Verlusterfahrungen im neueren Adoleszenzroman. Große Fragen in der Kinder- und Jugendliteratur


Bachelorarbeit, 2009

37 Seiten, Note: 2,5


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. EINLEITUNG
1.1. Begründung der Themenwahl und Eingrenzung des Themas
1.2. Aufbau und Ziele der Arbeit
1.3. Der Tod in der Kinder- und Jugendliteratur

2. ADOLESZENZ UND DIE GATTUNG DES ADOLESZENZROMANS
2.1. Adoleszenz aus biologischer, psychologischer und soziologischer Sicht
2.2. Der Begriff des Adoleszenzromans und seine historische Entwicklung
2.3. Abgrenzung des Adoleszenzromans zu seinen verwandten Nebengattungen
2.4. Traditioneller, moderner und postmoderner Adoleszenzroman

3. ANALYSE ZWEIER EXEMPLARISCHER ADOLESZENZROMANE MIT DER THEMATIK „VERLUSTERFAHRUNG“
3.1. PETER POHL UND KINNA GIETH: „DU FEHLST MIR, DU FEHLST MIR!“
3.1.1. Der Autor
3.1.2. Inhaltsangabe
3.1.3. Entstehungsgeschichte
3.1.4. Formanalyse
3.1.5. Literarische Darstellung des Todesfalls
3.1.6. Reaktion der Protagonistin auf den Todesfall
3.1.7. Verhältnis der Protagonistin zu ihren Mitmenschen vor und nach dem Todesfall
3.1.7.1. Tinas Verhältnis zu Cilla vor deren Tod
3.1.7.2. Tinas Verhältnis zu Cilla nach deren Tod
3.1.7.3. Tinas Verhältnis zu ihren Eltern vor Cillas Tod
3.1.7.4. Tinas Verhältnis zu ihren Eltern nach Cillas Tod
3.1.7.5. Tinas Verhältnis zu ihren Klassenkameraden vor Cillas Tod
3.1.7.6. Tinas Verhältnis zu ihren Klassenkameraden nach Cillas Tod
3.1.8. Entwicklung und Identitätswachstum der Protagonistin im Verlauf des Romans
3.1.9. Perspektiveröffnung am Ende des Romans
3.1.10. Versuch einer literaturepochalen Einordnung
3.2. JOYCE CAROL OATES: „NACH DEM UNGLÜCK SCHWANG ICH MICH AUF, BREITETE MEINE FLÜGEL AUS UND FLOG DAVON“
3.2.1. Die Autorin
3.2.2. Inhaltsangabe
3.2.3. Formanalyse
3.2.4. Literarische Darstellung des Todesfalls
3.2.5. Reaktion der Protagonistin auf den Todesfall
3.2.6. Verhältnis der Protagonistin zu ihren Mitmenschen
3.2.6.1. Jennas Verhältnis zu ihrem Vater
3.2.6.2. Jennas Verhältnis zu ihrer „neuen Familie“
3.2.6.3. Jennas Verhältnis zu Trina Holland
3.2.6.4. Jennas Verhältnis zu Gabriel Saint-Croix alias Crow
3.2.7. Entwicklung und Identitätswachstum der Protagonistin im Verlauf des Romans
3.2.8. Perspektiveröffnung am Ende des Romans
3.2.9. Versuch einer literaturepochalen Einordnung

4. VERGLEICH
4.1. Vergleich der literarischen Mittel
4.2. Vergleichende Darstellung des Einflusses der Verlusterfahrung auf die Entwicklung der beiden Protagonistinnen Tina und Jenna

5. KÖNNEN BÜCHER WIE DIESE EINEM PERSÖNLICH BETROFFENEN LESER BEI DER TRAUERBEWÄLTIGUNG HELFEN?

6. ABSCHLIEßENDE BEMERKUNGEN

7. BIBLIOGRAPHIE

1. EINLEITUNG

Im folgenden ersten Teil dieser Arbeit wird das Titelthema begründet und eingegrenzt. Eine grobe Gliederung stellt den Verlauf dar und erläutert die Fragen, denen nachgegangen werden soll. Ein drittes Unterkapitel informiert über den Umgang mit Tod in der Kinder- und Jugendliteratur

1.1. Begründung der Themenwahl und Eingrenzung des Themas

Diese Arbeit entsteht auf der Grundlage des Seminars „Große Fragen in der Kinder- und Jugendliteratur“ im Sommersemester 2009 an der Universität Hildesheim. Neben einigen anderen Bereichen wurde in jenem Seminar die Thematik „Tod und Trauer“ aufgegriffen, das heißt, es wurde der literarische Umgang mit diesem ernsten und in der Gesellschaft oftmals tabuisierten Thema behandelt. Eines der dort vorgestellten Bücher war „Du fehlst mir, du fehlst mir!“ (1992) von Peter Pohl und Kinna Gieth, welches in dieser Arbeit als einer von zwei exemplarischen Adoleszenzromanen mit dem Motiv der Verlusterfahrung analysiert werden soll.

Neben Pohls und Gieths Roman wird noch ein weiteres Buch untersucht werden: „Nach dem Unglück schwang ich mich auf, breitete meine Flügel aus und flog davon“ (2006) von Joyce Carol Oates. Beide Romane sind jüngeren Datums, daher beschränkt sich die Arbeit auf die Betrachtung der Darstellung von Verlusterfahrungen in der modernen und postmodernen Adoleszenzliteratur. Der Titel dieser Arbeit lautet deshalb „Verlusterfahrungen im neueren Adoleszenzroman“.

In beiden Romanen handelt es sich bei den Protagonisten um Mädchen, beziehungsweise junge Frauen. Dieser Fakt grenzt das Themenfeld weiter ein und ermöglicht ein spezielles Akzentsetzen auf den Bereich der weiblichen Adoleszenz.

1.2. Aufbau und Ziele der Arbeit

Den beiden Romananalysen wird ein theoretischer Part über die Phase der menschlichen Adoleszenz, über den Begriff des Adoleszenzromans und über seine historische Entwicklung vorangestellt. Außerdem erfolgen eine Abgrenzung gegenüber verwandten Nebengattungen, sowie eine Darstellung der verschiedenen epochalen Ausläufer des Adoleszenzromans. Ziel der Arbeit ist es, anhand der exemplarischen Romananalysen herauszuarbeiten, wie literarisch der Einfluss eines Verlusts auf das Heranwachsen eines Jugendlichen aufgezeigt wird. Weiterhin soll eine Antwort auf die Frage gefunden werden, ob (und wenn ja, inwiefern) die Lektüre eines solchen Buches einem persönlich von Verlusterfahrungen betroffenen Leser bei der Bewältigung seiner eigenen Trauer von Nutzen sein kann.

1.3. Der Tod in der Kinder- und Jugendliteratur

Der Tod war in der Kinder- und Jugendliteratur nie ein Tabu […] . Fungierte er zunächst als Schreckgespenst, um Kindern Benimm beizubringen, oder war die Belohnung für irdische Mühsal, so steht heute die Trauer im Vordergrund. 1

Kinder und Jugendliche trauern anders als Erwachsene. Die Protagonistin in „Du fehlst mir, du fehlst mir!“ macht die Erfahrung, dass die Erwachsenen in ihrer Umgebung sich einbilden, sie sei zu jung, um den Tod zu verstehen, und sie solle sich doch gefälligst wieder einkriegen und sich mit Nagellack, Schminke und den neuesten Frisuren beschäftigen, wie es sich für einen Teenager gehört.2 Die beiden exemplarischen Romane dieser Arbeit sollen zeigen, dass Kinder und ebenso Jugendliche sehr wohl trauern, und dass es von existentieller Wichtigkeit ist, ihnen in ihrer Trauer beizustehen, zumal sie sich zusätzlich noch mit den ganz normalen Schwierigkeiten des Erwachsenwerdens auseinandersetzen müssen.

Die heutige Kinder- und Jugendliteratur hat den Anspruch, nicht etwa ideale Verhältnisse und moralische Grundsätze darzustellen, sondern ein „wahres Bild von dem menschlichen Leben“ zu zeichnen, das den jungen Lesern eine Welt offenbart, die nicht zeigt, wie es sein soll, sondern wie es ist.3 Dazu gehört auch der offene und die Angst vor dem Ungewissen nehmende Umgang mit dem Tod, der zum Leben nun einmal dazu gehört. Die neuere Kinder- und Jugendliteratur, in der Tod und Trauer eine Rolle spielen, zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass sie die komplexe Thematik nicht nur auf der inhaltlichen, sondern ebenso auf der ästhetischen Ebene aufgreift. Neue Ausdrucksformen werden erprobt, die den Leser auf der sinnlichen Stufe der Wahrnehmung unterschiedlich ansprechen.4

2. ADOLESZENZ UND DIE GATTUNG DES ADOLESZENZROMANS

2.1. Adoleszenz aus biologischer, psychologischer und soziologischer Sicht

Als Adoleszenz bezeichnet man gemeinhin die Phase zwischen dem Abschied von der Kindheit und dem Eintritt ins Erwachsenenalter.5 Hierbei ist jedoch zu beachten, dass es sich beim Begriff der Adoleszenz keineswegs um ein Synonym für „Pubertät“ handelt (auch wenn letztere ein Teil der ersteren ist). Die Pubertät bezeichnet unter anderem den biologischen Prozess, also die physiologischen Veränderungen des Körpers, vor allem die sexuelle Reifung. Die Adoleszenz hingegen meint den Prozess der Integration des Jugendlichen in die Erwachsenenwelt, der auch psychologisch und soziologisch betrachtet werden muss, das heißt, dass auch die Erfahrung und Auseinandersetzung, die Wahrnehmung und die Bewältigung somatischer und soziologischer Veränderungen von Wichtigkeit sind (also auch das Übernehmen von Verantwortung in der Welt und aktive Teilnahme an gesellschaftlichen Prozessen).6

Die Grenzen der Zeitspanne der adoleszenten Phase sind schwer festzulegen. Meist wird von einem Beginn zwischen dem elften und zwölften Lebensjahr ausgegangen, das Ende verschiebt sich - gerade in der Gegenwart - abhängig von den Ausbildungsgängen immer weiter nach hinten, teilweise bis ins dritte Lebensjahrzehnt.

Die Länge und der Verlauf der Adoleszenz sind abhängig von kulturellen Gegebenheiten, vom Stand der gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse, sowie von den Rahmenbedingungen, beispielsweise dem politischen System, in dem der oder die Adoleszente lebt.7

2.2. Der Begriff des Adoleszenzromans und seine historische Entwicklung

Der „Adoleszenzroman“ ist eine Subgattung der Jugendliteratur, deren Begriff in den 1970er Jahren entstand8 und der sich - angelehnt an die angloamerikanische „adolescent novel“ - erst Anfang der 1990er Jahre durchsetzte. Meist wird diese Bezeichnung ausschließlich auf Romane des 20. und 21. Jahrhunderts angewendet, aufgetreten sind Adoleszenzromane literaturhistorisch gesehen jedoch schon früher. Als erste Ausprägungen gelten unter anderem Goethes Werk „Die Leiden des jungen Werthers“ von 1774, sowie „Anton Reiser“ (1785- 1790) von Karl Philipp Moritz.9

Neue Akzente des Adoleszenzromans zeigen sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts in der phantastischen Novelle und dem Kunstmärchen, unter anderem in E.T.A. Hoffmanns Werken „Der Sandmann“ und „Der goldene Topf“.10 Im Verlauf des 19. Jahrhunderts setzte sich dann jedoch eher der Bildungsroman als neue Gattung durch. Einen erneuten Höhepunkt erlebte der Adoleszenzroman erst wieder um die Jahrhundertwende, beispielsweise durch Emil Strauß’ Roman „Freund Hein“ (1902) und Hermann Hesses Werk „Unterm Rad“ (1906).11

Fast ein halbes Jahrhundert lang verschwand der Adoleszenzroman nun von der Bildfläche der Literatur. Erst 1951 tauchte er mit dem amerikanischen Roman „The Catcher in the Rye“ von Jerome D. Salinger (dt. „Der Fänger im Roggen“, 1954) wieder aus der Versenkung auf. Dieser setzte eine Bewegung in Gang, in deren Folge sich das Lesepublikum wieder vermehrt dieser Gattung zuwandte. In den 1970er Jahren wurde vermehrt amerikanische Literatur ins Deutsche übersetzt und von deutschen Jugendbuchverlagen herausgebracht. Dies machte die bis dahin für Erwachsene konzipierten Adoleszenzromane zu Literatur für Jugendliche. Es entstanden - nun auch in Deutschland - neue Gattungen, die sich kritisch mit gesellschaftlichen Problemen und der Schwierigkeit des Heranwachsens in der Gesellschaft befassten: das problemorientierte Jugendbuch und die emanzipatorische Mädchenliteratur12 (weitere Erläuterungen siehe Kapitel 2.3.). Da beide sich mehr und mehr der Gattung des Adoleszenzromans näherten, kann durchaus von der Entstehung eines eigenständigen, jugendliterarischen Adoleszenzromans 13 in Deutschland gesprochen werden.

Sprach man zu Beginn des 19. Jahrhunderts bezüglich der romantischen Novellen von einer „phantastischen Wende“, so gilt dies auch für die Gegenwart. Immer mehr Jugendbücher greifen auch im Fantasy-Genre die Probleme des Erwachsenwerdens auf, so zum Beispiel Ralf Isau in seinem Roman „Die unsichtbare Pyramide“ (2003) oder Andreas D. Hesse in seinem Werk „Schattensturm“ (2008), um nur zwei aktuelle Beispiele zu nennen.

2.3. Abgrenzung des Adoleszenzromans zu seinen verwandten Nebengattungen

Der Begriff Adoleszenzroman sollte nicht dazu führen, jegliche Romane, in denen das Thema Adoleszenz behandelt wird, als Adoleszenzroman zu bezeichnen. In der Jugendliteratur muss unterschieden werden zwischen unterschiedlichen Subgattungen, die sich zwar nicht immer durch klare Grenzen definieren lassen und oftmals auch ineinander übergehen, jedoch nicht kollektiv als eine Gattung verstanden werden können. Hier gilt es, den Adoleszenzroman abzugrenzen vom Bildungs-, Erziehungs- und Entwicklungsroman, sowie von der problemorientierten Jugendliteratur, der so genannten Jeansliteratur und der emanzipatorischen Mädchenliteratur.14

Der Bildungsroman enthält die Idee der Bildsamkeit des Individuums, und die Entwicklung des Protagonisten stellt sich lediglich als ein gesetzmäßiger Prozess dar. Die Darstellung der Entwicklung endet meist spätestens im vierten Lebensjahrzehnt des Protagonisten.15 Im Erziehungsroman steht die didaktische Dimension im Vordergrund. Meist wird ein durch einen Mentor begleiteter Erziehungsprozess mitsamt seinen pädagogischen Maßnahmen und exemplarischen Beispielen beschrieben, der in einem optimistischen Schluss endet.16 Der Entwicklungsroman legt den Protagonisten nicht wie im Bildungsroman auf einen bestimmten Lebensabschnitt fest, sondern kann auch die gesamte Lebensgeschichte umfassen. Die Entwicklung ist jedoch immer epochen- und kulturabhängig.17

Die problemorientierte Jugendliteratur beschränkt sich auf die Phase der Adoleszenz. Sie beschäftigt sich mit ganz konkreten sozialen Problemen und fokussiert auch nur diese, indem sie jegliche andere Faktoren nahezu ausblendet. Die Protagonisten haben kaum Charakter und wenig Individualität.18

Der so genannte Jeansroman war ursprünglich Erwachsenenliteratur, wurde aber von den Jugendlichen der 1970er Jahre schnell für sich beansprucht. Im Zentrum steht die Revolte der Jugend gegen Normen und Zwänge der Erwachsenen, gegen Leistungsdenken und Fremdbestimmtheit. Einige Texte, die der Jeansliteratur zugeordnet werden, gelten als Musterbeispiele des Adoleszenzromans, daher ist eine Unterscheidung kaum möglich. Die emanzipatorische Mädchenliteratur schließlich rückt die Phase der weiblichen Adoleszenz in den Mittelpunkt und schafft damit einen Ausgleich zur bis dahin fast ausschließlich männlichen Jugendliteratur. Sie kann als integrativer Bestandteil der Gattung des Adoleszenzromans gelten.19

Der Adoleszenzroman an sich schließlich thematisiert die Schwierigkeiten des Erwachsenwerdens. Im Gegensatz zur problemorientierten Jugendliteratur beschränkt er sich jedoch nicht auf einige wenige Aspekte, sondern versucht, die gesamte Spanne der für den Roman interessanten Adoleszenzphase umfassend abzubilden. Das Alter der Protagonisten liegt meist zwischen der Vorpubertät und der Postadoleszenz. Es handelt sich um sehr detailreich beschriebene, unverwechselbare Individuen, in deren Innenleben der Leser einen sehr detaillierten Einblick erhält.20 Oftmals ist sogar der Protagonist selbst der (Ich-)Erzähler, so dass eine unmittelbare Identifikation des Lesers mit dem Protagonisten eintritt. Formen des Erzählens sind häufig innere Monologe, der Bewusstseinsstrom und die Collage- oder Montagetechnik. Die Erzählerstandorte wechseln, die Tempusformen variieren, es gibt Verschiebungen der Zeitebenen und so genannte Rückblenden.21

Im Zentrum des Adoleszenzromans steht eine existentielle Erschütterung, die tiefgreifende Identitätskrise des Jugendlichen, der auf der Suche nach einem Weg in der Gesellschaft und zu sich selbst ist. 22 Da dieser Weg oftmals steinig ist, wird gerade auch Wert darauf gelegt, Probleme darzustellen und ein Scheitern im Entwicklungsprozess nicht zu tabuisieren, sondern zu thematisieren.

Adoleszenzromane beinhalten meist ausgewählte Problembereiche, die selbstverständlich auch ineinander übergehen können. Dazu gehören unter anderem der Prozess des Ablösens von den Eltern, des Ausbildens eigener Wertvorstellungen, des Erlebens erster sexueller Kontakte, des Entwickelns eigener Sozialbeziehungen und der Suche nach der eigenen Position in der Gesellschaft. (In diesen Themen enthalten sind auch die Randbereiche Religion, multikulturelle Gesellschaft, Geschwister, Mode, Sekten, Behinderung, Ökologie, Politik, Wirtschaft, Medien, sowie Krankheit und Tod.)23 Das Überstehen dieser Vorgänge muss nicht unbedingt von Erfolg gekrönt sein; das Ende des Adoleszenzromans ist häufig offen und lässt Raum für Spekulationen. Die Entwicklung des Protagonisten ist nicht mit dem Ende des Buches abgeschlossen.24

Neben der Abgrenzung des Adoleszenzromans zu seinen Nebengattungen gilt es weiterhin, zwischen dem klassischen/traditionellen, dem modernen und dem postmodernen Adoleszenzroman zu unterscheiden.

2.4. Traditioneller, moderner und postmoderner Adoleszenzroman

Da der traditionelle oder auch klassische Adoleszenzroman bei den für diese Arbeit ausgewählten Romanen nicht vertreten ist und daher eine eher untergeordnete Rolle spielt, soll er hier zunächst nur kurz beschrieben werden, um ihn vom modernen und postmodernen Roman abgrenzen zu können.

Der traditionelle Adoleszenzroman stand vor allem in Form von Schülerromanen zu Beginn des 20. Jahrhunderts in seiner Blüte.25 Enden Adoleszenzerzählungen bis dahin meist mit der erfolgreichen Eingliederung des zu dieser Zeit ausschließlich männlichen Protagonisten in die Gesellschaft, so wandelt sich diese Darstellung hin zu einem Scheitern dieses Eingliederungsprozesses. Schauplatz der Romane ist häufig die Schule, die als Zwangsanstalt, die die Schüler peinigt, schikaniert, diszipliniert und mitunter zu Tode quält 26 dargestellt wird. Identitätsbildung und Sinnfindung scheinen dem Romanhelden nicht möglich, seine Adoleszenzkrise endet häufig mit einem tragischen Tod. (Ein Exempel hierfür ist beispielsweise Hermann Hesses 1906 erschienene Erzählung „Unterm Rad“.)

Seit den 1950er Jahren kam es zu einer „ Entdramatisierung27 in der Adoleszenzliteratur. Zwar wird der Adoleszenzphase von ihrer Krisenhaftigkeit nichts genommen, doch haben die Texte nichts mehr von der „ radikalen Negativität28 der Jahrhundertwende; dem Protagonisten werden noch weitere Zukunftsperspektiven als der Tod angeboten.

Nach wie vor zeigt sich in den Romanen eine Auflehnung der Jugend gegen die festgefügte Ordnung der Erwachsenenwelt. Dies kommt besonders in der Jeansliteratur der 1970er Jahre zum Vorschein. Dargestellt werden besondere Formen von abweichendem jugendlichen Verhalten, sowie Widerstands- und Protestbewegungen gegen etablierte Instanzen.29 Insgesamt beschäftigt sich die moderne Adoleszenzliteratur mit Prämissen moderner Subjektivität: Suche nach einem festen Wesenskern, nach einer unverwechselbaren Persönlichkeit, Handlungsautonomie und sozialer Verantwortung. 30 Der Protagonist (auch im modernen Adoleszenzroman häufig noch männlich, jedoch bereits mit einer steigenden Tendenz hin zur emanzipatorischen Mädchenliteratur mit weiblichen Protagonisten) entfernt sich von den oberflächlichen Statussymbolen, die sein Leben bisher geprägt haben und schlägt eine Richtung ein, in der innere Werte an Bedeutung gewinnen. Dies markiert unter anderem den Unterschied zum postmodernen Adoleszenzroman.31

Während der moderne Adoleszenzroman gerade auf den Generationenkonflikt und das Aufeinanderprallen von Jugend- und Erwachsenenwelt Bezug nimmt, verliert jene Thematik im postmodernen Adoleszenzroman an Bedeutung. Die Jugend wird - seit den 1980er Jahren32 - weithin als generationsübergreifendes Ideal, als Persönlichkeitseigenschaft gesehen33, dem auch Erwachsene in Form von ewigem Jugendgeist nacheifern. Statt einem ständigen Gegeneinander durch Provokation und Unterdrückung ist es zu einem parallelen Nebeneinander von Lebenswelten und Stilen gekommen, die sich gegenseitig tolerieren.

Das typische Thema der Identitätssuche gerät im postmodernen Adoleszenzroman zunehmend in den Hintergrund. Vielmehr drängt sich die Suche nach immer neuen Erlebnissen auf, denn alles ist schon bis zur Langeweile durchlebt, Partys, Kneipen, endlose Diskussionen, Drogen.34

Weiterhin löst sich die Adoleszenzliteratur nun endlich von der einseitigen Perspektive des männlichen Protagonisten und nimmt zunehmend Bezug auf die weibliche als andere Psycheund Körperentwicklung.35 Auch die Darstellung der krisenhaften Adoleszenz voller Melancholie und Weltschmerz lässt nach - vielmehr driftet jene Entwicklungsphase hin zur Ziel- und Orientierungslosigkeit36 in einer Welt, in der es zu viele Möglichkeiten und Richtungen gibt, die genutzt und eingeschlagen werden können.

Die Protagonisten des postmodernen Adoleszenzromans sind häufig nur oberflächlich charakterisiert; auch handeln sie nicht rebellisch oder autonom, um ihr Leben selbstständig zu gestalten und sich eine Zukunft aufzubauen - sie leben gänzlich in der Gegenwart. Häufig enthält die Erzählhaltung ironische oder gar zynische Elemente; auf Moral- oder Wertbekundungen wird verzichtet.37

3. ANALYSE ZWEIER EXEMPLARISCHER ADOLESZENZROMANE MIT DER THEMATIK „VERLUSTERFAHRUNG“

Nachdem nun eine Einführung in die Gattung des Adoleszenzromans erfolgt ist, sollen die beiden anfangs vorgestellten Bücher analysiert werden. Einer knappen Information über Autor, bzw. Autorin folgen eine kurze Inhaltsangabe sowie eine formale Analyse. Diese beschränkt sich jedoch hauptsächlich auf die Perspektive und das Erzählverhalten, da weitere Formalien auch in den darauffolgenden Subkapiteln mit einbezogen werden, um eine Verknüpfung von Form und Inhalt herzustellen. Diese Subkapitel beschäftigen sich mit der literarischen Darstellung des Todesfalls, der Reaktion der Protagonistin auf eben jenen und sehr differenziert mit dem Verhältnis der Protagonistin zu ihren Mitmenschen, da sich in diesen die Entwicklung derselbigen widerspiegelt. Die Persönlichkeitsentwicklung wird zusammenfassend beschrieben. Es folgt eine Untersuchung der Perspektiveröffnung am Romanende, sowie der Versuch einer Einordnung in Moderne oder Postmoderne.

3.1. PETER POHL & KINNA GIETH: „DU FEHLST MIR, DU FEHLST MIR!“

3.1.1. Der Autor

Peter Pohl wurde 1940 in Deutschland geboren, verlor seinen Vater im Krieg und zog im Alter von vier Jahren mit seiner schwedischen Mutter in deren Heimatland. Dort studierte er nach einer erfolgreichen Schullaufbahn Mathematik und Physik, später lehrte er an der Technischen Hochschule Stockholm. 1985 debütierte er mit seinem Roman „Jan, mein Freund“.38

3.1.2. Inhaltsangabe

Cilla und Tina sind Zwillinge, die sich äußerlich gleichen wie ein Ei dem anderen, innerlich aber unterschiedlicher nicht sein könnten. Cilla ist ruhig und nachdenklich, Tina eher oberflächlich und jede Woche in einen anderen Jungen verliebt. Dennoch verbindet die beiden ein starkes Band der schwesterlichen Liebe. Im Sommer werden die beiden vierzehn - doch Cilla wird diesen Geburtstag nicht mehr erleben, denn sie stirbt im Mai bei einem Autounfall. Tina erzählt, wie sie versucht weiterzuleben - mit Schulkameraden, die sich nicht mehr trauen, normal mit ihr zu reden, mit vorwurfsvollen Blicken, wenn sie es wagt zu lachen, mit Eltern, die so mit ihrer eigenen Trauer beschäftigt sind, dass sie Tina mit ihrer allein lassen, mit verständnislosen Lehrern und plötzlich schlechten Zeugnissen, mit völlig neuen, tiefgründigen Gedanken und Ansichten, mit Alpträumen, Ängsten, Schuldgefühlen, und vor allem: ohne Cilla - die aber trotz ihres Todes ständig anwesend zu sein scheint: in Erinnerungen, in Gedanken und Gedichten, im Tagebuch, im Traum, in einer unhörbaren Querflöte, die Tinas Geige begleitet - und im Spiegel.

Tina berichtet von einem Jahr voller Trauer, das sie verändert und über sich selbst hinauswachsen lässt.

3.1.3. Entstehungsgeschichte

Im Herbst 1990 erhielt Peter Pohl einen Brief von der damals vierzehnjährigen Kinna Gieth, die ihm berichtete, dass sie zusammen mit ihrer Zwillingsschwester Jenny sein Buch „Immer diese Anette!“ gelesen habe, in dem ein Zwillingspaar durch den Tod des einen auseinandergerissen wird. Kinna schrieb, dass sie sich darüber ausgetauscht hätten, wie unmöglich es sei, ohne die Schwester leben zu müssen, und dann sei genau dieses Unmögliche wenig später durch einen Verkehrsunfall Jennys eingetreten.

Kinna Gieth wollte ihre verstorbene Schwester ehren und fragte Pohl, ob er sich vorstellen könne, mit ihr gemeinsam ein Buch über sie und Jenny, über deren Tod und die schwierige Zeit danach zu schreiben.39

Anhand von Briefen, Tagebüchern, Gedichten und Novellen der Zwillinge, sowie Gesprächen mit der „übriggebliebenen“ Schwester, entstand 1991 aus Kinnas „ nackte[r] Erzählung und Verzweiflung “ 40 in Zusammenarbeit mit Peter Pohl Literatur: ein auf einer wahren Begebenheit basierender Roman, der 1992 unter dem schwedischen Originaltitel „Jag saknar dig, jag saknar dig!“ (dt. 1994) erschien und 1995 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde.41

[...]


1 Bernd, Christina: Tod und Trauer in der Kinder- und Jugendliteratur. In: JuLit 1/09, S. 1.

2 Vgl. Pohl, Peter u. Gieth, Kinna, S. 160.

3 Ewers, Hans-Heino: Vom Anschauen zum Erleben, S. 107.

4 Vgl. Nix, Angelika: Viele tausend Jahre ist man tot. In: JuLit Heft 1/09, S. 19-23.

5 Vgl. Gansel, Carsten: Der Adoleszenzroman, S. 359.

6 Vgl. Gansel, Carsten: Der Adoleszenzroman, S. 360.

7 Vgl. Gansel, Carsten: Der Adoleszenzroman, S. 362.

8 Vgl. Gansel, Carsten: Der Adoleszenzroman, S. 359.

9 Vgl. Lange, Günter, S. 2.

10 Vgl. Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur, S. 112.

11 Vgl. Lange, Günter, S. 10.

12 Vgl. Lange, Günter, S. 11.

13 Lange, Günter, S. 11.

14 Vgl. Lange, Günter, S. 2.

15 Vgl. Lange, Günter, S. 2f.

16 Vgl. Lange, Günter, S. 3.

17 Vgl. Lange, Günter, S. 3.

18 Vgl. Lange, Günter, S. 4.

19 Vgl. Lange, Günter, S. 6.

20 Vgl. Lange, Günter, S. 6.

21 Vgl. Lange, Günter, S. 15.

22 Lange, Günter, S. 6.

23 Vgl. Lange, Günter, S. 14.

24 Vgl. Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur, S. 116.

25 Vgl. Gansel, Carsten: Der Adoleszenzroman, S. 373.

26 Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur, S. 117.

27 Gansel, Carsten: Der Adoleszenzroman, S. 374.

28 Gansel, Carsten: Der Adoleszenzroman, S. 375.

29 Vgl. Gansel, Carsten: Der Adoleszenzroman, S. 376.

30 Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur, S. 119.

31 Vgl. Gansel, Carsten: Der Adoleszenzroman, S. 379.

32 Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur, S. 121.

33 Vgl. Gansel, Carsten: Der Adoleszenzroman, S. 379.

34 Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur, S. 123.

35 Vgl. Ewers, Hans-Heino: Jugendkultur im Adoleszenzroman, S. 10.

36 Vgl. Ewers, Hans-Heino: Jugendkultur im Adoleszenzroman, S. 11.

37 Vgl. Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur, S. 122.

38 Vgl. Pohl, Peter: Peter Pohl über Peter Pohl. URL http://www.nada.kth.se/~pohl/BioDeutsch.html (07.08.2009)

39 Vgl. Pohl, Peter: Peter Pohl über Du fehlst mir, du fehlst mir! URL http://www.nada.kth.se/~pohl/Fehlst.html (07.08.2009)

40 Pohl, Peter: Peter Pohl über Du fehlst mir, du fehlst mir! URL http://www.nada.kth.se/~pohl/Fehlst.html (07.08.2009)

41 Vgl. Pohl, Peter u. Gieth, Kinna, Klappentext.

Ende der Leseprobe aus 37 Seiten

Details

Titel
Verlusterfahrungen im neueren Adoleszenzroman. Große Fragen in der Kinder- und Jugendliteratur
Hochschule
Universität Hildesheim (Stiftung)  (Deutsch)
Veranstaltung
Große Fragen in der Kinder- und Jugendliteratur
Note
2,5
Autor
Jahr
2009
Seiten
37
Katalognummer
V334191
ISBN (eBook)
9783668238800
ISBN (Buch)
9783668238817
Dateigröße
573 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Jugendliche, Verlust, Roman, Kinder, Literatur, Jugendliteratur, Adoleszenz
Arbeit zitieren
Julia Rieger (Autor:in), 2009, Verlusterfahrungen im neueren Adoleszenzroman. Große Fragen in der Kinder- und Jugendliteratur, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/334191

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