Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung – Das Buch und der Autor
2. Politische oder soziale Demokratie
3. Demokratie oder Diktatur
4. Gleichgewicht oder gleiche Spannung
5. Soziale Demokratie und sozialistische Erziehung
6. Schlussbetrachtung
7. Quellen- und Literaturverzeichnis
1. Einleitung – Das Buch und der Autor
Das im Jahr 1926 entstandene und in Berlin verlegte Werk des Wiener Professors und sozialistischen Theoretikers Max Adler steht ganz in der Kontinuität seines umfangreichen Schaffens. Eben dieses umfasst Schriften, welche den Sozialismus und die Umwandlung eines Klassenstaates in eine klassenlose Gesellschaft betreffen. Darüber hinaus widmet er sich besonders den Theorien von Marx, Engels und Kant. Soziologische und pädagogische Ansätze finden ebenfalls Eingang und machen einen wichtigen Teil seiner gesellschaftstheoretischen Vorstellungen und Thesen aus, welche ihn neben Otto Bauer und Rudolf Hilferding zu einem der prägendsten Vertreter des Austromarxismus werden ließen.
In dem vorliegenden 165 Seiten starken Buch "Politische oder soziale Demokratie" schlägt der Autor einen Bogen über verschiedene Themengebiete, welche jedoch alle permanent aufeinander einwirken und demnach in Verbindung stehen. Dabei gelingt es ihm, anhand exakter Begriffsdefinitionen, Widersprüche in altherge-brachten Theorien aufzuzeigen. Diesen stellt er eigene Gedanken entgegen, welche anhand der schärfer gefassten Begriffe die Schwächen der vorherrschenden politischen Demokratie aufzeigen. Darüber hinaus basiert seine Kritik an eben dieser auf dem eklatanten ökonomischen Ungleichgewicht in der Bevölkerung, welches zwangsläufig zu Verwerfungen und gegensätzlichen Interessen führen müsse.
2. Politische oder soziale Demokratie
Bereits mit dem Titel des Buches benennt Max Adler eines der Hauptprobleme bei kritisch-argumentativen Auseinandersetzungen bezüglich des Für und Widers der Demokratie, welches ihn umtreibt. Mit Schärfe in der definitorischen Begrifflichkeit und analytischer Präzision entwickelt er eine Unterscheidung zwischen politischer und sozialer Demokratie. Auch an anderer Stelle rät Adler davon ab, auf Veranstaltungen sozialistischer Agitation oder in wissenschaftlichen Schriften sozialistischer Forscher bestimmte Worte zu verwenden, da sie entweder von zwiespältiger Bedeutung sind oder generell zur Irreführung, insbesondere von bürgerlicher Seite, verwendet werden können (Nation, Staat, Vaterland, Volk, Volksstaat etc.).[1] Durch sie sei "die verheerende Wirkung einer nationalen, patriotischen Ideologie möglich geworden"[2], weswegen sie in den "Sprachschatz der bürgerlichen Phraseologie"[3] gehörten.
In seinem Werk Demokratie und Rätesystem widmet Adler sich schon 1919 diesem Problem. In den Wirren der revolutionären Umtriebe, welche der furchtbare Völkerkrieg mit seinen katastrophalen Auswirkungen insbesondere auf die Lebensverhältnisse der proletarischen Massen zeitigte, erfuhr der Begriff Demokratie und dessen zuvor hauptsächlich positive Konnotation eine Wandlung, weil ein Teil des revolutionären Proletariats infolge der russischen Geschehnisse nunmehr sowohl dem Begriff Demokratie als auch dem demokratischen System (in Form der Nationalversammlung) äußerst kritisch gegenüberstand.[4] Die politische Gleichberechtigung stellt als solche den "Höhepunkt der politischen Ideologie des Bürgertums"[5] dar. Besonders der Intelligenzija serviert dieser so verstandene Demokratiebegriff die politischen Ideale "der Freiheit, [der] Gleichheit und des Fortschritts" auf dem Silbertablett, ohne dass von ihr ein "Bekenntnis zum Klassenkampf und zur Überwindung der bürgerlichen Gesellschaft verlangt würde"[6], welches die Sozialdemokratie ebenfalls verlangt hätte. Demnach bescheinigt Adler der bürgerlichen Demokratie eine "große und tragische Weltillusion"[7] zu sein. "Nicht die bürgerliche Gleichberechtigung erfüllt schon die Idee der Demokratie, sondern erst die soziale; und nicht die bürgerliche Republik gewährleistet die demokratische Befreiung des Volkes, sondern erst die sozialistische Republik."[8]
Weil ihm eben der Demokratiebegriff aus diesem Grund zu ungenau erscheint, definiert er einen Unterschied zwischen einer politischen und einer sozialen Demokratie. Adler sieht in ihm eine neue Geistes- oder Sinnesart, welche bei konsequenter Anwendung Einfluss auf die Politik haben kann, sofern eine sozialistische Selbsterziehung der Massen vorausgesetzt werden kann.[9] "Es geht also nicht an, von Demokratie schlechtweg zu sprechen, sondern es scheidet sich scharf die bürgerliche von der sozialen Demokratie, welch letztere noch gar nicht besteht und gar nicht überall im Interesse der ersteren gelegen ist."[10]
Zum einen wird eine Unterscheidung zwischen einer historischen und einer zukünftigen Dimension vorgenommen. In der ersten Dimension geht es um Fortschritte, welche in der politischen Entwicklung erkämpft werden konnten. Sie ist eine bürgerliche Demokratie, weil sie sich anhand politischer und ökonomischer Einflüsse des Bürgertums entwickelt hat. Die zweite Dimension ist programmatischen Inhalts, es geht nicht um die Demokratie wie sie ist, sondern wie sie sein soll. Sie kann aber erst so werden, wie sie sein soll – nämlich proletarisch/sozialistisch – wenn sich die Arbeiterklasse sowohl auf politischem als auch auf wirtschaftlichem Feld durchgesetzt hat.[11]
Das bürgerliche Ideal der Demokratie beruht auf der Rechtsgleichheit. Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Diese Tatsache ist nunmehr unumstößlich, wenngleich aus den historischen Erfahrungen, insbesondere des über Jahrhunderte dominierenden Ständewesens, der Schluss gezogen werden kann, dass feste Strukturen überwunden werden können. Hieraus leitet Adler die Prognose ab, dass zukünftigen Generationen die vorherrschende ökonomische Ungleichheit ebenso unverständlich erscheinen wird, wie der gegenwärtigen Generation die historische Rechtsungleichheit auf mitteleuropäischen Boden.[12]
Frappierend wirkt sich aber eben jene ökonomische Ungleichheit sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart aus, denn Freiheit – hier politische –bedeutet nichts ohne ökonomische Macht. Dies sucht er anhand zweier Beispiele aufzuzeigen. Das Eigentum eines jeden Bürgers soll mit rechtsstaatlichen Mitteln geschützt werden; aber es stehen keine rechtsstaatlichen Mittel zur Verfügung, um jedem Bürger auch ein Eigentum zuzuführen. Oder anders ausgedrückt: Das Hausrecht eines jedes Bürgers ist garantiert, aber dadurch wird noch keinem Obdachlosen sein eigenes Heim zugestanden.[13]
Rousseaus geflügeltes Wort, dass von einer wirklichen Demokratie erst dann gesprochen werden kann, wenn jeder etwas aber keiner zu wenig hat, widerspiegelt sich in diesen Überlegungen.[14] In der Konsequenz zerbricht das Ideal der Demokratie an der harten Lebenswirklichkeit der proletarischen Klasse. Demokratie bedeutet für die arbeitenden Massen lediglich die Vortäuschung von Macht und Einflussmöglichkeiten.[15] Durch die Hinwendung zur Demokratie seien zwar die Standesungleichheiten beseitigt worden, jedoch existierten weitere Ungleichheiten, wie etwa die des Besitzes, welche durch die Rechtsgleichheit nicht beseitigt werden konnten. Darüber hinaus wurden althergebrachte einschränkende Regelungen polizeilicher, merkantilistischer, feudaler und zünftischer Art auf dem Altar der persönlichen Freiheit geopfert, wodurch eine brandbeschleunigende Wirkung entstand und egoistisches Erwerbsstreben immer stärker befördert wurde.[16] "Also bedeutet die Gegnerschaft des Proletariats gegen die Demokratie nicht die Ablehnung der demokratischen Idee einer Selbstbestimmung des Volkes, sondern die Leugnung, daß diese Idee durch die überlieferten Formen der Demokratie im Klassenstaat erfüllbar ist."[17]
Adler integriert Ideen dreier Vorläufer moderner Sozialisten und Gesellschaftskritiker in seine Argumentation, welche sich bereits im Siegestaumel der französischen Revolution kritisch mit der Demokratie befassten. Saint-Simon lässt er darauf hinweisen, dass "die Art der parlamentarischen Regierung [...] nur eine Form [sei], und das Eigentum ist der Kern"[18]. Fourier sekundiert, indem er fragt: "Was ist die persönliche Freiheit wert ohne die soziale?"[19] Des Weiteren führt er Robert Owen an, der "den Forderungen der bloßen politischen Demokratie und damit den Methoden der politischen Revolution stets kühl und fremd gegenübergestanden"[20] hat. Demnach zieht Adler Erklärungsmuster anderer Gesellschaftstheoretiker heran, um die negative Konnotation des Demokratiebegriffs in Teilen des Proletariats zu begründen.[21]
[...]
[1] Vgl. Adler, Max: Politische oder soziale Demokratie, Berlin, 1926, S. 64f.
[2] Ebenda, S. 64.
[3] Ebenda, S. 64.
[4] Vgl. Adler, Max: Demokratie und Rätesystem, Wien, 1919, S. 3.
[5] Ebenda.
[6] Ebenda.
[7] Adler, Demokratie und Rätesystem, S.4.
[8] Ebenda, S. 5.
[9] Vgl. Adler, Politische oder soziale Demokratie, S.15.
[10] Adler, Demokratie und Rätesystem, S. 6.
[11] Vgl. Adler, Politische oder soziale Demokratie, S. 52f.
[12] Vgl. Adler, Politische oder soziale Demokratie, S. 35f.
[13] Vgl. Ebenda, S. 46.
[14] Vgl. Adler, Demokratie und Rätesystem, S. 8.
[15] Vgl. Adler, Politische oder soziale Demokratie, S. 42.
[16] Vgl. Ebenda, S. 41.
[17] Adler, Demokratie und Rätesystem, S. 7.
[18] Adler, Politische oder soziale Demokratie, S. 42.
[19] Ebenda, S. 43.
[20] Ebenda, S. 44.
[21] Vgl. Adler, Demokratie und Rätesystem, S.4.