Analyse von Rousseaus' "Discours sur l´origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes" in Bezug auf die christliche Erbsünde


Hausarbeit, 2012

17 Seiten, Note: 1,3

Katrin Graf (Autor:in)


Leseprobe


Inhalt

I. Einleitung

II. Rousseau's Rekonstruktion des Naturzustands
2.1 L´ homme naturel
2.2 Alternative Genesis-Erzählung

III. Der Mensch ist von Natur aus Gut

IV. Schlange und Apfel bei Rousseau
4.1 Vom Paradies zum Sündenfall
4.2 Vergesellschaftung

V. Fazit

VI. Bibliographie

I. Einleitung

Am 28. Juni 2012 feierte der Genfer Philosoph Jean-Jacques Rousseau seinen 300. Geburtstag und noch Heute sind seine Werke gern gelesen. Im Verlauf dieser Arbeit wird sein 1755 veröffentlichter Text Discours sur l´origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes näher beleuchtet. Dieser Diskurs, auch als „Zweiten Diskurs“ bezeichnet1, ist die Antwort auf die Preisfrage „Quelle est la source de l’inégalité parmi les hommes, et si elle est autorisée par la loi naturelle?“ der Académie de Dijon von 1953. Rousseau versucht die philosophisch-anthropologische Frage nach dem Ursprung der Ungleichheit zwischen den Menschen zu lösen und gleichzeitig mit seiner kulturkritischen Schrift die Menschen über ihre Geschichte aufzuklären, denn für ihn ist „la plus utile et la moins avancée de toutes les connaissance humaines me paraît être celle de l´homme [...].“2 In seiner Abhandlung rekonstruiert Rousseau den ursprünglichen Zustand des Menschen, um in dieser Rückbesinnung mehr über den Ursprung der Ungleichheiten zwischen den Menschen zu erfahren. Doch Rousseau muss zuerst eine vorhandene Kultur voraussetzen, um über sie reflektieren zu können. Diese Kultur bezeichnet Rousseau als unsere heutige Gesellschaft, die von Ungleichheiten und Unfreiheiten beherrscht ist. Durch die Rekonstruktion des Naturzustands hebt er die Verfremdung mit der Natur, die mit der Industrialisierung einherging, auf. Dabei geht es Rousseau allein, um das ursprüngliche und demnach natürliche Verhalten des Menschen. So sagt auch Geyer:

[Rousseau nimmt] das Problem der Ungleichheit weniger von seiner sozialpolitischen als von seiner bewußtseinsgeschichtlichen Seite in den Blick […]. Es geht ihm um den Prozeß der Privatisierung und der Entfremdung des Einzelbewußtseins vom Kollektiv.3

Mit Isotopien des Begriffs des Naturzustandes, wie Ursprung des Menschen, Natürlichkeit, Unkultur, Primitivität, Reinheit und Echtheit lässt sich der Zustand, wie Rousseau ihn darzustellen sucht, leichter beschreiben. Doch Rousseau wählt den Begriff des Naturzustandes, da für ihn die ersten Regungen der Natur unfehlbar sind. Rousseau versucht mit der Konstruktion des homme naturel eine glaubwürdige und alternative Geschichte zu dem theologischen Verständnis der Erbsünde zu erzählen. Dabei will er die Frage des Ursprungs der Ungleichheit zwischen den Menschen ohne Verweis auf die christliche Offenbarung beantworten. Diese Idee der Abwendung von Religion und Kirche und der Suche nach wissenschaftlichen Erkenntnissen geht einher mit der Bewegung der Aufklärung im 17. Jahrhundert und dem daraus resultierenden Prozess der Säkularisierung4. Doch warum entfernt sich Rousseau bewusst von der biblischen Genesis-Erzählung? Warum konstruiert er einen Menschen im Naturzustand? Welche Gemeinsamkeiten hat der homme naturel mit Adam und Eva? Wie entwickelt sich der Mensch aus diesem Zustand heraus? Mit diesen Fragen beschäftigt sich der weitere Verlauf dieser Arbeit, um letztendlich aufzuzeigen, dass Rousseaus Diskurs weder paradiesische Erzählung noch ein Sündenfall ist.

II. Rousseau's Rekonstruktion des Naturzustands

Im ersten Teil des Zweiten Diskurses sur l´origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes rekonstruiert Rousseau einen Ursprungszustand des Menschen, der nicht auf vérités historiques, sondern auf raisonnements hypothétiques 5 basiert. So erschließt sich dieser Zustand nicht durch die Analyse des jetzigen Menschen oder in der geschichtlichen Entwicklung seiner Vorfahren, sondern nur mit Hilfe von Geschichtsspekulation6. Demnach versucht Rousseau mittels dem Prinzip des „Was hätte sein können, wenn...?“, auch als Uchronie bezeichnet, den Ausgangspunkt der Entwicklung der Ungleichheit, aus dem Naturzustand des Menschen heraus, zu skizzieren. Dabei kontrastiert er einen fiktiven Zustand, dem Ungleichheit fremd ist mit einem, für den sie konstitutiv ist, d.h Rousseau beschäftig sich mit den Unterschieden zwischen der bürgerlichen Gesellschaft und dem Menschen in seinen ursprünglichen Naturzustand. Dieser Vergleich des homme de l´homme7 mit dem homme naturel 8 gibt Einblick über die Fortschritte und Umstände, die den Menschen von seiner ursprünglichen Verfassung entfernt haben. So gelingt es Rousseau, durch die hypothetische Rückführung des gesellschaftlichen Menschen in den solitären Naturzustand, den Ursprung der Ungleichheit zwischen den Menschen auszumachen.

Rousseau setzt in seinem Kulturpessimismus, der sich in der Kritik über die Ungleichheit der Menschen im vergesellschafteten Zustand äußert, die natürliche Möglichkeit der Gleichheit unter den Menschen voraus. Diese Gleichheit ist für ihn fernab der Gesellschaft in der Natur zu finden, die er als die einzige Quelle der Wahrheit betrachtet9 und demnach geeignet den ursprünglichen Menschen in ihr anzusiedeln. So sagt Rousseau: „Voici ton histoire telle que j´ai cru la lire [...] dans la nature qui ne ment jamais. Tout ce qui sera d´elle sera vrai.“10 Das Verb „cru“ verdeutlicht hier noch einmal die hypothetische Arbeits- bzw. Vorgehensweise. Auch wenn Rousseau keine Fakten liefert, sondern nur Hypothesen über den Ursprung des Menschen und seiner Selbstentfremdung aufstellt, sieht er sich als Wissenschaftler der, wie die Physiker, die Entstehung der Welt erforscht11. So will Rousseau den Mensch von seinen übernatürlichen Gaben entkleidet betrachten12 und dazu muss er ihn von der Gesellschaft entfernen. Doch Rousseau entfernt den homme naturel nicht nur von der Gesellschaft, sondern er geht noch einen Schritt weiter: Rousseau siedelt den Menschen außerhalb der Historie an. So ist der Naturzustand kein Zustand der Gegenwart, Vergangenheit oder Zukunft, sondern:

un état qui n’existe plus, qui n’a peut-être point existé, qui probablement n’existera jamais et dont il est pourtant nécessaire d´avoir des notions justes pour bien juger de notre état présent.13

Rousseau ist nicht der Einzige, der die Meinung vertritt man müsse den Mensch in seinem Ursprung extra-historisch sehen. Auch für Ideengeschichtler Starobinski muss die Geschichte außer Acht gelassen werden, um zu erkennen, wie der geschichtliche Mensch überhaupt entstanden ist. So sagt er: „Il faut sortir de l´histoire pour voir naître l´histoire humain.“14

2.1 L´ homme naturel

Um den ursprünglichen Menschen vor seiner Vergesellschaftung darstellen zu können, musste Rousseau sich in die Natur, fernab der Gesellschaft, begeben. Als er auf einer Reise nach Saint-Germain15 die meiste Zeit damit verbrachte die Wälder zu studieren, gelang er in der Naturbeobachtung zu der Erkenntnis, wie der Mensch abseits der Gesellschaft sein konnte/musste. Durch diese Betrachtung der Natur, deren erste Regungen für Rousseau immer wahr sind16, konnte er Hypothesen zu der Depravation des Menschen und dessen Leben in Ungleichheit aufstellen. So kam es auch, dass Rousseau das folgende Zitat von Aristoteles zum Motto seines Zweiten Diskurses17 machte:

non in depravatis, sed in his quae bene secundum naturam se habent, considerandum est quid sit naturale18 Wenn sich Rousseau die Mühe macht den ursprünglichen Naturzustand des Menschen zu rekonstruieren, dann muss auch geklärt werden, was genau den Mensch in seinem ursprünglichen Zustand ausmacht: So ist der homme naturel für Rousseau erstmal ein solitäres Wesen, das weder gut noch böse ist. Seine Unschuld ist aber nicht das Gegenteil von Schuld, sondern eine andere Bezeichnung für Unwissenheit.19 Des Weiteren sind für Rousseau die Menschen, sowie die Tiere, „machines ingénieuses“20, die bis zu einem gewissen Grad in ihrem Handeln der Natur gehorchen. Der Mensch hat allerdings, im Gegensatz zum instinktgebundenen Tier, eine Willensfreiheit und kann sich in der Natur frei bewegen. Dass Rousseau in dieser Aussage den Menschen mit einer Maschine vergleicht, verdeutlicht die Gleichgültigkeit des Menschen gegenüber dem moralisch Guten und Bösen. Auch wenn es mehr Unterschiede zwischen „tel homme à tel homme que de tel homme à telle bête“21 gibt, so unterscheidet sich der homme naturel durch seine Fähigkeit sich zu verbessern, der Perfektibilität, grundlegend von den Tieren. Dennoch ist es ihm nicht möglich diese Fähigkeit im Naturzustand auszubilden,22 denn sie muss erst durch äußere Umstände angeregt werden. Treten diese äußeren Umstände ein, so entwickeln sich aus der faculté de se perfectionner weitere Fähigkeiten, die den Menschen sozialisieren23. Bis es jedoch zu jenem Fortschritt kommt, sind die einzigen Bedürfnisse des Menschen im état primitif Nahrung, Fortpflanzung und Ruhe und die einzigen Ängste, die vor Hunger und Schmerz24. Für Philosophiehistoriker Henri Gouhier sind zwei Eigenschaften des homme naturel ausschlaggebend für seine bonté naturelle25: Zum einen das Mitleid26, die Sympathie mit einem Leidenden seinesgleichen27 und zum anderen den Selbsterhaltungstrieb - amour de soi, eine Selbstliebe, auch im Sinne einer Selbst-genügsamkeit. Rousseau zählt die Charakteristiken, die den Menschen in seinem Naturzustand ausmachen, wie folgt auf:

[...]


1 Der Discours sur l´origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes wird auch als „Zweiter Diskurs “ bezeichnet, da er in Rousseaus’ Werk auf den Discours sur les sciences et les arts von 1750 folgt.

2 Rousseau 1971, S. 157.

3 Geyer, Zur Dialektik der Aufklärung in der Anthropologie Montesquieus und Rousseaus 1995, URL: http://rousseaustudies.free.fr/articleGeyer.html, gefunden am 12.08.2012. o.P.

4 Säkularisierung bezeichnet den Prozess der Verweltlichung und den Bedeutungsverlust von Kirche und Religion. Es ist der Wandel von dem Glaube an die Religion zu dem Glaube an die menschliche Vernunft.

5 Vgl. Rousseau 1755, S. 169.

6 „[…] Rousseau [greift] zum Instrument der Geschichtsspekulation, um die Gründe einer Perversion des Seins zum Schein, des être zum paraître festzustellen.“ (Schabert 1971, S. 60.)

7 Als homme de l´homme bezeichnet Rousseau den Menschen in der Gesellschaft.

8 Homme naturel bezeichnet den Menschen im Naturzustand.

9 „Il n´y aura de faux [dans la nature]. “ (Rousseau 1971, S. 169).

10 Ebd.

11 „Il ne faut pas prendre les recherches […] pour des vérités historiques, mais seulement pour des raisonnements hypothétiques et conditionnels; plus propres à éclaircir la nature des choses qu´à en montrer la véritable origine, et semblables à ceux que font tous les jours nos physiciens sur la formation du monde.“ (Ebd.).

12 „En dépouillant cet étre, ainsi constitué, de tous les dons surnaturels [...] en le considérant, en un mot, tel qu´il a dû sortir des mains de la nature [...].“ (Ebd, 172).

13 Ebd, S. 159.

14 Starobinski 1971, S. 341.

15 Rousseau 1971, S. 278.

16 Vgl. Ebd, S. 169.

17 Vgl. Weigand 1971, S. 61

18 „Nicht in depravierten Dingen, sondern in jenen, die sich in einem guten Zustand gemäß der Natur befinden, muß man betrachten, was natürlich ist.“ (Oberparleiter-Lorke 1997, S. 23).

19 Vgl. Gouhier 1984, S. 24.

20 Rousseau 1971, S.182.

21 Ebd, S. 183.

22 „Si la raison se développe, c’est que l’homme la possède par nature, mais à l’état de nature, il n’a pas l’occasion de la développer.“ (Gouhier 1984, S. 20).

23 Rousseau 1971, S.183.

24 Vgl. Rousseau 1971, S. 196

25 Der Begriff der bonté naturelle bezeichnet die natürliche Güte des Menschen.

26 Vgl. Gouhier 1984, S. 25.

27 Das Mitleid ist nicht zu verwechseln mit Solidarität, die ein Phänomen des état civil ist.

Ende der Leseprobe aus 17 Seiten

Details

Titel
Analyse von Rousseaus' "Discours sur l´origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes" in Bezug auf die christliche Erbsünde
Hochschule
Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Note
1,3
Autor
Jahr
2012
Seiten
17
Katalognummer
V334363
ISBN (eBook)
9783668238923
ISBN (Buch)
9783668238930
Dateigröße
685 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Rousseau, Philosoph, Zustand des Menschen, Kultur, Naturzustand, homme naturel, Religion, Kirche, Säkularisierung, Aufklärung
Arbeit zitieren
Katrin Graf (Autor:in), 2012, Analyse von Rousseaus' "Discours sur l´origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes" in Bezug auf die christliche Erbsünde, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/334363

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