Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Begriffsdefinitionen
2.1 Die Novelle
2.2 Kultur, Stereotype, kulturelle Identität und Kulturkontakt
2.2.1 Kultur
2.2.2 Stereotype
2.2.3 Kulturelle Identität
2.2.4 Kulturkontakt
3.Analyse des Kulturkontakts und seiner Darstellung in Le Silence de la Mer
3.1 Die Voraussetzungen des Kulturkontakts in der Novelle
3.2 Der Beginn des Kulturkontakts und die Sicht der Kulturen aufeinander
3.3 Der Verlauf des Kulturkontakts und die Veränderungen im Verhältnis der Protagonisten
4. Zusammenfassung und Ausblick
5. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Je pensais que la pesanteur de notre silence ne pourrait pas être secouée. Que l’homme allait nous saluer et partir. Mais le bourdonnement sourd et chantant s’éleva de nouveau, on ne peut dire qu’il rompit le silence, ce fut plutôt comme s’il en était né. « J’aimai toujours la France », dit l’officier sans bouger[1].
Kein literarisches Werk der französischen Résistance-Bewegung ist so populär geworden wie Vercors’ Le Silence de la Mer [2]. Aufgrund seiner Vieldeutigkeit und hohen Symbolkraft vereint es den Aufruf zum Widerstand gegen die deutsche Besatzung mit literarischem Anspruch. Unabhängig davon spiegelt Vercors’ Werk das Lebensgefühl einer nicht traditionellen[3] französischen Familie auf dem Land und ihren persönlichen Umgang mit der deutschen Besatzung wider. Durch eine authentische Darstellung der Protagonisten ermöglicht Vercors dem Leser eine Identifikation mit den Charakteren und erzielt daher einen hohen Grad an Authentizität. Daher eignet sich Le Silence de la Mer im besonderen Maße für die gezielte literaturwissenschaftliche Analyse.
Im Mittelpunkt dieser Arbeit soll jedoch nicht die bereits vielfach durchgeführte, aber dennoch nicht vollständig abgeschlossene, Analyse der Symbolkraft von Vercors’ Werk stehen. Es wird vielmehr versucht, den analytischen Blick auf den Kulturkontakt, ein bisher in der gesamten Literaturwissenschaft selten untersuchtes Thema, zu lenken. Ausgangspunkt ist hierbei die Annahme, dass die in Le Silence de la Mer vorkommenden Protagonisten, das heißt der französische Erzähler[4], seine mit ihm in einem Haus lebende Nichte und der bei ihnen einquartierte deutsche Offizier Werner von Ebrannac, ein fester Bestandteil ihrer jeweiligen Kulturen sind. Unter dieser Prämisse treten sie, im Rahmen der besonderen Besatzungssituation, in Kontakt mit Vertretern der jeweils anderen, während des Zweiten Weltkriegs sogar verfeindeten, Kultur, wobei es zwangsläufig zu einem Kulturkontakt kommt.
Das Ziel des zweiten Kapitels der vorliegenden Arbeit ist zum Einen die Definition der für die folgende Analyse relevanten Fachbegriffe[5]. Zum Anderen soll durch die Auseinandersetzung mit dem Phänomen ‚Kulturkontakt‘ ein Beitrag zu dessen genauerer Definierbarkeit geleistet werden. Im dritten Kapitel der Arbeit wird der Kulturkontakt in Vercors’ Le Silence de la Mer unter Zuhilfenahme relevanter Sekundärliteratur analysiert. Hier wird wiederum unterschieden zwischen der Untersuchung der Voraussetzungen, unter denen der Kulturkontakt abläuft (Kapitel 3.1 und 3.2) und der Analyse des eigentlichen kulturellen Kontakts sowie seiner Auswirkungen auf die an ihm Beteiligten (Kapitel 3.3). In der Analyse wird zunächst vorausgesetzt, dass das Zusammentreffen der drei Protagonisten mit einem Kulturkontakt gleichzusetzen ist. Abgerundet wird die vorliegende Arbeit durch eine Zusammenfassung der Analyseergebnisse und einen Ausblick auf weitere interessante Analyseansätze (Kapitel 4), die in dieser Arbeit unberücksichtigt geblieben sind. Des Weiteren wird im letzten Kapitel dieser Arbeit darauf eingegangen, ob es sich tatsächlich um einen Kulturkontakt handelt und welche Wirkungen dieser auf die Protagonisten hat.
2. Begriffsdefinitionen
2.1 Die Novelle
Das Wort Novelle wurde von dem italienischen Wort novella abgeleitet und bezeichnet eine „kurze Erzählung einer als >neu< angezeigten Begebenheit“[6]. Dem Literaturwissenschaftlichen Wörterbuch für Romanisten zufolge ist der ursprüngliche Sinn des Wortes Novelle „‘frische‘ Begebenheit, Neuigkeit, Neuheit“[7], wobei die Novellenstoffe nicht nur auf tatsächliche Ereignisse mit sensationellem Anflug oder auf die Erfindungsgabe der Autoren zurückgingen, sondern sich ebenso häufig auf alte Überlieferungen, meist orientalischer Herkunft, stützten[8]. Folglich bestehe das Merkmal der Neuartigkeit viel eher in der Erzähltechnik, mit deren Hilfe ein bekannter Stoff neu pointiert würde[9]. Per Definitionem ist die Novelle eine „einsträngige, auf einen Höhepunkt konzentrierte Prosaerzählung“[10], die durch ihre mittlere Länge, ihre geschlossene Form und einen „vorgebliche[n] Anspruch auf Faktenwahrheit bei gleichzeitiger Ästhetisierung“[11] gekennzeichnet ist.
Das Literaturwissenschaftliche Wörterbuch für Romanisten ergänzt diese Merkmale um die relative Kürze, die zeitliche und sachliche Raffung der Ereignisse, die „deutliche Markierung einer Haupthandlung, den « Einzelfall » und die Konzentration auf zwei, drei, jedoch selten mehr Hauptpersonen“[12]. Hervorgehoben wird zudem die Formstrenge der Novelle, welche durch eine Rahmenerzählung gewährleistet wird, die „die Aufgabe erzählerischer Organisation“[13] übernimmt und den Anlass des Erzählens, die Art und Abfolge der Novellen sowie deren mögliche Kommentierung beinhaltet[14]. Laut L. Tieck ist jede Novelle durch einen inhaltlichen Wendepunkt gekennzeichnet, „an dem sich das Geschehen unerwartet umkehr[t]“[15]. Aus inhaltlicher Sicht verfügt jede Novelle laut P. Heyses Falkentheorie über ein „leitmotivische[s] Spezifikum[…]“[16], ein Grundmotiv, auf das sich die Handlung der Novelle reduzieren lässt[17]. Eine Besonderheit dieser Erzählform ist die Verbindung mehrerer, auch inhaltlich verschiedener, Novellen innerhalb einer gemeinsamen Rahmenhandlung, welche als Novellenzyklus bezeichnet wird[18]. In einem solchen Erzählzyklus, wie beispielsweise Giovanni de Boccaccios Werk Il Decamerone, wird „ein Erzählanlass fingiert […], etwa eine Erzählgemeinschaft, die sich durch kurze, mündlich vorgetragene Geschichten unterhält“[19]. Dieser Erzählanlass bildet dann den Erzählrahmen, durch den die einzelnen Novellen miteinander verbunden werden[20]. Die Novelle ist eine besondere Form der Erzählung. Da nicht alle genannten Merkmale ausnahmslos auf jede Novelle zutreffen ist sie zum Einen nicht eindeutig und endgültig definierbar und zum Anderen nur schwer von anderen Erzählformen, wie beispielsweise dem Roman, abzugrenzen[21].
2.2 Kultur, Stereotype, kulturelle Identität und Kulturkontakt
2.2.1 Kultur
Das Wort Kultur wurde von dem lateinischen Wort cultura abgeleitet und bedeutete ursprünglich „Pflege“ und „Landbau“[22]. Diese Bedeutung hat im Laufe der Zeit einen Wandel erfahren[23], was sich am besten anhand von E.B. Tylors deskriptiver und wissenschaftlicher Definition von Kultur feststellen lässt. Tylor definiert Kultur als „das komplexe Ganze, das Wissen, Überzeugungen, Kunst, Gesetze, Moral, Tradition und jede andere Fertigkeit und Gewohnheit einschließt, die Menschen als Mitglieder einer Gesellschaft erwerben“[24]. Zur Kultur einer jeweiligen Gesellschaft oder gar Nation[25] gehören folglich ihr Wissen und ihre Überzeugungen, Gesetze, Normen und Werte, Moral, ihre Literatur, ihre Kunst und ihre Sprache. Diese Eigenschaften machen eine Kultur einzigartig und von anderen Kulturen unterscheidbar. Insbesondere „ästhetische Normen“[26] wie die Sprache, Literatur, Musik und Kunst einer Nation, aber auch beispielsweise Nationalgerichte und –getränke wirken oft nach außen und werden von anderen Nationen als für diese Nation typisch wahrgenommen. Dabei besteht jedoch stets die Gefahr der Vereinfachung des Wahrgenommenen, die zur Komplexitätsreduktion und damit zur Entlastung des Gedächtnisses dient[27]. Das Ergebnis dieser Vereinfachung kann eine Stereotypisierung sein. Da Stereotype in der Analyse von Le Silence de la Mer von Bedeutung sind, wird der Begriff ‚Stereotyp‘ im folgenden Teil der Arbeit zunächst definiert, wobei anschließend zwei Arten von Stereotypen genauer beschrieben werden.
2.2.2 Stereotype
Der Begriff ‚Stereotyp‘ setzt sich aus den griechischen Wörtern stereós „starr, fest, standhaft“ und typos „Gestalt“ zusammen[28]. Der Stereotyp war ursprünglich ein Ausdruck in der Buchdruckerkunst, wo er einen feststehenden Schriftsatz bezeichnete[29]. Florack betont, dass der Begriff ‚Stereotyp‘ seit dem 19. Jahrhundert „im übertragenen Sinn von ‚starr‘, ‘vorfabriziert‘ [und] ‚massenhaft verbreitet‘“ verwendet wird und seitdem deutlich negativ konnotiert ist[30]. In der Sozialpsychologie[31] werden Stereotype als „Hypothesen über soziale Gruppen“[32] definiert. Sie beinhalten subjektiv erwartete, nicht wissenschaftlich belegte, Zusammenhänge zwischen den Eigenschaften einer Person und ihrer Gruppenzugehörigkeit[33] und spielen „eine Rolle in der – immer schon erwartungsgesteuerten – Informationsverarbeitung“[34]. Laut Wieser spielen solche „stereotypisierte[n] Kategorien meist auf schlichteste zumeist negative Eigenschaften“[35] an. Florack zufolge bieten Stereotype „dem Individuum Orientierungshilfen und vermitteln innerhalb der sozialen Gruppe, die sich mit ihrer Hilfe verständigt, ein Gefühl kollektiven Zusammenhalts“[36]. Des Weiteren behauptet Sztumski, dass Stereotype in einem hohen Grad durch die Gefühle bestimmt sind, die wir mit ihnen verbinden[37].
Stereotype können unter Anderem durch die Massenmedien, die Erziehung oder durch die Meinungen unserer Mitmenschen gebildet werden[38]. Die Entstehung von Stereotypen lässt sich aus sozialpsychologischer Sicht auf das menschliche Bedürfnis zurückführen, „die Umwelt zu verstehen, vorauszubestimmen, zu ordnen und (potentiell) zu kontrollieren“[39]. Folglich können Stereotype auch als „soziale Ordnungsschemata“[40] angesehen werden. Des Weiteren dienen sie der Komplexitätsreduktion und stellen somit eine Möglichkeit zur Anpassung der Komplexität der Welt an die begrenzten kognitiven Fähigkeiten des Menschen dar[41]. Die auf bestimmten Merkmalen basierende Kategorisierung von Menschen und Merkgegenständen erleichtert deren Einordnung und Einprägung[42]. Laut Sztumski vereinfachen Stereotype die menschliche Wahrnehmung nicht nur, sondern verfälschen sie auch, sodass das durch Stereotype geprägte und daher eingeschränkte menschliche Sichtfeld „in verschiedenen Lebenssituationen irrationales Denken und Verhalten evozieren“[43] kann.
Die eindeutige Unterscheidung von Stereotypen und Vorurteilen ist schwierig, da beide Begriffe häufig synonym benutzt werden[44]. In der Wissenschaft bemüht man sich jedoch um eine Unterscheidung der beiden Phänomene, die im Folgenden kurz skizziert wird. Sztumski betrachtet Stereotype als Vorstufe der Vorurteile, wenn er behauptet, dass sich stereotypisierte Wahrnehmungen im Allgemeinen und besonders rassistische Stereotype zu Vorurteilen verhärten können[45]. Während ein „etabliertes Stereotyp […] durch ein ‚Konterstereotyp‘ angegriffen, verdrängt oder ergänzt werden [kann]“[46], können Vorurteile kaum noch widerlegt oder abgeschafft werden[47]. Sztumski argumentiert, dass Vorurteile „sowohl korrekte Gedankengänge als auch den Einsatz des gesunden Menschenverstands in bezug [sic] auf das Objekt des Vorurteils“[48] unmöglich machen würden. Auch in der Sozialpsychologie wird eine klare Unterscheidung zwischen Stereotypen und Vorurteilen vorgenommen. Hier bezeichnet der Begriff Stereotyp „kognitive Prozesse der Unterscheidung und Verallgemeinerung“[49], während sich der Begriff des Vorurteils auf „affektive Prozesse der Abwertung“[50] bezieht. Florack betont zudem, dass auch die Begriffe Klischee und Stereotyp, die „in nicht-wissenschaftlicher Rede gewöhnlich […] gleichgesetzt [werden]“[51], nicht synonym verwendet werden sollten[52]. Im Folgenden sollen nun zwei Arten von Stereotypen genauer definiert werden, die für die Analyse von Le Silence de la Mer von Bedeutung sind.
Nationalstereotype sind Stereotype, nach denen Nationen sich gegenseitig und sich selbst bestimmte Merkmale und Eigenschaften zuschreiben[53]. Die Erschaffung nationaler Stereotype ist Florack zufolge notwendig, da kulturelle Unterschiede zwischen verschiedenen Nationen vergleichbarer werden, wenn man sie auf solche nationalen Stereotype reduziert[54]. Gleichzeitig sind nationale Stereotype jedoch auch ein Ausdruck „erstarrten Denkens“[55] und erschweren die Annäherung der verschiedenen Kulturen. Ruth Florack betont, dass die Entwicklung nationaler Stereotype gerade durch die gegenwärtigen Verhältnisse, das heißt durch die „immer engeren und vielfältigeren Kontakte zwischen dem >Fremden< und dem >Eigenen<“[56], begünstigt wird[57]. Als positiven Aspekt hebt Florack hervor, dass das stereotypisierte Wissen über die Eigenheiten fremder Kulturen helfe, im unmittelbaren Kontakt Missverständnissen im Umgang mit dem anderen vorzubeugen[58]. Bezüglich der Entstehung und Kontinuität nationaler Stereotype stellt Florack fest, dass nationale Stereotype bereits seit der frühen Neuzeit „als feste Merkmalszuschreibungen für einzelne Völker“[59] existieren und oftmals bereits dem Bild entsprechen, was Menschen anderer Nationen heute noch über eine bestimmte Nation haben[60]. Folglich sind nationale Stereotype älter „als die Feindbilder aus den Zeiten des Nationalismus“[61]. Zu dieser Erkenntnis kommt auch Bock, wenn er feststellt, dass sich bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts auch in der Wissenschaft eine „Vorstellung von den weithin gleichbleibenden Wesenszügen der Nationen“[62] als Teil ihrer „natürlichen Ausstattung“[63] hielt[64]. Bock stellt ergänzend fest, dass sich der „Generalcharakter“[65] einer Nation bis zum Ersten Weltkrieg vorwiegend aus „der Ansammlung und Überlieferung gesellschaftlicher Urteile aus dem Verkehr der Nationen untereinander“[66], das heißt aus dem Bild der Anderen über diese Nation, zusammensetzte. Nationale Stereotype können Boeree zufolge dadurch verstärkt werden, dass die Menschen einer Nation im Kontakt mit den Menschen anderer ethnischer Gruppen ihren Stolz zeigen, „indem [sie] die eigene ‚Ethnizität‘ übertrieben zu Schau stell[en]“[67]. Laut Wieser lassen sich solche gefestigten Stereotype nur schwer unterdrücken und sind aufgrund ihrer „offenkundigen Funktionalität“[68] nahezu unüberwindbar[69]. Dies ist Sztumski zufolge auch auf die Bereitschaft der Menschen zurückzuführen, alles zu ignorieren, was dem Stereotyp widersprechen würde und selektiv das wahrzunehmen, was ihr vorgefertigtes Bild bestätigt[70].
Bei der Erschaffung eines rassistischen Stereotyps wird einer Bevölkerungsgruppe meist ein äußerliches Merkmal zugeordnet, an dem man deren Gruppenzugehörigkeit ‚erkennen‘ kann. Diese bestimmten körperlichen Merkmale würden, den ‚Thesen Gobineaus‘[71] zufolge, „immer von bestimmten seelischen Merkmalen begleitet“[72]. Zu solch einem äußerlichen Merkmal zählt beispielsweise die „‘jüdische Nase‘, eine Hakennase, an der man […] eindeutig Juden erkennen könnte“[73], wobei gleichzeitig angenommen wurde, dass die Juden „von ‚Natur aus‘ klüger seien“[74]. Dass die Religionszugehörigkeit nicht anhand des Aussehens identifiziert werden kann und dass nicht alle Anhänger einer Religion über ein bestimmtes charakterliches Merkmal oder eine bestimmte geistige Fähigkeit verfügen können, wird in diesem Beispiel für ein rassistisches Stereotyp ignoriert. Zu dieser Erkenntnis kommt auch Sztumski, da er behauptet, dass rassistische Stereotype „nicht leicht mit Vernunftargumenten zu überwinden [sind]“[75]. Auch der Kulturkontakt in Le Silence de la Mer ist durch Stereotype geprägt. Vor der Analyse des Werkes in Kapitel drei werden jedoch zunächst die Begriffe kulturelle Identität und Kulturkontakt definiert, da sie für die Analysearbeit ebenfalls von Bedeutung sind.
2.2.3 Kulturelle Identität
Der Begriff der kulturellen Identität umfasst in seiner allgemeinen Bedeutung die Identifikation eines Individuums mit einer bestimmten Kultur. Diese äußert sich in der Nutzung beziehungsweise Beachtung spezifischer kultureller Güter, beispielsweise einer kultureigenen Sprache, Normen und Werten oder auch einer über das Individuum hinausgehenden „materiellen Kultur“[76], wie etwa Kunst, Literatur oder Musik[77]. Orientiert sich eine Gruppe von Individuen an denselben kulturellen Gütern, identifiziert sich also mit derselben Kultur, erzeugt dies ebenfalls eine kulturelle Identität. Diese Form der kulturellen Identität ist mit der kollektiven Identität gleichzusetzen. Dem Metzler Lexikon für Literatur- und Kulturtheorie zufolge ist die kollektive Identität „an die Ausbildung gruppenspezifischer Kulturformen [gebunden]“[78], die der ständigen „Binnenstärkung“[79] durch das kulturelle Gedächtnis in Form von Ritualen, festen Einheitssymbolen und –mythen sowie durch das „stigmatisierende Konstrukt einer kollektiven Alterität“[80] bedürfe, um sich ihrer Singularität zu bestätigen[81]. Dieser Definition zufolge ist die kollektive Identität durch ihr Bedürfnis nach Binnenstärkung annähernd mit einer nationalen Identität gleichzusetzen, wobei sich in beiden Fällen eine Gruppe von Individuen aufgrund von kulturellen Gemeinsamkeiten zusammengehörig fühlt. Folglich ist die kollektive Identität meist auch eine kulturelle Identität.
2.2.4 Kulturkontakt
Damit die gegenseitige Wahrnehmung der Kulturen und das Verhältnis der Protagonisten in Le Silence de la Mer optimal untersucht werden können, wird im Folgenden das Phänomen ‚Kulturkontakt‘ definiert. „Unter Kulturkontakt wird […] die persönliche Begegnung von Mitgliedern unterschiedlicher Kultur aller Gruppen in einem gemeinsamen realen Rahmen verstanden, in dem face-to-face eine synchrone Kommunikation stattfindet“[82]. Obwohl Endres Definition von Kulturkontakt zunächst relativ nachvollziehbar erscheint, bleibt sie doch allgemein. Durch die Lektüre der relevanten Fachliteratur[83] und ein Gespräch mit Professor Klaus Hock, dem Vorsitzenden des Graduiertenkollegs „Kulturkontakt und Wissenschaftsdiskurs“ an der Universität Rostock, wurde deutlich, dass das Phänomen Kulturkontakt sehr viel komplexer und nur sehr schwer, wenn überhaupt, definierbar ist. Die relevanten Aspekte werden im Folgenden dennoch zusammengefasst, da eine begriffliche Grundlage für die Analysearbeit mit Le Silence de la Mer geschaffen werden soll. Johannes Fabian[84] betont, dass der Begriff ‚Kulturkontakt‘ im Allgemeinen die Begegnungen zwischen Menschen bezeichnet, wobei diese nicht zwingend verschiedener kultureller Herkunft sein müssen. Im Gegensatz dazu bezeichnet ‚Kulturkontakt‘ Klaus Hock zufolge im Allgemeinen jegliche Form des Zusammentreffens oder Zusammenlebens zweier oder mehrerer Gruppen, wobei sich diese in den für ihre Kultur typischen Merkmalen, wie beispielsweise ihrer Sprache und Religion, voneinander unterscheiden[85]. Kulturkontakte können auf freiwilliger oder unfreiwilliger Basis entstehen. Während Menschen verschiedener Kultur und kultureller Identität beispielsweise durch den Handel untereinander freiwillig in Kontakt treten können, sind die durch Zwangsverschleppung, Flucht und Eroberung herbeigeführten Kulturkontakte, zumindest für eine der beteiligten Gruppen, unfreiwillig[86]. Das Phänomen Kulturkontakt kann sich in den verschiedensten Formen äußern[87]. Diese umfassen sowohl dualistische, sowie hierarchische Beziehungen zwischen den Kulturen, als auch, vor allem als Phänomen der Gegenwart, komplexere Formen, etwa multikulturell geprägte Gesellschaften[88]. Unabhängig von den Ursachen und Ausprägungen des Kulturkontakts führt dieser nicht nur zur Auseinandersetzung mit der jeweils anderen Kultur, sondern auch zu der Entwicklung mehr oder weniger hybrider Gemeinwesen, hervorgerufen durch die Vermischung der Elemente zusammentreffender Kulturen[89]. Als Folge früherer Kulturkontakte und durch die Dekolonisierung und Globalisierung sind so beispielsweise die modernen kulturell heterogenen Gemeinschaften entstanden[90]. Kulturkontakt bewirkt daher auch eine Auseinandersetzung mit und eine Neuausrichtung der individuellen kulturellen Identität, die sich, vor allem auf die gegenwärtige Situation bezogen, zunehmend im Spannungsfeld von Lokalität und Globalität, auch als ‚Glokalisation‘ und ‚Glocal Clash‘ bezeichnet, befindet[91].
3. Analyse des Kulturkontakts und seiner Darstellung in Le Silence de la Mer
3.1 Die Voraussetzungen des Kulturkontakts in der Novelle
Bevor der Ablauf des Kulturkontakts in Le Silence de la Mer und die durch ihn hervorgerufenen Veränderungen analysiert werden, sollen in diesem Kapitel zunächst die Bedingungen, unter denen der Kulturkontakt stattfindet, untersucht werden. Die wichtigste Voraussetzung für das Zustandekommen des Kulturkontakts zwischen dem französischen Mann, seiner Nichte und dem deutschen Offizier ist der ablaufende Zweite Weltkrieg und die sich daraus ergebende Besatzungssituation in Frankreich. Wie sich diese entwickelt hat und welche Auswirkungen sie fast automatisch auf die am Kulturkontakt beteiligten Parteien hat, soll zunächst kurz erklärt werden. Während des Zweiten Krieges hat die Deutsche Wehrmacht Paris innerhalb von sechs Wochen fast widerstandslos eingenommen[92] und Frankreich 1940 besiegt[93]. Infolge der Waffenstillstandsbedingungen, die Hitler der französischen Regierung unter Pétain am 22.06.1940 im Wald von Compiègne diktierte, wurde Frankreich in zwei Teile aufgeteilt und bestand seitdem aus einem besetzten Territorium im Nordwesten und einem zunächst unbesetzten Gebiet im Süden, welches über eine eigene Verwaltung verfügte[94]. Der Regierungssitz befand sich in Vichy[95]. Von dort aus rief Marschall Pétain die Franzosen zur Kollaboration mit den Deutschen auf[96]. Auf der anderen Seite forderte der General Charles de Gaulle die französische
[...]
[1] Vercors (1982): Le Silence de la Mer. Paderborn [u.a.]: Ferdinand Schöningh, S. 10, Z. 30-36.
[2] Vercors ist das Pseudonym von Jean Bruller. Vgl. Brown, James W./ Stokes, Lawrence D. (Hg.) (1991): Le Silence de la Mer - The Silence of the Sea. A Novel of French Resistance during World War II by ‘Vercors’. New York [u.a.]: Berg, S. vii.
[3] Als traditionell wird hier die klassische Mehrgenerationenfamilie verstanden, während die Familie in der Novelle nur aus einem französischen Mann und seiner Nichte besteht.
[4] Hier und im Analyseteil der Arbeit wird der Erzähler mit dem französischen Mann gleichgesetzt, da die Erzählinstanz die Ereignisse aus seiner Perspektive vermittelt.
[5] Dabei werden Phänomene Kultur, Stereotype, kulturelle Identität und Kulturkontakt in Kapitel 2.2 aufgrund ihres engen Zusammenhangs nicht vollständig getrennt voneinander betrachtet.
[6] Korten, Lars (2007): „Novelle.“ In: D. Burdorf [u.a.] (Hg.): Metzler Lexikon Literatur. Stuttgart: J.B. Metzler, S. 547.
[7] Hess, Rainer (2003): „Novelle.“ In: R. Hess [u.a.] (Hg.): Literaturwissenschaftliches Wörterbuch für Romanisten. Tübingen: Francke, S. 223.
[8] Vgl. Hess, 2003, S. 223.
[9] Vgl. Ebd., S. 223.
[10] Korten, 2007, S. 547.
[11] Ebd., S. 547.
[12] Hess, 2003, S. 224.
[13] Ebd., S. 224.
[14] Vgl. Ebd., S. 224.
[15] Korten, 2007, S. 548.
[16] Hess, 2003, S. 224.
[17] Vgl. Korten, 2007, S. 548.
[18] Vgl. Ebd., S. 547.
[19] Ebd., S. 547.
[20] Vgl. Ebd., S. 547.
[21] Vgl. Hess, 2003, S. 223.
[22] Hejl, Peter M. (1998): „Kultur.“ In: A. Nünning (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Gießen: J. B. Metzler, S. 290.
[23] Vgl. Ebd., S. 290 f.
[24] Hejl, 1998, S. 291.
[25] In dieser Arbeit wird Kultur als ein wesentliches Element von Nation verstanden.
[26] Lüsebrink, Hans-Jürgen (1999): „Einführung. Annäherungen an die Kultur Frankreichs.“ In: H.-J. Lüsebrink (Hg.): Die französische Kultur - Interdisziplinäre Annäherungen. St. Ingbert: Röhrig, S. 9-25.
[27] Vgl. Wieser, Diana (05.06.2007): „Stereotyp.“ URL {http://www.social-psychology.de/sp/konzepte/stereotyp} (18.07.2012).
[28] Ebd.
[29] Ebd.
[30] Florack, Ruth (2001): Tiefsinnige Deutsche, frivole Franzosen. Nationale Stereotype in deutscher und französischer Literatur. Stuttgart [u.a.]: Metzler, S. 10.
[31] Laut Florack auch im Bereich der Literaturwissenschaft sinnvoll, eine sozialpsychologische Definition des Begriffs Stereotyp zu verwenden. Vgl. Florack, 2001, S. 12.
[32] Fiedler, Klaus (1997): „Die Verarbeitung sozialer Informationen für Urteilsbildung und Entscheidungen.“ In: M. Hewstone/ G. Stephenson/ W. Stroebe (Hg.): Sozialpsychologie. Eine Einführung. Berlin: Springer Verlag, S. 162.
[33] Fiedler, 1997, S. 162.
[34] Florack, 2001, S. 12.
[35] Wieser (05.06.2007).
[36] Florack, 2001, S. 2.
[37] Sztumski, Janusz (1995): „Die Rolle der Stereotype und Vorurteile bei der Verhaltensbildung gegenüber ethnisch ‚fremden‘ Menschen.“ In: K. Glass/ Z. Puslecki/ B. Serloth (Hg.): Fremde-Nachbarn-Partner wider Willen? Mitteleuropas alte/neue Stereotypen und Feindbilder. Wien: Österreichische Gesellschaft für Mitteleuropäische Studien Verlag, S. 130.
[38] Ebd., S. 130.
[39] Wieser (05.06.2007).
[40] Ebd.
[41] Ebd.
[42] George Boeree stellt zudem heraus, welche Probleme dabei auftreten können. Vgl. Boeree, C. George (24.05.2007): „04. Vorurteil.“ In: Grundlagen der Sozialspychologie, S. 44-50. URL {http://www.social-psychology.de/do/grundlagen.pdf}. (18.07.2012).
[43] Sztumski, 1995, S. 130.
[44] Florack, 2001, S. 9.
[45] Sztumski, 1995, S. 135.
[46] Ebd., S. 131.
[47] Ebd., S. 135.
[48] Ebd., S. 135.
[49] Florack, 2001, S. 11.
[50] Ebd., S. 11.
[51] Ebd., S. 11.
[52] Vgl. Ebd., S. 11 f.
[53] Thomé, Horst (2000): “Vorbemerkung.“ In: R. Florack (Hg.): Nation als Stereotyp. Fremdwahrnehmung und Identität in deutscher und französischer Literatur. Tübingen: Niemeyer, S. 1 f.
[54] Vgl. Florack, 2001, S. 1.
[55] Vgl. Ebd., S. 1.
[56] Ebd., S. 2.
[57] Vgl. auch ebd., S. 4.
[58] Ebd., S. 4.
[59] Florack, 2001, S. 6.
[60] Vgl. Ebd., S. 6.
[61] Ebd., S. 6.
[62] Bock, Hans Manfred (2000): “Nation als vorgegebene oder vorgestellte Wirklichkeit? Anmerkungen zur Analyse fremdnationaler Identitätszuschreibung.“ In: R. Florack (Hg.): Nation als Stereotyp. Fremdwahrnehmung und Identität in deutscher und französischer Literatur. Tübingen: Niemeyer, S. 13.
[63] Ebd., S. 13.
[64] Auch der Romanist Victor Klemperer, der die Grundstruktur des französischen Volkscharakters erforschte, glaubte an die „überzeitlichen Nationalcharaktere“. Bock, 2000, S. 14 f.
[65] Ebd., S. 16.
[66] Ebd., S. 16.
[67] Boeree (24.05.2007).
[68] Wieser (05.06.2007).
[69] Vgl. Ebd. Wieser nennt in ihrem Aufsatz darüber hinaus auch Möglichkeiten zur Überwindung von Stereotypen und erklärt die Auswirkungen stereotyper Wahrnehmungen auf das Gruppenklima.
[70] Sztumski, 1995, S. 129 f.
[71] Vgl. Ebd., S. 132.
[72] Ebd., S. 132.
[73] Ebd., S. 134.
[74] Sztumski, 1995, S. 134.
[75] Ebd., S. 135.
[76] Bausinger, Hermann (04.01.2011): „Kulturelle Identität. Schlagwort und Wirklichkeit.“ In: Ausländer – Inländer. Arbeitsmigration und kulturelle Identität, S. 83-99. URL {http://tobias-lib.uni-tuebingen.de/volltexte/2011 /5335/pdf/Bausinger_Hermann_Kulturelle_Identitaet_Schlagwort_und_Wirklichkeit.pdf}. (30.01.2013), S. 85.
[77] Ebd., S. 85.
[78] Horatschek, Annegreth (1998): „Kollektive Identität.“ In: A. Nünning (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Gießen: J. B. Metzler, S. 306.
[79] Ebd., S. 306.
[80] Ebd., S. 306.
[81] Ebd., S. 306.
[82] Endres, Brigitte Odile (2010): „Kulturkontakt in Warblogs. Botschaften aus Bagdad.“ In: U. Kleinberger/ F. Wagner (Hg.): Sprach- und Kulturkontakt in den Neuen Medien. Bern: Peter Lang, S. 35.
[83] Vgl. Mackenthun, Gesa/ Juterczenka, Sünne (Hg.) (2009): The fuzzy logic of encounter. New perspectives on Cultural Contact. Münster [u.a.]: Waxmann. und Zittlau, Andrea [u.a.] (Hg.) (2009): You meet and you talk. Treffendes aus dem Graduiertenkolleg Kulturkontakt und Wissenschaftsdiskurs. Rostock: Universitätsverlag.
[84] Zittlau, 2009, S. 57.
[85] Vgl. Hock, Klaus (15.07.2012): Mündliche Mitteilung und Reflexion zur Definition von Kulturkontakt. Rostock.
[86] Vgl. Ebd.
[87] Vgl. Ebd.
[88] Vgl. Ebd.
[89] Vgl. Hock (15.07.2012).
[90] Vgl. Ebd.
[91] Ebd.
[92] Eibach, Diether [u.a.] (1996): Geschichte. Antike, Mittelalter, Neuzeit. Berlin: Corvus, S. 280.
[93] Vgl. Deutscher Bundestag (Hg.) (2000): Fragen an die deutsche Geschichte. Wege zur parlamentarischen Demokratie. Berlin: Varus Verlag, S. 307.
[94] Vgl. Eibach, 1996, S. 280.
[95] Vgl. Ebd., S. 280.
[96] Vgl. Ebd., S. 280.