Ein diskursanalytischer Blick auf die Normalität und Pathologisierung von kindlicher Entwicklung am Beispiel Legasthenie


Dossier / Travail, 2015

13 Pages, Note: 1,0


Extrait


Inhalt

1. Eine ganz normale Kindheit

2. Ein diskursanalytischer Blick auf die Normalität und Pathologisierung von kindlicher Entwicklung am Beispiel Legasthenie
2.1 Normalität von Kindheit
2.1.1 Entstehung der Idee eines „normalen“ Kindes
2.1.2 Normalität, Normativität und Symbolik
2.2 Pathologisierung kindlicher Entwicklung am Beispiel Legasthenie
2.2.1 Die Konstruktion von Störungskategorien am Beispiel „Legasthenie“
2.2.2 Laien- und Expertendiskurse
2.2.3 Folgen der „Entdeckung“ der Legasthenie

3. Die Logik des Verdachts und seine Folgen für die Normalität von Kindheit

1. Eine ganz normale Kindheit

Eine ganz normale Kindheit. Das ist oft alles, was sich Eltern für ihren Nachwuchs wünschen und niemand könnte diesem Wunsch widersprechen. Man versteht intuitiv was damit gemeint ist. Die Frage nach dem, was denn in Bezug auf Kinder als normal gilt, wie diese konkrete Normalität aussieht und wer bestimmt, was für Kinder normal und abnormal ist, wird nicht nur im alltäglichen Gespräch, sondern auch im öffentlichen Diskurs nicht oft hinterfragt, sondern als gesellschaftsspezifisches Allgemeinwissen vorausgesetzt. Wie kommt es aber, dass bestimmte Entwicklungen und Eigenschaften in Bezug auf Kinder als normal, andere als abnormal gesehen werden und dass das, was heute als normale Kindheit angesehen wird, früher einmal ganz anders ausgesehen hat? Nicht nur das, sondern auch die Entdeckung immer neuer Entwicklungsstörungen und -defizite, die das Heranwachsen der Kleinsten essentiell zu bedrohen scheinen, hat in den letzten Jahrzehnten enorm zugenommen. Mit der zunehmenden Zahl an kindlichen Entwicklungsstörungen wachsen zeitgleich eine Reihe von neuen pädagogischen und psychologischen Professionen heran, die sich dem neu entdeckten Problem sogleich annehmen. Der Diskurs und die Debatten rund um die kindliche Entwicklung sind nicht nur auf einem gefühlten Höhepunkt angelangt. Noch nie zuvor gab es ein derartiges Angebot an Spezialisten, das mit den verschiedenen Problemen, die mit kindlicher Entwicklung einher zu gehen scheinen, betraut wird. Ist eine normale Kindheit von heute noch dieselbe, wie Jahrzehnte zuvor? All diese Entwicklungen lassen den Verdacht aufkommen, dass dem nicht so sein kann. Kaum ein Kind leidet heutzutage nicht an irgendwelchen Entwicklungsdefiziten, braucht keine Unterstützung von Experten, um in seiner Entwicklung nicht auf die „schiefe Bahn“ zu geraten. Doch dieser Blick und die Beurteilung dessen, was heutzutage als normale Kindheit angesehen wird, ist historisch gesehen neu. Was in Bezug auf kindliche Entwicklung als normal gilt, unterliegt immer der diskursiven Definition und unterscheidet sich daher von Epoche zu Epoche, genauso, wie die jeweils gültigen Störungskategorien, so zumindest die Annahme. Die Entdeckung der Störungskategorie „Legasthenie“, als ein Beispiel von moderner Anormalität in Bezug auf die kindliche Entwicklung, kann ein Verständnis davon vermitteln, wie es zur Pathologisierung von bestimmten Aspekten von Kindheit in unserer Gesellschaft kommen kann und welche unhinterfragten Normalitätsannahmen dem zugrunde liegen. Zentral soll hierfür eine diskursanalytische Perspektive sein.

Im Folgenden werde ich zuerst auf die Normalisierung kindlicher Entwicklung eingehen. Hierbei soll zunächst geklärt werden, wie Normalität im Kontext des Themas definiert wird und wo die Definition ihren Ursprung in der Kindheitsforschung hat, da dieses Hintergrundwissen von Bedeutung für das heutige Verständnis von normaler Kindheit ist. Es soll weiter der Unterschied zwischen Normalität und Normativität erörtert und herausgearbeitet werden, inwiefern der Normalitätsbegriff ein diskursiv hergestellter und vom soziohistorischen Wandel durchzogener Begriff ist, der mit der Zeit fluktuiert und flexibel ist. Es folgt die Ergründung der Herstellung der Störungskategorie Legasthenie und wie durch sie die zugrundeliegenden Normalitätsannahmen in Bezug auf kindliche Entwicklung aufgedeckt werden können. Dabei wird anhand eines, von Doris Bühler-Niederberger vorgeschlagenen, Ablaufmodells die Entwicklung der Legasthenie als Störung nachempfunden und die Rolle der Experten- und Laiendiskurse bei dieser Konstruktion erörtert. Welchen Normen diese Diskurse folgen und welche Konsequenzen die Debatten um das neue Problem „Legasthenie“ für die Normalität der Kinder nach sich gezogen haben, wird im Anschluss daran erläutert. Es soll hierbei weniger darauf eingegangen werden, welche spezifischen Annahmen über Kinder heute als normal angesehen werden, da diese, wie wir sehen werden, einem soziohistorischen Wandel unterliegen und veränderbar sind. Der Fokus soll hier mehr darauf liegen, wie aufgrund des Glaubens an eine Normalität im Allgemeinen, Eingriffe in das Leben von Kindern legitimiert werden, wie die Konstruktion von Störungskategorien das Leben der Kinder in dieser Gesellschaft beeinflusst und den Umgang mit ihnen nachhaltig verändert.

2.1 Normalität in Bezug auf kindliche Entwicklung

2.1.1 Entstehung der Idee eines normalen Kindes

Um nachvollziehen zu können, wie Pathologisierungen von kindlicher Entwicklung zustande kommen, gilt es zunächst zu klären, was unter dem Begriff Normalität in diesem Zusammenhang gemeint ist, da Normalität auf verschiedenste Weise verstanden werden kann. In diesem Kontext ist er vor allem ein Begriff, der im Sinne von durchschnittlich zu verstehen ist. Ein normales Kind ist demnach vor allem eines, das durchschnittlich ist. Dieses Verständnis geht auf den Beginn der Kindheitsforschung bis ins 17. Jahrhundert zurück, als man Kinder als besondere gesellschaftliche Gruppe entdeckte und begann diese mit quantitativen Mitteln zu vermessen und zu beobachten. So hat beispielsweise John Graunt als einer der ersten entdeckt, „´dass Säuglinge und Kinder ein Drittel der Gesamtzahl aller Sterbefälle pro Jahr ausmachten´“. (Turmel, 2008, S. 19). Die Erkenntnis, dass innerhalb eines Parameters, in diesem Falle die Sterblichkeit, ein Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen festzustellen war, lenkte die Aufmerksamkeit der Wissenschaftler auf die Kindheit als neues Forschungsgebiet. Es begann die systematische Vermessung und Beobachtung der Kinder, wobei der Fokus zunächst auf dem kindlichen Körper selbst lag. Die statistischen Vorgehens- und Darstellungsweisen verlangten es, dass bestimmte Werte und Daten häufiger vorkamen, als andere: „Wenn man z.B. die Körpergröße oder das Körpergewicht einer massenhaften Bevölkerung statistisch erhebt, ergibt sich eine Verteilungskurve, die sich einer sogenannten Normalverteilung mehr oder weniger annähert.“ (Link, 2008, S. 63). Nach diesem Verständnis ist Normalität also etwas, dass eher als Spektrum verstanden werden muss. Es gibt nicht das eine Normale, aber die Normalverteilung gibt einen großen Bereich von dem an, was noch zur Kategorie „normal“ zählen darf. Dies sind die Anfänge der wissenschaftlichen Bestimmung von Normalität, die deshalb von besonderer Bedeutung ist, weil sie die Normalitätsannahmen und damit auch die Normalität von Kindheit selbst bis heute maßgeblich beeinflusst hat. Am Beispiel der Legasthenie werden wir noch sehen, wie genau das Zusammenspiel von wissenschaftlichem und öffentlichem Diskurs zu der Akzeptanz und Festigung von Normalitätsannahmen, und damit auch von Störungskategorien, geführt hat.

Das Konzept des Durchschnitts wurde also zentral für das, was bei sozialen Akteuren als üblich oder ordnungsgemäß galt (vgl. Turmel, 2008, S.26). Alles, was außerhalb des Üblichen lag, sei es über- oder unterhalb des Durchschnitts, fiel damit gezwungenermaßen in die Kategorie der Anormalität. Auf diesem Prozess könnte die Annahme darüber entstanden sein, dass es tatsächlich so etwas wie ein normales Kind geben würde. Diese Idee könnte sich durch die weitere Entwicklung der Kindheitsforschung gezogen und die Annahmen über eine normale kindliche Entwicklung beeinflusst haben. Kindliche Körper zu vermessen und in Grafiken darzustellen ist das Eine, etwas abstrakteres wie die Entwicklung der Kinder in einem Konzept der Normalverteilung unterzubringen, das Andere. Der Normalitätsbegriff ist ein zutiefst flexibler und vom jeweiligen Diskurs der Zeit abhängig. „Eine allgemeingültige Begriffsbestimmung von Normalität existiert nicht. Es gibt nicht die Normalität, sondern unterschiedliche Normalitätsvorstellungen werden durch Diskurse erst hergestellt.“ (Lingenauber, 2008, S.160). Nur so lässt sich das von Epoche zu Epoche unterschiedliche Verständnis einer normalen und geglückten Kindheit interpretieren. Worin das heute gültige Normalitätsverständnis von kindlicher Entwicklung besteht und vor allem, wer bestimmt, was heute normal ist, soll vor dem Hintergrund der Herstellung der Störungskategorie „Legasthenie“ erläutert werden.

2.1.2 Normalität, Normativität und Symbolik

Die Existenz eines Normalitätsbegriffs alleine jedoch muss noch nicht viel heißen. Genauso wichtig ist es, wie es zu dem oft unhinterfragten Glauben an diese Normalität kommt, wie der Gedanke an eine um jeden Preis zu erhaltende Normalität kommt und wodurch dieses Bestreben motiviert ist. „Normalität kann Normativität weder aufheben noch ersetzen […].“ (Link, 2008, S.63). Normalität stellt immer das intersubjektive Motiv dar, an der sich Maßnahmen zur Prävention und Therapie von Entwicklungsstörungen orientieren. Es ist das Ziel aller Maßnahmen, ein Kind, das sich am äußersten Rand der Normalität befindet, wieder in das Spektrum der breiten Mitte zu führen.

Insofern kann man die Normalität selbst als eine Art Norm verstehen, auf das pädagogisches, psychologisches und medizinisches Handeln gerichtet ist. Es gibt also durchaus auch einen normativen Gehalt des Normalitätsbegriffs kindlicher Entwicklung.

Weniger normativ sind allerdings die von Profession zu Profession unterschiedlichen Definitionen von Normalität. Da diese Annahmen einem soziohistorischen Wandel unterliegen, ist die selbstverständliche Akzeptanz der modernen Normalitätsannahmen in Bezug auf Kindheit, als die Normalität schlechthin, zu bezweifeln. Vielmehr ist der Glaube an die Integrität derjenigen, die normales von anormalem zu unterscheiden „wissen“, und der Glaube an die Gültigkeit der Normalitätsnorm selbst, das, was ausschlaggebend für die Etablierung und Akzeptanz gewisser Normalitätsannahmen ist. Die konkreten Formen und Inhalte der Normalitätsannahmen stehen und fallen mit dem jeweiligen Diskurs, der von Zeit zu Zeit neu definiert, was als normal gelten darf und was nicht. Ein weiterer Aspekt in Bezug auf Normalität spielt zudem die Symbolik. „Letztlich muss jede Normalitätsgrenze symbolisch festgelegt werden, wobei in der Regel irgendein Phänomen, das intuitiv für den „normalen“ Durchschnittsmenschen das schlechthin „Andere“ zu symbolisieren scheint, diese Grenze markiert.“ (Link, 2008, S. 68). In Bezug auf kindliche Entwicklung ist das schlechthin Andere entweder ein extrem unter- oder überentwickeltes Kind. Symbolisch wird dieses Bild unter anderem von den Medien festgehalten, die gerne und oft das entwicklungsgestörte Kind als jenes „Andere“ zeichnen, das es um jeden Preis zu vermeiden gilt, da es die Ordnung der Normalität gefährdet. Anhand dieses Negativs können die Menschen erkennen, welche Charakteristika einem normalen Kind zugeordnet werden können. Die Darstellung wirkt zudem abschreckend, sodass die Motivation, die Kinder noch stärker zu beobachten um frühzeitig Störungen erkennen zu können, begünstigt wird.

2.2 Pathologisierung kindlicher Entwicklung am Beispiel Legasthenie

Die Grenzen von dem, was unter normaler Kindheit verstanden wird, haben sich diskursiv verschoben. Das Bild des normalen Kindes ist in ständigem Wandel, das von den Strukturen des jeweiligen Diskurses durchzogen und damit hochgradig abhängig von diesem ist. Der Diskurs ist es, der Kategorien wie „normal“ und „abnormal“ generiert und damit Kindheit strukturiert und ordnet. Somit fallen auch kindliche Störungen unter die Annahme der diskursiven Konstruktion. Am Beispiel der Konstruktion der Störungskategorie „Legasthenie“ soll erörtert werden, wie flexibel kindliche Normalitätsannahmen sind.

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Fin de l'extrait de 13 pages

Résumé des informations

Titre
Ein diskursanalytischer Blick auf die Normalität und Pathologisierung von kindlicher Entwicklung am Beispiel Legasthenie
Université
LMU Munich  (Soziologie)
Cours
Soziologien der Kindheit
Note
1,0
Auteur
Année
2015
Pages
13
N° de catalogue
V336525
ISBN (ebook)
9783668263475
ISBN (Livre)
9783668263482
Taille d'un fichier
487 KB
Langue
allemand
Mots clés
Soziologie, Kindheit, Legasthenie, Normalität, Entwicklung, Entwicklungsdefizit, Pathologisierung
Citation du texte
Isabella Wächter (Auteur), 2015, Ein diskursanalytischer Blick auf die Normalität und Pathologisierung von kindlicher Entwicklung am Beispiel Legasthenie, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/336525

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