Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
1. Aufstieg der indischen IT-Industrie durch Globalisierung und wirtschaftliche Entwicklung
2. Charakteristika der IT-Services und der IT-Fachkräfte
2.1. IT-Services, IT-Enabled-Services und Business Process Outsourcing
2.2. Sozioökonomischer Hintergrund der Fachkräfte
2.3. Englisch als beständige Schlüsselqualifikation
3. Kultur und Organisationskultur
3.1. Kulturbegriff
3.2. Kulturkonzepte
3.3. Kulturstandards Indiens
3.4. Entstehung und Formen von Organisationskultur
3.5. Skizzierung indischer Organisationskulturen
4. Wirtschaftliche Implikationen der globalen Produktion von Software und IT-Services
5. Kulturelle Einflüsse von Global Management und „New Age“ Management
5.1. Virtuelle Migration und das Management von Kultur durch Soft Skill-Trainings
5.1.1. Outsourcing, Offshoring und virtuelle Migration
5.1.2. Soft Skill-Trainings zur allgemeinen Persönlichkeitsentwicklung
5.1.3. Interkulturelle Trainings
5.2. Management durch eine ausgeprägte Corporate Culture
6. Vergleich traditioneller und moderner Organisationskultur in der Praxis
6.1. Hierarchien
6.2. Individualismus
6.3. Loyalität
6.4. Paternalismus und Familienorientierung
6.5. Maskuline und feminine Werte
6.6. Umgang mit Zeit
7. Fazit
8. Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: 3-Ebenen-Modell systemischer Interkultureller Kommunikation
Abbildung 2: Wirtschaftliche Bedeutung des IT-BPO-Sektors
Abbildung 3: Export von IT/BPM nach Märkten
Abbildung 4: Schemata von Kultudimensionen
Abbildung 5: Unterschiedliche Ebenen der Kulturbetrachtung
Abbildung 6: Organisationskultur als Ursache-Wirkungs-System
Abbildung 7: Formen von Organisationskultur
1. Aufstieg der indischen IT-Industrie durch Globalisierung und wirtschaftliche Entwicklung
In den letzten Jahren erlebte die IT-Industrie in Indien einen beispielhaften Aufstieg, der in einem größeren, politischen Rahmen zu verstehen ist. Im Allgemeinen kann die Entwicklung der Industrie als Ergebnis der Globalisierung verstanden werden, wobei im Speziellen die Verbreitung moderner Informations- und Kommunikationstechnologien, sowie der Liberalisierungsprozess seit den 1990er Jahren als Katalysatoren des Aufstiegs fungierten. Die Idee der Verwestlichung im Zuge der Globalisierung, deren theoretische Wurzeln bereits in den Schriften von Marx und Weber liegen, sieht die Wirtschaftsform des Kapitalismus als per se „westlich“ und kulturell geprägt an. Mit dem Einzug des kapitalistischen Wirtschaftssystems in die Peripherie der globalisierten Welt, gehen aus diesem Grund auch kulturelle Einflüsse einher (Greenspan 2004).
Wenngleich solche Aussagen kritisch hinterfragt werden müssen, legt auch aktuelle Forschung, wie das Passauer 3-Ebenen-Modell systemischer Interkultureller Kommunikation, zumindest eine gewisse Interdependenz von Wirtschaftssystem, Organisationskulturen und der Kultur auf der Mikroebene des Individuums nahe (Barmeyer 2010a).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: 3-Ebenen-Modell systemischer Interkultureller Kommunikation;
Quelle:, (Barmeyer 2010a), S.121
In den ersten Dekaden der jungen Republik Indien hielten sich wirtschaftliche Einflüsse allerdings in Grenzen, denn nach der Unabhängigkeit verfolgte die Regierung Indiens eine sozialistisch und protektionistisch geprägte Wirtschaftspolitik, die vor allem auf den Schutz der voranschreitenden Industrialisierung abzielte. Bis in die 1980er Jahre verstärkte sich dieser Trend der Abkehr von der Weltwirtschaft sogar noch weiter. In diesem, auch als „Permit Raj“ bezeichneten Modell, bildete sich ein dominanter öffentlicher Sektor heraus, der von Ineffizienz, Bürokratie und Korruption geprägt war. Mit der Liberalisierung der Wirtschaft ab den 1990er Jahren wurde daraufhin der Grundstein für die rasche Entwicklung einer Industrie nach ostasiatischem Vorbild gelegt. Die Konzentration auf Massenproduktion zu geringen Kosten, Exportorientierung und Investitionen in die für moderne Informations- und Kommunikationstechnologien notwendige Infrastruktur entfaltete ihre Wirkung schnell.
Doch war es besonders der Pool an technikaffinen, englischsprechenden Fachkräften1, der insbesondere zu einem Aufstieg der Branche der Informationstechnik, kurz „IT“, führte (Greenspan 2004). Immer wieder wurde in diesem Zusammenhang der Ruf nach Anpassung an das profit- und effizienzorientierte „westliche“ Organisationsmodell laut (Panini 1988).
Dies wirft aus heutiger Sicht die Frage auf, inwieweit die kulturellen Einflüsse auf das indische Wirtschaftssystem auf der Makroebene tatsächlich in den Organisationen zu erkennen sind. Eine solche Fragestellung ist nicht neu, denn bereits seit den 1960er Jahren wird das Zusammenspiel von traditioneller indischer Kultur und modernen Organisationen erforscht (Sheth 1996). Die besonderen Einflüsse, die die IT-Industrie und moderne Informations- und Kommunikationstechnologien mit sich bringen, sind jedoch ein relativ neues Forschungsgebiet.
In dieser Arbeit wird versucht, kulturelle und wirtschaftliche Einflüsse auf die Organisationskultur in indischen IT-Unternehmen zu identifizieren und damit die Frage zu beantworten, inwiefern von einer Hybridisierung der Arbeitskultur gesprochen werden kann. Dazu wird im Folgenden zunächst die soziale Gruppe, die untersucht werden soll, in ihren wesentlichen Eigenschaften erläutert. Auf die Definition der zentralen Begriffe Kultur, Kulturstandards und Organisationskultur folgt deren Anwendung auf den indischen Kontext. Andererseits sollen Einflüsse durch moderne Managementtechniken, Soft Skill-Trainings und ein internationales Arbeitsumfeld aufgezeigt werden, um daraufhin anhand einer von Upadhya und Vasavi in indischen IT-Unternehmen durchgeführten Studie zu den Arbeitsbedingungen aus dem Jahr 2006 zu untersuchen, wie groß die Bedeutung dieser Einflüsse im Hinblick auf die Arbeitskultur tatsächlich ist.
2. Charakteristika der IT-Services und der IT-Fachkräfte
2.1. IT-Services, IT-Enabled-Services und Business Process Outsourcing
Die indische Handelsorganisation National Association of Software and Services Companies (NASSCOM), die regelmäßig quantitative Datenerhebungen durchführt und Statistiken veröffentlicht, unterteilt den IT-Sektor meist in IT-Services, BPM-Services, Software Products und Hardware (NASSCOM 2013). Die besonders bedeutenden Bereiche, IT-Services und BPM (Business Process Manufacturing), fordern dabei eine klare Eingrenzung. IT-Services sind Dienstleistungen im IT-Umfeld, wie beispielsweise das Einrichten und Konfigurieren von Softwarepaketen, IT-Beratung oder Software-Entwicklungsprojekte. Es wird dabei eher auftragsbasiert gearbeitet, jedoch keine direkte Forschung und Entwicklung betrieben. In Abgrenzung zu dem Begriff des Business Process Outsourcing (BPO), der lediglich generell eine Auslagerung jener Geschäftsbereiche, die nicht zu den Kernkompetenzen eines Unternehmens gehören, bezeichnet, bedienen sich IT-Enabled-Services (ITES) dabei speziell moderner Informationstechnologie. Dazu gehören beispielsweise Prozesse der Finanz- oder Personalabteilung (Vermeer und Neumann 2008).
Die nachfolgende Analyse bezieht sich hauptsächlich auf den exportorientierten Bereich der IT- Services, obgleich die verwendete Literatur zum Teil nicht zwischen den einzelnen IT- Dienstleistungen differenziert. Wichtig ist eine Unterscheidung aufgrund der verschiedenen Charakteristika der Tätigkeitsfelder. Während BPM oft nur Dienstleistungen für ausländische Kunden, beispielsweise in Call Centern, umfasst, sind IT-Services von der tatsächlichen interkulturellen Zusammenarbeit in Projekten, aber auch von hoher Qualitäts-, Kosten- und Kundenorientierung geprägt. Softwareingenieure unterscheiden darüber hinaus innerhalb der IT- Services zwischen Produktentwicklung und Projektaufgaben (Upadhya und Vasavi 2006). Somit lassen sich auch verschiedene Arbeitsbedingungen innerhalb des Sektors und damit unterschiedliche wirtschaftliche und kulturelle Einflüsse vermuten.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Wirtschaftliche Bedeutung des IT-BPO-Sektors ; Quelle: NASSCOM (2013), S. 4
Obwohl der IT-BPM Sektor mit etwa drei Millionen Beschäftigten nur einen verschwindend geringen Teil der aktiven Bevölkerung repräsentiert, erwirtschaftet er rund 8 % des Bruttoinlandsprodukts. Die Branche ist zudem stark exportorientiert, wobei über 70% in die traditionellen, vorwiegend englischsprachigen Märke exportiert wird (Abb. 3). Die Zentren der IT-Industrie liegen mit den Megastädten Bangalore, Chennai, Hyderabad und Mumbai eher im Süden des Landes. Bangalore wird häufig sogar als Silicon Valley Indiens bezeichnet (Upadhya und Vasavi 2006).
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Abbildung 3: Export von IT/BPM nach Märkten; Quelle: NASSCOM (2013), S. 5
2.2. Sozioökonomischer Hintergrund der Fachkräfte
Die Attraktivität der Branche, ihre komplexen Aufgaben und die hohe Exportorientierung lassen eine gute Ausbildung der Beschäftigten vermuten. Es gibt auch zahlreiche Studien über den Ausbildungsstand der software professionals, die belegen, dass große und mittlere indische Unternehmen (GMIU) sowie multinationale Unternehmen (MNU) fast ausschließlich Absolventen angesehener Hochschulen rekrutieren, wobei größtenteils Ingenieure bevorzugt werden.
Nur ein kleiner Teil der insgesamt sehr großen Anzahl an disponiblen Absolventen verfügt über ausreichende Fachkenntnisse, sodass die nötigen Praxiskenntnisse oft gar erst im Unternehmen gelehrt werden.
Wenig ausführliche und verlässliche Daten finden sich im Gegensatz dazu zum sozioökonomischen Hintergrund der Beschäftigten, doch zeigen einige kleinere Studien ähnliche Ergebnisse auf, die auf eine relativ homogene soziale Gruppe schließen lassen (Krishna und Brihmadesam 2006; Upadhya und Vasavi 2006). So schaffen es meist Absolventen angesehener Universitäten aus englischsprachigen, gebildeten Familien der urbanen Mittelklasse durch den Rekrutierungsprozess der MNUs und großen und mittleren indischen IT-Unternehmen. Demnach studierten bereits rund 80% der Väter und etwa die Hälfte der Mütter der software professionals, wobei das Merkmal zweier hoch gebildeter Elternteile in Indien auf nur etwa vier bis sieben Prozent der ländlichen Bevölkerung zutrifft. Von diesen gehen zwischen 68% und 84% Berufen nach, die üblicherweise der Mittelklasse zugeschrieben werden. Dieses Ergebnis könnte dadurch erklärt werden, dass eben jene Schicht über die finanziellen, aber auch die kulturellen und sozialen Mittel verfügt, um ihren Kindern den Berufseinstieg in dieser Branche zu ermöglichen (Krishna und Brihmadesam 2006). Des Weiteren scheint eine urbane Herkunft, zumindest in MNUs und GMIUs, die Einstellungschancen von Absolventen zu erhöhen. So stammen etwa 36% der Befragten Teilnehmer der Studie von Upadhya und Vasavi (2006) aus den fünf Metropolregionen, 29 % aus weiteren Großstädten, aber nur circa 5% aus dem ländlichen Raum. Zum Teil ist dies bereits durch den Zugang zu privaten, englischsprachigen Schulen bedingt, die den Grundstein für die von den Unternehmen geforderten, sehr guten Englischkenntnisse, sowie für den Besuch einer renommierten Hochschule legt. Schließlich ist die gute mündliche und schriftliche Ausdrucksweise auf Englisch ein zentrales Einstellungskriterium.
2.3. Englisch als beständige Schlüsselqualifikation
Die Bedeutung der englischen Sprache ist allerdings ein kontrovers diskutierter, kultureller Schlüsselfaktor für den Aufstieg der IT-Industrie in Indien.
Mit dem Beginn des Empire etablierte sich Englisch bereits ab dem 17.Jarhundert als Handels- und später als Gesellschaftssprache, deren Beherrschung jedoch selbst zu Hochzeiten einer äußerst kleinen, elitären Schicht vorbehalten war (Kachru 1986). Mit dem Ziel, eine englischsprachige Klasse zu kreieren, die als „interpreting buffer between the rulers and the ruled“ (Gupta und Kapoor 1991: 15) dienen sollte, begann man 1835 mit der Einführung von Englischunterricht in Bildungseinrichtungen. Zu dieser Zeit war auch der Glaube verbreitet, dass eine Anpassung der indischen Bevölkerung an die englische Sprache auch zu einer Anpassung an die Kultur der Besatzer führe. So sollte nach Aussagen des englischen Gesandten T.B. Macauley eine Klasse geschaffen werden, die „[…] Indian in blood and colour, but English in taste, in opinions, morals and in intellect” (Greenspan 2004: 28) ist. Die Sprache galt als ein Instrument der Zivilisierung und Aufklärung (Kachru 1986), da sie Werte bezogen auf Religion, Wirtschaft und Politik transportiere (Gupta und Kapoor 1991). Auch nach der Unabhängigkeit im Jahr 1947 behielt das Englische eine wichtige Stellung, da eine Einigung auf eine einheitliche Nationalsprache aufgrund der kulturellen und sprachlichen Diversität des Landes schwer fiel (Ram 1983). Dieser Umstand ist im Zusammenhang mit der IT-Industrie von Bedeutung, da Englisch die historisch dominante Sprache der Informationstechnologie ist. Gründe hierfür sind beispielsweise der meistverwendete Code ASCII, der mit 278 Zeichen nur lateinische, nicht aber Buchstaben indischer Sprachen darzustellen vermag oder die gängigen Programmiersprachen, deren Befehle fast ausnahmslos auf Englisch erfolgen. Außerdem gilt Englisch als Wissenschaftssprache in diesem Bereich, in der hauptsächlich publiziert wird (Greenspan 2004).
Die guten Englischkenntnisse der Fachkräfte stellen also einen wichtigen Wettbewerbsvorteil der indischen IT-Industrie dar, und das nicht nur im Hinblick auf die interkulturelle Zusammenarbeit. Dennoch ist die Annahme eines kulturellen Einflusses durch die englische Sprache nicht per se schlüssig. Kachru (1983) argumentiert in diesem Zusammenhang mit einer Dekontextualisierung des Englischen, wenn es von anderen Kulturen als lingua franca adaptiert wird. Die Anpassung sei demnach möglich, da Englisch als universelle, nicht institutionalisierte Sprache offen für fremde Einflüsse sei und somit neutrale, interkulturelle Kommunikation ermögliche.
Die untersuchte Gruppe der Softwareingenieure in der indischen IT-Services-Industrie ist also relativ homogen und eignet sich daher besonders für eine Analyse kultureller und wirtschaftlicher Einflüsse. Sie stammt zu großen Teilen aus gebildeten Familien der urbanen Mitteklasse und verfügt über gute Englischkenntnisse, die in dieser Branche aufgrund der Exportorientierung zentral sind.
3. Kultur und Organisationskultur
3.1. Kulturbegriff
Nach der Beschreibung der wichtigsten Charakteristiken der sozialen Gruppe der Angestellten im ITServices-Bereich, ist für eine Analyse wirtschaftlicher und kultureller Einflüsse auf die Organisationskulturen in der Industrie außerdem essentiell, den verwendeten Kulturbegriff, die Kulturkonzepte zur Beschreibung der indischen Kultur, sowie die Bildung und Formen von Organisationskultur darzulegen. Darauf aufbauend sollen Thesen skizziert werden, wodurch sich Organisationskulturen im indischen Kontext generell auszeichnen.
Einheitlich lässt sich der Kulturbegriff nicht definieren. Bereits Kluckhohn und Kroeber (1963) identifizierten weit über hundert Definitionen von Kultur. Der Bedeutungspluralismus spiegelt die Vielfalt der Wissenschaftsdisziplinen, die sich mit dem Begriff beschäftigen wider. Gemeinsam ist den meisten Ansätzen jedoch, dass Kultur als Konstrukt zur Konkretisierung und Reduzierung von Komplexität betrachtet wird. Der anthropologische Kulturbegriff, der für die vorliegende Arbeit am geeignetsten scheint, sieht nach Barmeyer (2010b) Kultur als Gesamtheit der kollektiven Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmuster einer Gruppe oder Gesellschaft und somit als „erlerntes Orientierungs- und Referenzsystem von Werten und Praktiken, das von Angehörigen einer bestimmten Gruppe oder Gesellschaft kollektiv gelebt und tradiert wird.“ (ibid.: 13f.). Kultur dient somit als Werte-, Interpretations- und Problemlösungssystem, wobei insbesondere der Aspekt des Wertesystems im organisationalen Zusammenhang relevant ist. Demnach werden Werte und Praktiken durch Sozialisation erworben und verfügen über eine zeitlich relative Kontinuität. Dennoch beschreibt auch Hofstede (2001) die Möglichkeit eines Wertewandels durch Einflüsse “from the outside, in the form of forces of nature or forces of human beings: trade, conquest, economical or political dominance, and technological breakthroughs“ (ibid.: 34), wie sie eben auch besonders auf die IT-Industrie einwirken. Betrachtet man Kultur aus jenem Blickwinkel, ist diese aber nicht mit Nationalkultur gleichzusetzen und kann auch auf andere Kontexte, wie beispielsweise Organisationen, angewendet werden. Zunächst sollen also sowohl die National-, als auch die Organisationskultur Indiens anhand verschiedener Konzepte erläutert werden.
3.2. Kulturkonzepte
Wenngleich jede Form der Beschreibung verschiedener Kulturen das Problem der Stereotypisierung mit sich zu bringen scheint, bedarf es im Rahmen einer Untersuchung dennoch gewisser Parameter, anhand derer Nationalkultur beschrieben und in gewisser Weise verglichen werden kann. Im Folgenden wird deshalb mit dem Konzept der Kulturstandards nach Alexander Thomas gearbeitet. Dieses bietet gegenüber den Kulturdimensionen, wie sie Hofstede (2001), Hall und Hall (1990), Trompenaars und Hampden-Turner (1997), Schwartz (2004) oder auch die aktuelle GLOBE-Studie (House 2011) verwenden (Abb. 4), in welchen die Kultur als unidimensional ohne qualitative Unterschiede abgebildet wird, den Vorteil, dass eben dass Thomas eben keine Quantifizierbarkeit kultureller Unterschiede durch Anordnung von Kulturen auf bipolaren Dimensionen suggeriert (Thomas und Utler 2013). Dennoch wird in der zur Analyse verwendeten Literatur häufig mit den Begriffen der Kulturdimensionen gearbeitet, ohne dass das verwendete Modell explizit erläutert würde. Insbesondere die Dimensionen Machdistanz, Individualismus und Kollektivismus sowie Maskulinität und Femininität, die jeweils entsprechenden Begriffe der anderen Modelle eingeschlossen, werden im Verlauf der Arbeit bedeutend sein.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 4: Schemata der Kulturdimensionen ; Quelle: eigene Darstellung
Das Kulturstandardkonzept ist, gegenüber den Kulturdimensionen, als ein kulturrelativistischer Ansatz zum Verständnis von Verhaltensunterschieden zu verstehen. Die Basis bildet eine anthropologische Kulturdefinition, „die Kultur als spezifisches Orientierungssystem versteht, das für eine Nation, Gesellschaft, Gruppe verbindliche Deutungen und sinnstiftende Funktionen erfüllt“ (Thomas und Utler 2013: 48). Als Kulturstandards werden demnach die kulturspezifischen Orientierungsmerkmale, die in bestimmten Begegnungssituationen oder zur Problemlösung aktiviert werden, bezeichnet (Thomas 2005a). Sie lassen sich durch die Befragung von Führungskräften und Angestellten und der anschließenden Reflexion in bikulturellen Forschergruppen ermitteln (Kinast 2005). Daher liefern sie auch speziell im Arbeitskontext relevante Hinweise zur Organisationskultur in indischen Unternehmen.
3.3. Kulturstandards Indiens
So beschreiben Mitterer, Mimler und Thomas (2013) in ihrem Trainingsprogramm eine Reihe indischer Kulturstandards. Zu nennen sind dabei stark hierarchische Strukturen, Rollenkonformität, Personalismus, Familienorientierung, Paternalismus, Konfliktvermeidung und Polychronie sowie Emotionalität und Fatalismus, wobei letztere im Rahmen der Arbeit weniger bedeutend sind. Die indische Gesellschaft ist von starken hierarchischen Strukturen geprägt, was sich in vielen Lebens- und Arbeitsbereichen zeigt. So äußert sich der Respekt vor hierarchisch höhergestellten Personen im Arbeitsleben beispielsweise dadurch, dass selten direkte Kritik geübt wird und Feedbackprozesse generell abwärts in der Hierarchie verlaufen. Feedback durch den Vorgesetzten, der alleiniger Entscheidungsträger ist, wird dagegen regelmäßig erwartet. Informationen kommuniziert die Führungskraft getreu der hierarchischen Strukturen vertikal über lange Kommunikationswege. Entgegen dieser Wege werden Informationen von Mitarbeitern zu Vorgesetzten nur weiter geleitet, wenn dies explizit gefordert wird, wobei die hierarchisch höher gestellte Person in der Holschuld ist und sich deshalb regelmäßig über den aktuellen Stand von Projekten erkundigen sollte. Oft ist dies Grund für kulturelle Missverständnisse zwischen Indern und Europäern, die jenes Verhalten als fehlende Eigeninitiative oder Passivität interpretieren. Ihrer Rolle innerhalb eines Gefüges sind sich Inder sehr bewusst und verhalten sich dieser bevorzugt konform. Zuständigkeiten und Aufgabenbereiche sind klar geregelt. Sollen daher Aufgaben erledigt werden, die der eigenen Rolle nicht entsprechen, sondern niedriger gestellten Personen zugeschrieben werden, wird dies als Gesichtsverlust wahrgenommen. Die relativ starre und unflexible Rollenverteilung erschwert die Veränderung von Arbeitsabläufen. Innovationen sind aus höheren Hierarchieebenen zu initiieren. Ebenso kann Personalismus als indischer Kulturstandard bezeichnet werden. Dies bedeutet, dass Entscheidungen eher von personenbezogenen als von sachlichen Kriterien beeinflusst werden. Aus diesem Grund ist es wichtig, Beziehungen und Netzwerke innerhalb des Unternehmens aufzubauen, um sich die Unterstützung von Kollegen und Führungskräften zu sichern. Gleichzeitig besteht innerhalb dieser Beziehungen eine starke Loyalität gegenüber anderen Personen. Um diese Beziehungen aufrecht zu erhalten, werden Konflikte möglichst vermieden. Wie bereits erwähnt, werden hierarchisch höher gestellten Personen selten direkt kritisiert, was zum einen den hierarchischen Strukturen, aber zum anderen auch der Tendenz der Inder zur Vermeidung von offenen Konflikten geschuldet ist. Der Kommunikationsstil ist darum durchweg positiv, Negativaussagen gelten als unhöflich. Auch werden Probleme ungern offen angesprochen und Schwächen zu verbergen versucht. Ein Weg, Vorgesetzte dennoch zu kritisieren ist, dies auf sehr subtile, nonverbale Art zu tun, beispielsweise durch stillen Protest. So könnte ein Mitarbeiter beispielsweise absichtlich eine ihm übertragene Aufgabe aufschieben, um sein Unbehagen zum Ausdruck zu bringen. Grund für eine aufgeschobene oder vergessene Aufgabe könnte allerdings auch die polychrone Arbeitsweise, zu der viele Inder neigen, sein. Sie sind dadurch in der Lage mehrere Aufgaben parallel zu erledigen und selbst unter Stress viel zu leisten. Jedoch wird weniger inhaltlich als zeitlich priorisiert, also eher die aktuellste und nicht die wichtigste Aufgabe zuerst bearbeitet. Das kann dazu führen, dass, wenn nicht regelmäßig Feedback über den Stand eines Projektes eingeholt wird, dieses unter hektischen Arbeitsbedingungen aufgeschoben wird (Mitterer et al. 2013).
Trotz der Vorteile des Kulturstandardkonzepts und der relativ geringen Aussagekraft der Kulturdimensionen im Fall Indiens wird es kaum möglich sein, die Begriffe von Hofstede und der seinem Vorbild folgenden Forschung vollständig auszuklammern, da die verfügbare Literatur fast ausschließlich mit diesen Konzepten arbeitet. Insbesondere die Dimensionen Individualismus und Kollektivismus sowie Maskulinität und Femininität nach Hofstede (2011) sind Aspekte, die im Verlauf der Analyse zentral sind, jedoch nicht ausreichend im Kulturstandardkonzept erläutert werden. Für Indien ermittelte Hofstede Individualismus- und Maskulinitätsindizes, welche auch im Vergleich mit anderen Nationen auf einem mittleren Rang der Skala liegen. Machdistanz und Langfristigkeitsorientierung sind vergleichsweise stark ausgeprägt, wohingegen die Unsicherheitsvermeidung eher niedrig ist. Eine niedrige Unsicherheitsvermeidung zeigt sich in häufigen Arbeitsplatzwechseln und der Favorisierung von Beziehungen über Aufgaben.
[...]
1 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichwohl für beiderlei Geschlecht.