Isotopie, Text und Textsorte


Seminararbeit, 1998

26 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Gliederung

1. Einleitung

2. Isotopie und Textualität
2.1 Einführung in die Komponentialsemantik
2.2 Isotopie: Ansatz und Textkonzept
2.3 Beispieltexte für Isotopie
2.4 Kritik: Probleme und Grenzen einer an Isotopie orientierten Text-theorie

3. Isotopie und Textsorte
3.1 Texttheorie und Textsorte
3.2 Anwendung der Isotopie auf Textsorten
3.3 Kritik: Die Unzulänglichkeit der Isotopie als Textsortentheorie

4. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Ausgangspunkt der Textlinguistik ist die Frage, was einen Text zu einem Text macht, d. h. sie beschäftigt sich mit der Definition von "Textualität", mit Abgrenzung und Klassifizierung von Texten und ihrer Struktur. Innerhalb der Textlinguistik wird einerseits an einem einheitlichen Textbegriff geforscht, andererseits an der Bestimmung von Text- sorten und, soweit sie pragmatisch orientiert ist, an der Bestimmung von Textfunktionen. Dafür stehen verschiedene linguistische Zugänge bereit, die je nach Perspektive andere Aspekte von Textualität hervorheben. Grob zur unterscheiden sind dabei: ein syntaktisch-systemlinguistischer Ansatz, der auf "Oberflächenphänomene" Bezug nimmt, wie z. B. syntaktische Verknüpfungen etc.; ein semantisch-inhaltlicher Ansatz, der auf "Tiefenphänomene" Bezug nimmt, wie z. B. Inhalt, Thema und Bedeutungszusammenhang; schließlich ein pragmatischer Ansatz , der sich auf Sprachverwendung und die kommunikativen und funktionalen Aspekte von Sprache konzentriert. Dementsprechend gibt es unterschiedliche Möglichkeiten zur Bestimmung von Textualität (syntaktisch, semantisch oder funktional) und zur Textklassifizierung, z. B. nach Textgegenstand/Textinhalt oder Textfunktion. Schließlich ergeben sich aus den Definitionen von Textualität unterschiedliche Arten von Text- und Textsortenanalyse, nämlich eine kohäsions- und kohärenzorientierte. Kohäsion bezeichnet die Texthaftigkeit einer "Oberflächenstruktur", d. h. die Verknüpfung durch Syntax, Kohäsionsmittel (Rekurrenz und Substitution, Pronomina, Artikel, Konjunktionen) und durch die Abfolge von Textbausteinen. Diese Form von Texthaftigkeit ist unmittelbar an das Sprachmaterial gebunden und damit direkt auf der Textoberfläche sichtbar. Demgegenüber bezeichnet Kohärenz Verknüpfung innerhalb der "Tiefenstruktur" eines Textes, d. h. eine semantische oder inhaltlich-konzeptuelle Beziehung. Kohäsion wie Kohärenz können als textinterne Kriterien betrachtet werden, da sie sich am Text selbst ablesen lassen, während sich die pragmatische Texttheorie an textexternen Kriterien orientiert, z. B. der Verwendung oder Intention von Texten.

Der Begriff der "Isotopie" als Kennzeichen von Textualität, von dem im folgenden die Rede sein soll, bezieht sich auf textinterne Kriterien der "Tiefenstruktur" eines Textes und wurde von Greimas in seinem 1966 erschienen Werk "Sémantique structurale. Recherche de méthode." (dt. "Strukturale Semantik") geprägt. Unter dem Begriff der Isotopie beschreibt Greimas Text als ein System verschiedener kompatibler semantischer Merkmale, die in seinen lexikalischen Einheiten wiederholt auftreten. Greimas betrachtet Textverknüpfung also zum einen unter semantischen Gesichtspunkten; die Gemeinsamkeit semantischer Merkmale, die Äquivalenz und Rekurrenz von semantischen Merkmalen in einem Text erzeugt eine Verknüpfung, die als Isotopiekette oder Isotopienetz bezeichnet wird. Indem sie zum einen Phänomene der Texttiefenstruktur, d. h. der Semantik, untersucht, zum anderen mit dem Begriff der "Rekurrenz" arbeitet, der das wiederholte Auftreten von Textbausteinen auf der "Textoberfläche" und somit ein Kohäsionsmittel beschreibt, stellt sie eine Mischung aus kohäsions- und kohärenzorientierter Textanalyse dar; Textverknüpfung entsteht hier durch rekurrente semantische Merkmale, sog. Seme. Isotopie bezieht sich allerdings auf semantische Merkmale "unterhalb" der Wortebene, während Rekurrenz als Mittel der Kohäsion gewöhnlich wiederholt auftretende Lexeme meint. Sie bezieht sich dabei auf die sog. Sem-Analyse der Komponentialsemantik, die Wortbedeutungen in semantische Merkmale zerlegt.

Daraus ergibt sich die Frage, inwiefern Isotopie Textualität erklären kann und Textsorten zu definieren und zu klassifizieren hilft. Da die Theorie der "Isotopie" mit Begriffen der Semantik und insbesondere der Komponentialsemantik arbeitet, werde ich zuerst die Begriffe und Vorgehensweise der Komponentialsemantik behandeln. Ausgehend davon wird der Begriff der "Isotopie" und das Textkonzept, das aus ihr folgt, näher erläutert und mehrere Beispiele für Isotopie innerhalb von Texten gegeben. Dabei soll aufgezeigt werden, inwiefern dies die Texttheorie bestimmt, die aus der Erklärung von Textualität durch "Isotopie" folgt, und deutlich werden, daß die strukturellen Mängel der Komponentialsemantik auch die einer auf Isotopie beruhenden Texttheorie sind. Anhand von Beispieltexten werde ich die Grenzen und die Probleme einer Texttheorie aufzeigen, die Isotopie als bestimmendes Kennzeichen von Text begreift. Schließlich soll auf grundlegende Texttheorien eingegangen werden und auf die Möglichkeiten, Textsorten zu klassifizieren und zu definieren; meine Absicht ist dabei, Isotopie zur Klassifikation von Textsorten heranzuziehen und die Tauglichkeit ihrer Erklärung für Textualität zu prüfen. Im abschließenden Resümee beabsichtige ich, zum einen Isotopie als Texttheorie, zum anderen als Text­sortentheorie kritisch zu betrachten und der Frage nachzugehen, ob unter dem Gesichtspunkt der Isotopie die Kulturspezifik von Textsorten aufgezeigt werden kann.

2. Isotopie

2.1 Einführung in die Komponentialsemantik

Der Begriff der "Komponentialsemantik" bezeichnet eine strukturalistische Semantik, die Wortbedeutung als aus elementaren semantischen Einheiten zusammengesetzt ansieht. Die denotative Wortbedeutung wird in grundlegende semantische Merkmale zerlegt, die in ihrer Kombination die Gesamtheit eines Begriffes ausmachen; d. h. eine Bedeutungsdekomposition soll zu grundlegenden semantischen Einheiten, sog. Semen, führen, die unterhalb der Wortebene bzw. unterhalb der Lexemebene anzusiedeln sind. Die Komponentialsemantik betrachtet also nicht Lexeme als grundlegende semantische Bausteine eines Textes, sondern semantische Merkmale, die den "internen" Aufbau von Textkonstituenten (Lexemen) bestimmen. Jedes Lexem ist in selbständige Komponenten aufzuteilen, die allgemeiner als es sind und durch eine Hierarchie strukturiert werden. Semantische Merkmale sind somit als theoretische Konstrukte anzusehen, die den Anspruch erheben, nicht einer natürlichen Sprache anzugehören, sondern eine Metasprache zu bilden (Schmidt 1973, 62). Schmidt (ebd., 60f.) führt hierzu aus:

Diese semantischen Merkmale [...] werden aufgefaßt als (metasprachlich formulierte) selbständige Komponenten, die weniger zahlreich (also allgemeiner) sind, als die Lexeme (= Aspekt des begrenzten Inventars) und aus denen durch hierarchische Kombination die Lexembedeutung aufgebaut werden kann (=Aspekt der "Generativität") [...] Die Schwierigkeiten dieses strukturalistischen Konzepts, das versucht, die Bedeutung eines Lexems nicht durch synonyme Substitutionen, sondern durch geordnete Stränge semantischer Merkmale zu charakterisieren, liegt nun aber darin, daß den semantischen Merkmalen in der Oberflächenstruktur (in der Regel) kein eigenes Element entspricht, sie also hypothetisch-konstruktiv oder abstraktiv-denominativ eingeführt werden müssen und ihre empirische (bzw. ontologische) Begründung sowie die empirische Bestätigung ihrer Formulierung erhebliche Probleme aufwirft.

Grundlage der Isotopie ist Greimas Ansicht von Sprache als einem Verband von Bedeutungsstrukturen. Die Gesamtheit der semantischen Merkmale, die Greimas als "Seme" bezeichnet, decken das gesamte Bedeutungsuniversum einer Gesellschaft ab, sie bilden die semiologische Ebene einer Sprache bzw. deren Sem-System. Hiermit stößt Isotopie auf das grundlegende Problem der Semantik, nämlich daß ihre Untersuchungen selbst im Kreis der untersuchten Sprache eingeschlossen ist, d. h. Objektsprache und Untersuchungssprache sind identisch. Die Komponentialsemantik versucht, dieses Problem zu umgehen, indem sie Bedeutung als Relation begreift. Sie erfordert die Anwesenheit von zwei Termen und eine Relation zwischen ihnen, so daß sich die Bedeutung eines Sems letztlich aus einer Relation ergibt und durch Identität oder Differenz erfaßt werden kann. Die grundlegende Annahme ist, daß sich semantisch distinktive Merkmale dadurch gewinnen lassen, daß man semantisch ähnliche Begriffe einander gegenüberstellt. Das bedeutet auch, daß sich Lexikonbestandteile in bestimmbaren Elementen voneinander unterscheiden müssen.

Semantische Merkmale werden nun dadurch gewonnen, daß man Bedeutungsunterschiede von Wörtern annimmt und deren semantische Differenz durch hypothetische semantische Merkmale beschreibt. Anders gesagt: Da sich jedes Lexem durch mindestens ein Merkmal von anderen Lexemen unterscheiden muß, kann man Seme (= semantische Merkmale) gewinnen, indem man semantische Unterscheidungsmerkmale benennt. Die Bedeutung des Lexems "Junggeselle" würde z. B. mit den Merkmalen [+menschlich], [+männlich], [+erwachsen], [-verheiratet] definiert werden. So läßt sich Bedeutung durch partielle Gleichheit und partielle Verschiedenheit bestimmen, wobei man sich auf binäre Merkmale konzentriert. Der Bedeutungsunterschied bzw. die Bedeutungsüberschneidung von "Junggeselle" und "Gatte" wären so z. B. in dem unterschiedlichen Merkmal [+\- verheiratet] und den übereinstimmenden Merkmalen [+menschlich], [+erwachen] usw. aufzuzeigen. Die Komponentialsemantik macht es möglich, semantische Anomalien und mangelnde Kohärenz aufzuzeigen. So ist die (vordergründige) Inkohärenz von "verheirateter Junggeselle" dadurch zu erklären, daß das Merkmal [-verheiratet] für das Lexem "Junggeselle" distinktiv ist. Wortgruppen lassen sich dann durch semantische Verwandtschaft, d. h. durch übereinstimmende Merkmale der Lexeme der Wortgruppe erklären. Ein Verband semantisch ähnlicher Ausdrücke durch distinktive Merkmale strukturiert. In der Wortgruppe "Bach", "Fluß", "Teich", "See", "Kanal" sind dies die Merkmale [fließend], [groß], [natürlich], so daß sich die semantische Differenz von "See" und "Teich" durch das Merkmal [+\- groß] und die Nähe durch die gemeinsamen Merkmale [-fließend] und [+natürlich] ergibt.

Wendet man die Komponentialsemantik auf Texte an, so muß man berücksichtigen, daß Lexeme mehrdeutig (polysem) sind und verschiedene lexikalische Bedeutungen und umfangreiche Referenzpotentiale besitzen. Die "Eindeutigkeit" der Lexeme im Textgefüge läßt sich dadurch erklären, daß im Satz bzw. im semantischen Kontext nur aktuelle Bedeutungen realisiert werden, d. h. bestimmte semantische Merkmale aktualisiert, andere unterdrückt, und Lexeme unter Einfluß des Kontextes "monosemiert" werden. In einem Satz besitzt ein Lexem nur die aktuelle Bedeutung, da nicht zum Kontext passende Seme unterdrückt werden. Ein Lexem besteht im Sinne der Komponentialsemantik also aus einem invarianten Sem-Kern, der durch kontextuelle Seme modifiziert werden kann. Die Kombination von Sem-Kern und kontextuellem Sem nennt Greimas ein "Semem". In der Weiterentwicklung der Komponentialsemantik spricht man in Anlehnung an die Terminologie der Generativen Grammatik davon, daß ein Lexem aus semantischen Merkmalen und Selektionsbeschränkungen besteht. In dem Beispielsatz "Die Studenten sind Anhänger der Partei XYZ" ist das isolierte Lexem "Anhänger" zunächst polysem, d. h. es kann verschiedene Bedeutungen besitzen. Erst durch den Kontext wird es monosemiert: "Studenten" besitzt die Merkmale [+lebendig], [+menschlich], "Partei-Anhänger" ebenfalls [+lebendig], [+menschlich], während "Lkw-Anhänger" die semantischen Merkmale [-lebendig], [-menschlich] besitzt. Semantische Kongruenz kommt nun dadurch zustande, daß die semantischen Merkmale von "Studenten" und "Anhänger" kompatibel sind, also nicht widersprüchlich sein dürfen, so daß das Polysem "Anhänger" innerhalb des Kontextes als "Partei-Anhänger" definiert wird. "Anhänger" ist damit eindeutig nicht als "Fahrzeug-Anhänger" zu verstehen, da "Fahrzeug-Anhänger" u. a. das Sem [-lebendig] besitzt, dies aber mit dem Merkmal von "Studenten" inkompatibel ist. Wenn hingegen das Lexem "Anhänger" als "Fahrzeug-Anhänger" identifiziert ist, steht das Merkmal [-lebendig] an der Spitze der Seme und unterdrückt die Möglichkeit [+human] bzw. [+menschlich]. Demnach ist [+lebendig] das distinktive Merkmal bzw. das dominante Sem des Satzes. Aus dem Konzept der Komponentialsemantik ergibt sich für die Satzebene, daß semantische Merkmale wiederkehren müssen, um Kohärenz zu erzeugen, und diese Rekurrenz macht ein semantisches Merkmal dominant. Ist durch den Kontext, also durch wiederholtes Auftreten, ein Sem dominant, so bestimmt es die Bedeutung eines Polysems im Satz oder Text.

2.2 Isotopie: Ansatz und Textkonzept

Das Beispiel verweist bereits auf den Begriff der Isotopie, der im folgenden erläutert wird. Im vorigen Beispielsatz verfügen "Studenten" – "Anhänger" – "Partei" über ein gemeinsames Sem [+menschlich], das semantische Kohärenz und damit eine Isotopieebene aus den genannten Begriffen schafft. Allgemein gilt: Lexeme, die über ein gemeinsames rekurrentes dominantes semantisches Merkmal verknüpft sind, erzeugen eine Isotopieebene. Damit wird deutlich, was Kohärenz unter dem Gesichtspunkt Isotopie bedeutet. Die Satzfolge "Die Studenten sind Anhänger der Partei XYZ. Sie werden verschrottet." ist deshalb inkohärent, weil sich die Isotopieebene "Studenten" – "Anhänger" – "Volkspartei" mit "verschrotten" (= Sem [-menschlich]) nicht fortsetzen läßt. Isotopie betrachtet die Kohärenz eines Textes also als ein Resultat von Semrekurrenz. Die dabei entstehende semantische Verknüpfung wird als Isotopieebene, Isotopiekette, Topikkette oder Isotopie-netz bezeichnet. Die Identität von semantischen Merkmalen (Semen) in bedeutungsnahen Wörtern heißt "semantische Achse". So wäre die semantische Achse von "Vater" und "Mutter" - "Eltern". Isotopie meint die semantische Äquivalenz zwischen Lexemen, die durch Semrekurrenz in unterschiedlichen lexikalischen Einheiten erzeugt wird. Die Isotopiekette bzw. Isotopieebene ist ein entscheidendes Mittel von Textverschmelzung und Textintegration, so daß Text selbst als ein Gefüge von Isotopieebenen beschrieben werden kann. Die relative Häufigkeit, mit der ein bestimmtes Sem wiederaufgenommen wird, gibt Hinweis auf Haupt- und Nebengegenstände von Texten. Text wird demzufolge verstanden als ein System von Kompatibilität der semantischen Merkmale von lexikalischen Einheiten, Texthaftigkeit als die Identität bestimmter Seme der im Text auftretenden Lexeme. Ein Text ergibt dann einen "Sinn", wenn es eine Sinnkontinuität innerhalb des Wissens gibt, das durch Lexeme des Textes bzw. durch deren rekurrente Seme aktiviert wird, während bei einem "sinnlosen" Text der Textempfänger keine Kontinuität der semantischen Merkmale entdecken kann.

Jedoch erschöpft sich die semantische Kohärenz nicht in einfacher Linearität; semantische Kohärenz ergibt sich also nicht allein aus dem Nacheinander kongruenter semantischer Merkmale in der Abfolge bestimmter Wörter (sukzessive Kohärenz), sondern auch aus der Überordnung von Leitbegriffen (dominierende Kohärenz). Ein Text ist kohärent, wenn ein semantisches Merkmal im Text andere semantische Merkmale dominiert und daher als "Leit-Sem" fungiert, d. h. in bestimmten Wörtern wiederholt vorkommt und den ganzen Text durchzieht. In dem Text

Bis Nizza benutzten wir die Bahn. Danach nahmen wir ein Schiff. Hinter Djelta fehlte es uns an jeglichem Verkehrsmittel.

läßt sich die Kohärenz des Textes besser erklären, wenn ein Titel "Fahrt" oder "Reise" mit einem thematisch dominierendem Sem angesetzt wird. Aufgrund der Gemeinsamkeit dieses Sems sind Elemente wie "bis Nizza", "die Bahn benutzen", "ein Schiff nehmen", "hinter Djelta", "Fehlen an Verkehrsmittel" miteinander äquivalent und die Äußerungsfolge daher kohärent. Allgemein wird ein solches rekurrentes Merkmal auch als "Topik" bezeichnet. Titel oder Topiks von Texten zielen in der Regel auf das, worum es im Text geht, auf allgemeine Gesichtspunkte, durchgängige gedankliche Merkmale, Ordnungsprinzipien für Bedeutungselemente. Das semantische Merkmal des Titels durchzieht den Text und gibt das semantisch dominante Merkmal vor.

2.3 Beispieltexte für Isotopie

Die bislang aufgezeigte Theorie der Isotopie eines Textes läßt sich an folgendem Beispieltext verdeutlichen (zitiert nach Kallmeyer 1974, 134f.):

Ein Toter bei Streit zwischen Kambodschanern in Paris

Paris (AP)

Bei einer blutigen Auseinandersetzung in der Unterkunft kambodschanischer Studenten an der Pariser Universität hat es einen Toten und etwa 30 Verletzte gegeben. Nach Mitteilung der Polizei fand ein Student durch einen Kopfschuß den Tod. Augenzeugenberichten zufolge waren etwa 50 Anhänger des abgesetzten kambodschanischen Staatschefs Prinz Sihanouk in die Räume eingedrungen und hatten Anhänger der Regierung des Marschalls Lon Nol angegriffen. Die Angreifer hätten Eisenstangen, lange Messer und Pflastersteine benutzt. Die Umgebung des Studentenquartiers, das von der Polizei abgeriegelt wurde, war mit Trümmern übersät. ("Süddeutsche Zeitung", 9.1.73)

Dem Textkonzept der Isotopie zufolge entsteht Vertextung dadurch, daß auftretende Lexeme durch ein gemeinsames rekurrentes semantisches Merkmal verbunden sind. Im obigen Beispiel enthalten die Lexeme "abgesetzt", "Staatschef", "Prinz" das Merkmal [+politisch]. Das wiederholte Auftreten dieses Sems führt dazu, daß es andere Merkmale dominiert. So enthält "Prinz" zwar auch das Merkmal [+adelig], da dieses Merkmal aber in keinem der übrigen Lexeme des Textes erneut auftritt, dominiert es nicht den Text. Offensichtlich handelt der Text nicht von einer Adelsgeschichte, sondern von einer politischen. In Anlehnung an Greimas kann man davon sprechen, daß hier ein dominantes und rekurrentes Merkmal eine Isotopieebene konstituiert, nämlich eine mit dem Merkmal [+politisch]; diese Isotopieebene umfaßt die Lexeme "Anhänger", "abgesetzt", "Staatschef", "Prinz", "Regierung". Der vorliegende Text besteht jedoch aus mehr als einer Isotopieebene; hinzu kommen Isotopieebenen mit dem Merkmal [studentisch] und [Unruhen]. Die Isotopieebene [studentisch] wird durch die Lexeme "Universität", "Studenten" und "Studentenquartier" gebildet, die Isotopieebene [Unruhen] durch die Lexeme "Auseinandersetzung", "Polizei", usw. Die Lexeme "Toter", "Verletzte", "Kopfschuß", "Tod", "eindringen", "angreifen", "Eisenstangen", "Messer", "Pflastersteine", "Trümmer" spezifizieren dies durch das Merkmal [+gewalttätig]. Die "globale Isotopieebene" des Zeitungsartikels mit dem Merkmal [+politisch] wird durch die Isotopieebenen mit den Merkmalen [studentisch], [Unruhen], [gewalttätig] usw. spezifiziert, die einen "roten Faden" bilden, an dem sich das Verständnis des Textes orientiert, und auf das Thema das Textes, nämlich "gewalttätige, politisch motivierte Studentenunruhen", verweisen.

[...]

Ende der Leseprobe aus 26 Seiten

Details

Titel
Isotopie, Text und Textsorte
Hochschule
Technische Universität Darmstadt  (Sprach- und Literaturwissenschaft)
Veranstaltung
Zur Kulturspezifik von Textsorten
Note
1,7
Autor
Jahr
1998
Seiten
26
Katalognummer
V33223
ISBN (eBook)
9783638337533
Dateigröße
696 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Isotopie, Text, Textsorte, Kulturspezifik, Textsorten
Arbeit zitieren
Jochen Müller (Autor:in), 1998, Isotopie, Text und Textsorte, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/33223

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