockern sollte.

Da die nutzbaren Böden seit Jahrhunderten Gemeinbesitz waren, wurden sie gleichzeitig als Ackerland und als Weideland genutzt. Oft kam es zwischen Bauern und Hirten zu Streitigkeiten über die jeweilige Nutzung; entweder hatte ein Bauer auf vermeintlichem Weideland angepflanzt oder eine Viehherde weidete auf vermeintlichem Ackerland. Das Editto delle Chiudende erlaubte den Bauern, Privatgrund aus der Koppelwirtschaft herauszunehmen und einzuzäunen mit der Auflage, keine Trinkstellen für Vieh oder Durchgänge für Herden zu versperren. Die reicheren Bauern aber nutzten diese Gesetze aus und hielten sich nicht an die oben genannten Auflagen, sodass den Hirten ein eindeutiger Nachteil entstand. Es kam zu Kleinkriegen um Weideland und 1868 kämpfte die Widerstandsbewegung der Hirten noch immer für

Su Connottu, für die Beibehaltung der altbekannten, ausdifferenzierten Landnutzungsrechte, die auch der ärmeren Lokalbevölkerung einen gewissen Zugang zu Land sicherten (für Weide, Sammeln von Holz, Eicheln etc.).“[20]

Die Abschaffung des Feudalsystems führte zu einer maßgeblichen Verschlechterung der Situation der Bauern und Hirten aufgrund der hohen Steuerschulden Sardiniens, durch die es zu Enteignungen und einer hohen Steuerlast, die sie als Landbesitzer nun selbst tragen mussten, für Hirten und Bauern kam.[21]

1.6. Sardinien als Teil des Gesamtstaates Italien

“Auch nach der Einigung Italiens (1861) blieben die wirtschaftlichen und sozialen Probleme zunächst bestehen, da der zentralistisch regierte italienische Einheitsstaat zur Modernisierung der rückständigen Regionen des Südens und der Inseln nur wenig leistete.“[22]

Im Süd-Westen der Insel entstand das erste industrielle Zentrum der Insel, der Bergbau im Sulcis-Iglesiente. Hier verbreiteten sich auch zu Anfang des 20sten Jahrhunderts die ersten sozialistischen Ideen und es wurden bedeutsame Arbeitskämpfe ausgefochten. Der Verfall der Milchpreise auf der Insel war in dem Zollkrieg mit Frankreich begründet, der eine Krise in der Landwirtschaft hervorgerufen hatte. Die niedrigen Milchpreise auf Sardinien nahm die festländische Käseindustrie zum Anlass, auf Sardinien Pecorino (Schafskäse) produzieren zu lassen, der für den ausländischen Markt bestimmt war. Dieser Anstieg des Milchbedarfs führte zu einer Ausweitung der Schäferei. Ackerland wurde zu Weideland umgewandelt, Bauern wurden zu Schäfern.

Der Bau des Eisenbahnnetzes band Sardinien stärker in den überregionalen Handel ein und der Staatsapparat des vereinigten Italiens wurde bis in die äußerste Peripherie ausgebaut. So bildete sich auch in ländlichen Gebieten ein Kleinbürgertum aus Angestellten, Ärzten und Lehrern.

Luciano Marrocu beschreibt diese Zeit zusammenfassend als „eine partielle Modernisierung in einem Rahmen persistenter Rückständigkeit“[23], da sich trotz der Modernisierungen die wirtschaftliche Lage Sardiniens nicht im Ganzen verbesserte.

Von den seinerzeit 870.000 Einwohnern Sardiniens nahmen 100.000 am Ersten Weltkrieg teil. Durch diese starke Beteiligung wurde hauptsächlich der Ackerbau geschwächt, während in der Schäferei auch Kinder und Jugendliche als Hilfskräfte eingesetzt wurden und sich der Mangel an Arbeitskräften in diesem Sektor weniger negativ auswirkte.[24]

Nach dem ersten Weltkrieg ging 1921 aus einer Gruppe heimkehrender Kriegsteilnehmer die erste autonomistische Partei Sardiniens hervor, die Partito Sardo d’Azione (PSd’Az). Die Partei wurde im Mai gleichen Jahres unter der Führung von Emilio Lussu die zweitstärkste politische Kraft der Insel. Als die Faschisten in Sardinien Fuß fassten, wurde jede autonomistische Bewegung unterdrückt und 1923 wurde die PSd’Az aufgelöst.

Auch wenn für Sardinien der Faschismus eine weitgehende Integration in den italienischen Nationalstaat bedeutete, durch den Ausbau des Schulwesens, der Verkehrsverbindungen und des Rundfunks, änderte sich grundlegend nichts am desolaten wirtschaftlichen Zustand der Insel. Die zwei signifikantesten Projekte des faschistischen Regimes auf Sardinien waren die Urbarmachung des Moores, in deren Folge die Stadt Mussolinia (heute Arborea) gegründet wurde und die Erweiterung des Bergbaus und in dessen Zuge die Gründung der Stadt Carbonia.[25]

Im Zweiten Weltkrieg wurde Sardinien weitgehend von Zerstörungen verschont. Cagliari, das zu großen Teilen zerstört wurde, war eines der wenigen Ziele von Bombardierungen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich in Sardinien eine Parteienlandschaft, die der von vor dem Faschismus sehr ähnelte. Auch die PSd’Az formierte sich neu und erreichte nun, wieder unter der Führung von Emilio Lussu, 1947 den Autonomiestatus der Insel.

In den folgenden Jahren wurde der Kampf gegen die Malaria, von der Sardinien mehr als viele andere Regionen im mediterranen Raum betroffen war, zum wichtigsten Ziel. Seit 1950 gilt Sardinien als frei von Malaria.

Die 50er Jahre, in vielen Teilen Europas und auch in Norditalien die Ära des Wirtschaftswunders, gingen an Sardinien wie auch an den südlichen Regionen Italiens fast spurlos vorbei.[26] War schon Anfang des 20sten Jahrhunderts in Sardinien eine immer stärker werdende Landflucht zu beobachten, drohte diese jetzt ganze Dörfer zu entvölkern. Viele Sarden wanderten in die Städte ab oder aus nach Norditalien oder ins Ausland.

Während der 60er Jahre wurde der schon im Autonomiestatut vorgesehene Entwicklungsplan Piano di Rinascità umgesetzt. Dieser Plan führte zur Ansiedlung von petrochemischen Großunternehmen auf Sardinien, änderte aber nicht grundlegend etwas an der wirtschaftlichen Misere der Insel, da Arbeitsplätze z.B. nur für die Zeit des Aufbaus der Unternehmen geschaffen wurden, die Inbetriebnahme der Unternehmen aber kaum Arbeitskräfte erforderte.[27] Die Emigration erreichte in diesen Jahren Spitzenwerte. Daraus resultierte u. a., dass Dorffeste, die vorher mehrmals im Jahr stattfanden, nur noch im Sommer zur Rückkehr der Emigrierten ausgerichtet wurden. So gingen auch kulturelle Werte verloren.

In den 60er Jahren entwickelte sich der erste Tourismus. Die Ostküste der Insel wurde durch den Prinzen Aga Khan erschlossen. So profitierte für kurze Zeit das Baugewerbe von der Erschließung und nachhaltig, aber in deutlich geringerem Maße, der Dienstleistungssektor.

1968 wurden das erste Mal Wahlen zu einem unabhängigen Regionalparlament durchgeführt. Ungefähr zu dieser Zeit entwickelte sich auch die Bewegung des Neosardismus, die eine separatistische und nationalistische Position einnahm und sich erstmals auch mit den ethnischen und kulturellen Aspekten des Sardismus beschäftigte. Die auf der Insel neu gegründeten Kulturvereine orientierten sich an antikolonialistischen Befreiungsbewegungen und stellten der fehlgeschlagenen Industrialisierung Projekte gegenüber, die sich an Modellen der lokalen Vergangenheit orientierten. In den 70er Jahren gründeten sich weitere sardisch-nationalistische Gruppierungen, die es sich zur Aufgabe machten, die sardische Sprache aufzuwerten. Diese Phase der Bewegung war gekennzeichnet durch eine Sensibilisierung für alle Bereiche, die die sardische Identität betrafen. Anfang der 80er Jahre war die Bewegung des Neosardismus, durch verfehlte Politik der separatistischen sowie föderalistischen Bündnisse weitgehend beendet.[28]

Trotz ihres abrupten Endes hatte diese Periode nachhaltige Auswirkungen auf die weitere sardische Politik. Die Basis für eine grundlegende Änderung des Umgangs mit sardischer Identität war gelegt. In den 90er Jahren gründeten sich neue Organisationen mit nationalistischer Programmatik. Diese hatten aber durch die Kulturalisierung der sardischen Debatte dem offen separatistischen Projekt der Lega Nord[29] nichts entgegenzusetzen.

Die sardische Schäferei ist bis heute einer der wichtigsten Wirtschaftszweige Sardiniens. Durch Krisen in der Agrikultur und das Scheitern der Industrialisierungspolitik verbesserte sich der Zustand der Viehwirtschaft, die aber stark abhängig ist vom Markt der Milchprodukte und der europäischen Agrarpolitik. Nach wie vor ist die wirtschaftliche Lage durch niedrige Wachstumsraten gekennzeichnet und die demographische Lage durch stetig anwachsende Landflucht. Bis heute emigrieren junge Sarden ins Ausland oder in den Norden Italiens um der Arbeitslosigkeit zu entgehen.

2. Hauptproblemfelder

2.1. Sprache und Kultur

Das Sardische ist eine Minderheitensprache, die auf dem Lateinischen basiert. Sie entstand während der 700 Jahre andauernden Herrschaft der Römer auf Sardinien.

„…, la parlata indigena s’impoverisce del suo lessico e s’arricchisce di quello del latino classico del periodo repubblicano ed imperiale, importato dagli amministratori, e di quello volgare dei soldati e dei coloni agricoli; il latino si trasforma in sardo ed il sardo assimila la lingua del dominatore.”[30]

Sardisch besteht aus unzähligen Dialekten, die auf den drei Hauptmundarten Logudoresisch, Campidanesisch und Galluresisch basieren.[31]

Die konservativsten Zentraldialekte des Sardischen haben sich bis heute in der gesprochenen Sprache kaum verändert, während die Syntax der geschriebenen Sprache in Dokumenten und Urkunden eine Wandlung durchgemacht hat. Diese Wandlung ist hauptsächlich darauf zurückzuführen, dass Sardinien in seiner Geschichte unter etlichen verschiedenen Verwaltungen war. Sardische Dokumente weisen je nach Entstehungsdatum griechische, byzantinische, toskanische, katalanische und spanische Einflüsse auf.[32]

Sardinien ist, außer während der Richterzeit, nie ein unabhängiger Staat gewesen. Im Jahr 1326 übernahmen die Aragonesen die Herrschaft und Katalanisch blieb bis ins 17te Jahrhundert offizielle Amts- und Kultursprache und wurde dann durch Spanisch ersetzt. 1764 wurde Italienisch zur offiziellen Amtssprache erklärt.[33] Sardisch existierte praktisch stetig als „Nebensprache“ zur offiziellen Amtsprache, wurde aber kaum mehr in der schriftlichen Form verwendet.

„Seit Sardinien zu Italien gehört, hat sich die Situation nicht geändert. Das Italienische ist heutzutage die Schul-, Kultur- und Literatursprache wie früher das Katalanische und das Spanische.“[34]

In den Familien wurde aber stets Sardisch gesprochen. So pendelte sich bis in die 20er Jahre des 20sten Jahrhundert ein Gleichgewicht zwischen Sardisch und Italienisch ein. Sardisch war die Sprache des Volkes und Italienisch die Elitesprache.[35]

Nach dem Zweiten Weltkrieg kippte dieses Gleichgewicht. Einerseits durch die seit der Einigung Italiens vorangetriebene Italianisierungskampagne[36] und andererseits durch Sardiniens wirtschaftliche Öffnung nach außen durch Industrie und Tourismus und die vorangetriebene Alphabetisierung der Insel. Italienisch wurde zu einem supraregionalen Code.[37]

Nachdem Sardinien 1948 den Autonomiestatus erlangt hatte, wurden in den 50er Jahren in Sassari und Cagliari Lehrstühle für sardische Sprachwissenschaft eingerichtet. Die Autonomiebewegung, die die „Sprachfrage“ außer Acht gelassen hatte, begann erst in den 70er Jahren, sich mit diesem Thema zu beschäftigen.

“One of the first demands made in relation to the Sardinian language was formulated in a resolution adopted by the University of Cagliari in 1971, calling upon the national and regional authorities not only to recognize the Sardinian people as an ethnic and linguistic minority but also to recognize Sardinian as the national and official language of the island.”[38]

Man begann über die Kodifizierung der sardischen Sprache zu diskutieren und 1985 wurde die Sotziedade pro sa Limba Sarda gegründet.[39] In den folgenden Jahren wurde die Diskussion um die Kodifizierung des Sardischen immer aktueller, es

[...]


[1] Als Mezzogiorno wird oftmals das südliche Italien bezeichnet

[2] Vgl. Guido Mensching, Einführung in die sardische Sprache, Kurzer Abriß der Geschichte Sardiniens, Romanistischer Verlag, Bonn , 1994, nachfolgend zitiert als: Mensching und Seitenangabe

[3] Vgl: www.pietradiluna.de/Pages/AllgInfo/Geschichte.html, nachfolgend zitiert als : Pietradiluna

[4] Vgl. Mensching, S.13

[5] Vgl. ibid.

[6] Vgl. http://digilander.libero.it/internav/Sardegna_storia/storia_4.htm

nachfolgend zitiert als: http://digilander.libero.it

[7] Vgl. Mensching S. 13

[8] vgl. http://digilander.libero.it

[9] Vgl. Mensching

[10] Vgl. http://digilander.libero.it

[11] Vgl. ibid.

[12] Vgl. Dietmar Rost, Gesellschaftsbilder in Sardinien, zur sozialen Konstruktion lokaler, regionaler und nationaler Identitäten, S. 19, Münster 2000, nachfolgend zitiert als Rost und Seitenangabe

[13] Vgl. http://digilander.libero.it

[14] Siehe Anhang, Le cinque domande

[15] Vgl. Rost, S. 19

[16] Vgl. ibid.

[17] Vgl. http://digilander.libero.it

[18] Vgl. ibid.

[19] Vgl. ibid.

[20] Vgl. Rost, S. 20

[21] Vgl. ibid.

[22] Vgl. Mensching, S. 12

[23] Vgl. Luciano Marrocu, L’identità perduta, S. 82-88 in: Marrocu/Brigaglia: La perdita del Regno. Intellettuali e costruzione dell’identità sarda tra Ottocento e Novecento, Roma, 1995 nachfolgend zitiert als Marrocu und Seitenangabe

[24] Vgl. Rost, S. 22

[25] Vgl. http://www.regione.sardegna.it/nur_on_line/storia/unificazione_italiana.htm nachfolgend zitiert als nur_on_line und Kapitel

[26] Vgl. Rost, S. 24

[27] Vgl. Maritin Clark, Sardinia: Cheese and Modernisation, S. 94 in: Carl Levy, Italian Regionalism, Oxford, Washington D.C., 1996 nachfolgend zitiert als Clark und Seitenangabe

[28] Vgl. Rost, S. 27ff.

[29] Italienisches Mitte-Rechts Bündnis

[30] Vgl: Maria Teresa Atzori, I dialetti della lingua sarda aus: Bulletin international de documentation linguistique, Centre International de Dialectologie General, Band 34, 1992, Seite 154, nachfolgend zitiert als Atzori und Seitenangabe

[31] Vgl: Max Leopold Wagner, Allgemeine Merkmale des Sardischen aus: Horizonte, italianistische Zeitschrift für Kulturwissenschaft, Band 5, 2000, Seite 52, nachfolgend zitiert als Wagner und Seitenangabe

[32] Vgl. Wagner, S. 56

[33] Vgl. Sardinian in Italy, General history and history of the language, Institut de Sociolingüística Catalana, www.uoc.es/euromosaic/web/document/sard/an/i1/i1/html

nachfolgend zitiert als www.uoc.es und Kapitelangabe

[34] Vgl. Wagner S. 59

[35] Vgl. www.uoc.es General history and history of the language

[36] G. M. Einführung in die sardische Sprache

[37] Vgl. www.uoc.es General history and history of the language

[38] Vgl. ibid.

[39] Vgl. G.M. Einführung in die sardische Sprache

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Details

Title
Die Autonomie- und Unabhängigkeitsbewegung Sardiniens nach dem Zweiten Weltkrieg
College
Johannes Gutenberg University Mainz  (Fachschaft für Angewandte Sprach- und Kulturwissenschaft Germersheim)
Grade
2,7
Author
Year
2004
Pages
76
Catalog Number
V32942
ISBN (eBook)
9783638335324
File size
1014 KB
Language
German
Keywords
Autonomie-, Unabhängigkeitsbewegung, Sardiniens, Zweiten, Weltkrieg
Quote paper
Alke Lowin (Author), 2004, Die Autonomie- und Unabhängigkeitsbewegung Sardiniens nach dem Zweiten Weltkrieg, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/32942

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