Der Triumph des Königs. Die grosse Story der Bibel von Genesis bis Offenbarung

Studienreihe IGW Band 2


Textbook, 2016

556 Pages


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

Verzeichnis der Tabellen

Einführung

Gott macht Geschichte

Wiederherstellung als Ziel

Gottes Königsherrschaft

Roadmap Bündnisse

Zwei Testamente

TEIL I - DER GARTEN DES KÖNIGS
Einführung
Eden –Gottes vollkommene Herrschaft
Der Pentateuch
Am Anfang schuf Gott
Unvergleichlicher Gott
Wie alles begann
Gott offenbart sich
Bis der Kreis sich schliesst
Der Mensch und sein Auftrag
Bebauen und bewahren
Ökologische Verantwortung?
Der Sündenfall –Zerstörung der Gemeinschaft
Ein grosser Verlust
Gemeinschaft und Freiheit
Schwerwiegende Folgen
Leben im Zwiespalt

TEIL II - DER PLAN DES KÖNIGS
Einführung
Die Urgeschichte –Gottes Absicht wird angekündigt
Das erste Versprechen
Die grosse Flut
Grösse und Gnade Gottes
Der Bund mit Noach
Ein Neuanfang
Der Turmbau zu Babel
Veränderte Perspektive
Düstere Urgeschichte
Strahlen der Gnade
Die Glaubensväter –Gottes grosse Versprechen
Die Berufung Abrahams
Schlichtes Vertrauen
Der Bund mit Abraham
Nochmals von vorne
Der Bund erfüllt sich
Gott bestätigt den Bund
Gottes Gnadenwahl

TEIL III - DAS VOLK DES KÖNIGS
Einführung
Israel –Zeuge Gottes in der Welt
Ein Segen sein
Die Befreiung aus Ägypten
Israels Grunderfahrung
Ganzheitliches Heil
Befreit zum Dienst
Verpflichtung und Hoffnung
Der Bund mit Israel
Beziehung, Gehorsam, Auftrag
Der Bundesbruch
Die Erneuerung des Bundes
Das Gesetz
Arten von Gesetzen
Anwendungen des Gesetzes
Prüfstein und Freiheitsgarant
Die Stiftshütte
Der Sabbat als Bundeszeichen
Feste gegen das Vergessen
Auf Pilgerfahrt nach Jerusalem
Christen und das Gesetz
Tragischer Unglaube
Rebellion in der Wüste
Das Buch Deuteronomium
Josua und die Einnahme Kanaans
Entscheidet euch heute!
Gottes Treue
Die Zeit der Richter
Zwielichtige Befreier
Orientierungslosigkeit und Zerfall
Durchwachsene Bilanz
Das deuteronomistische Geschichtswerk
Das vereinigte Königreich – Vorschattung der Herrschaft Gottes
Neuanfang mit Samuel
Königsmacher wider Willen
Saul und das Königtum
Sohn, Bruder, Hirte
Davids Königtum
Der Messias
Der Bund mit David
Ein dreifaches Versprechen
Gottes Heilsplan wird konkret
Salomos Königtum
Der Tempel
Eine Zeit der Erfüllung
Glanz und Gloria
Die Psalmen
Psalmenarten
Der Psalter als literarisches Werk
Visionäre Blicke
Der Messias im Fokus
Weisheit in Israel
Von Hiob bis Hohelied
Die Teilung der Nation –Eine Zeit des Niedergangs
Der Keim des Niedergangs
Ein warnendes Beispiel
Die grosse Spaltung
Vom Regen in die Traufe
Fünf Erweckungskönige
Gericht und Gnade
Israel am Scheideweg
Die prophetische Bewegung
Jahwes Propheten
Durchsetzung des Bundes
Geschichte lebendig erhalten
Wächter und Fürbitter
Hervorsager des Willens Gottes
Soziale Reformer
Was ist Sünde?
Vorhersager der Zukunft
Der Tag des Herrn
Gericht und Wiederherstellung
Die Schriftpropheten
Der Prophetenfürst Jesaja
Jesajas literarisches Werk
Jeremia
Hesekiel
Daniel
Das Zwölfprophetenbuch
Israels tragisches Ende
Judas tiefer Fall
Das Exil
Jeremias Klagelieder
Der kleine Rest
Das wahre Israel
Die Rückkehr aus dem Exil –Die Erneuerung Israels
Die Entstehung des Judentums
Der Erlass des Kyrus
Esra, der erste Schriftgelehrte
Nehemia, der Statthalter
Auswirkungen des Exils
Die Tora befolgen
Das Erbe bewahren
Tod am Sabbat
Literarische Tätigkeit
Neue Hoffnung
Land und Volk
Segen und Königtum
Neue Zwingherren
Eine neue Situation
Souveräner Gott
Zersplittertes Volk
Tradition und Talmud
Das Alte Testament –Abschliessende Vergegenwärtigung
Gottes Gnade
Gottes Volk
Gottes Sprache
Gottes Reich
Gottes Zeit

TEIL IV - DER SOHN DES KÖNIGS
Einführung
Jesus –Gottes Herrschaft ist da
Israel in neutestamentlicher Zeit
Wer ist dieser Mensch?
Das Rätsel Jesus
Messiaserwartungen im Judentum
Das Problem eines politischen Messias
Das messianische Selbstbewusstsein Jesu
Die Taufe Jesu
Die Versuchung Jesu
Die Evangelien
Die Synoptiker
Die Evangelisten als Redakteure
Zuverlässige Berichte
Markus
Matthäus
Lukas
Johannes
Das Reich Gottes
Gegenwart und Zukunft
Der Ruf zur Bekehrung
Busse
Das Volk des Reiches
Kirche als Alternativgemeinschaft
Das Geheimnis des Reiches
Unterschiedliche Endzeiterwartungen
Das Kreuz –Versöhnt mit Gott
Der Fokus der Evangelien
Der neue Bund
Gesetzesbrecher und Gotteslästerer
Die Tragödie des Kreuzes
Stellvertretung
Sühne
Das Leiden Gottes
Das Geheimnis des Kreuzes
Die Wirkung des Kreuzes
Die Deutung des Kreuzes
Die Auferstehung
(K)eine Leiche im Keller der Kirche
Ostertriumph
Pfingsten
Himmelfahrt
Israel –Das Alte vergeht
Die Endzeit des Alten Testaments
Was ist neu am Neuen Testament?
Das Gericht über Israel
„Diese Generation”
Der judäische Krieg
Masada und der Fall Jerusalems
Joels Prophetie erfüllt sich
Die Urkirche –Die Mission zu allen Völkern
Der Missionsbefehl
Mission und Gott
Mission und die Welt
Mission und Theologie
Die Apostelgeschichte
Der Fall Paulus
Hindernisse der Heidenmission
Der erste Märtyrer
Der Geist wirkt Versöhnung
Das Evangelium zieht Kreise
Der Durchbruch
Apostel der Heiden
Antiochien und ein Dreamteam
Streit in Antiochien
Das Apostelkonzil
Das Evangelium erreicht Europa
Eine neue missionarische Ära
Ein Arbeitstag in Ephesus
Synagoge und Gottesdienst
Häuser und Familien
Das antike Gastmahl
Ein Gottesdienst in Korinth
Die Götter Griechenlands...
...und der Gott der Christen
Rom und das Christentum
„Minderwertiger Aberglaube”
Die Briefe des Neuen Testaments
Die Briefe auslegen
Die Bedeutung der Briefe
Bis an die Enden der Erde
Die Kirche -Die Story weiterschreiben
Herausgerufen aus der Welt
Hineingesandt in die Welt
Verkündigung des Evangeliums
Demonstration des Heils
Alternative Kirche

TEIL V - DIE STADT DES KÖNIGS
Einführung
Die Wiederkunft Christi –Vollendung der Königsherrschaft
Urchristlicher Realismus
Die Offenbarung des Johannes
Fantasy und Symbolik
Trostbuch, nicht Fahrplan
Das Tausendjährige Reich
Der Prämillennialismus
Der Amillennialismus
Der Postmillennialismus
Kinder unserer Zeit
Die Rettung Israels
Leben aus dem Tod
Gottes unverbrüchliche Treue
Die Wiederkunft
Theorien der Entrückung
Ein entscheidender Text
... und seine Fortsetzung
Ein Apfelbäumchen pflanzen
Der neue Kosmos –Wiederherstellung der Gerechtigkeit
Auferstehung und Gericht
Was geschieht nach dem Tod?
Die Hölle im Judentum
Die Hölle und die Kirche
Die Hölle im Neuen Testament
Ein verzerrtes Evangelium
Ewige Pein
Auslöschung
Mit offenen Fragen leben
Siehe, ich mache alles neu
Die „Auferstehung” der Schöpfung
Unser Verhältnis zur Erde
Die letzten beiden Kapitel
Das neue Jerusalem
Die blühende Stadt
Bis in alle Ewigkeit

Literaturverzeichnis

Verzeichnis der Tabellen

Die biblischen Bündnisse

Die hebräische Bibel

Überschriften der fünf Bücher Mose

Epochen der Geschichte Israels im Alten Testament

Gottes Treue und die Tora

Das deuteronomistische Geschichtswerk

Psalmenarten

Der Psalter

Der Messias in Psalm 22

Der Messias bei Jesaja

Die kleinen Propheten in der deutschen Bibel

Das Exil

Die Rückkehr aus dem Exil

Entstehungszeit des Neuen Testaments

Die Schriften des Neuen Testaments

Aufbau der synoptischen Evangelien

Die Wirkung des Kreuzes

Der neutestamentliche Missionsauftrag

Der Synagogengottesdienst in neutestamentlicher Zeit

Der paulinische Gottesdienst

Briefarten im Neuen Testament

Die Form der Briefe

Eschatologische Gewissheiten

Der Prämillennialismus

Der Amillennialismus

Der Postmillennialismus

Interpretationen der Hölle

Geschöpf und Schöpfung in Römer 8,18-22

Studienreihe IGW

Die Studienreihe IGW ermöglicht die Veröffentlichung verschiedener Lehrmittel, Untersuchungen, Abschlussarbeiten. Sie will biblische, aktuelle theologische und gesellschaftliche Themen verständlich einer breiten Leserschaft zugänglich machen. Die Reihe ist als Studien- und Arbeitsbuch konzipiert.

Als Studienbuch dient sie den Studierenden als Lehrmaterial für den Unterrichtsstoff. Einerseits vermittelt die Reihe die Grundlage eines Faches, eines Themas. Und andererseits stellt sie die gegenwärtige aktuelle theologische Diskussion dar. So erhält der Studierende ein gutes Basiswissen, ohne auf die aktuelle Diskussion verzichten zu müssen.

Als Arbeitsbuch dient die Reihe auch Pastoren und Pastorinnen, Katechetinnen und Katecheten, um ihr Wissen zu aktualisieren. Sie erhalten einen guten Überblick über die aktuelle Diskussion und inwiefern sich die Themen verändert haben.

Aber auch interessierte Christen und Christinnen sind eingeladen, mit dem Arbeitsbuch zu arbeiten. Die Reihe eignet sich ausgezeichnet als Arbeitsbuch zu ausgewählten Themen. Die Studienreihe hilft bei der Vorbereitung eines Hauskreisabends, einer Themenreihe.

Band 2 der Studienreihe enthält die grosse Geschichte Gottes mit den Menschen. Der Bogen spannt sich von den Anfängen der Geschichte (1. Mose) bis zur Vollendung (Offenbarung), von der Schöpfung bis zur Neuschöpfung, von der Erschaffung des Menschen bis zur Wiederkunft Jesu. Dazwischen liegt die Geschichte Gottes mit seinem Volk Israel. Mit einem Neubeginn mit Abraham, Isaak und Jakob, Josef in Ägypten und der Auszug aus Ägypten sowie der Einzug ins gelobte Land. Von Richtern, Königen und Profeten ist die Rede. Exil und Heimkehr, Gericht und Gnade zieht sich durch die Geschichte Gottes.

Das erste Kommen Jesu, sein Leben, Sterben und Auferstehen, das Kommen des Heiligen Geistes, die Ausbreitung des Evangeliums und die Briefe der Apostel an ihre Gemeinden und die Geschichte Gottes drängt auf die Neuschöpfung hin. Oder mit den Worten von Offenbarung 21,3: „Und ich hörte eine laute Stimme vom Thron herrufen: Siehe, die Wohnung Gottes bei den Menschen! Er wird bei ihnen wohnen, und sie werden seine Völker sein, und Gott selbst wird mit ihnen sein, ihr Gott.“

Zürich, Juli 2016

Dr. Fritz Peyer-Müller, Rektor IGW

Dank

Ein Buch wie dieses hat eine lange Entstehungsgeschichte, die viele Jahre vor der eigentlichen Niederschrift begann. Viele Personen haben dazu beigetragen, denen ich zu Dank verpflichtet bin: Meine Eltern Peter und Magdalena Hardmeier haben mir und meinen Geschwistern unermüdlich die biblischen Geschichten nacherzählt. Im Hören dieser Storys wuchs ein unerschütterlicher Glaube in mir, der mich bis heute trägt. Unser Traupfarrer Werner Trachsel war mir als Leiter der Kinderlager, die ich heiss liebte, ein Vorbild und mein erster geistlicher Förderer. Heinrich Kuhn hat mir während meines Studiums am Seminar für biblische Theologie in Beatenberg viele biblische Bücher nähergebracht und mich darin bestärkt, Gottes Wort zu lieben und zu studieren. Professor Dr. Helmuth Egelkraut hat mich während meines theologischen Aufbaustudiums an der Akademie für Weltmission in Korntal geprägt. Von ihm lernte ich, wissenschaftliches Arbeiten mit einem Grundvertrauen in Gottes Wort zu verbinden. Einen besseren Start in meine akademische Laufbahn hätte ich mir nicht vorstellen können. Meine Sekretärin Corinne Meier hat buchstäblich tausende von Korrekturen getippt und mir dabei Arbeit abgenommen, die ich aus gesundheitlichen Gründen nicht hätte leisten können. Ich danke dem Institut für Gemeindebau und Weltmission für die langjährige Zusammenarbeit, insbesondere dem Geschäftsführer Matthias Ziehli für die kompetente Begleitung in der Realisierung dieses Projekts. Ohne ihre Unterstützung wäre dieses Buch nicht fertig geworden. Zuletzt gilt mein herzlichster Dank meiner Ehefrau Elisabeth Hardmeier-Gurtner. Keines meiner Bücher wäre ohne ihre wunderbare Unterstützung zustande gekommen. Eine Ehefrau wie dich muss der Traum aller Autoren sein. Über allem danke ich meinem Gott für seine Treue und Barmherzigkeit. SOLI DEO GLORIA!

Zu diesem Buch

In der Theologie nimmt das Bewusstsein zu, dass die Bibel als Story gelesen werden will. Man kann die Bibel nicht verstehen, wenn man sie in ihre Einzelteile zerlegt. Sie erschliesst sich einem nur, wenn man sie als eine zusammenhängende Erzählung in den Blick nimmt.

Die Bibel erzählt die grösste Story aller Zeiten. Sie beginnt in einem fruchtbaren Garten und endet in einer blühenden Stadt. Dazwischen findet sich alles, was eine packende Geschichte ausmacht: Ein König, der das Beste für seine Untertanen will, ein Feind, der die guten Absichten des Königs durchkreuzt, der tragische Tod des Königssohns samt einer wundersamen Wende und ein Happyend, das die kühnsten Vorstellungen übersteigt.

Natürlich ist die biblische Story komplexer als dass sie sich in einigen Sätzen zusammenfassen liesse. Die Bibel erzählt eine vielschichtige und anspruchsvolle Geschichte, bei der man schon mal den Überblick verlieren kann. Ihre ganze Strahlkraft entfaltet die Bibel erst, wenn man den grossen Zusammenhang versteht, der ihr eigen ist. Im Erschliessen dieses Zusammenhangs liegt der Zweck dieses Buches. Es behandelt alle wichtigen Themen, Schriften und Ereignisse der Bibel und verbindet sie zu einer grossen Erzählung.

Wie wichtig es ist, die Bibel als zusammenhängende Story zu lesen, zeigt ein Gedankenspiel des schottischen Philosophen Alasdair MacIntyre.1 Er stellt sich vor, an einer Bushaltestellte zu stehen, wo ihn ein unbekannter Mann mit den Worten anspricht: „Der lateinische Name der Wildgans ist histrionicus, histrionicus, histrionicus.” Der Satz an sich ist völlig klar, macht aber keinen Sinn, weil er nicht in einen Zusammenhang eingebettet ist.

Drei verschiedene Geschichten könnten dieser befremdenden Begegnung Sinn verleihen, überlegt sich der Philosoph. Es könnte sein, dass der Unbekannte ihn mit einer Person verwechselt, die ihn gestern in der Bibliothek fragte: „Kennen sie zufälligerweise die lateinische Bezeichnung für Wildgans?” Es könnte auch sein, dass der Mann von einer Sitzung beim Psychiater kommt, der ihm hilft, seine Scheu zu überwinden. Der Psychiater sagte ihm möglicherweise, er solle einfach mal damit beginnen, mit fremden Leuten zu sprechen und dabei etwas zu sagen, das ihm gerade in den Sinn komme. Oder der Fremde ist ein russischer Spion, der seinen Kontaktmann an der Bushaltestelle treffen will und das Codewort ist der lateinische Name für Wildgans.

MacIntyre macht mit seinem Gedankenspiel auf unterhaltsame Weise deutlich, dass die Begegnung an der Bushaltestelle nur Sinn macht, wenn sie in einen grösseren Zusammenhang eingeordnet werden kann.

Was für die ausgedachte Alltagssituation des Philosophen gilt, hat auch für die Bibel Gültigkeit. Wenn Sie die grosse Story kennen, welche die Bibel in so vielfältiger Weise erzählt, können Sie die einzelnen Geschichten in ihren grösseren Zusammenhang einordnen und dadurch bekommen sie ihren richtigen Sinn.

Wenn man sich anschickt, die Botschaft der Bibel zu erfassen, ist es ratsam, Rechenschaft darüber abzulegen, mit welchen Voraussetzungen man sie liest oder darüber schreibt.

Ich bin überzeugt, dass sich uns die Botschaft der Bibel am besten erschliesst, wenn wir sie mit einem Grundvertrauen lesen. Davon hat schon der berühmte Kirchenvater Augustinus gesprochen. Von ihm ist der Satz überliefert, dass wir glauben müssen, um zu verstehen. Der Glaube geht dem Verstehen voraus, weil der Glaube es uns ermöglicht, die Bibel in ihrem Anspruch, den sie erhebt, ernst zu nehmen. Und dieser Anspruch ist wahrlich kein geringer. Die Heilige Schrift des Christentums beansprucht, eine Offenbarungsurkunde zu sein, in der sich uns der lebendige Gott bezeugt. Und dem lebendigen Gott kann man nur im Glauben wirklich begegnen.

In anderen Worten hat der Neutestamentler Peter Stuhlmacher in seiner Theologie des Neuen Testaments diesen Umstand zum Ausdruck gebracht. Er spricht davon, dass sich einem die Bibel nur erschliesst, wenn man sich das, was man in den biblischen Büchern vorfindet, als Wahrheit vorgeben lässt und ihm andächtig nachdenkt.2

Das Grundvertrauen, das wir der Bibel entgegenbringen, ist eine Antwort auf den Anspruch der Bibel, Gottes Wort zu sein. Wir begegnen diesem Wort, wie Helmuth Egelkraut es in seinem Grundlagenwerk Das Alte Testament treffend formuliert, „nicht mit Skepsis, sondern mit Grundvertrauen und in dem Wissen, dass uns in ihm Gottes Weg zum Glauben und Leben gewiesen ist.”3 Die Bibel mit einem Grundvertrauen lesen, ist in keiner Weise ein unwissenschaftlicherer Zugang als der Ansatz, der seit der Aufklärung vom wissenschaftlichen Zweifel ausgeht und sich dabei der menschlichen Vernunft als Kriterium bedient.4

Es ist von unschätzbarem Wert, wenn man die Bibel als Ganzes ins Blickfeld nimmt und den grösseren Zusammenhang ergründet, der ihr eigen ist. Viele schädliche Lehren, die in Anspruch nehmen, biblisch zu sein, reissen einzelne Aussagen aus dem Zusammenhang. Die Bibel in ihrer Gesamtbotschaft zu erfassen, bewahrt vor ungesunden Einseitigkeiten. Vor allem aber entfaltet die Bibel ein grandioses Panorama des geschichtlichen Handelns Gottes, dessen Ziel die Wiederherstellung aller Dinge ist. In dieser Geschichte dürfen wir Christen Teil sein. Das ist atemberaubend. Es verändert uns und beflügelt uns. Und es gibt uns Hoffnung – für die Welt, in der wir leben, aber auch über diese Welt hinaus.

Kloten im Juli 2016, Dr. Roland Hardmeier

Einführung

Die Bibel ist das grösste literarische Phänomen der Menschheitsgeschichte. Kein Buch wird mehr geliebt, keines wird mehr gehasst, keines ist weiter verbreitet. Kein Buch hat die Kulturen dieser Welt nachhaltiger geprägt, keines hat den Gang der Geschichte stärker beeinflusst.

Die siebzig Einzelschriften, welche die Bibel ausmachen, ergeben eine grandiose Mischung von Vielfalt und Einheit. Sie wurden über einem Zeitraum von rund einem Jahrtausend von einigen Dutzenden verschiedener Autoren verfasst. Unter ihnen finden sich gebildete Persönlichkeiten wie Schriftgelehrte und Könige, aber auch einfache Leute wie Hirten und Fischer. Durch ihre lange Entstehungsgeschichte weist die Bibel eine beeindruckende Vielfalt auf. Wenn man die fünf Psalmbücher aus denen der Psalter besteht, einzeln zählt, ergibt sich eine Bibliothek von siebzig Büchern. Und doch beeindruckt die Bibel am meisten durch ihre Einheit. Die einzelnen Bücher gleichen bunten Mosaiksteinen, die zusammen ein stimmiges Bild ergeben.

Bevor wir uns auf die Reise durch die Bibel machen, wollen wir den Versuch unternehmen, das grosse Bild zu erfassen. Es ist ähnlich, wie wenn Sie sich den Trailor eines Films ansehen oder eine Filmkritik lesen. Nachdem Sie den Trailor gesehen haben, wissen Sie über die Hauptfiguren und die Handlung Bescheid. Auf diese Weise finden Sie sich während des Films besser zurecht. Das, was Sie in dieser Einführung vorfinden, ist gewissermassen der Trailor zur biblischen Story. Wir befassen uns mit den literarischen Formen, den zentralen Gedanken und dem Aufbau der Bibel. Mit dem grossen Bild vor Augen, das sich daraus ergibt, werden wir uns besser zurechtfinden, wenn wir unsere Reise durch die Bibel beginnen.

Gott macht Geschichte

Ein flüchtiges Lesen der Bibel genügt, um festzustellen, dass sie unterschiedliche literarische Formen enthält. Wir finden Worte, die in die Zukunft weisen (die Propheten), Gebete als Antwort auf Gottes Wirken (die Psalmen), Reflektionen über das Leben und seinen Sinn (die Sprichwörter) oder Unterweisungen an christliche Gemeinden (die Briefe des Neuen Testaments), um nur einige zu nennen.

Die weitaus gebräuchlichste literarische Form der Bibel ist die Geschichte. Geschichten wie jene vom Leiden Hiobs, von der Kraft Simsons oder von Davids Sieg über Goliat haben Weltruhm erlangt. Sie bieten einen einzigartigen Schatz an Einsichten und Inspiration. Obwohl sie sich in Raum und Zeit zutrugen, sind sie zeitlos und heute so aktuell wie damals.

Die Einzigartigkeit der Bibel ist nicht dadurch erklärbar, dass es sich um eine Sammlung von Geschichten handelt. Gewiss, wir müssen uns verbeugen vor der literarischen Leistung derer, welche diese Geschichten aufgezeichnet und der Nachwelt überliefert haben. Viele von ihnen haben die beste Zeit ihres Lebens dafür investiert, nicht wenige haben es dabei hingegeben. Wenn die Bibel ein Geschichtsbuch wie jedes andere wäre, könnten wir Impulse für unser Leben eben so gut von den hinreissenden Theaterstücken eines William Shakespeare beziehen, die seit Jahrhunderten zu begeistern vermögen. Oder wir könnten die grossartige Autobiografie von Nelson Mandela lesen, die viele Menschen rund um den Globus inspiriert hat. Die Bibel beansprucht, mehr als eine Sammlung von Geschichten zu sein. Die einzelnen Geschichten sind Teil einer Megastory, deren Inhalt und Anspruch jedes andere Werk der Weltliteratur weit übertrifft.

Die grandiose Mischung von Vielfalt und Einheit, welche die Faszination Bibel ausmacht, hat ihren Ursprung in der Tatsache, dass Gott sowohl Autor als auch Hauptfigur der grossen Story ist. Über Gott kann man im Grunde genommen gar nicht anders reden als in Form einer Geschichte. Die blosse Auflistung von göttlichen Eigenschaften wie Gerechtigkeit, Heiligkeit oder Liebe würde uns nicht hinreichend vor Augen führen, mit welchem Gott wir es zu tun haben. Erst wenn wir sehen, in welchen konkreten Situationen Gott als der Gerechte, Heilige und Liebende handelte, erkennen wir ihn. So klingt etwa der Satz „Gott ist heilig und gnädig” ziemlich abstrakt. Für sich selbst genommen ist er wenig hilfreich, weil er blosse Eigenschaften aufzählt. Verständlich wird dieser Satz erst, wenn er in eine Geschichte eingebettet ist. Denken Sie nur daran, wie Gottes heilige Gegenwart den Berg Sinai erschütterte, als Gott Israel die Zehn Gebote gab. In dieser Begebenheit tritt Gottes furchterregende Heiligkeit deutlich zu Tage. Und denken Sie daran, wie Gott seinem Volk gnädig war und vergab, obwohl es mit der Anbetung des goldenen Kalbes diese Gebote nach kürzester Zeit übertrat. Hier wird uns die Gnade Gottes eindrücklich vor Augen geführt.

Viele der biblischen Bücher geben Geschichten wieder, die Gott mit Männern und Frauen, Bauern und Propheten sowie Königen und einfachen Leuten schrieb. Diese Geschichten beanspruchen, mehr als lediglich berichtete Ereignisse zu sein. Sie sind Offenbarungen über Gott, über das Leben und über uns selbst. Sie sind gewissermassen Gottes Geschichte auch mit uns. Die biblischen Geschichten wollen den einen wahren Gott offenbaren und uns unterweisen, auf seinen Wegen zu gehen. Sie bieten uns Antworten auf die grossen Fragen des Lebens in anschaulichster Form.

Wenn in Israel ein Sohn seinen Vater fragte, was es mit dem Glauben, den Opfern und den Traditionen ihres Volks auf sich hatte, antwortete der Vater nicht mit abstrakten Lehrsätzen über Gott, sondern erzählte die Geschichte seines Volkes. So ist in Deuteronomium 6,20-24 zu lesen:

„Wenn dich morgen dein Sohn fragt: Warum achtet ihr auf die Satzungen, die Gesetze und Rechtsvorschriften, auf die der Herr, unser Gott, euch verpflichtet hat?, dann sollst du deinem Sohn antworten: Wir waren Sklaven des Pharao in Ägypten, und der Herr hat uns mit starker Hand aus Ägypten geführt. Der Herr hat vor unseren Augen gewaltige, unheilvolle Zeichen und Wunder an Ägypten, am Pharao und an seinem ganzen Haus getan, uns aber hat er dort herausgeführt, um uns in das Land, das er unseren Vätern mit einem Schwur versprochen hatte, hineinzuführen und es uns zu geben. Der Herr hat uns verpflichtet, alle diese Gesetze zu halten und den Herrn, unseren Gott, zu fürchten, damit es uns das ganze Leben lang gut geht und er uns Leben schenkt, wie wir es heute haben.”

Ich kann mich gut daran erinnern, dass unsere Eltern uns vor dem zu Bett Gehen biblische Geschichten erzählten. Die Geschichten von David, Simson und Daniel waren unsere Favoriten. Als ich zwölf Jahre alt war, kannte ich viele biblische Geschichten auswendig. Mit ihnen lernte ich Gott kennen und ihm vertrauen. Wenn ich mich zu Bett legte, wusste ich, dass der Gott von David und Daniel auch über mir wachte. Ich hätte es damals nicht in dieser Weise ausdrücken können, aber ich war geborgen in der Vorsehung Gottes. Ich war Teil einer grossen Geschichte, die von einem grossen Gott geschrieben wurde.

Wiederherstellung als Ziel

Die Faszination der biblischen Geschichten liegt darin, dass sie Teil eines grösseren Ganzen sind. Die Geschichten von Simson, David, Debora und anderen Männern und Frauen des Alten Testaments sind eingebettet in die Geschichte Gottes mit dem jüdischen Volk. Der Gott der Bibel erwählte Abraham aus den Völkern und schuf aus ihm das Volk Israel, von dessen Geschichte fast das ganze Alte Testament handelt. Im Grunde genommen aber geht es Gott um diese Welt. Es ist die Welt, die im Fokus der Heilsabsichten Gottes steht (Joh 3,16). Israel und die Kirche sind Werkzeuge, deren Gott sich souverän bedient, um sich seiner geliebten Welt zu offenbaren und sie zu retten. Die einzelnen Geschichten der Bibel und die Geschichte Israels vereinen sich zur Story von Gott mit der Welt.

Wir wissen alle, dass die Welt nicht so ist, wie sie sein sollte. Es gibt ein gerütteltes Mass an Leid und Ungerechtigkeit, das uns in vielen Fällen nur die Rolle des ohnmächtigen Zuschauers überlässt.

Wenn man die ersten und die letzten Seiten der Bibel miteinander vergleicht, wird deutlich, dass in der biblischen Story Themen wie Leid und Ungerechtigkeit von zentraler Bedeutung sind. Die Bibel beginnt mit einer harmonischen Schöpfung (Gen 1-2) und endet mit einer erneuerten Schöpfung (Offb 21-22). Die Geschichte, welche die Bibel erzählt, ist stets auf diese beiden Referenzpunkte bezogen. In der ursprünglichen Schöpfung lebte der Mensch im Einklang mit sich selbst, mit Gott und mit der Natur. Es gab keine Kriege, keine Krankheiten und keine Ungerechtigkeit. Dann ereignete sich das, was wir den Sündenfall nennen. Der Mensch riss sich von seinem Schöpfer los und wollte das Paradies auf eigene Faust schaffen. Doch dieses entpuppte sich wegen des bösen Herzens des Menschen als ein Reich von Blut und Tränen.

Der zentrale Gedanke, den die Bibel entfaltet, ist der Gedanke der Wiederherstellung. Die Bibel öffnet uns die Augen dafür, dass Gott der König des Universums ist, und dass er eines Tages über Leid und Ungerechtigkeit triumphieren wird. Die letzten beiden Kapitel der Bibel blicken vorwärts auf diesen vollkommenen Zustand, wenn das verlorene Paradies wiederhergestellt und übertroffen ist.

Es ist Gottes Wesen, mit den von uns verursachten Scherben zu arbeiten und wiederherzustellen, was wir kaputt gemacht haben. Denken Sie an die Sintflut, die Gott in den Tagen Noachs über die Welt brachte. Wir erschrecken über die gewaltigen Ausmasse dieser Katastrophe, aber im Grunde genommen war sie ein zurechtbringendes Gericht, damit das Böse nicht überhand nehmen konnte. Oder denken Sie an das babylonische Exil, in welchem das jüdische Volk Strafe für seine Sünden erhielt. Diese bittere Erfahrung war eine Zeit der Wiederherstellung Israels, so dass ein geistlich erneuertes Volk ins Land der Väter zurückkehren konnte. Oder denken Sie an die neue Schöpfung, die uns in der Bibel in Aussicht gestellt wird. Der Apostel Paulus beschreibt in Römer 8 das Leiden der gegenwärtigen Zeit als die Geburtswehen einer neuen Welt, in der die Schöpfung wiederhergestellt sein wird.

Theologisch gesprochen geht es in der Bibel um eine Heilsgeschichte.5 Der Begriff will zum Ausdruck bringen, dass Gott die Geschichte lenkt, um die gefallene Schöpfung zum Heil zu führen. Das ist das grosse eschatologische Ziel, auf das die Geschichte zusteuert.6 Obwohl die Bibel aus vielen einzelnen Geschichten besteht, geht es schlussendlich doch um eine einzige grosse Story mit dem Ziel der Wiederherstellung der guten Herrschaft Gottes über alles Geschaffene. Diesen „Plot” sollte man immer im Auge haben, wenn man die Bibel liest, denn von diesem her bekommen die einzelnen Geschichten ihren übergeordneten Sinn.

Gottes Königsherrschaft

Die biblische Story entfaltet sich in zwei Teilen - dem Alten und dem Neuen Testament. Sie lassen sich mit einem Schauspiel vergleichen: Das Alte Testament bildet den ersten Akt, das Neue Testament den zweiten. Der erste Akt ist ohne den zweiten unvollständig, und der zweite kann ohne den ersten nicht verstanden werden. Das Alte Testament befasst sich mit der Schöpfung, dem Sündenfall und der Geschichte Israels. Das Neue Testament hat das Kommen von Jesus Christus, Wesen und Auftrag der Kirche und die Vollendung aller Dinge zum Thema.

Der Gedanke, der die beiden Akte verbindet, ist die Königsherrschaft Gottes. Im Alten Testament wird Gott über vierzig Mal als König bezeichnet, erstmals im Siegeslied am Schilfmeer: „Der Herr ist König für immer und ewig!” (Ex 15,18). Gott ist der König, der über alles Geschaffene herrscht. Das wird in den Psalmen (Ps 47; 93; 96-99) und bei den Propheten deutlich (Jes 52,7; Obd 21). Die Propheten schauten auf eine Zeit voraus, wenn Gottes Herrschaft unter den Völkern aufgerichtet wird (Dan 2,44).

Diese im Alten Testament angesagte Königsherrschaft verkündigte Jesus als in seiner Person herbeigekommen. „Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um, und glaubt an das Evangelium!”, lautete seine Botschaft (Mk 1,15).7 Diese Ansage greift zurück bis an den Anfang als noch alles sehr gut war. Vor dem Sündenfall war Gott uneingeschränkt König über seine Schöpfung und die Menschen lebten unter seiner Herrschaft. In Jesus ist die Königsherrschaft für alle, die sie im Glauben akzeptieren, herbeigekommen. Völlige Wirklichkeit wird sie aber erst in der Neuschöpfung jenseits der Geschichte sein, von der die letzten Kapitel der Bibel berichten.

Die vollkommene Gottesherrschaft ist dort, wo Geschöpf, Schöpfung und Schöpfer in einer harmonischen Beziehung zueinander stehen. Auf diesen Heilszustand zielt die Story der Bibel ab. Gottes Königsherrschaft beginnt in den Herzen der Menschen, die sich ihm im Glauben zuwenden. Sie ist deswegen aber nicht nur eine Herrschaft im Innern. Man kann das Königreich Gottes nicht in die private Tugendhaftigkeit frommer Menschen verbannen, ohne der biblischen Heilsgeschichte die Spitze zu nehmen. Denn wenn Gott der Schöpfer der Welt und ihr König ist, dann wird er nicht ruhen, bis die ganze Welt unter seiner guten Herrschaft steht.

Überblickt man die Geschichte von der Königsherrschaft, stellt man fest, dass sie sich im Laufe der Zeit in unterschiedlicher Weise manifestierte. Gott hat die Möglichkeit in seine Schöpfung eingeschlossen, dass der Mensch sich von ihm losreissen kann, um seine eigene Version der Geschichte zu schreiben. Weil dieser Versuch zum Scheitern verurteilt ist, kündigte Gott sofort nach dem Losriss des Menschen die Wiederherstellung seiner Herrschaft an. Und darum ist die Geschichte, welche die Bibel entfaltet, voll des Ringens zwischen Mensch und Gott, zwischen Glaube und Unglaube, zwischen dem Bösen und dem Guten – bis sich Gottes Herrschaft schliesslich Bahn bricht und der König über das Böse triumphiert. Um diesen inneren Zusammenhalt zu verdeutlichen, ist Der Triumph des Königs in fünf Teile gegliedert:

Wir beginnen im Garten des Königs, wo sich der Mensch unter der guten Herrschaft Gottes befindet. Er geniesst den Segen Gottes und lebt in einer von Vertrauen getragenen Beziehung zu seinem Schöpfer. Dann aber reisst der Mensch sich los, um sein eigener Herr zu werden. Fortan ist das Leben auf der Erde von Gottlosigkeit, Ungerechtigkeit und der Schlechtigkeit der Menschen geprägt.

Dann lernen wir den Plan des Königs kennen, der damit zu tun hat, dass er dem in Sünde gefallenen Menschen seine Heilsabsichten ankündigt. Der Schöpfer überlässt seine Schöpfung nicht sich selbst, sondern tritt für sie ein. Die Bibel widerspricht der Vorstellung eines abwesenden Gottes von den ersten Seiten an und stellt ihn als in der Geschichte wirkenden Gott dar.

Durch das Alte Testament hindurch verfolgen wir Israel als das Volk des Königs, durch das er sich der Welt bezeugt. Obwohl dieses Volk über weite Strecken versagt, steht Gott zu seiner Wahl. Hier lernen wir Gott als der Treue kennen, der seine Verheissungen einlöst. Das Alte Testament an sich ist unvollständig, weil es über sich selbst hinausweist auf eine umfassendere Erfüllung der Verheissungen von der Königsherrschaft Gottes.

Im Zentrum des Neuen Testaments steht Jesus Christus, der Sohn des Königs, mit dem die Königsherrschaft anbricht. Am Kreuz triumphiert die Liebe Gottes über der Sünde der Menschen. Durch dieses Ereignis schafft sich Gott ein neues Volk, durch das sich seine Herrschaft in die ganze Welt auszubreiten beginnt.

Schliesslich blicken wir voraus auf die Stadt des Königs. Im neuen Jerusalem, ein Symbol für die vollendete Königsherrschaft und die Neuschöpfung, hat das Gute endgültig über das Böse triumphiert und Gott herrscht „über alles und in allem” (1Kor 15,28).

Jeder neue Teil zeigt an, dass die Königherrschaft fortschreitet und sich auf neue Art und Weise manifestiert. Innerhalb dieser Teile wird dann von verschiedenen Epochen die Rede sein.8

Roadmap Bündnisse

Wer eine Reise unternimmt, braucht ein Navigationsgerät oder Strassenschilder denen er folgen kann, um das Ziel zu erreichen. Auf unserer Reise durch die Bibel finden wir in den Bündnissen eine hilfreiche Navigation. Sie sind die Strassenschilder der biblischen Story, die anzeigen, in welche Richtung sie sich entwickelt. Es gibt fünf bedeutende Bündnisse in der Bibel: Der Bund mit Noach, der Bund mit Abraham, der Bund mit Israel, der Bund mit David und der neue Bund. In den Bündnissen offenbart Gott, auf welche Art und Weise er die Welt zum Heil führt und wen er dazu gebrauchen will.

Die Bündnisse sind eine Art Vertrag, die Gott zugunsten der Welt mit den Menschen schloss. Gleichzeitig übersteigen sie die Bedeutung, die menschliche Verträge haben. Die biblischen Bündnisse sind nicht Vereinbarungen von gleichberechtigten Partnern, sondern sie sind von Gott gestiftet. Es geht darum, dass ein Grösserer (Gott) einem Niedrigeren (dem Menschen) ein Bundesverhältnis mit Rechten und Pflichten anbietet. Jedes der biblischen Bündnisse ruht auf einer feierlichen Selbstverpflichtung Gottes, die er unter allen Umständen einlöst. Der Mensch kann Gott nicht in die Pflicht nehmen, weil Gott vor aller Schöpfung ist und über ihr steht. Gott aber verpflichtet sich mit den Bündnissen seiner Schöpfung. Die Gewissheit, dass Gott nie hinter seine Selbstverpflichtungen zurückgeht, bildet den Nährboden für die gesamte biblische Hoffnung, die bis an das Ende der Geschichte und darüber hinaus reicht.

Etwa drei Dutzend Mal wird im Neuen Testament die Hoffnung, zu der das Alte Testament Anlass gibt, im Wort „Verheissung” zusammengefasst (Apg 26,6-7; Röm 4,13-14; Hebr 11,39-40). Paulus schreibt in Epheser 2,12, dass die Heiden früher ausgeschlossen „vom Bürgerrecht Israels und Fremdlinge hinsichtlich der Bündnisse der Verheissung” waren.9 Der Begriff „Verheissung” ist im Neuen Testament Sammelbezeichnung für die Versprechen des Alten Testaments.

Die Bündnisse offenbaren, auf welche Art und Weise sich die Verheissung erfüllt, dass Gott das Böse vernichtend schlagen wird. Sie sind unsere Roadmap, die ein immer heller werdendes Licht auf die Erfüllung des Heilsplans Gottes werfen. Sie stellen theologisch gesprochen eine fortschreitende Offenbarung dar. Mit jedem Bund offenbart Gott mehr von seinem Heilsplan, mit jedem Bund wird seine Verheissung konkreter. Dem entsprechend enthalten die ersten Bündnisse allgemeine Zusagen, während in den späteren Gottes Heilsabsichten immer klarer zu Tage treten. Wir verschaffen uns vorerst einen Überblick:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Obwohl die biblischen Bücher nicht in der Reihenfolge ihrer Entstehung angeordnet sind, ist es ratsam, Gottes Wort von vorne nach hinten durchzulesen, so wie man das mit jeder Geschichte macht. Das Buch Genesis beginnt mit der Schöpfung. Die Tatsache, dass Gott die Welt schuf, bildet die Grundlage jedes weiteren Wortes der Bibel. Denn wenn Gott der Schöpfer ist, dann ist die Schöpfung von ihm abhängig, dann besitzt Gott das Verfügungsrecht über sie und dann ist er als ihr Erschaffer um sie besorgt. Die Wiederherstellung der Königsherrschaft Gottes über seine geliebte Erde ist das Ziel, auf das die Story zuläuft. Die gesamte Geschichte, die sich uns in der Bibel entfaltet, ist durchdrungen von der Hoffnung auf das Offenbarwerden des Königs. Als Christen leben wir in der festen Hoffnung auf die verheissene Neuschöpfung, von der Offenbarung 21-22 spricht. Dann, wenn alle Klagen verstummt und alle Tränen abgewischt sind, wird die Welt endlich so sein, wie wir sie uns in unseren Herzen ersehnen.

Zwei Testamente

Die Bibel kann nur richtig verstanden werden, wenn man sie in der Gestalt ernst nimmt, in der sie uns überliefert ist. Einen Umstand haben wir bisher als selbstverständlich vorausgesetzt: Wir haben ein Altes und ein Neues Testament. Die Bezeichnung ist sinnvoll, aber sie ist nicht von der Bibel selbst vorgegeben. Die Kirche hat erst im 2. Jh. begonnen, von einem Alten und einem Neuen Testament zu sprechen.

Jesus und die Apostel nannten das, was wir das Alte Testament nennen, „die Schrift” (Joh 10,35; 2Tim 3,16). Sie umfasst „das Gesetz, die Propheten und die Psalmen” (Lk 24,44). Das entspricht der hebräischen Einteilung des Alten Testaments und umfasst es als Ganzes:

b) Das Gesetz (tora) umfasst die fünf Bücher Mose.

c) Die Propheten (nebiim) werden in vordere (Josua, Richter, Samuel, Könige) und hintere Propheten (Jesaja, Jeremia, Hesekiel, die zwölf „kleinen” Propheten) unterteilt.

d) Die Schriften (ketubim) bilden den dritten Teil. Sie werden auch als Psalmen bezeichnet, weil der Psalter das erste und umfangreichste Buch der Schriften ist. Sie umfassen poetische Bücher (Psalmen, Hiob, Sprüche), die fünf „Rollen” (Ruth, Hohelied, Prediger, Klagelieder, Ester) und Geschichtsbücher (Daniel, Esra, Nehemia, Chroniken).

Im Judentum trägt das Alte Testament die Bezeichnung tanach. Das Wort ist ein aus den hebräischen Anfangsbuchstaben der drei Hauptteile (TNK) zusammengesetztes Akronym. Die Konsonanten Taw, Nan und Kaph werden vokalisiert zu Tanach.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Der innere Zusammenhang der drei Teile der hebräischen Bibel zeigt sich am besten, wenn man vom Gedanken der Offenbarung ausgeht. Das Gesetz stellt die grundlegende Offenbarung dar, die von Gott selbst gegeben ist. Die Propheten bilden die darauf aufbauende Offenbarung, die das Gesetz für spätere Generationen interpretiert. Die Schriften schliesslich sind „die beiden vorhergehenden Teile bedenkende oder im Glauben meditierende Offenbarung”.10

Obwohl die Unterteilung in ein Altes und ein Neues Testament nicht von der Bibel vorgegeben ist, lässt sich gut damit arbeiten. Denn das Neue Testament gründet auf dem neuen Bund, den der Prophet Jeremia in Aussicht stellte (Jer 31,31-34) und den Jesus durch seinen Tod am Kreuz in Kraft setzte (Mt 26,26-28). Und Paulus spricht von sich als einem Diener des neuen Budnes (2Kor 3,6). Die Rede von einem Alten und einem Neuen Testament will also keine Geringschätzung gegenüber dem Alten zum Ausdruck bringen, sondern anzeigen, dass der zweite Teil der Bibel die Erfüllung des ersten ist. „Altes und Neues Testament lassen sich darum zwar als erster und zweiter Teil des biblischen Kanons unterscheiden, aber nicht trennen.”11

Das Festhalten an der Zusammengehörigkeit von Altem und Neuem Testament ist keine Selbstverständlichkeit. Im Laufe der Geschichte ist immer wieder die Abschaffung des Alten Testaments gefordert worden. Sie wurde zum ersten Mal von Markion erhoben, einem Autor aus der Mitte des 2. Jahrhundert. n.Chr.

„Nach Markion war das Christentum eine Religion der Liebe, in der keinerlei Raum für das Gesetz war. Das Alte Testament rede von einem anderen Gott als dem des Neuen Testaments; der alttestamentliche Gott, der lediglich die Welt geschaffen habe, sei von der Idee des Gesetzes besessen gewesen. Der neutestamentliche Gott habe dagegen die Welt erlöst, er sei allein durch die Liebe charakterisiert.”12

Markion akzeptierte nur das Neue Testament, und auch hier nur gewisse Bücher, die er zuvor von alttestamentlichen Einflüssen „gereinigt” hatte. Die Kirche lehnte Markions Sicht als ketzerisch ab.13

Im 20. Jahrhundert erfuhr Markions Forderung in der liberalen Theologie eine Renaissance. Der Kirchengeschichtler Adolf von Harnack schrieb 1920 die berühmt gewordenen Sätze:

„Das Alte Testament im 2. Jh. zu verwerfen, war ein Fehler, den die grosse Kirche mit Recht abgelehnt hat; es im 16. Jh. beizubehalten, war ein Schicksal, dem sich die Reformation noch nicht zu entziehen vermochte; es aber seit dem 19. Jh. als kanonische Urkunde im Protestantismus noch zu konservieren, ist die Folge einer religiösen und kirchlichen Lähmung.”14

Das Alte Testament wurde von liberalen Theologen als anstössig empfunden, es sei als unchristliche Schrift abzulehnen.

In der Zeit des Nationalsozialismus erklang unter den Deutschen Christen der Ruf nach Befreiung vom Alten Testament. Mit seinen „Viehhändler- und Zuhältergeschichten” sei es unzumutbar. Auf die „Sündenbocktheologie” des Paulus, die im Alten Testament wurzle, müsse verzichtet werden, weil sie eine Verfälschung der frohen Botschaft „liebe deinen Nächsten wie dich selbst” darstelle. Man wollte das Christentum auf das Gebot der Nächstenliebe reduzieren und übersah, dass dieses Gebot aus dem verschmähten Alten Testament stammt.15

Eine Geringschätzung des Alten Testaments ist nur unter Missachtung des Neuen möglich. Denn dasselbe Neue Testament, das angeblich einen ganz anderen Gott verkündet, gründet auf das Alte Testament als Heilige Schrift. Das Alte Testament wird im Neuen durchwegs als bleibend gültiges Wort Gottes vorausgesetzt. Das wird sowohl bei Jesus als auch den Aposteln deutlich. Jesus bestätigte die Gültigkeit des Alten Testaments ausdrücklich. Für ihn war es unmöglich, dass „die Schrift” gebrochen werden könnte (Joh 10,35). Jesus sah seinen Weg im Alten Testament vorgezeichnet (Lk 24,25-46), er benutzte es als Waffe im Kampf gegen Versuchung (Mt 4,1-11) und er verteidigte damit seine Autorität (Mt 5,17).

Insbesondere der Apostel Paulus argumentierte häufig mit dem Alten Testament. In seinen Briefen wird die Autorität der heiligen Schriften des Judentums durchgängig vorausgesetzt. Das zeigt sich an den vielen Bezügen, die Paulus zum Alten Testament herstellt. Seine dreizehn Briefe enthalten rund zweihundert Zitate oder direkte Bezüge zum Alten Testament. Christusnachfolge ohne Altes Testament war für Paulus undenkbar. Das Alte Testament bedeutet für einen Christen Belehrung, Widerlegung, Besserung, Erziehung, Geduld, Hoffnung und Trost (2Tim 3,16; Röm 15,4). Peter Stuhlmacher ist zuzustimmen, wenn er im Blick auf das Verhältnis der beiden Testamente sagt:

„Das Christusevangelium darf vom Gotteszeugnis der alttestamentlichen Schriften nicht abgelöst und kann auch nicht unabhängig von Tradition, Sprache und Denkart des Alten Testaments verstanden werden. Das Christuszeugnis des Neuen Testaments bleibt ohne das Gotteszeugnis des Alten unverständlich, und der christliche Glaube verkümmert, wo er versucht, sich von seiner Verwurzelung im Alten Testament zu lösen. Da die Hl. Schriften Juden und Christen gemeinsam gehören, implizieren diese Tatbestände die theologische Verpflichtung, Israel und seine Tradition niemals aus der Besinnung auf die Wahrheit des Evangeliums auszuklammern.”16

Damit dürfte deutlich geworden sein, dass man die Bibel nur dann recht versteht, wenn man Altes und Neues Testament aufeinander bezogen liest. Das Alte Testament ist die Grundlegung der Heiligen Schrift. Seine Verheissungstheologie weist über sich hinaus auf das Neue Testament, das Jesus als den Messias Israels und den Retter der Welt zum Zentrum hat. Von ihm aus fällt ein helles Licht zurück auf das Alte Testament, das durch das Christusereignis erst völlig verstanden werden kann. Durch dieses Aufeinander bezogen sein beider Teile ergibt sich eine biblische Theologie, in der die Einheit der Heiligen Schrift eindrücklich zu Tage tritt.

TEIL I - DER GARTEN DES KÖNIGS

Von der Schöpfung bis zum Sündenfall

Die Geschichte der Bibel beginnt in einem Garten. In Eden errichtet Gott seine Königsherrschaft. Er lädt den Menschen ein, sich des natürlichen Reichtums des Gartens zu erfreuen und unter seinem Segen zu leben. Doch da ist noch diese Schlange, die Gottes Absicht zu durchkreuzen vermag...

Einführung

Die ersten beiden Kapitel der Bibel beschreiben, wie Gott Himmel und Erde schuf. Die Erschaffung alles Sichtbaren und Unsichtbaren ist das Werk des dreieinigen Gottes (Gen 1,1-2; Kol 1,16). Durch sein schöpferisches Wort entstand das All und durch ihn hat es Bestand (Ps 33,6; Kol 1,17). Das Alte Testament verbindet mit dem Satz „Verkündigt bei den Völkern: Der Herr ist König. Den Erdkreis hat er gegründet” (Ps 96,10) Schöpfung und Königsherrschaft und sagt damit, dass der Schöpfer Herr und König über seine Schöpfung ist.

Es ist bedeutsam, dass die Schöpfung gut ist. Sechs Mal heisst es im Schöpfungsbericht, dass alles von Gott ins Leben Gerufene gut ist. Wie ein Refrain durchziehen die Worte „Gott sah, dass es gut war” die ersten Seiten der Bibel. Das dürfen wir, die wir unter dem Fluch der Sünde seufzen, nie vergessen.

Gottes Urteil über seine Schöpfung lautete: „Gott sah alles an, was er gemacht hatte. Es war sehr gut” (Gen 1,31). Dieses Urteil wurde in der Unversehrtheit einer guten Schöpfung gefällt, die uns heute nicht mehr zugänglich ist. In der ursprünglichen Schöpfung herrschte zwischen Schöpfer, Geschöpf und Schöpfung ein harmonisches Miteinander. Erst durch den Sündenfall geriet die Schöpfung aus den Fugen. Die ursprünglich heile Welt brach in sich zusammen und wurde erlösungsbedürftig. Seither ist Gott am Werk, um die gesamte geschaffene Ordnung zur ihrer eigentlichen Bestimmung zurückzuführen. Der Heilsplan, der in der Bibel entfaltet wird, gründet in diesem göttlichen Willensentschluss.

In diesem ersten Teil wenden wir uns Genesis 1-3 zu. Diese Kapitel verdienen besondere Aufmerksamkeit, denn sie setzen die Bühne für den weiteren Verlauf der Story. In ihnen wird von der guten Königsherrschaft Gottes auf Erden gesprochen. Es geht um Gottes Schöpfung und den Auftrag des Menschen, sie zu pflegen. Und es geht um den Sündenfall und seine Folgen für das Verhältnis des Menschen zum Schöpfer, zum Mitmenschen und zur Natur.

Eden – Gottes vollkommene Herrschaft

Die biblische Geschichte beginnt in einem Garten. Als Gott die Welt schuf, pflanzte er einen Garten und übergab ihn dem Menschen als seinen natürlichen Lebensraum. In Genesis 2,8, wo er zum ersten Mal erwähnt wird, heisst es, dass Gott den Garten an einem Ort namens Eden pflanzte. Von da an wird er als Garten Eden bezeichnet, was „Wonne” bedeutet.

Im Garten des grossen Königs zu leben war pures Glück. Alles war sehr gut. Es gab keine Sünde und keinen Tod (vgl. Röm 5,12). Die Gemeinschaft des ersten Menschenpaars war vollkommen. Sie waren nackt, aber sie schämten sich nicht (Gen 2,25). Die Gemeinschaft mit Gott war ungetrübt. Adam und Eva lebten in einer von Vertrauen getragenen Beziehung zum Schöpfer, die keine Furcht, sondern nur Liebe kannte. Erst als Adam in Sünde fiel, fürchtete er sich vor Gott und versteckte sich (Gen 3,10). Auch die Beziehung zur Natur war anfangs harmonisch. Adam und Eva genossen vom natürlichen Reichtum des Gartens und assen von seinen Früchten (Gen 2,8-14).

Gott schuf den Garten Eden als Zeugnis seiner selbst. Der Garten widerspiegelte in seiner Unversehrtheit die Herrlichkeit des Schöpfers. Adam und Eva waren eingeladen, sich am natürlichen Reichtum Edens zu erfreuen und ihren Schöpfer zu erkennen und zu preisen. Sie unterstellten sich dem König und lebten unter seinem Segen.

Der Pentateuch

Bevor wir uns dem Garten Eden und seiner Bedeutung für die biblische Story widmen, ist es ratsam, nach den Schriften zu fragen, mit denen der alttestamentliche Kanon eröffnet.17

Der erste Teil der hebräischen Bibel besteht aus den fünf Büchern Mose. Sie bilden die grundlegende Offenbarung, auf der die übrigen Bücher des Alten Testaments aufbauen. Wegen ihrer Fünfteilung werden sie „Pentateuch” genannt, eine Bezeichnung, die sich aus dem Griechischen ableitet und „fünfbändiges Buch” bedeutet. Im Judentum werden die fünf Bücher Mose tora („Weisung”) genannt, was die Absicht des Werkes besser zum Ausdruck bringt als das streng wirkende „Gesetz”, das wir im Deutschen verwenden. Die Tora ist Gottes Weisung, die zum Leben führt. Sie zu kennen und zu befolgen ist Voraussetzung dafür, dass der Mensch Gottes schalom erfahren kann. Das hebräische Schalom hat umfassende Bedeutung. Es schliesst den Gedanken des Wohlergehens, des Friedens und des Glücks ein.18

Zahlreiche biblische und ausserbiblische Hinweise legen den Schluss nahe, dass der Pentateuch von Mose verfasst wurde.19 Obwohl das Werk anonym ist, was den Gepflogenheiten altorientalischen Literaturschaffens entspricht, sind vor allem die biblischen Hinweise auf die Verfasserschaft des Mose eindeutig. Die heiligen Schriften des Judentums beziehen sich auf die Tora durchwegs als das Werk des Mose (Jos 1,7; Esra 7,6). Im Neuen Testament wird die Verfasserschaft des Mose von Jesus bestätigt (Mt 19,8; Lk 24,44; Joh 5,46) und von den Aposteln vorausgesetzt (Joh 1,17; Apg 3,22; Röm 10,5).

Es kann davon ausgegangen werden, dass der Pentateuch erst im Laufe der Zeit seine endgültige Gestalt fand. Während alles darauf hinweist, dass der Schöpfungsbericht auf direkte Offenbarung Gottes zurückgeht, wurden die Geschichten der Glaubensväter aller Wahrscheinlichkeit nach mündlich tradiert und in der Zeit des Mose verschriftlicht. Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass Mose selbst für diesen Prozess verantwortlich war. Mose schrieb das Gesetz, das Gott ihm am Sinai offenbarte, sorgfältig nieder und übergab es den Leviten zur Aufbewahrung im Heiligtum. Deuteronomium 31,24-29 weist darauf hin, dass dies mit grösster Sorgfalt geschah, um den nachfolgenden Generationen ein glaubhaftes Zeugnis zu hinterlassen. Man war sich also schon früh der Bedeutung der verlässlichen Überlieferung bewusst und betrieb sie mit entsprechender Sorgfalt.

Die Sorgfalt im Umgang mit den heiligen Schriften betrifft nicht nur ihre Überlieferung und ihr theologischer Gehalt, sondern auch ihre geschichtlichen Angaben. So wissen wir, dass Mose die Geschehnisse während der Wüstenwanderung schriftlich verurkundete (Ex 17,14) und mit exakten Ortsnamen und Zeitangaben versah (Num 33,1-2).

Wahrscheinlich benutzte Mose den in Ägypten gebräuchlichen Papyrus, ein aus der Papyrusstaude hergestelltes Schreibmaterial, dessen getrocknete und polierte Blätter zu Rollen von 6-10 Metern Länge zusammengefügt wurden. Diese konnten während der Wüstenwanderung problemlos transportiert werden. Nach dem Bau des Tempels, wurde dieser zum Aufbewahrungsort für die Tora, wie die Auffindung der Gesetzesrollen zur Zeit Joschijas zeigt (2Kö 22,8ff). Seine Endgestalt fand der Pentateuch erst in nachexilischer Zeit unter Esra. Die jüdische Überlieferung schreibt ihm die Sammlung der heiligen Schriften des Judentums und die letzte schriftliche Ausgestaltung der Tora zu.20

Die fünf Bücher Mose bilden die Grundlage des Alten Testaments, ja der Bibel überhaupt. Rolf Rendtorff fasst ihre immense Bedeutung in den Worten zusammen:

„Die meisten anderen Bücher wären nicht voll verständlich ohne die Kenntnis des Pentateuch, auf den sie sich vielfältig direkt oder indirekt beziehen. Vor allem aber enthält der Pentateuch die Darstellung der entscheidenden Grundlagen der Existenz Israels: die Erwählung Israels durch den einen Gott, die Zusage des Landes, die Befreiung aus der ägyptischen Knechtschaft, die Einrichtung des Kultes, und die Gabe der Tora. Der Pentateuch schildert den Weg, auf dem Israel schrittweise bis zu dem Punkt gelangt, an dem das Leben im verheissenen Land auf diesen im Pentateuch gelegten Grundlagen beginnen kann. Dieser Weg Israels wird aber noch in einen grösseren, allumfassenden Rahmen gestellt: Der Pentateuch beginnt mit der Erschaffung der Welt und der ganzen Menschheit. Das von Gott erwählte Israel steht zwar im Mittelpunkt der nachfolgenden Texte; aber es ist nicht allein auf der Welt, ja es ist nur 'das kleinste unter allen Völkern' (Dtn 7,7). Dies wird in der Urgeschichte eindrucksvoll durch den grossen Rahmen zum Ausdruck gebracht, in dem Israel zunächst gar nicht vorkommt. Zugleich wird damit ein anderer entscheidender Punkt unmissverständlich herausgestellt: Gott ist einer. Was auch immer im Lauf der Geschichte Israels an Fragen und Zweifeln und Gegenbehauptungen auftauchen mag: dass Gott einer ist und dass es ausser ihm keine anderen Götter gibt und dass dieser eine die ganze Welt und die Menschheit geschaffen hat, wird im ersten Kapitel, ja im ersten Satz der Hebräischen Bibel als Grundlage und Voraussetzung alles Kommenden unbezweifelbar ausgesprochen: 'Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde.' Vor Gott gibt es keinen Anfang, und ausser Gott gibt es keinen Schöpfer.”21

Am Anfang schuf Gott

In der hebräischen Bibel trägt das erste Buch des Alten Testaments den Titel bereschit („im Anfang”). In der griechischen Übersetzung wird das erste Buch Mose Genesis genannt („Ursprung”, „Anfang”). Beide Titel sind zutreffend, „denn das erste Buch der Bibel offenbart Ursprung und Entstehung aller Dinge, des Kosmos wie der Menschheit, die Anfänge Israels und der Heilsgeschichte und ist damit grundlegend für den Glauben von Juden und Christen.”22

Die hebräische Bibel folgt einer alten Tradition, Bücher mit einem der ersten Worte zu benennen mit denen der Text beginnt, während in den griechischen und lateinischen Übersetzungen der Inhalt der Bücher den Titel bestimmt, wie die folgende Übersicht zeigt:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Das Buch Genesis beginnt mit Gottes Schöpfungswerk: „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde” (Gen 1,1). Hier wird ein absoluter Anfang konstatiert vor dem es nichts gab – keine Materie, keine Geschichte, nur Gott selbst.23

Gottes Existenz wird nicht begründet und nicht erklärt, sie wird vorausgesetzt. So zeigt sich schon am ersten Satz der Bibel, dass sie beansprucht, mehr zu sein als ein philosophischer Beitrag zu den grossen Fragen der Menschheit. Die Bibel ist Offenbarungszeugnis des lebendigen Gottes, der sich menschlicher Erklärungs-versuchen entzieht. Die Existenz Gottes gehört zu den Dingen, die der menschliche Geist nicht zu ergründen vermag, weil sie nur im Glauben erfasst werden können. Gott ist der Schöpfer und der König, der vor allem Geschaffenen existiert (Ps 90,1-2) und über allem Geschaffenen steht.

Der Schöpfungsbericht besagt, dass Gott das Universum schuf und die Erde mit Leben füllte. „Himmel und Erde” (Gen 1,1) ist in der Bibel der Ausdruck für das, was wir den Kosmos oder das Universum nennen.

Die Erde „war wüst und wirr, Finsternis lag über der Urflut, und Gottes Geist schwebte auf dem Wasser” (Gen 1,2). In ihrem ungeformten Zustand war die Erde ein tohu wabohu ohne Leben und Ordnung. Durch sein mächtiges Wort schuf Gott aus Chaos und Finsternis ein Ort voller Ordnung, Leben und Licht. Das ist eine hoffnungsvolle Feststellung für uns, die wir in einer Zeit leben, in der ein Atomkrieg die Welt im Nu ins Chaos stürzen kann. Gott kann die verheissene Neuschöpfung mitten aus Chaos und Zerstörung schaffen, so wie er es am Anfang tat.

Gottes Werk wird in Genesis 1 mit Vorliebe mit dem Verb bara („erschaffen”) beschrieben. Das Wort ist im Alten Testament für Gottes Schöpfungstätigkeit reserviert und bezeichnet das Werk Gottes, der aus dem Nichts die Dinge ins Dasein ruft (Hebr 11,3). Bara „ist eines der ganz wenigen Verben im biblischen Hebräisch, das nur mit Gott als Subjekt verwendet wird. So drückt es die Souveränität des Handelns Gottes aus.”24

Schöpfungswort und Schöpfungstat sind eins. Was Gott sagt, das geschieht. Sein Wort ist ein Leben schaffendes Wort. In Genesis 1 „wird von einem Werk gesprochen, das menschlichen Vorstellungen und Kategorien entrückt ist und nur von Gott selbst ausgeübt werden kann”.25

Gottes Schöpfungswerk wird in knappen Sätzen beschrieben. Am ersten Tag schuf Gott das Licht und trennte es von der Finsternis, die vor den Schöpfungstagen über der Urflut gelegen hatte. Am zweiten Tag trennte Gott die Wassermassen, so dass ein Gewölbe zwischen ihnen wurde. Es gab nun unterhalb und oberhalb des Gewölbes Wasser. Am dritten Tag liess Gott das Wasser sich sammeln, so dass das Trockene zum Vorschein kam. Auf dem trockenen Land schuf Gott Pflanzen und Bäume aller Art. Am vierten Tag schuf Gott die Himmelskörper, um über Tag und Nacht zu herrschen. Am fünften Tag belebte Gott die Schöpfung, indem er die See- und Lufttiere schuf. Zum ersten Mal kommt am fünften Tag das Wort „Segen” vor. Gott segnete die Tiere und gebot ihnen, sich zu vermehren. Am sechsten Tag schuf Gott die Landtiere und als Krönung seines Schaffens den Menschen.

Drei Mal heisst es in Genesis 1,26-27, dass Gott den Menschen als sein „Abbild” schuf. Durch die dreifache Wiederholung wird die Erschaffung des Menschen in besonderer Weise hervorgehoben. Von den Tieren unterscheidet ihn, dass er als einziges Geschöpf Abbild des Schöpfers ist. In Genesis 1,28 wird er zudem als einziges Geschöpf direkt angesprochen. Damit hat der Mensch eine besondere Stellung in der Schöpfung. Er besitzt eine unveräusserliche Würde, die in seiner Zugehörigkeit zu Gott und in seiner Bestimmung zur Gemeinschaft mit ihm gründet. Aber auch die Vergänglichkeit des Menschen ist im Blickfeld. Er ist aus dem Ackerboden geschaffen (Gen 2,7) und wird wieder dahin zurückkehren (Gen 3,19).

Der Mensch findet nur im Blick auf Gott den Sinn seines Daseins, aber der Mensch ist nicht ein Teil Gottes. Der Alttestamentler Hans Walter Wolff hält prägnant fest: „Weder rollt das Blut eines geschlachteten Gottes in seinen Adern, wie in babylonischen Schöpfungsmythen, noch ist der Mensch aus den Tränen des Sonnengottes entstanden, wie in Ägypten seit dem frühen Mittleren Reich häufig gesagt wird.”26 Der Schöpfungsbericht zeichnet ein ambivalentes Bild vom Menschen. Er ist die Krone der Schöpfung (vgl. Ps 8,6), gleichzeitig besteht eine unüberbrückbare Distanz zu Gott.

Was bedeutet es, Abbild Gottes zu sein? Abbild kann mit „Ähnlichkeit” wiedergegeben werden. In Genesis 1,26 heisst es, dass Gott sich entschied, Menschen zu machen „als unser Abbild, uns ähnlich”. Das kann körperliche Ähnlichkeit meinen, denn im Alten Testament wird Gott als redender, hörender und riechender Gott mit Armen, Händen und Augen beschrieben (Ex 24,9-11). Wie wir noch sehen werden, hat Abbild Gottes sein aber vor allem mit der schöpferischen Fähigkeit des Menschen zu tun.

Wie aus Genesis 2,18-25 hervorgeht, war Adam als einzelner Mensch noch nicht das von Gott beabsichtigte Geschöpf. Adam fand erst in der Gemeinschaft mit der Frau zu seinem ganzen Menschsein. Der Mensch ist ein soziales Wesen, das seine Bestimmung im intakten Verhältnis zu Gott, seinem Nächsten und der Umwelt findet. Erst in Gemeinschaft ist der Mensch wirklich Mensch.27 Dieser Grundzug kann durch die ganze Bibel hindurch verfolgt werden.

Am siebten Tag ruhte Gott, nicht weil er müde war, sondern weil die Arbeit getan war. Vier Mal heisst es in Genesis 2,1-3, dass Gott ruhte, weil er sein Werk vollendet hatte. Es gab dem Gutsein der Schöpfung nichts hinzuzufügen. Alles, was Gott geschaffen hatte, war sehr gut. Aus einem formlosen Chaos war ein fruchtbarer Garten geworden.

Unvergleichlicher Gott

Im Alten Testament ist die Erschaffung der Welt ein Akt der Weisheit Gottes. So fragt Hiob:

„Die Weisheit aber, wo kommt sie her, und wo ist der Ort der Einsicht? Verhüllt ist sie vor aller Lebenden Auge, verborgen vor den Vögeln des Himmels ... Gott ist es, der den Weg zu ihr weiss, und nur er kennt ihren Ort ... Als er dem Wind sein Gewicht schuf und die Wasser nach Mass bestimmte, als er dem Regen das Gesetz schuf und einen Weg dem Donnergewölk, damals hat er sie gesehen und gezählt, sie festgestellt und erforscht” (Hiob 28,20-27).

Während die Weisheit vor den Menschen verhüllt ist, ist Gott selbst die Weisheit. Er benötigte keine Hilfe, um die Erde zu erschaffen. Der Prophet Jesaja fragt: „Wer wiegt die Berge mit einer Waage und mit Gewichten die Hügel? Wer bestimmt den Geist des Herrn? Wer kann sein Berater sein und ihn unterrichten? Wen fragt er um Rat und wer vermittelt ihm Einsicht?” (Jes 40,12-14). Die Schöpfung ist das Werk des einen Gottes, der Kraft und Weisheit in unbegrenztem Mass besitzt.

Nicht nur von Israel, auch von anderen Völkern des alten Orients sind uns Schöpfungsberichte überliefert. Wenn man die biblische Urgeschichte (Gen 1-11) mit den altorientalischen Schöpfungsmythen vergleicht, treten markante Unterschiede zu Tage.28 Im babylonischen Schöpfungsmythos Enuma Elisch entsteht die Welt durch einen Götterkampf. Marduk schleudert einen gewaltigen Zyklon in das offene Maul der Göttermutter Tiamat. Die Göttin bläht sich auf, worauf Marduk sie mit einem Dolch ringsum aufschneidet. Aus der oberen Hälfte erschafft er den Himmel, aus der unteren die Erde.

Im Gegensatz zu diesen martialischen Vorstellungen strahlt der biblische Schöpfungsbericht Ordnung und Ruhe aus. Genesis 1-2 malt uns in seiner Schlichtheit das Bild eines unvergleichlichen Gottes vor Augen, der hoch über die Götter erhaben ist. Es gibt keinen Kampf und keine Anstrengung. Gott spricht und es geschieht! Gott ist der wahre Herr und ausser ihm ist keiner. Der biblische Schöpfungsbericht steht mit seiner Betonung des souveränen Handelns Gottes in auffallendem Gegensatz zu den altorientalischen Schöpfungsmythen und kann nur das Ergebnis von Offenbarung sein.

Damit zeigt sich auf den ersten Seiten der Bibel ein Anspruch, der durch die ganze Heilige Schrift hindurch immer wieder erhoben wird: Die Bibel ist mehr als menschliches Zeugnis über Gott, obwohl hier Menschen schreiben und ihren Glauben bezeugen. Sie ist Gottes Offenbarung an uns Menschen, durch die uns Gottes Weg zum Leben und zum Glauben gewiesen ist. Gott bedient sich menschlicher Werkzeuge, Sprache und Vorstellungen, aber er selbst ist der Ursprung und Geber des Wortes. Die Heilige Schrift ist von Gott eingegeben (2Tim 3,16) und von Menschen niedergeschrieben (Offb 1,19), die vom Heiligen Geist geleitet waren (2Petr 1,21). Sie ist kein Zufallsprodukt der Geschichte, sondern Gottes bevorzugtes Kommunikationsmittel zur Bekanntmachung seines Heils. Gott stellt sich zu diesem Wort als seinem Wort:

„Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt, doch das Wort unseres Gottes bleibt in Ewigkeit” (Jes 40,8). Wie alles begann

Das Buch Genesis ist durch die Formel „dies ist die Entstehungsgeschichte” strukturiert, die als einführende Formel für zehn aufeinander folgende Abschnitte dient (Gen 2,4; 5,1; 6,9; 10,1; 11,10; 11,27; 25,12; 25,19; 36,1; 37,2). Im hebräischen Text steht das Wort toledot, das „Entstehung” aber auch „Geschlechterfolge” bedeuten kann. Damit ergibt sich eine Zweiteilung des Buches:

In 1,1-2,3 haben wir den Schöpfungsbericht, der damit schliesst, dass Gott am siebten Tag von seinen Werken ruhte.

In 2,4 bis zum Ende des Buches haben wir zehn Abschnitte, die anzeigen, was aus der Schöpfung geworden ist.

Der Schöpfungsbericht zeichnet in groben Pinselstrichen das Werk Gottes, welches gut und vollkommen ist. Die zehn folgenden Abschnitte zeichnen nach, was aus Gottes Schöpfung geworden ist, nachdem Gott den Menschen als seinen Stellvertreter über die Schöpfung einsetzte. Auffallend ist, dass die meisten Abschnitte im Versagen des Menschen enden. Zugleich enthalten sie einen Hoffnungsschimmer der Gnade. Damit wird ein Grundzug der biblischen Heilsgeschichte angezeigt: Der Mensch reisst sich von Gott los und wird zum Handlanger des Bösen. Gott aber gibt den Menschen nicht sich selbst und den Mächten des Bösen preis. Er schränkt das Böse ein, gibt Gnade und hält die Hoffnung auf die Wiederherstellung aller Dinge aufrecht.

Der erste Abschnitt beginnt mit den Worten: „Dies ist die Entstehungs-geschichte des Himmels und der Erde, zur Zeit, als Gott, der Herr, Himmel und Erde schuf” (Gen 2,4). Dieser Abschnitt stellt einen Rückgriff auf die sechs Schöpfungstage dar und vertieft das Berichtete. In Genesis 2 werden die Erschaffung des Menschen, sein Auftrag und die Vollkommenheit der Schöpfung herausgestrichen. Hat uns Genesis 1 das grosse Bild geliefert, zoomt die Kamera in Genesis 2 heran und liefert uns den Menschen und seine Verantwortung in Nahaufnahme.

Gott formte den Menschen (adam) aus dem Ackerboden (adamah). Mit dem Wortspiel werden die Vergänglichkeit des Menschen sowie seine Verbundenheit mit der Erde hervorgehoben. Gott setzte den Menschen als Pächter im Garten Eden mit seinen schönen Bäumen und köstlichen Früchten ein. Die Erde war reich an Bodenschätzen. Ein Strom, der in Eden entsprang, bewässerte den Garten und teilte sich in vier Flüsse.

Genesis 3 beschreibt den Einbruch der Sünde, und Genesis 4 schildert die Folgen der Sünde am Beispiel von Kains Brudermord und an der Gewaltbereitschaft Lamechs. Die beiden Gewalttaten stehen als Beispiel für das völlige Versagen der Menschen. Doch der Abschnitt schliesst mit der Geburt des Hoffnungsträgers Set, dem nach Abel geborenen Sohn Adam und Evas. Mit ihm führte Gott seine Heilsgeschichte weiter.

Der zweite Abschnitt ist „die Liste der Geschlechterfolge nach Adam” (Gen 5,1). Gott segnete Adam und Eva mit der Geburt Sets. Der Abschnitt enthält die Geschlechterfolge von Set bis Noach und schliesst mit der Bosheit auf Erden, die zur Zeit Noachs herrschte. Doch auch dieser Abschnitt endet nicht in der Hoffnungslosigkeit, denn „Noach fand Gnade in den Augen des Herrn” (Gen 6,8). Damit ist die Brücke zum dritten Abschnitt geschlagen, welcher die Geschichte Noachs erzählt.

Der dritte Abschnitt ist „die Geschlechterfolge nach Noach” (Gen 6,9). Gott richtete die Erde wegen der Bosheit der Menschen und rettete Noach und seine Familie durch die Flut hindurch. Mit Noach ermöglichte Gott einen Neuanfang. Er gewährte ihm einen Bund und versprach, nie mehr die Erde durch eine Flut zu strafen. Der Abschnitt schliesst mit der Sünde Noachs, dem Fluch, den er über seinen Sohn Kanaan aussprach und den Segenssprüchen über seinen Söhnen Sem und Jafet.

Der vierte Abschnitt ist „die Geschlechterfolge nach den Söhnen Noachs, Sem, Ham und Jafet” (Gen 10,1). Der Abschnitt enthält die sogenannte „Völkertafel”, die auf Zeugnissen beruhen dürfte, die zu den ältesten schriftlichen Aufzeichnungen der Menschheit gehören. Mit ihr wird aufgezeigt, wie sich die Söhne Noachs über die Erde ausbreiteten und welche Völker aus ihnen hervorgingen. Der Abschnitt schliesst mit der Rebellion des Turmbaus von Babel. Gott richtete das Ansinnen der Menschen und verwirrte ihre Sprache. Doch er übte Gnade im Gericht. Die Sprachverwirrung führte zur Zerstreuung der Menschen und so zur Erfüllung des Auftrags, die Erde zu bevölkern.

Der fünfte Abschnitt ist „die Geschlechterfolge nach Sem” (Gen 11,10). Sem wird unter den Söhnen Noachs hervorgehoben, weil er der Urvater Abrahams ist. Die Geschlechterfolge führt von Sem bis Terach, dem Vater Abrahams. Damit ist das Bindeglied zwischen der Urgeschichte (Gen 1-11) und der Geschichte Israels (Gen 12ff) gegeben.

Es ist kein Zufall, dass die Urgeschichte fünf Abschnitte umfasst und die Geschichte, die mit Abraham beginnt, ebenfalls fünf aufweist. Durch die Zweiteilung wird angedeutet, dass mit Abraham etwas Neues beginnt. Das Neue zeigt sich daran, dass die ersten vier Abschnitte ausnahmslos im Versagen der Menschen enden. Jeder dieser Abschnitte dient als Beweis für die Infizierung der menschlichen Rasse mit der Sünde. Der Mensch ist unfähig, die ihm übertragene Verantwortung als Stellvertreter Gottes auf Erden zu tragen. In den nun folgenden Abschnitten ist nicht mehr der Fluch und die Sünde das beherrschende Thema, sondern Gottes Gnade und Segen.

Der sechste Abschnitt ist „die Geschlechterfolge nach Terach” (Gen 11,27). Er beginnt mit dem Ruf an Abraham, in ein fremdes Land zu ziehen und enthält den wichtigen Bund mit Abraham, in welchem Gott zusagt, durch Abrahams Nachkommen alle Völker der Erde zu segnen. Die weiteren Kapitel beschreiben Höhe- und Tiefpunkte im Leben Abrahams und wie er selbst die Erfüllung der Versprechen Gottes nur gerade in der Geburt seines Sohnes Isaak erlebte. Die anderen Versprechen harrten ihrer Erfüllung. In diesem Widerspruch zwischen Verheissung und Wirklichkeit wird Abraham zum Vater des Glaubens.

Der siebte Abschnitt ist „die Geschlechterfolge nach Ismael, dem Sohn Abrahams” (Gen 25,12). Gott segnete Ismael, aber nicht er, sondern Isaak gehört in die Linie der Nachkommen Abrahams, durch die Gott sein Heil der Welt bringt. Weil die biblische Geschichte eine Heilsgeschichte ist, in welcher das ins Zentrum rückt, was der Erfüllung des Heilsplans Gottes dient, fällt der Abschnitt über Ismael knapp aus.

Der achte Abschnitt ist „die Geschlechterfolge nach Isaak, dem Sohn Abrahams” (Gen 25,19). Gott bestätigte Isaak die an Abraham ergangenen Versprechen und segnete ihn. Ausführlich werden die Umstände beschrieben, die dazu führten, dass nicht Isaaks Erstgeborener, Esau, sondern der nach ihm geborene Jakob zum Werkzeug der Verheissung Gottes wird.

Der neunte Abschnitt ist „die Geschlechterfolge nach Esau, der auch Edom heisst” (Gen 36,1). Da Esau nicht in die Linie der Verheissung gehört, fällt auch dieser Abschnitt kurz aus. Dennoch ist er nicht unwichtig. Esaus Stammbaum belehrte Israel, dass die Edomiter Israels Brudervolk war.

Der zehnte Abschnitt ist „die Geschlechterfolge nach Jakob” (Gen 37,2). Er beschreibt wie Jakob, der Sohn Isaaks, Vater von zwölf Söhnen war, welche die Stammväter Israels wurden. Insbesondere das Schicksal eines Sohnes, das Josefs, wird ausführlich beschrieben. Gott gebrauchte ihn, um Jakobs Familie nach Ägypten zu bringen, wo sie dem Hungertod entrannen und zu einem grossen Volk heranwuchsen.

Die zehn Abschnitte schlagen die Brücke zwischen der Urgeschichte und der Geschichte Israels. Am Anfang des Buches Genesis steht Gottes vollkommene Schöpfung. Sie fällt unter die Sünde und dadurch dem Bösen anheim. Gottes Absicht, die Welt zum Schauplatz seiner segensreichen Gegenwart zu machen, scheint vereitelt zu sein. Der Wille des Schöpfers ist durch die Listigkeit der Schlange durchkreuzt. Doch Gott verlässt seine Schöpfung nicht und wirkt durch Gericht und Gnade. Er wählt sich aus den Menschen Abraham, um durch ihn und seine Nachkommen alle Geschlechter der Erde zu segnen.

Gott offenbart sich

Wir haben gesehen, dass das Buch Genesis mit seiner Zweiteilung eine klare Struktur aufweist. Es handelt sich nicht um eine lose Sammlung von Geschichten mit dem Ziel der persönlichen Erbauung. Natürlich sprechen die Geschichten Abrahams, Isaaks, Jakobs und Josefs mitten in unser Leben hinein, denn der Gott, der mit ihnen Geschichte schrieb, ist heute derselbe.

In erster Linie müssen wir das Buch Genesis als Wort an Israel und als Grundlegung der Bibel verstehen. Das Buch wurde geschrieben, nachdem Israel aus Ägypten befreit worden war. Israel hatte damals noch keine Identität und kannte seine Herkunft und seinen Gott kaum. Das Buch füllt diese Lücke und ist als solches ein Wort an die Generation des Auszugs aus Ägypten.

Über die unmittelbare Bedeutung hinaus, welche das Buch Genesis für Israel hatte, sind insbesondere Genesis 1-3 eine Offenbarung von menschheits-geschichtlicher Bedeutung. Sie zeigen, dass hinter allem Geschaffenen der eine und wahre Gott steht, der sich in der Bibel offenbart. Und sie enthalten bereits einen Ausblick auf das Ziel aller Dinge. Aus dem Schöpfungsbericht und der Urgeschichte ragen die Offenbarungen über Gott, über Israel und über die menschliche Existenz heraus:

Die Offenbarung über Gott: Der Gott der Bibel ist der eine und wahre Gott. Es gibt keinen ausser ihm. Um die Bedeutung dieser Offenbarung zu verstehen, muss man sich der Situation bewusst sein, in der das Buch Genesis entstand. Israel befand sich während langer Zeit in der Sklaverei in Ägypten. In dieser Zeit scheint Gott geschwiegen zu haben. Aber dann griff Gott in den Verlauf der Geschichte ein und führte Israel aus dem Sklavenhaus am Nil. Im Auszug aus Ägypten lernte Israel Gott als Befreier kennen. Doch wer war dieser Gott, in dessen Namen Mose Wunder tat? Es gab noch keinen Tempel, keine Priester, keine Synagoge und damit kein zentral organisiertes Lehramt, das hätte sicherstellen können, dass Israel seine Geschichte und seinen Gott wirklich kannte.

In diesem Zusammenhang sind die Gottesnamen in den Büchern Genesis und Exodus von Bedeutung. Israel kannte Gott zunächst unter dem Namen „Jahwe”. Mose sagte den Israeliten: „Jahwe, der Gott eurer Väter, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs, hat mich zu euch gesandt” (Ex 3,14). Gott bürgte mit der Heiligkeit seines Namens dafür, dass die an die Glaubensväter ergangenen Versprechen in Erfüllung gehen. In Genesis 1-2 kommen zwei Gottesnamen vor. Zuerst die allgemeine Gottesbezeichnung Elohim, die im Hebräischen für Gott, die Götter und auch die Engel verwendet wird. Am Anfang schuf Elohim Himmel und Erde. Elohim sprach und es geschah. Elohim ist der Schöpfer alles Sichtbaren und Unsichtbaren. Doch dieser Elohim ist nicht ein unbekannter Gott, der den Göttern anderer Völker gleichzusetzen ist. Elohim ist der Gott, der Israel aus der Knechtschaft befreite. Gott offenbarte sich im Buch Genesis nämlich mit dem Doppelnamen Elohim-Jahwe.29 Der Schöpfungsbericht offenbart, dass Jahwe, der Befreier Israels, Elohim ist, der Schöpfergott, der alles geschaffen hat.

Die Offenbarung über Israel und sein Verhältnis zu den Völkern: Das Versprechen, dass durch Abrahams Nachkommen alle Völker der Erde gesegnet werden sollten, führte Israel vor Augen, dass es nicht um seiner selbst Willen existierte. Israel wurde von Gott als besonderes Eigentum aus den Völkern herausgerufen. Aufgrund dieser Sonderstellung neigten die Israeliten zu Stolz. Sie verstanden ihre Erwählung nicht als Verantwortung, sondern als Bevorzugung. Sie rühmten sich, Juden zu sein, das Gesetz zu haben und Gottes Willen zu kennen (Röm 2,17). Doch Erwählung ist kein Anlass zu Stolz, denn Erwählung ist ein Akt der Gnade.

Die Urgeschichte offenbarte Israel, dass es in Adam und in den Söhnen Noachs einen gemeinsamen Ursprung mit den Völkern hat. Israel ist ein erwähltes Volk unter den Völkern, das zugunsten der Völker existiert. In dieser Bestimmung widerspiegelt sich sowohl Israels Vorrecht, Gottes besonderes Eigentum zu sein, als auch seine Verantwortung, als Licht für die Völker zu dienen. Gerade die Völkertafel in Genesis 10 macht deutlich, dass Gott die Völker nicht aus den Augen verlor, als er Abraham und damit Israel erwählte. Der Gott Israels ist auch der Gott der Völker. Damit ist zumindest angedeutet, dass die Story, die Gott mit Israel schreibt, erst zu ihrer Erfüllung kommt, wenn auch die Völker im Licht Gottes wandeln.

Die Offenbarung über die menschliche Existenz: Die ersten drei Kapitel der Bibel vermitteln Antworten auf grundlegende Fragen des menschlichen Daseins: Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Die Frage nach der Herkunft und Zukunft aller Dinge ist ganz am Anfang der Bibel zu finden. Alles, was existiert, hat seinen Grund in Gott. Gott wollte die Welt und darum ist sie geworden. Sie ist sein Werk. Sie hat Bestand, weil er sie erhält. Wenn Gott alles geschaffen und dem Menschen Leben und einen Auftrag gegeben hat, gibt es nur bei ihm Sinn und nur mit ihm eine Zukunft.

Bis der Kreis sich schliesst

Der Garten Eden liegt für uns in ferner Vergangenheit, aber er enthält gewissermassen die Antwort auf die Frage nach unserer Zukunft. Das Paradies, wie es in Genesis 2 beschrieben wird, zeigt nicht nur, wie es einmal war, sondern auch, wie es einst sein wird. Genesis 2 und 3 sind eine Erklärung der Gegenwart (warum es das Böse und das Leid gibt), eine Darstellung der Vergangenheit (wie es zum Eindringen des Bösen kam und wer dafür verantwortlich ist) und ein Entwurf für die Zukunft (wie es einst werden soll). Die erste Seite der Bibel ist gewissermassen auch die letzte, denn „was dort zu lesen steht, ist sozusagen ein Modell der Zukunft, das uns mit Hoffnung erfüllt bezüglich unserer Bestimmung und der Bestimmung des Universums, die eines Tages Wirklichkeit werden wird”.30

Die Erinnerung an den paradiesischen Urzustand ist durch die ganze Bibel hindurch lebendig. In Form von Bildern und Metaphern taucht Eden immer wieder auf. Der Garten Eden war ein Ort der Unversehrtheit. Bäume wuchsen, Früchte gediehen, Wasser flossen und natürlicher Reichtum war vorhanden (Gen 2,9-14). Die Propheten Israels wussten um die Wiederherstellung aller Dinge und haben diese in Bildern, die sie dem Garten Eden entlehnten, leidenschaftlich verkündet. So diente den Propheten Wasser, eine belebte Schöpfung und wiederhergestellte Beziehungen als Symbole für Gottes zukünftige Welt (Jes 35,6-7; 65,17-25). In Erinnerung an den paradiesischen Anfang und in der Hoffnung auf seine Wiederherstellung, wird in der Bibel ein Paradigma des Paradieses entwickelt. Es ist ein Paradies der intakten Beziehungen zwischen Geschöpf, Schöpfung und Schöpfer.

Im letzten Kapitel der Bibel schliesst sich der Kreis und wir schlagen sozusagen wieder die erste Seite auf. In Offenbarung 22 ist wieder von Wasser die Rede, von Bäumen, von köstlichen Früchten und von Gott, dessen Angesicht die Menschen sehen werden. In der Heilsgeschichte geht es also gewissermassen um eine Rückkehr zu den Anfängen. Trotzdem ist die Story nicht rückwärtsorientiert, denn aus dem Garten des Anfangs wird auf den letzten Seiten der Bibel eine blühende Stadt. Es geht also nicht um die blosse Wiederherstellung eines ursprünglichen Zustands. Es geht um ein Übertreffen dieses Urzustands und damit um eine Vorwärtsentwicklung. Davon wird im letzten Teil ausführlicher die Rede sein.

Der Mensch und sein Auftrag

Wir haben davon gesprochen, dass die Urgeschichte den Grund legt für die gesamte biblische Geschichte. Sie ist der Prolog der grossen Story, ohne den sie nicht verstanden werden kann. Sie enthält Offenbarungen, die für das alttestamentliche Israel von besonderer Bedeutung waren, aber auch solche, die uns in unseren Fragen nach der Herkunft und der Zukunft aller Dinge beschäftigen.

Die Urgeschichte enthält auch eine Offenbarung über den Menschen, auf die wir ihrer überragenden Bedeutung wegen hier gesondert zu sprechen kommen müssen. Gott schuf den Menschen als sein Abbild und trug ihm die Verantwortung auf, über die Schöpfung zu herrschen:

„Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie. Gott segnete sie, und Gott sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und vermehret euch, bevölkert die Erde, unterwerft sie euch, und herrscht über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die sich auf dem Land regen. Dann sprach Gott: Hiermit übergebe ich euch alle Pflanzen auf der ganzen Erde, die Samen tragen, und alle Bäume mit samenhaltigen Früchten. Euch sollen sie zur Nahrung dienen” (Gen 1,27-29).

Der Auftrag des Menschen in Genesis 1,27-29 ist von grundlegender Wichtigkeit und heute noch genau so gültig wie damals. Es handelt sich nicht um einen nachträglichen Gedanken, der wegen der Sünde hinzugefügt werden musste, er wurde in der Unversehrtheit der ursprünglichen Schöpfung gegeben. Daran wird deutlich, dass alles Arbeiten und Schaffen des Menschen ein Wesensbestandteil seiner Existenz ist.

Der Auftrag von Genesis 1,27-29 stellt das Bindeglied zwischen Gottes Schöpfung und der menschlichen Zivilisation dar. Am Anfang war die Erde wüst und leer. In sechs Tagen ordnete Gott den Kosmos und füllte ihn mit Leben. Mit dem sechsten Tag war die Erde aber noch nicht so wie Gott sie sich dachte. Gott hatte sein Werk getan, nun war es am Menschen, die Schöpfung zur Zivilisation weiter zu entwickeln. Auf diese Weise sollte die Erde zu dem werden, was sie nach Gottes Willen sein soll: Ein Ort voller Leben, Schönheit, Anbetung, Kultur und Kunst.

Der Mensch sollte also dort weiterfahren, wo Gott aufgehört hatte. Die Schöpfung war ein göttlicher Akt, der alles ins Dasein rief. Die Schätze der Schöpfung lagen verborgen im Schoss der Erde. Mit dem Auftrag, die Erde zu bevölkern und sie sich zu unterwerfen, bestimmte Gott den Menschen dazu, eine Entwicklung an die Hand zu nehmen und die Schöpfung zur vollen Entfaltung zu bringen.

Am Auftrag des Menschen zeigt sich, dass er Abbild Gottes ist. Nur der Mensch kann herrschen, unterwerfen und bebauen. Vielleicht erklärt Genesis 1,26 die Bedeutung des Abbildseins am besten. Gott beschloss, Menschen als sein Abbild zu machen und fügte hinzu: „Sie sollen herrschen über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels, über das Vieh, über die ganze Erde und über alle Kriechtiere auf dem Land.” Es ist diese Fähigkeit, zu herrschen, welche die Gottesähnlichkeit des Menschen ausmacht und ihn von allen anderen Geschöpfen unterscheidet.31

Das Alte Testament gebraucht überwiegend negative Begriffe zur Umschreibung der Herrschaft des Menschen über die Erde. Das hebräische Wort für „herrschen” in Genesis 1,28 ist nicht das Wort, das üblicherweise von der Herrschaft eines Königs über sein Volk gebraucht wird, sondern bezeichnet eine aufgezwungene Herrschaft.32 Es ist ein Wort, das an anderer Stelle im Zusammenhang mit der Eroberung Kanaans oder Sklavenarbeit verwendet wird (Num 32,22.29; Jer 34,11.16). In Psalm 8,7 wird der Verwunderung Ausdruck verliehen, dass Gott den Menschen als „Herrscher” eingesetzt und ihm alles „zu Füssen gelegt” hat. Beide Ausdrücke bezeichnen eine aufgezwungene Herrschaft (Gen 3,16; 4,7; Ps 18,39; 47,4). Die negativen Begriffe, mit denen die Herrschaft des Menschen beschrieben wird, zeigen an, dass die Unterwerfung der Erde kein Spaziergang ist. Für moderne Menschen ist der Auftrag, die Erde zu unterwerfen schwer nachvollziehbar, zumal die Beherrschung der Erde für die ökologische Krise verantwortlich gemacht wird. Für die ersten Menschen war die Unterwerfung der Natur und der Tiere hingegen eine Frage des Überlebens. In diesem Sinn ist die biblische Wortwahl durchaus passend.

Bebauen und bewahren

Der Auftrag, zu herrschen wurde in der ursprünglichen Schöpfung gegeben, als noch alles sehr gut war. Auch wenn Eva zur Schlange „Nein” gesagt hätte, wäre die Unterwerfung der Erde mit Arbeit, Spannung und vermutlich auch mit Konflikten verbunden gewesen.

Das Alte Testament gebraucht auch positive Begriffe zur Umschreibung des Auftrags des Menschen. Gott setzte den Menschen in den Garten, „damit er ihn bebaue und hüte” (Gen 2,15). Dem Auftrag, die Erde zu unterwerfen wird das Gebot zur Seite gestellt, Sorge zur Welt zu tragen. Die Worte herrschen, unterwerfen, bebauen und bewahren umreissen den Auftrag des Menschen. Dieses sogenannte kulturelle Mandat von Genesis 2,15 enthält das Prinzip, das wir heute Nachhaltigkeit nennen. Der Mensch soll ein dienender Herrscher sein, der nachhaltig mit der Schöpfung umgeht und so bewahrt, was Gott ihm anvertraut hat.

Um seinen Auftrag auszuführen, ist der Mensch zur Arbeit gerufen. Arbeit ist Ausdruck der Würde des Menschen und seiner Ebenbildlichkeit Gottes. Stellen wie Genesis 1,26-28 und 2,5.15 weisen darauf hin, „dass die Arbeit zum Grundauftrag des Schöpfers an sein Geschöpf gehört”.33 Arbeit ist grundsätzlich positiv zu sehen, auch nach dem Sündenfall. Sie geschieht zwar im Schweisse des Angesichts, doch nicht die Arbeit steht unter dem Fluch, sondern der Erdboden (Gen 3,17-18). Das zeigt sich auch im weiteren Verlauf der Story. In Genesis 4 wird nebst der bedrückenden Tatsache, dass der Mensch sündig ist, auch seine Fähigkeit hervorgehoben, Gestalter und Kulturschaffender zu sein (Gen 4,20-22). Die im Buch Genesis angelegte positive Sicht von Arbeit wird im weiteren Verlauf des Alten Testaments vor allem in der Weisheitsliteratur konkretisiert. Fleiss bringt Wohlstand (Spr 10,4), während Faulheit um Gottes Segen bringt (Spr 24,30-34).34

Es ist die Bestimmung des Menschen, die Schöpfung zu bebauen und zu bewahren. Wir haben einen doppelten Auftrag, der in sich schicksalshaft zusammenhängt:

Einerseits sollen wir die Schöpfung bebauen. Das bedeutet, dass wir aktiv an der Ausgestaltung der Schöpfung wirken dürfen. Der Schöpfer hat uns die Fähigkeit gegeben, das Potenzial der Schöpfung freizulegen.35 Von diesem Grundsatz ausgehend wird man sagen dürfen, dass Technik und Wissenschaft von Gott gewollt sind.

Anderseits sollen wir die Schöpfung bewahren. Unsere Verantwortung ist es, die Schöpfung so zu ihrer Entfaltung zu bringen, dass der Schöpfer geehrt wird. Die Schöpfung ist und bleibt Gottes Schöpfung. Wenn durch unser Schaffen die Ehre uns selbst zufällt und der Schöpfer vergessen geht, versagen wir in unserem grundlegendsten Auftrag als Menschen. Ausdrücklich ist uns geboten, die Schöpfung vor Ausbeutung und Zerstörung zu schützen. Wir sind also zu einem nachhaltigen Umgang mit den Ressourcen der Erde verpflichtet. Gott hat uns zwar als Herrscher über die Schöpfung eingesetzt, wir sind aber nur in dem Sinn Herren über die Schöpfung, als wir Pächter sind, wie John Stott sagt:

„Gott hat uns die Erde gegeben, damit wir stellvertretend für ihn über sie herrschen. Die Erde haben wir zwar gepachtet, unser Eigentum ist sie jedoch nicht. Während Gott selbst im wahrsten Sinn des Wortes der 'Gutsherr', der Herr des Landes, bleibt, sind wir nur die Pächter.”36

Ökologische Verantwortung?

Die Bibel enthält keine direkten Aussagen zur ökologischen Verantwortung. Entsprechende Fragen stellten sich damals noch nicht, weil die Menschheit bis ins 17. Jahrhundert nachhaltig lebte und erst danach begann, in grösserem Umfang auf nicht erneuerbare Ressourcen zurückzugreifen. Dennoch lassen sich von Genesis 1-3 Linien in die Gegenwart ziehen.

Grundsätzlich kann festgehalten werden, dass der Auftrag, zu bebauen und zu bewahren nie zurückgenommen worden ist und somit bleibende Gültigkeit hat. Unser Auftrag als Christen beschränkt sich nicht auf das, was gerne als „geistlicher” Bereich bezeichnet wird. Wir sind wie alle Menschen Teil der Schöpfung und für unseren Umgang mit ihr Gott und unseren Nächsten gegenüber verantwortlich. Wir können nicht darüber hinwegsehen, dass Christsein eine ökologische Dimension hat.

Gerade im Zeitalter der Globalisierung muss dem Auftrag, die Schöpfung zu bewahren, Aufmerksamkeit geschenkt werden. Das Gebot, die Erde zu bewahren und die Tatsache, dass die Erde nicht uns gehört, sondern Gottes Eigentum ist, muss als Ausgangspunkt für eine Theologie der Ökologie dienen. Wir müssen das Denken unserer Kultur und unsere Lebensweise im Licht von Genesis 2,15 immer wieder kritisch hinterfragen. Denn unsere Konsumgier führt zur Ausbeutung der Naturschätze und bedeutet eine fatale Überbeanspruchung der Erde. Anstatt zu bebauen und zu bewahren, überbauen und überbeanspruchen wir die Schöpfung. Dabei gehört die Erde nicht einmal uns, sondern Gott.

In unserem vernetzten Zeitalter hat Christsein eine globale und ökologische Dimension. Gerade unser Umgang mit der Schöpfung, diesem wunderbaren Garten Gottes, sollte darauf hinweisen, dass wir den Schöpfer kennen und lieben. Die Schöpfung widerspiegelt Gottes Herrlichkeit und zeugt von ihm (Ps 19,1ff). Das allein sollte uns Grund genug sein, Sorge zur Schöpfung zu tragen. Deshalb ist es auch wichtig, beim Schöpfungsbericht und dem Auftrag, den Gott uns Menschen gab, zu beginnen. Von der Schöpfung aus lässt sich die biblische Story am besten verstehen. Die biblische Story ist eine Geschichte der Erlösung. Erlösung bedeutet nicht nur „in den Himmel kommen, wenn du stirbst”, sondern meint die Wiederherstellung der Beziehung zwischen Gott, Mensch und Welt. Erlösung meint nicht die Flucht aus der materiellen Welt, sondern die Wiederherstellung alles Geschaffenen. Doch damit haben wir weit vorgegriffen. Um die Geschichte zu verstehen, welche die Bibel entfaltet, müssen wir uns zunächst mit dem tragischen Ereignis befassen, das Sündenfall genannt wird.

Der Sündenfall – Zerstörung der Gemeinschaft

Der Gegensatz zwischen den ersten beiden und dem dritten Kapitel der Bibel könnte grösser nicht sein. Das erste Kapitel versetzt uns angesichts der schöpferischen Macht Gottes in anbetendes Staunen. Alles, was Gott geschaffen hat, ist sehr gut. Das zweite Kapitel nimmt uns beim Gedanken an einen vollkommenen Garten den Atem. Eden hat in uns von jeher die Sehnsucht nach einer heilen Welt geweckt. Gott stellte für den Menschen alles bereit, damit die Geschichte harmonisch hätte verlaufen können. Es fehlte an nichts.

Im dritten Kapitel zerbricht das harmonische Bild jäh. Gott setzte den Menschen in den Garten der Wonne, doch die Welt ist voller Ungerechtigkeit und Hass. Er gab ihm den Auftrag, die Schöpfung zu bewahren, heute ist sie bedrohter denn je. Was ist es, das den Menschen dazu treibt, die Ungerechtigkeit der Gerechtigkeit und die Ausbeutung der Bewahrung vorzuziehen? Was ist geschehen, dass alles so ganz anders gekommen ist als ursprünglich geplant? Wer ist verantwortlich für das Leid, dem wir täglich begegnen? Genesis 3 gibt Antworten auf diese Fragen.

Ein grosser Verlust

Das Wort „Sündenfall” existiert in der Bibel nicht. Aus dem Alten und dem Neuen Testament bieten sich andere Begriffe an, um dem tragischen Ereignis einen Namen zu geben. Eigentlich ist Genesis 3 mehr die Geschichte eines Verlusts als eines Falls.37 Adam und Eva verloren ihre Unschuld sowie die intakte Beziehung zu Gott und untereinander.

In Römer 5 befasst sich Paulus ausführlich mit Genesis 3 und seinen Folgen. Er redet nicht vom Sündenfall, sondern von der „Übertretung” und vom „Ungehorsam” Adams. Adam übertrat die von Gott gesetzte Grenze, als er von der Frucht des Baums ass. Sünde wird in der Bibel denn auch oft als Übertretung bezeichnet. Sünde ist Grenzüberschreitung und Missachtung des erklärten Willens Gottes. Durch seine Wortwahl stellt Paulus die Verantwortung und das Versagen Adams in den Vordergrund. Wenn man den Begriff „Sündenfall” für das Ereignis von Genesis 3 verwendet, werden dabei stärker die einschneidenden Folgen hervorgehoben. Der Mensch fiel aus seinem ursprünglich guten Zustand heraus. In diesem Sinn ist der Begriff zutreffend und brauchbar.

Der Urheber des Sündenfalls erscheint in Genesis 3 als listige Schlange, die niemand anders ist als Satan. Satan ist das Böse schlechthin. Die Bibel nennt ihn Schlange, Teufel, Drache und Versucher (Offb 12,9-15; 20,2; Mt 4,1; Joh 8,44; 1Petr 5,8; 1Joh 3,8; Offb 12,3; Mt 4,3; 1Thess 3,5).

Die Bibel erläutert den Ursprung des Bösen nicht, sie setzt die Existenz Satans voraus. Im besten Fall lassen sich Hinweise finden. Aus dem Schöpfungsbericht wissen wir, dass Gott Himmel und Erde vollkommen schuf. Alles Geschaffene, die sichtbare und unsichtbare Welt, waren gut. Es ist undenkbar, dass die himmlischen Wesen sowie die Throne und Gewalten, die ein Teil der unsichtbaren Schöpfung sind (Kol 1,16) nicht auch vollkommen waren. Daraus können wir folgern, dass irgendwann vor dem Sündenfall ein ursprünglich gutes himmlisches Wesen zum Gegenspieler Gottes wurde. Wahrscheinlich war Satan ein Engelsfürst, der sich gegen Gott stellte und gestürzt wurde (Jes 13,1-21; 2Petr 2,4; Judas 6).

Man wird, wenn man die Begrenztheit der biblischen Texte anerkennt, nicht über Andeutungen über Satans Ursprung hinauskommen. Satan ist ein mächtiges, wenn auch nicht allmächtiges Wesen. Was seine Macht und Listigkeit betrifft, steht er weit über den Menschen, aber ebenso weit unter Gott. Das Wesen Satans ist es, gegen Gott zu wirken, sich zu verstellen und den Menschen zur Sünde gegen Gott zu verführen.

Die Welt und alles Leben in ihr waren ursprünglich gut. Adam und Eva lebten in einer Zeit der Unschuld. Das zeigt sich daran, dass sie nackt waren und sich nicht schämten. Das Alte Testament verbindet Nacktheit nicht nur mit sexueller Scham, sondern häufiger noch mit Armut und Unsicherheit (Hes 16,35-37; Hiob 22,6; Jes 58,7).38 Durch den Sündenfall brach der Böse in den Lebensraum des Menschen ein und beendete eine Periode von Unschuld und Sicherheit. Satan hatte begonnen, sein Reich der Finsternis zu bauen, um dem Schöpfer sein geliebtes Geschöpf zu entreissen.

Gemeinschaft und Freiheit

Wir müssen hier die Frage stellen, weshalb Gott in seiner vollkommenen Schöpfung die Möglichkeit der Sünde und der Auflehnung gegen ihn einschloss. Weshalb schloss Gott nicht aus, dass der Mensch oder ein himmlisches Wesen sich gegen ihn wenden konnte? Die Frage nach dem Warum des Bösen und dem Sinn des Leids lässt sich nicht abschliessend klären. Der Schöpfungsbericht enthält aber zumindest Hinweise:

Gott schuf den Menschen zur Gemeinschaft mit ihm. Als sein Abbild stattete er ihn mit einem Willen aus. Der von Gott verliehene Wille, der die Gemeinschaft zweier Partner ermöglicht, schliesst die Möglichkeit ein, dass der Mensch sich für das Böse entscheidet. Die Würde des Menschen und seine Nähe zu Gott werden gerade dadurch deutlich, dass er zur Entscheidung fähig ist. Gott will, dass der Mensch sich aus freien Stücken seiner Herrschaft unterstellt und in Gemeinschaft mit ihm lebt.

Gemeinschaft und Beziehung beruhen auf Freiwilligkeit und Entscheidungs-freiheit. In diesem Zusammenhang ist das Verbot, vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse zu essen, von Bedeutung (Gen 2,17). Das Verbot, das Gott aussprach, gab dem Menschen die Möglichkeit, sich in Freiheit und Verantwortung gegenüber Gott zu verhalten. Das Gebot, die Erde zu bebauen und zu bewahren, war logisch und deshalb einsichtig. Dagegen ist das Verbot, vom Baum der Erkenntnis zu essen, nicht einsichtig, und es wird auch nicht begründet.39 Gerade dadurch stellte es eine besondere Versuchung dar.

Nur das Vertrauen auf Gott konnte den Menschen davon abhalten, das Gebot zu übertreten. Die Schlange erschütterte das Vertrauen der Menschen in den Schöpfer. Die Frage „Hat Gott wirklich gesagt: Ihr dürft von keinem Baum des Gartens essen?”, weckte Zweifel an Gott. Durch das Versprechen „Sobald ihr davon esst, gehen euch die Augen auf; ihr werdet wie Gott und erkennt Gut und Böse”, erwachte der Stolz im Herzen des Menschen. Zweifel und Stolz führten zur Übertretung des Gebotes Gottes:

„Da sah die Frau, dass es köstlich wäre, von dem Baum zu essen, dass der Baum eine Augenweide war und dazu verlockte, klug zu werden. Sie nahm von seinen Früchten und ass; sie gab auch ihrem Mann, der bei ihr war, und auch er ass” (Gen 3,6).

Mit der Übertretung des Gebotes löste sich der Mensch aus der Herrschaft Gottes und begann autonom zu handeln. Seither ist es das Bestreben des Menschen, sich seine Normen selbst zu setzen und das Paradies aus eigener Kraft zu schaffen. Im Sündenfall zeigt sich, dass Sünde ihrem Wesen nach Rebellion gegen Gott ist.

Die Tragik des Sündenfalls besteht darin, dass Eva und Adam ihr Vertrauen der Schlange schenkten anstatt Gott. Es kann kaum etwas Verwerfliches sein, wie Gott Gut und Böse erkennen zu wollen. Der Mensch wurde ja als Abbild Gottes geschaffen. Gerade die Ähnlichkeit mit Gott zeichnet ihn aus und verleiht ihm Würde. Er ist dazu berufen, zu bebauen, zu bewahren und zu benennen. Um diese Berufung zu leben, muss der Mensch Entscheidungen treffen und Gut und Böse voneinander unterscheiden können. Die Schlange sagte die Wahrheit. Eva und Adam assen von der Frucht und wurden insofern wie Gott, als sie nun Gut und Böse unterscheiden konnten. Nach der Übertretung des Gebots sagte Gott: „Seht, der Mensch ist geworden wie wir; er erkennt Gut und Böse” (Gen 3,22). Eva und Adam wollten das Richtige, aber auf die falsche Art und Weise.

Schwerwiegende Folgen

Im Alten Testament findet der Sündenfall keine ausführliche theologische Erörterung. Die Tatsache, dass der Mensch sündig ist, wird aber vorausgesetzt. Die Sündhaftigkeit des Menschen wird in den Psalmen gelehrt (Ps 14,1-3), von den Propheten beklagt (Jes 1,5-20) und in zahlreichen Geschichten illustriert (Ri 13,1ff; 2Sam 11,1ff).

Im Neuen Testament tritt der Sündenfall theologisch stärker in den Vordergrund. Der Apostel Paulus stellt ihn als das tragische Ereignis dar, das den Lauf der Welt veränderte:

„Durch einen einzigen Menschen kam die Sünde in die Welt und durch die Sünde der Tod, und auf diese Weise gelangte der Tod zu allen Menschen, weil alle sündigten” (Röm 5,12).

Der Sündenfall hat weitreichende Folgen. Nicht nur die Beziehung des Menschen zu Gott und zum Nächsten ist davon betroffen. Die ganze Menschheit und selbst die Schöpfung sind in Mitleidenschaft gezogen:

Der Sündenfall betrifft zuerst einmal den Menschen selbst. Durch seinen Fall wurde der Mensch seinem Wesen nach ein Sünder. Mit der Übertretung des Gebotes kam die Sünde und als Folge davon der Tod in die Welt (Röm 5,12). Der Tod ist nicht etwas Natürliches, das zur ursprünglichen Schöpfung gehörte, sondern eine Strafe. In der erneuerten Schöpfung wird es keinen Tod mehr geben, so wie es den Tod in der ursprünglichen Schöpfung nicht gab.

Jeder Bereich des menschlichen Lebens wurde von der Sünde infiziert. Man redet deshalb in der Theologie von der „totalen Verderbtheit” des Menschen. Der Begriff besagt nicht, dass jeder Mensch in jedem Bereich seines Lebens so sündig wie nur möglich ist. Selbst im Zustand der Sünde bleibt der Mensch Ebenbild Gottes (Jak 3,9). Nur ist dieses Bild verzerrt und die Herrlichkeit Gottes im Menschen entstellt. Der Mensch ist seit dem Sündenfall nicht nur Abbild Gottes, sondern zugleich Sünder. Dadurch erfährt er einen tiefen inneren Zwiespalt und lebt sozusagen im Widerspruch zu sich selbst. Er ist immer noch in der Lage, Gutes zu tun, aber er kann es nicht zu jeder Zeit, weil er unter dem Zwang der Sünde ist. Dieser Umstand wird in der Bibel mit dem Bild der Sklaverei wiedergegeben (Röm 6,17). So wie ein Sklave nicht frei ist, das zu tun, was er will, so ist der Mensch nicht frei, die Sünde zu lassen und das Gute zu tun. Jeder einzelne Bereich unseres Menschseins ist von der Sünde beeinträchtigt. In diesem Sinn ist die Verderbtheit des Menschen total.

Zweitens zerbrach durch den Sündenfall die ungetrübte Beziehung des Menschen zu Gott. An die Stelle des Vertrauens trat die Angst. Als Adam hörte, wie Gott durch den Garten ging, versteckte er sich aus Scham und

[...]


1 MacIntyre, After Virtue, 17-18.

2 Stuhlmacher, Biblische Theologie des Neuen Testaments, Band 1, 4.

3 Egelkraut, Das Alte Testament, 13.

4 Die Rede ist von der historisch-kritischen Bibelauslegung, die sich seit dem 18. Jh. schrittweise entwickelt hat und als wissenschaftliche Standardmethode der Bibelauslegung gilt. Allerdings sind die Zweifel an der Rechtmässigkeit dieses Zugangs in den letzten Jahrzehnten grösser geworden. Die historisch-kritische Auslegung ist ein Sammelbegriff für verschiedene Methoden, die den wissenschaftlichen Zweifel zum Ausgangspunkt haben und die Bibel unter religionswissenschaftlichen Denkvoraussetzungen erforschen. Obwohl die historisch-kritische Auslegung wertvolle Teilerkenntnisse liefert, schliesst sie bei konsequenter Anwendung ein Offenbarungsgeschehen, wie die Bibel es in Anspruch nimmt, praktisch aus. Sie ist darum für Christen, die der Bibel mit Grundvertrauen begegnen, in ihrem Gesamtanspruch unannehmbar. Auf ausführliche Darstellungen historisch-kritischen Denkens habe ich aus Platzgründen verzichtet. Wer sich für eine entsprechende Darstellung einschliesslich einer biblischen Entgegnung interessiert, kann auf meiner Homepage kostenlose Artikel im PDF Format zur Verfasserschaft des Pentateuchs, der Einheit des Propheten Jesaja und der Verlässlichkeit der Evangelien herunterladen. www.roland-hardmeier.ch/literatur.

5 Der Begriff „Heilsgeschichte” wurde erstmals im 19. Jh. vom lutherischen Theologen Johann Christian Konrad von Hofmann verwendet. Vgl. Stadelmann, Hermeneutische Erwägungen zur Heilsgeschichte, 32-87.

6 Der Begriff „Eschatologie” leitet sich von den griechischen Wörtern eschatos (letztes) und logos (Wort) ab und bezeichnet die Lehre von den letzten Dingen. Wenn wir davon reden, dass etwas eschatologisch ist, meinen wir damit, dass es sich auf die Dinge bezieht, die sich zuletzt, das heisst am Ende der Geschichte ereignen oder mit der Neuschöpfung jenseits der Menschheitsgeschichte zu tun haben.

7 Die Evangelisten benutzten den Begriff basileia tou theou (Königsherrschaft Gottes), das sich vom griechischen Wort basileus (König) ableitet.

8 Im Laufe der Kirchengeschichte existierten unterschiedliche Gliederungen der Heilsgeschichte nebeneinander. Auch die jüdische Tradition kennt Periodisierungen der Geschichte. Zu den Möglichkeiten siehe Stadelmann, Hermeneutische Erwägungen zur Heilsgeschichte, 32-87. Die Bibel kennt eine eigentliche Dreiteilung der Geschichte: Die vorweltliche Zeit, in welcher Gott in seiner Vorsehung den Heilsplan beschliesst (Eph 1,4-5), diese Weltzeit, die zwischen Schöpfung und Neuschöpfung liegt (Hebr 1,2) und die zukünftige Welt der Neuschöpfung (Apg 3,21; Mt 12,31). Vgl. Cullmann, Christus und die Zeit, 73-74. Entscheidend für jeglichen Versuch, die Heilsgeschichte zu strukturieren, ist der Umstand, dass in Jesus Christus die Königsherrschaft Gottes herbeigekommen ist. Christus wird im Neuen Testament als die Mitte der Heiligen Schrift verkündigt. Dass er die Herrschaft Gottes bringt, ist eine der Grundaussagen des Neuen Testaments. Dementsprechend ist das Alte Testament eine Hinführung zur in Jesus gegenwärtigen Gottesherrschaft und die auf Jesus folgende Zeit eine Ausdehnung dieser Herrschaft, die auf ihre Vollendung zugeht. Diesem Grundsatz folge ich in meiner Darstellung.

9 Elberfelder Übersetzung

10 Egelkraut, Das Alte Testament, 607.

11 Stuhlmacher, Biblische Theologie des Neuen Testaments, Band 1, 5.

12 McGrath, Der Weg der christlichen Theologie, 205.

13 Zu Markion siehe Crüsemann, Das Alte Testament als Wahrheitsraum des Neuen, 31-34.

14 Harnack, Marcion, 217 (Zitiert nach Crüsemann, Das Alte Testament, 35).

15 Crüsemann, Das Alte Testament als Wahrheitsraum des Neuen, 35-36.

16 Stuhlmacher, Biblische Theologie des Neuen Testaments, Band 1, 38.

17 Der aus dem Griechischen übernommene Begriff „Kanon” bedeutet Massstab, Regel oder Norm. Er bezeichnet die von der Kirche anerkannten und für die Gläubigen bindenden heiligen Schriften. Das griechische Wort kanon bezeichnete ursprünglich ein Holzstück, das im Bauhandwerk als Richtscheit oder Messlatte verwendet wurde.

18 Beck, Friede, 389-390.

19 Genfer Studienbibel, Einführung in die fünf Bücher Mose, 1-2.

20 Vgl. Egelkraut, Das Alte Testament, 103-106. Die mosaische Verfasserschaft des Pentateuchs ist der so genannten Quellenscheidungshypothese vorzuziehen, die in der historisch-kritischen Bibelauslegung angewandt wird. Nach dieser Hypothese ist der Pentateuch ein Flickwerk, das sich aus unterschiedlichen Quellen mit je eigener theologischer Orientierung und eigenem Sprachstil zusammensetzt und zwischen 950 und 500 v.Chr. entstand. Die Frage nach der Verfasserschaft des Pentateuchs ist insofern von Bedeutung als sie das Offenbarungsverständnis tangiert. Wenn der Pentateuch kein Werk des Mose ist und Mose als Hauptfigur blosser Namensgeber ist, dann ist der Pentateuch die Folge einer allmählichen Religionsentwicklung und nicht das Resultat göttlicher Offenbarung. Damit aber wird der Selbstanspruch der Heiligen Schrift nicht ernst genommen. Zu einem Überblick über die Kritik der Quellenscheidungshypothese siehe Egelkraut, Das Alte Testament, 107-113. Für eine Darstellung der Pentateuchkritik einschliesslich einer biblischen Entgegnung siehe www.roland-hardmeier.ch/literatur.

21 Rendtorff, Theologie des Alten Testaments, Band 1, 82-83 (Hervorhebungen im Original).

22 Egelkraut, Das Alte Testament, 115.

23 Vgl. Rendtorff, Theologie des Alten Testaments, Band 1, 12.

24 Ebd.

25 Egelkraut, Das Alte Testament, 129.

26 Wolff, Anthropologie des Alten Testaments, 142.

27 Westermann, Schöpfung, 110; 124.

28 Für das Folgende Egelkraut, Das Alte Testament, 120-127.

29 Im Deutschen „Gott, der Herr” (Gen 2,4.5.7.8 etc; vgl. Ex 6,2).

30 Boff, Schrei der Erde Schrei der Armen, 134.

31 Wolff, Anthropologie des Alten Testaments, 235-236.

32 Für das Folgende Goldingay, Old Testament Theology, 110-117.

33 Wolff, Anthropologie des Alten Testaments, 190.

34 Wolff, Anthropologie des Alten Testaments, 192-197.

35 Steyne, Schritt halten mit dem Gott der Völker, 31; 35; 50.

36 Stott, Christsein in den Brennpunkten unserer Zeit. Band 2, 54. Vgl. Ps 8,7.

37 Goldingay, Old Testament Theology, 144.

38 Vgl. Ebd., 109.

39 Vgl. Westermann, Schöpfung, 134.

Excerpt out of 556 pages

Details

Title
Der Triumph des Königs. Die grosse Story der Bibel von Genesis bis Offenbarung
Subtitle
Studienreihe IGW Band 2
College
IGW International
Author
Year
2016
Pages
556
Catalog Number
V336757
ISBN (eBook)
9783668262270
ISBN (Book)
9783668262287
File size
7245 KB
Language
German
Keywords
triumph, königs, story, bibel, genesis, offenbarung, studienreihe, band
Quote paper
Roland Hardmeier (Author), 2016, Der Triumph des Königs. Die grosse Story der Bibel von Genesis bis Offenbarung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/336757

Comments

  • No comments yet.
Look inside the ebook
Title: Der Triumph des Königs. Die grosse Story der Bibel von Genesis bis Offenbarung



Upload papers

Your term paper / thesis:

- Publication as eBook and book
- High royalties for the sales
- Completely free - with ISBN
- It only takes five minutes
- Every paper finds readers

Publish now - it's free