40 Jahre nach seinem Inkrafttreten 1976 steht das deutsche Mitbestimmungsrecht am Scheideweg. In einem aktienrechtlichen Statusverfahren gem. § 98 AktG ersucht das KG Berlin durch Vorlagebeschluss vom 16. Oktober 2015 den EuGH gem. Art. 267 AEUV um Vorabentscheidung in der Frage, ob die Nichteinbeziehung von Auslandsbelegschaften in die deutsche Unternehmensmitbestimmung das primärrechtliche Diskriminierungsverbot gem. Art. 18 AEUV verletzt und darüber hinaus die Freizügigkeit nach Art. 45 AEUV zulasten der deutschen Arbeitnehmer beschränkt.
Die singuläre Stellung, die das deutsche Mitbestimmungsrecht im europäischen und internationalen Kontext einnimmt, ist das Resultat eines durch politische Kompromisse geprägten und von sozialethischen Diskussionen begleiteten Prozesses. Die dem EuGH zur Vorabentscheidung nun vorliegende Frage könnte zu einer drastischen Neujustierung des bislang national ausgerichteten Mitbestimmungsrechts führen. Ob die für 2017 aus Luxemburg erwartete Entscheidung eine grenzüberschreitende Ausdehnung oder vielmehr die Nichtanwendbarkeit der Mitbestimmungsgesetze bedingen wird, erscheint derweil völlig offen. Die Beantwortung dieser Frage durch den EuGH wird nicht nur von den Protagonisten einer über Jahre kontrovers geführten Diskussion im Schrifttum herbeigesehnt, sondern ist auch für die Besetzungspraxis multinational agierender Unternehmen mit Sitz in Deutschland von eminenter Bedeutung. Insbesondere Konzernmuttergesellschaften, die wie die TUI AG im Ausgangsrechtsstreit den Großteil ihrer Belegschaft im Ausland beschäftigen, wären betroffen. Dies gilt umso mehr in Anbetracht der mannigfaltigen ökonomischen und soziokulturellen Effekte der Mitbestimmung auf die von ihr betroffenen Unternehmen.
Im Lichte des Vorlageersuchens des KG Berlin stellt sich damit die Frage, welche Argumente für und welche gegen die vom Antragsteller des Ausgangsverfahrens behauptete Unionsrechtswidrigkeit des deutschen Mitbestimmungsrechts sprechen. Um das Meinungsspektrum zu skizzieren, auf dessen Grundlage der EuGH sein Verdikt erlassen wird, werden die konkurrierenden Positionen innerhalb der deutschen Judikatur sowie des Schrifttums mit Blick auf die im Vorlagebeschluss aufgeworfenen Rechtsfragen gegenübergestellt und einer kritischen Würdigung unterzogen. Untrennbar mit dem Vorlageersuchen verbunden ist zudem die Frage nach den Rechtsfolgen eines unterstellten Primärrechtsverstoßes.
Inhaltsverzeichnis
- A. EINLEITUNG
- B. HINTERGRUND DES VORLAGEBESCHLUSSES
- I. Rechtspolitische Ausgangslage
- II. Juristische Ausgangslage
- 1. Kollisionsrechtliche Anknüpfung des Mitbestimmungsrechts
- 2. Keine exterritoriale Erstreckung
- 3. Renaissance der These von der Unionsrechtswidrigkeit?
- a.) Im Schrifttum
- b.) In der Rechtsprechung
- aa.) Einheitliche Position zur Unionsrechtsvereinbarkeit
- bb.) Uneinheitliche Position hinsichtlich der Rechtsfolgenseite
- cc.) Berücksichtigung bei der Schwellenwertermittlung
- 4. Zwischenbefund
- C. DER VORLAGEBSCHLUSS DES KG BERLIN
- I. Sachverhalt
- II. Begründung des Vorlagebeschlusses
- D. UNIONSRECHTSKONFORMITÄT
- 1. Prüfungsmaßstab
- 2. Eröffnung des sachlichen Anwendungsbereichs
- a.) Meinungsstand in Literatur und Judikatur
- b.) Stellungnahme
- 3. Mittelbare Diskriminierung ausländischer Arbeitnehmer
- a.) Teilhabediskriminierung
- I. Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot
- (aa) Meinungsstand in Literatur und Judikatur
- (bb) Stellungnahme
- b.) Kein Harmonisierungsgebot durch Diskriminierungsverbot
- aa.) Meinungsstand in Literatur und Judikatur
- bb.) Stellungnahme
- (1) Vergleichsgruppenbildung
- (2) Stellungnahme
- I. Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot
- II. Verstoß gegen das Beschränkungsverbott
- 1. Meinungsstand in Literatur und Judikatur
- 2. Stellungnahme
- a.) Sonderfall: Verlust des Aufsichtsratsmandats
- Iaa.) Meinungsstand in Literatur und Judikatur
- bb.) Stellungnahme
- b.) Zwischenbefund
- a.) Sonderfall: Verlust des Aufsichtsratsmandats
- III. Allgemeiner Grundsatz der Betroffenenbeteiligung
- IV. Rechtfertigung
- 1. Territorialitätsprinzip
- a.) Zwischenbefund
- (1) Verpflichtung der Konzernspitze
- b.) Justiziabilität
- aa.) Stellungnahme
- bb.) Praktikabilitätserwägungen
- cc.) Regelungsalternativen de lege ferenda
- (2) Verhandlungsmodell nach dem Vorbild der SE
- (3) Bestellung durch den Europäischen Betriebsrat
- (4) Bestellung durch Organe der deutschen Betriebsverfassung
- 2. Fehlen praktikabler Alternativvorschläge
- 1. Territorialitätsprinzip
- a.) Teilhabediskriminierung
- E. RECHTSFOLGEN EINES UNTERSTELLTEN PRIMÄRRECHTSVERSTOßES
- I. These von der Unanwendbarkeit des Mitbestimmungsrechts
- 1. Kritik
- 2. Stellungnahme
- II. Unionsrechtskonforme Auslegung
- 1. Kritik
- 2. Stellungnahme
- III. Zwischenbefund
- I. These von der Unanwendbarkeit des Mitbestimmungsrechts
- F. SCHLUSSBETRACHTUNG UND AUSBLICK
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die Arbeit befasst sich mit der Frage der Unionsrechtskonformität der deutschen Mitbestimmungsregelungen im Kontext von europäischen Konzernen. Im Fokus steht dabei die Rechtsprechung des EuGH, insbesondere im Hinblick auf die Frage, ob die deutsche Mitbestimmungsregelung mit dem europäischen Recht vereinbar ist.
- Kollisionsrechtliche Anknüpfung des Mitbestimmungsrechts im europäischen Kontext
- Die These von der Unionsrechtswidrigkeit der deutschen Mitbestimmungsregelungen
- Diskriminierung ausländischer Arbeitnehmer durch die deutsche Mitbestimmungsregelung
- Rechtfertigungsgründe für die deutsche Mitbestimmungsregelung
- Mögliche Rechtsfolgen eines Unionsrechtsverstoßes der deutschen Mitbestimmungsregelung
Zusammenfassung der Kapitel
Die Arbeit beginnt mit einer Einleitung, die den Gegenstand und den Aufbau der Arbeit erläutert. Anschließend wird der Hintergrund des Vorlagebeschlusses des Kammergerichts Berlin (KG) dargestellt, wobei insbesondere auf die rechtspolitische und juristische Ausgangslage eingegangen wird. Hierbei werden die verschiedenen Ansichten in Literatur und Rechtsprechung zum Thema der Unionsrechtskonformität der deutschen Mitbestimmungsregelungen dargestellt.
Im Kapitel D. "Unionsrechtskonformität" werden die Kriterien für die Prüfung der Unionsrechtskonformität erörtert und auf den sachlichen Anwendungsbereich der deutschen Mitbestimmungsregelungen im europäischen Kontext eingegangen. Es werden die Argumente und Standpunkte zu den Themen der Diskriminierung ausländischer Arbeitnehmer, des Beschränkungsverbots und des allgemeinen Grundsatzes der Betroffenenbeteiligung dargestellt. Des Weiteren werden die Rechtfertigungsgründe für die deutsche Mitbestimmungsregelung analysiert, wobei insbesondere auf das Territorialitätsprinzip und die Frage der Justiziabilität eingegangen wird.
Im Kapitel E. "Rechtsfolgen eines unterstellten Primärrechtsverstoßes" werden die verschiedenen Rechtsfolgen eines möglichen Unionsrechtsverstoßes der deutschen Mitbestimmungsregelungen diskutiert. Es werden die Thesen der Unanwendbarkeit des Mitbestimmungsrechts und der unionsrechtskonformen Auslegung erörtert und kritisch beleuchtet.
Schlüsselwörter
Mitbestimmung, Unternehmensmitbestimmung, Europäisches Recht, Unionsrecht, EuGH, Rechtsprechung, Vorlagebeschlusses, Kollisionsrecht, Diskriminierung, Beschränkung, Rechtfertigung, Territorialitätsprinzip, Justiziabilität, Unanwendbarkeit, unionsrechtskonforme Auslegung, Rechtsfolgen.
- Arbeit zitieren
- Janosch Engelhardt (Autor:in), 2016, Deutsche Mitbestimmungsregelungen auf dem Prüfstand des EuGH, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/335129