Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1. Einleitung
2. Begriffserklärung und Bedeutung von Bewegung und sportlicher sowie körperlicher Aktivität
2.1 Begriffserklärung
2.2 Bedeutung
3. Veränderte Lebens- und Bewegungswelten
3.1 Gesellschaftliche Ebene
3.2 Familiäre und soziale Ebene
3.3 Spiel und Freizeitverhalten
3.3.1 Verhäuslichung der Freizeit
3.3.2 Verinselung der Freizeit
4. Bedingungen der Sportteilnahme
4.1 Biologische und demographische Faktoren
4.2 Soziale und ökonomische Faktoren
5. Auswirkungen von Bewegungsmangel
6. Vorstellung der Studien
6.1 MediKuS-Studie
6.2 KiGGS-Studie
6.3 KIM-Studie
6.4 JIM-Studie
7. Medien als Grund für Bewegungsmangel - Alternative oder Ergänzung?
7.1 Körperlich-sportliche Aktivität der KiJus
7.2 Mediennutzung der KiJus
7.3 Zusammenhang zwischen Mediennutzung und körperlich-sportlicher Aktivität
8. Ergebnisse und Fazit
9. Ausblick
10. Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1. Differenzierung motorischer Fähigkeiten
Abb. 2. Strukturelles Gefüge der koordinativen Fähigkeiten
Abb. 3. Ergebnisse der MediKuS-Studie zur körperlich-sportlichen Aktivität der 9- bis 24-Jährigen in organisierten außerschulischen Institutionen - nach herkunftsbezogenen Merkmalen, n = 4.395
Abb. 4. Ergebnisse der KIM-Studie 2014 zur Freizeitaktivität von 6- bis 13- Jährigen – in Prozent, n = 1.209,
Abb. 5. Ergebnisse der KiGGS Welle 1 zum Ausmaß der täglichen Nutzung elektronischer Medien (Fernsehen/Video, Spielkonsole, PC/Internet) bei 11- bis 17-Jährigen - nach Geschlecht, n = 4.941
Tabellenverzeichnis
Tab. 1. Ergebnisse des HBSC-Surveys 2002 zu den Sportgewohnheiten nach Geschlecht - in Prozent, n = 3405
Tab. 2. Ergebnisse der KiGGS Welle 1 zur Häufigkeit des Sporttreibens, der Aktivität im Sportverein sowie der Erfüllung der WHO-Empfehlung von mindestens 60 Minuten körperlicher Aktivität pro Tag –nach Geschlecht und Altersgruppen in Prozent
Tab. 3. Ergebnisse der KiGGS-Basiserhebung zur körperlich-sportlichen Inaktivität von 11- bis 17-Jährigen nach Nutzung elektronischer Medien – in Prozent, n = 6.813
Tab. 4. Ergebnisse der KiGGS Welle 1 zur körperlichen Inaktivität (weniger als zweimal pro Woche für 60 min pro Tag körperlich aktiv) und dem Mangel an Sportbeteiligung in Abhängigkeit von der täglichen Mediennutzungsdauer (Fernsehen/Video, Spielkonsole, Computer/Internet) bei 11- bis 17-jährigen KiJus – nach Geschlecht in Prozent
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1. Einleitung
„Noch nie hatten Kinder so viele Spielsachen, noch nie gab es so viele Freizeiteinrichtungen für Kinder und Jugendliche[1], die sich um ihre musikalischen und sportlichen Aktivitäten kümmern, wie heute. Gleichzeitig waren Kinder noch nie so arm an Möglichkeiten, sich ihre Umwelt über die Sinne und ihren Körper zu erschließen“ (Zimmer 2004, S. 21).
Neben dem steigenden Massenkonsum und der Institutionalisierung der Freizeit, verweist Renate Zimmer mit diesem Zitat besonders auf die Enttraditionalisierung des Alltags und das Verschwinden der Straßenspielkultur, die besonders die 1950er Jahre prägte. Doch ist es wirklich so, dass die Heranwachsenden sich in ihrer Freizeit weniger außerhalb des Hauses aufhalten? Sind sie körperlich inaktiver geworden und besteht möglicherweise ein Zusammenhang zwischen diesem Bewegungsmangel und der Nutzung elektronischer Medien[2], die inzwischen in nahezu jedem Haushalt zu finden sind? Sprachen Charlton und Neumann-Braun bereits 1992 zu Recht von einer „Medienkindheit“, die sich in der „Medien-Jugend“ fortsetze?
Ein Blick in die Literatur zeigt, dass dieser Sachverhalt und die oben erwähnte Ursache-Wirkung-Beziehung zwischen Bewegungsmangel und der Nutzung neuer Medien schwieriger empirisch zu belegen sind, als es von vielen Autoren dargestellt wird. Ziel dieser Arbeit ist es also, auf der Grundlage ausgewählter Studien, wissenschaftlich fundierte Aussagen gesammelt darzustellen und auf die oben aufgeführte Fragestellung zu übertragen.
Dafür wird im ersten Teil, nach einer Erklärung der verwendeten Begriffe zur Aktivität der KiJus, die Bedeutung ebendieser Aktivität bzw. Bewegung sowohl auf motorischer als auch auf psychosozialer Ebene erläutert (Kapitel 2).
In Kapitel 3 sollen die veränderten Lebens- und Bewegungswelten der KiJus im Vergleich zu denen früherer Generationen auf verschiedenen Ebenen dargestellt werden. Dabei werden Begriffe wie „Verhäuslichung“ und „Verinselung“ in Zusammenhang mit der Freizeitgestaltung der jungen Generation gebracht und erläutert.
Da eine fehlende Sportpartizipation multifaktoriell zu begründen und in den meisten Fällen nicht nur auf die, in dieser Arbeit im Blickpunkt stehende, erhöhte Nutzung elektronischer Medien zurückzuführen ist, werden im folgenden Kapitel einige der biologischen, demographischen und sozioökonomischen Faktoren der Sportteilnahme dargestellt (Kapitel 4).
Was passiert, wenn die KiJus aufgrund der im dritten und vierten Kapitel erläuterten Faktoren nicht den Zugang zum Vereinssport finden und ihre Freizeit körperlich inaktiv, mit einem Mangel an Bewegung, gestalten, wird im darauffolgenden Kapitel geschildert (Kapitel 5).
Nach der Vorstellung einiger für die Fragestellung relevanter Studien (Kapitel 6), wird im abschließenden Teil dieser Arbeit die Quintessenz ebendieser in Bezug auf den Zusammenhang zwischen Mediennutzung und Bewegungsmangel bei KiJus gesammelt dargestellt (Kapitel 7). Ein Überblick über die Ergebnisse der behandelten Teilthemen sowie ein Ausblick auf mögliche bzw. zum Teil bereits laufende Folgestudien beschließen diese Arbeit (Kapitel 8 und 9).
2. Begriffserklärung und Bedeutung von Bewegung und sportlicher sowie körperlicher Aktivität
Da in dieser Arbeit in Bezug auf die Freizeitgestaltung der KiJus immer wieder von Bewegung und sportlicher sowie körperlicher Aktivität die Rede ist, wird im Folgenden Kapitel differenziert erläutert, wie diese Begriffe jeweils definiert sind. Daraufhin werden die Bedeutung und Auswirkungen einer aktiven Lebensführung der Heranwachsenden auf verschiedenen Ebenen dargestellt.
2.1 Begriffserklärung
Der Begriff „sportliche Aktivität“ darf nicht mit „Bewegung“ oder „körperliche Aktivität“ gleichgesetzt werden, da jede dieser Tätigkeiten zwar im weitesten Sinne mit muskulärer Aktivität verbunden ist, es sich aber genau genommen um verschiedene Tätigkeiten handelt.
Während „körperliche Aktivität“ physikalisch betrachtet laut Robert Koch-Institut den Oberbegriff für „jede körperliche Bewegung […], die durch die Skelettmuskulatur produziert wird und den Energieverbrauch über den Grundumsatz anhebt“ stehe (Rütten et al. 2005), handele es sich bei „sportlicher Aktivität“ um einen organisierten Teilbereich körperlicher Aktivität, der herkömmlich Leistung und Wettkampf, aber auch Spaß impliziere.
Auch das Europäische Informationszentrum für Lebensmittel EUFIC nimmt diese Differenzierung vor. Darüber hinaus wird hier erwähnt, dass Sport von bestimmten Regeln geleitet werde, während es sich bei körperlicher Aktivität auch um Routinetätigkeiten, wie beispielsweise Hausarbeit, handeln könne.
In der unten beschriebenen KiGGS-Studie beispielweise wird körperliche Aktivität mit der Frage danach „wie häufig [die KiJus] in ihrer Freizeit körperlich so aktiv sind […], dass sie richtig ins Schwitzen oder außer Atem kommen“ (Lampert et al. 2007a, S. 635) erfasst, wobei KiJus, die weniger als einmal pro Woche derartig aktiv sind als inaktiv gelten.
„Bewegung“ definiert EUFIC als „geplante und strukturierte, wiederholte Bewegungen, um Fitness und Gesundheit zu verbessern“ (EUFIC, 2006).
2.2 Bedeutung
Bewegung und körperliche Aktivitäten bedeuten für KiJus das Befassen sowohl mit motorischen als auch mit emotionalen, psychosozialen und kognitiven Entwicklungsaufgaben (Dordel 2003). Durch diese, zum Teil altersspezifischen, Aufgaben lernen die Heranwachsenden neben den grundlegenden motorischen Fähigkeiten auch die Umwelt sowie den eigenen Körper und seine Grenzen kennen (Zimmer 1993 / 1999). Diese Wahrnehmung von Grenzen sowie die damit einhergehenden Leistungserfahrungen wirken sich positiv auf das Köperkonzept des Kindes aus (Fuchs 1997). Laut Scherler (1975, S. 122) „kommt seine Erkenntnis der Welt in der Struktur seiner Handlungen zum Ausdruck“. Auch Hurrelmann (1986, S. 20) behauptet: „Entwicklungsimpulse kommen von außerhalb des Organismus, Veränderungen des Verhaltens werden folglich als Konsequenzen, als Reaktion auf bestimmte Umweltbedingungen interpretiert.“ Häufig handelt es sich bei diesen Entwicklungs- und Bildungsprozessen, besonders im sportlichen Rahmen, um nicht-intentionelle Vorgänge (vgl. Rauschenbach & Züchner 2011).
Neben der oben beschriebenen Bedeutung für Entwicklungsaufgaben wird der Bewegung und körperlichen Aktivität auch aus medizinischer Sicht eine essenzielle Rolle zugeteilt. Wie in zahlreichen Studien belegt wurde, fördert eine regelmäßige körperliche Aktivität das Herz-Kreislauf-System und wirkt sich zudem positiv auf die Atmung und den Stoffwechsel aus. Außerdem kann chronischen Krankheiten, wie beispielsweise Übergewicht und Bluthochdruck, vorgebeugt werden, indem die physiologischen und verhaltensbezogenen Risikofaktoren vermindert werden (Hempel 2006, S.52).
Auch die Bedeutung der körperlichen Aktivität auf psychosozialer Ebene wird in der Literatur immer wieder erwähnt, wobei hier besonders die sportliche Aktivität im Vordergrund steht. Sowohl für das psychische Wohlempfinden als auch für die Entwicklung sozialer Kompetenzen sowie der individuellen Persönlichkeit ist sportliche Aktivität im organisierten vereinsgebundenen oder unorganisierten selbstbestimmten Rahmen bedeutsam (Lampert et al. 2007a, S. 634). Rauschenbach und Züchner (2011) sprechen in diesem Kontext von „soziale[r] Integration und [dem] Erwerb sozialen Kapitals“. Die dadurch aufgebauten sozialen Beziehungen können in bestimmten Situationen von Vorteil sein, da KiJus besonders in Problemsituationen eine Konstante im Leben benötigen (vgl. Gerlach 2008, S. 185).
3. Veränderte Lebens- und Bewegungswelten
Die Lebens- und Bewegungswelten der KiJus haben sich über die Jahre stark verändert. In den 1950er Jahren wurde die Freizeit in Abwesenheit der arbeitenden Eltern fast ausschließlich im Freien, außerhalb der überfüllten und einengenden Wohnungen, verbracht (vgl. Schmidt 1993). Abseits von organisiertem Vereinssport eigneten sich die heranwachsenden Mitglieder der sogenannten „Straßenspielkultur“ verschiedenste Spielformen mit selbst kreierten und immer komplexer werdenden Regeln an. Der institutionell geprägte Sport umfasste für die Jüngeren das wöchentlich einmalige Turnen und für die Kinder ab 11 Jahren zusätzlich eine überschaubare Anzahl traditioneller Sportarten (Schmidt 2003, S. 110f.).
Wenn man sich mit diesem Thema auseinander setzt, fallen häufig die Begriffe „Verhäuslichung“, „Verinselung“ oder auch „Medienkindheit“. Um die Veränderungen in voller Komplexität zu erfassen, werden diese im Folgenden auf verschiedenen Ebenen, bzw. in verschiedene Teilbereiche untergliedert, dargestellt.
3.1 Gesellschaftliche Ebene
Laut Ariès (1994) habe es im Mittelalter nicht einmal einen Unterschied zwischen Kindheit und Erwachsenenalter gegeben, was sich darin geäußert habe, dass beide Altersgruppen sowohl die gleiche Kleidung getragen als auch dieselbe Arbeit verrichtet sowie Spiele gespielt hätten. Den Wandel der gesellschaftlichen Situation bringt Ariès wie folgt auf den Punkt: „Die alte Gesellschaft konzentrierte ein Maximum von Lebensformen in einem Minimum von Raum.“ „Die Neue Gesellschaft stellte dagegen jeder Lebensform einen gesonderten Raum zur Verfügung“ (ebd., S. 564).
Zwar sorgt eine immer größer werdende sozialökonomische Ungleichheit in einem Teil der Bevölkerung für beengende Wohnverhältnisse (vgl. Zimmer 2004), durch den Wirtschaftsaufschwung konnte sich jedoch nicht nur jede Familie eine eigene Wohnung leisten, sondern wurde diese in der heranwachsenden Konsumgesellschaft auch vermehrt mit Spielzeug und elektronischen Geräten, wie beispielsweise Fernsehern oder später auch Spielkonsolen, ausgestattet. Die Kommerzialisierung sowie die sinkende Präsenz der „Straßenspielkultur“ trugen ebenso zu einer Veränderung der kindlichen Lebenswelt bei wie die verstärkte Nutzung neuer Medien.
KiJus verfügten aufgrund der geringeren Wertigkeit alter Traditionen und Normen über mehr Freiheit bezüglich ihrer Lebensstilgestaltung. Jedoch verlangt die immer schneller werdende Lebenswelt von ihnen auch „ein hohes Maß an Mobilität, Flexibilität und Zielstrebigkeit“ (Graf et al. 2007, S. 82). Infolge dieser gesellschaftlichen Veränderungen erhöht sich auch der Druck auf die Eltern, die aufgrund der, zum Teil stark angestiegenen, Ansprüche an sie in der Arbeitswelt weniger Zeit für die Erziehung investieren können. Von den Kindern und Jugendlichen wird sehr früh eine eigenständige Planung einer gesunden Lebensführung und Freizeitgestaltung erwartet. Während sich Kindern und Jugendlichen aus den höheren gesellschaftlichen Schichten dafür ein Überangebot an Aktivitäten bietet, können bei Mitgliedern der unteren Schicht aufgrund zu geringer finanzieller oder intellektueller Möglichkeiten aus der damit einhergehenden Passivität in der Lebensgestaltung gesundheitlichen Risiken resultieren (ebd., S.82f.).
Weitere Ursachen, die diese gesundheitlichen Risiken forcieren, sind die erhöhte Anzahl sitzender Tätigkeiten im Beruf sowie die Tatsache, dass das Auto als zentrales Transportmittel aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken ist (Lampert et al. 2007a, S. 634). Die neue Rolle der Frauen in der Gesellschaft sowie die Arbeitslosigkeit werden im folgenden Kapitel genauer thematisiert.
3.2 Familiäre und soziale Ebene
Der oben bereits erwähnte Wirtschaftsaufschwung und die Massenvermarktung von Spielsachen und elektronischen Geräten wirkten sich ebenso auf die familiäre Lebenswelt aus wie der Trend zur räumlichen Trennung von Großfamilien. Die Konsequenz ist, dass immer mehr Kinder ohne einen erweiterten Verwandtenkreis, der früher beispielsweise Tanten und Onkel inkludierte, aufwachsen. Auch ein Trend zu Einzelkindern, die ohne den Einfluss von Geschwistern groß werden, ist nachzuweisen. Während 1965 die durchschnittliche Anzahl an Kindern pro Haushalt noch 2,1 betrug, so reduzierte sich diese bis 1975 schon auf 1,5 (Nave-Herz 1984, S. 47) und pendelte sich im Laufe der Jahre schwankend um diesen Wert ein (Statistisches Bundesamt, S. 40ff.). Besonders Einzelkindern, deren Anteil in Familien laut Schmidt (2006, S. 42) bei 25 bis 30 % lege, fehle häufig der wichtige gegengeschlechtliche Kontakt, sowie der zu Andersaltrigen.
Auch das allgemeine Verhältnis der Eltern zu ihren Kindern habe sich „Vom Befehlen und Gehorchen zum Verhandeln“ (Büchner 1983, S. 193) entwickelt. Hier ist allerdings zu erwähnen, dass verstärkt andere Institutionen, wie beispielsweise die Schule, für die Sozialisation, Betreuung und Erziehung zuständig sind, wodurch der familiäre Einfluss an Bedeutung verliert (Stange 2006, S. 42).
Da viele Faktoren, die den Wandel auf familiärer und sozialer Ebene veranschaulichen, bereits in Kapitel 3.1. im gesellschaftlichen Rahmen näher erläutert wurden, soll an dieser Stelle besonders die sozialökonomische Ungleichheit zwischen den Familien und die in der Folge zunehmende Familien- und Kinderarmut sowie Chancen- und Bildungsungleichheit beschrieben werden.
Von Armut betroffen sind am häufigsten Familien mit vielen Kindern und alleinerziehende Eltern. Der Anteil der Ein-Elternteil-Familien, bei denen häufig nur eine weibliche Bezugsperson die Heranwachsenden prägt, variierte 1997 je nach Bundesland zwischen 12,5 und 20 % (Schmidt 1997, S. 144). Keine oder nur sehr niedrige Schulabschlüsse sowie die daraus resultierende Arbeitslosigkeit, die diese Gesellschaftsgruppe zum Teil über mehrere Generationen prägt, wirken sich negativ auf die Lebensqualität und das Umfeld der Betroffenen aus. So bleiben auch KiJus nicht vom passiven Lebensstil der Eltern verschont, die mit der Gewissheit, dass die nötigsten Grundbedürfnisse durch staatliche Unterstützung finanziell gedeckt werden, einen wenig strukturierten Alltag vorleben, der heutzutage besonders durch Medienkonsum und weniger durch Sozialkontakte geprägt ist. Unbeständige Wohnverhältnisse, die beispielsweise Trennungskinder erfahren, ein geringes Verantwortungsbewusstsein der Eltern und ihr erhöhter Lebensstress wirken sich negativ auf die Entwicklung und Psyche sowie die schulischen Leistungen der Heranwachsenden aus. (Graf et al 2007, S. 84f.) Der negative Einfluss der Abwesenheit eines Elternteils auf die Psyche der Kinder ist umstritten. Während er von einigen Untersuchungen gestützt wird, heißt es in anderen „dass das Wohlempfinden und die Persönlichkeitsentwicklug der Kinder in Ein-Eltern-Familien kaum geringer bzw. ungünstiger sind als in Kernfamilien“ (Buhren et al 2002, S. 333)
3.3 Spiel und Freizeitverhalten
„Noch nie hatten Kinder so viele Spielsachen, noch nie gab es so viele Freizeiteinrichtungen für Kinder und Jugendliche, die sich um ihre musikalischen und sportlichen Aktivitäten kümmern wie heute. Gleichzeitig waren Kinder noch nie so arm an Möglichkeiten, sich ihre Umwelt über die Sinne und ihren Körper zu erschließen“ (Zimmer 2004, S. 21).
3.3.1 Verhäuslichung der Freizeit
Mit diesem Zitat, welches bereits als Einleitung in diese Arbeit diente, bringt Renate Zimmer die Veränderungen in der Spiel- und Freizeitgestaltung der KiJus, die mehr und mehr in den Blickpunkt der Forschung rückt, auf den Punkt.
Die veränderte Kindheit ist ein umstrittenes Thema. Während viele Autoren einseitig betrachtet und zum Teil ohne empirische Grundlage vorschnell von einem „Verschwinden der Kindheit“ (Postman 1983) oder einer „Medienjugend“ (Charlton et al. 1992), die ihre gesamte Freizeit vor Bildschirmen verbringt, berichten, ist ein Wandel dennoch insgesamt nicht zu übersehen. Während die Freizeitgestaltung im familiären und nachbarschaftlichen Rahmen an Bedeutung verloren hat, rückten die elektronischen Medien in den letzten Jahren verstärkt in den Blickpunkt der Heranwachsenden. Damit verbunden ist die Tatsache, dass die KiJus mehr Zeit mit sitzenden Tätigkeiten verbringen (Graf et al 2007, S. 87), die Straßenkultur, die die 1950er Jahre prägte, an Bedeutung verliert und die Freizeit verhäuslicht wird (vgl. Zimmer 2004, S. 22). Laut Heim (2002, S. 288f.) würden „aktive leibliche Primärerfahrungen mit körperlich-sinnlichen Qualitäten verdrängt und zunehmend durch mediale Erfahrungen aus zweiter Hand ersetzt“. Natürliche Spiel- und Bewegungsräume werden bei den Betroffenen durch eine virtuelle Welt ersetzt, in der die nicht-intentionale Alltagsbildung, die normalerweise durch die soziale Einbindung, beispielsweise in der Familie oder in Vereinen, erzielt wird, kaum stattfindet (vgl. Grgic et al. 2013). Diese Einwirkungen werden heutzutage stattdessen häufiger durch die Medien bewirkt, die unbemerkt als Sozialisationsinstanz in Erscheinung treten (ebd., S. 142) und deren Nutzung durch eine erhöhte Ausstattung in privaten Haushalten sowie die Förderung in Schulen forciert wird (Lampert et al. 2007b, S. 643). Durch die erhöhte Präsenz der elektronischen Medien, besonders des Fernsehens, im Alltag der KiJus sowie die zum Teil fehlenden Kenntnisse über den richtigen Umgang mit den aufgenommenen Informationen sind die Heranwachsenden automatisch zugänglich für Werbung, die Fastfood, stark zuckerhaltige Getränke etc. anpreist. Dies erhöht das Risiko einer insgesamt ungesunden Lebensweise (vgl. Hempel 2006, S. 30).
3.3.2 Verinselung der Freizeit
Natürlich entspricht die Realität, zumindest beim Großteil der jungen Bevölkerung, nicht dem plakativen Bild einer Generation, die ausschließlich vor Bildschirmen sitzt, so dass sich für die KiJus Freiräume für weitere Aktivitäten bieten.
Während es in den 1950er Jahren nach der Schule weder Hausaufgabenhilfe noch anderweitige Betreuung gab und die Freizeit fast ausschließlich auf der Straße verbracht wurde (Schmidt 1997, S. 149), kann dieser Freiraum heutzutage häufig nicht mehr selbstbestimmt gestaltet werden (vgl. Zimmer 2004, S. 22). Viele Autoren sprechen in diesem Zusammenhang von einer Verinselung der Kindheit, die eng mit der steigenden Institutionalisierung zusammenhängt (ebd.). KiJus können ihre Aktivitäten zwar frei wählen und haben größtenteils sogar eine viel größere Auswahl an Tätigkeiten, jedoch müssen sie sich dabei häufiger vorgefertigten Programmen und Zeitvorgaben unterordnen (Zeiher 1988). Zum Teil werden Offene Ganztagsschulen besucht oder Kinder halten sich direkt nach der Schule in Vereinen auf, wodurch das „Kontrollloch“ der Eltern durch die jeweiligen Einrichtungen gefüllt wird (vgl. Schmidt 1997, S. 150). Da ein großer Anteil dieser Vereine sportlicher Natur ist, finden die Heranwachsenden so zum Teil sehr früh den Zugang zum institutionalisierten Sport, woraus laut Zinnecker (1990, S.645f.) eine Versportung der Kindheit resultiere. Bereits mit 4 Jahren beginnt für Kinder teilweise ein wettkampforientiertes Training (Schmidt 1993, S. 24f.)
Diese Verinselung äußert sich nicht nur im oben beschriebenen zeitlichen Kontext der Freizeitgestaltung, sondern verstärkt auch im räumlichen. Durch eine verbesserte Infrastruktur und dem erhöhten Stellenwert des Autos als zentrales Transportmittel werden viele Wege nicht mehr zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurückgelegt, was die aktive Bewegungszeit reduziert. Das Aufkommen von mehr und mehr Autos sorgte auch dafür, dass sich die Straßen von Spiel- und Bewegungsplätzen zu gefährlichen Verkehrsräumen entwickelten (vgl. Brettschneider & Gerlach, 2004, S. 19). Durch den zusätzlichen Verlust von freien Spielflächen durch Bebauung und Privatisierung sind die Heranwachsenden zum Teil auf kleine Spielzonen angewiesen und verlieren den, bereits thematisierten, wichtigen Bezug zu ihrer Umwelt.
4. Bedingungen der Sportteilnahme
Neben den verfügbaren Bewegungsräumen ist die erste Bedingung für eine aktive Sportteilnahme immer das eigene Nutzeninteresse der KiJus, sowohl im institutionellen als auch im selbstbestimmten Setting. Während im frühen Kindheitsalter besonders Spaß, Spannung, Abenteuer und ein miteinander Spielen im Vordergrund stehen, gewinnen im Jugendalter Leistung, Wettkampf, Selbstentfaltung, die eigene Fitness und Gesundheit sowie eine soziale Integration an Bedeutung. Die im sechsten Kapitel genauer beschriebene MediKuS-Studie bestätigt, dass je nach Sportart „Spaß haben“, „fit bleiben“, „etwas erleben“ und „an eigene Grenzen zu kommen“ für die Heranwachsenden die wichtigsten Gründe einer regelmäßigen Sportteilnahme darstellen (Grgic & Züchner 2013, S. 125). Ein sozialer Kontext und die Zugehörigkeit zu einer Szene ist besonders im Risiko- und Funsportbereich von Bedeutung (ebd., S. 131).
Da die Teilnahme an körperlich-sportlichen Aktivitäten nicht nur vom eigenen Nutzeninteresse der KiJus, sondern zudem von den inneren und äußeren Bedingungen beeinflusst wird, werden im Folgenden die biologisch-demographischen und sozio-ökonomischen Determinanten[3] erläutert.
4.1 Biologische und demographische Faktoren
Die biologischen und demographischen Bedingungen umfassen unbeeinflussbare Faktoren wie das Geschlecht und Alter der KiJus sowie ihre Konstitution.
Dass das Geschlecht eindeutig ein bedingender Faktor in Bezug auf die Sportpartizipation darstellt, kommt besonders in physiologischen Unterschieden und der unterschiedlichen körperlichen Belastbarkeit zum Ausdruck (Knoll 1997, S. 109). Da Mädchen aufgrund der damit einhergehenden geringeren kardiovaskulären sowie schnelligkeits- und kraftspezifischen Leistungsfähigkeit beispielsweise in Kraft- und Ballsportarten im Nachteil sind, üben sie eher von Technik und Ästhetik geprägte Sportarten wie Tanz und Gymnastik aus.
Neben diesen biologischen Unterschieden bestehen auch auf gesellschaftlicher Ebene noch immer geschlechtsbedingte Sozialstrukturen, wodurch bestimmte Sportarten an Erwartungen und strukturelle Konstellationen geknüpft sind, die einen geringeren Anteil an Mädchen in Vereinen bzw. zum Teil auch eine geringere Chance der Sportpartizipation bewirken (vgl. Hartmann-Tews & Combrink 2008, S.9; Bös et al. 2009, S. 241).
Dass laut HBSC-Survey[4] 2002 13,2 % der 11 bis 15 Jahre alten Mädchen „kaum“ und nur 22,1 % „sehr oft“, also fünfmal oder häufiger, Sport treiben, während es bei den Jungen 9,4 % bzw. 33,6 % sind, veranschaulicht den oben aufgeführten Sachverhalt (Klocke, A. 2003, S.19):
Tab. 1. Ergebnisse des HBSC-Surveys 2002 zu den Sportgewohnheiten nach Geschlecht - in Prozent, n = 3405 (mod. nach Klocke, A. 2003, S. 19)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Es ist jedoch zu erwähnen, dass dabei nicht nur biologische oder soziokulturelle Faktoren eine Rolle spielen, sondern vor allem das individuelle Interesse der KiJus dieser Altersgruppe.
Laut den Ergebnissen der KiGGS-Studie nehme die Chance auf körperlich-sportliche Inaktivität beider Geschlechter im Alter von 11 bis 17 Jahren mit jedem Jahr im Schnitt um 30 % zu (Lampert et al. 2007a, S. 639f.). In der Adoleszenz, also während der späten Kindheit, der Pubertät und dem frühen Erwachsenenalter, werden die Heranwachsenden „die Träger ihres biographischen Selbst“ (Behnken & Zinnecker 2001) und erlangen so soziokulturelle Autonomie. Somit wird, wie in Kapitel 3.1 beschrieben, trotz Institutionalisierung, nicht nur eine selbständige Freizeitgestaltung von ihnen erwartet, die KiJus entscheiden sich auch für oder gegen eine körperlich-sportliche Aktivität. Den Zugang zu ihrer, subjektiv betrachtet, wichtigsten Sportart fänden sie laut MediKuS-Studie im Schnitt mit zwölf Jahren. Dieser Zeitpunkt der Partizipation ist sehr sportartspezifisch. Während die KiJus den Zugang zum Fußball im Schnitt mit 7 und den zum Reiten mit 8 Jahren finden, weckt beispielsweise das Joggen bzw. Laufen erst mit 15 Jahren ihr Interesse (Grgic & Züchner 2013, S. 123f.).
Neben Geschlecht und Alter ist auch die, in erster Linie vererbte, Konstitution ein entscheidender Bedingungsfaktor für die sportliche Aktivität. „Unter Konstitution werden die dauerhaften, weitgehend konstanten Merkmale des Körpers verstanden, die vor allem im Körperbau in Erscheinung treten und wesentliche morphologische und funktionelle Eigenschaften des Organismus umfassen“ (Schnabel et al., S. 193). Schnabel, Harre und Krug erwähnen, dass die wesentlichen konstitutionellen Faktoren für die Partizipation, je nach Sportart, die „Körperhöhe, Körpermasse und Relationen zur Körperhöhe, Körpermassenzusammensetzung, Körperproportionen [und der] Körperbautyp“ seien (ebd., S. 194).
Manche Sportarten haben bezüglich dieser Merkmale anthropometrische Mindestanforderungen. Jedoch ist zu erwähnen, dass eine sportliche Leistung von weiteren Faktoren abhängig ist, besonders den motorischen Fähigkeiten, die konditionelle und koordinative Determinanten inkludieren. Konditionelle Fähigkeiten sind primär energetische Prozesse wie Ausdauer, Kraft und Schnelligkeit:
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Abb. 1. Differenzierung motorischer Fähigkeiten (mod. nach Bös, 1987, S. 94)
Koordinative Fähigkeiten umfassen neben der Schnelligkeit die informationsorientierte Rhythmisierungs-, Differenzierungs-, Orientierungs-, Kopplungs-, Gleichgewichts-, Reaktions- und Umstellungsfähigkeit (Meinel & Schnabel 1987, S. 248ff.):
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Abb. 2. Strukturelles Gefüge der koordinativen Fähigkeiten (mod. nach Meinel & Schnabel, 1987, S. 258)
Diese motorischen Fähigkeiten stehen in engem Zusammenhang zu der Konstitution der KiJus. So sind große Sportlerinnen und Sportler beispielsweise beim Basket- oder Volleyball im Vorteil, haben allerdings Nachteile beim Turnen.
4.2 Soziale und ökonomische Faktoren
Nachteile in Bezug auf eine Sportpartizipation können auch aufgrund sozialer oder ökonomischer Faktoren zustande kommen. Dazu zählen beispielsweise das familiäre Umfeld, der Sozialstatus und Wohnort, aber auch ein die Nationalität der KiJus.
Die familiäre Determinante und der Sozialstatus bilden dabei ein größtenteils zusammenhängendes Konstrukt, denn die Heranwachsenden werden zwangsläufig in den Status ihrer Eltern hereingeboren. Laut HBSC-Studie sind Jungen aus ökonomisch benachteiligten Familien im Vergleich ca. zweimal häufiger sportlich inaktiv. Bei Mädchen ist dieses Phänomen sogar noch stärker ausgeprägt (Richter & Settertobulte 2003, S. 99ff.). Mögliche Gründe für dieses Verhalten sind auf der einen Seite das bereits thematisierte Verschwinden der Bewegungsstätten in eng besiedelten Sozialbauwohnungen sowie der durchschnittlich erhöhte TV-Konsum der unteren Schichten und auf der anderen Seite der finanzielle Aspekt. Geringere ökonomische Möglichkeiten zur Finanzierung von Beiträgen und Sportausrüstung führen zu einer Unterpräsenz der betroffenen Gesellschaftsgruppe in Vereinen (Lampert et al. 2007a, S. 641). Neben dem finanziellen Aspekt fehlt den KiJus häufig die zeitliche Unterstützung der Eltern oder eine durch ihre Peergroups ausgelöste Sozialisation zum Sport (Grgic & Züchner 2013, S. 92). Laut WIAD-Studie trieben Kinder aus sportlichen Elternhäusern mehr und selbstverständlicher Sport (Klaes et al. 2001). Auch die Art der institutionellen und informellen Aktivitäten variiere je nach Schichtzugehörigkeit der Eltern (Zerle 2008, S. 351).
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Abb. 3. Ergebnisse der MediKuS-Studie zur körperlich-sportlichen Aktivität der 9- bis 24-Jährigen in organisierten außerschulischen Institutionen - nach herkunftsbezogenen Merkmalen, n = 4.395 (Grgic & Züchner 2013)
Von ökonomischen Engpässen bzw. Armut betroffen sind häufig auch Migranten (Bundesministerium für Gesundheit und soziale Sicherung 2005). Die zusätzlichen kulturellen Barrieren führen dazu, dass besonders Mädchen mit Migrationshintergrund schwieriger den Zugang zu Sportvereinen finden (ebd.).
Der oben bereits erwähnte Einfluss des Wohnortes auf die Teilnahme an körperlich-sportlichen Aktivitäten, bzw. der Stadt-Land-Vergleich, ist umstritten, jedoch wird im Rahmen des Motorik-Moduls 2009 erwähnt, dass neben einem niedrigen Sozialstatus und Migrationshintergrund auch das Leben in einer Großstadt dazu führt, dass weniger Vereinssport ausgeführt wird (Bös et al. 2009).
Wenn einer oder mehrere der in diesem Kapitel beschriebenen Faktoren den KiJus eine Sportteilnahme erschweren bzw. das Interesse fehlt und sie ihre Freizeit eher mit sitzenden Tätigkeiten verbringen, kann dies schnell zu einem Mangel an Bewegung führen.
5. Auswirkungen von Bewegungsmangel
Als Bewegungsmangel wird im Folgenden „eine muskuläre Beanspruchung unterhalb einer individuellen Reizgrenze […], die zum Erhalt der funktionellen Kapazitäten des menschlichen Organismus notwendig wären“ (Hollmann & Hettinger 2000) bezeichnet.
Nachdem in Kapitel 2.2 bereits die Bedeutung von Bewegung und sportlicher Aktivität erläutert und anschließend die aktuellen Bedingungen und Möglichkeiten für eine Teilnahme der KiJus an sportlichen Prozessen erklärt wurden, sollen nun einige Folgen einer passiven Alltagsgestaltung dargestellt werden. An dieser Stelle könnte natürlich darauf verwiesen werden, dass, mit Blick auf Kapitel 2.2, ein Bewegungsmangel jegliche positive Auswirkungen von körperlicher Aktivität verhindert. Aus diesem Grund wird der Fokus hier besonders auf die Stoffwechselstörungen und motorischen Fähigkeiten gelegt.
Neben Haltungsschäden, psychosozialen Störungen, einem verminderten Selbstwertgefühl und Verhaltensauffälligkeiten (vgl. Opper et al. 2005; Woll & Bös 2004) kommt es in Folge eines passiven Lebensstils häufig auch zu Übergewicht, Adipositas[5] und Erkrankungen wie beispielsweise Diabetes mellitus[6]. Eine extreme körperliche Inaktivität reduziert zudem die maximale Sauerstoffaufnahme (vgl. Friman 1979, zitiert nach: Graf et al. 2007) sowie die Muskelkraft (Bloomfield 1997, zitiert nach: Graf et al. 2007).
Werden neben einem Mangel an Bewegung noch kalorienreiche Nahrungsmittel konsumiert, die zahlreich in der Fernsehwerbung vermarktet werden, so wird um einiges mehr Energie über Kohlenhydrate und Fette aufgenommen als verbraucht werden kann. Laut WHO habe sich so zwischen 1986 und 2006 die Zahl der Übergewichtigen verdreifacht (Hempel 2006, S. 27). Mit der später ausführlich thematisierten KiGGS-Studie konnte gezeigt werden, dass inzwischen ca. 18 % der 11- bis 17-Jährigen als übergewichtig und 8 % sogar als adipös eingestuft werden können (Kurth & Schaffrath Rosario 2007, S. 736ff.). Dies entspricht absoluten Zahlen von etwa 1,9 Millionen Übergewichtigen und 800.000 Adipösen allein in dieser Altersgruppe[7].
Dass ein durch sitzende Freizeitbeschäftigungen hervorgerufener Bewegungsmangel nachweislich im Zusammenhang mit Übergewicht und Adipositas steht, konnten Andersen et al. bereits 1998 (S. 938 ff.) nachweisen. Dieser Zusammenhang wurde auch von der WHO-Jugendgesundheitsstudie HBSC bestätigt. „Bereits bei Kindergartenkindern korreliert ein erhöhter Fernsehkonsum mit Übergewicht“, so Rapp et al. (2005, S. 642 ff.).
Wenn bereits ein Übergewicht vorliegt, weisen betroffene KiJus im Vergleich zu Gleichaltrigen eine geringere motorische Leistungsfähigkeit auf (Graf et al. 2007, S. 75), die sich besonders bei ganzkörperlichen Übungen zur Kondition und Koordination zeigt (Bös et al. 2009, S.261). Die schlechteren Leistungen fördern eine zunehmende Inaktivität. Die Heranwachsenden befinden sich nun in einem Teufelskreis, nehmen aufgrund eines geringen Selbstwertgefühls oder der fehlenden körperlichen Möglichkeiten seltener an bewegungsaktiven Freizeitbeschäftigungen teil und erhöhen damit das Risiko von Folgeerkrankungen.
[...]
[1] Im Folgenden werden Kinder und Jugendliche verkürzt als „KiJus“ bezeichnet.
[2] Elektronische Medien und neue Medien werden in dieser Arbeit als Synonyme verwendet und inkludieren Fernsehen, Computer, Internet und Spielkonsolen.
[3] Die Kausalität, die der Begriff „Determinante“ impliziert, ist bei einigen der beschriebenen Fälle nicht belegt.
[4] HBSC steht für „Health Behaviour in School-aged Children“ und ist eine von der Weltgesundheitsorganisation WHO durchgeführte Kinder- und Jugendgesundheits- studie.
[5] Als Adipositas wird starkes Übergewicht, bzw. ein chronisch erhöhter Anteil von Fettgewebe am Körpergewicht, bezeichnet.
[6] Bei Kindern und Jugendlichen kommt besonders Diabetes mellitus Typ 1 vor, der einen Insulinmangel mit sich bringt. Typ 2 kommt häufig erst im Erwachsenenalter vor und beruht auf einer Insulinresistenz sowie Funktionseinschränkung der insulinproduzierenden Betazellen. Die Folge ist ein überhöhter Blutzuckerspiegel.
[7] Zur Erfassung von Übergewicht und Adipositas dient der BMI (Body Mass Index). „Wenn der BMI-Wert oberhalb des 90. Alters- und geschlechtsspezifischen Perzentils einer definierten Vergleichsgruppe […] liegt, d.h., wenn der BMI so hoch ist wie bei den 10% schwersten Mädchen und Jungen im jeweiligen Jahrgang der Referenzgruppe“ gelten KiJus als übergewichtig. Oberhalb des 97. Perzentils spricht man von Adipositas (Kurth & Schaffrath Osario, S. 737).