Grenzen und Grenzüberschreitungen im Judo


Bachelor Thesis, 2015

56 Pages, Grade: 1,0


Excerpt


Inhaltsübersicht

Vorwort

1 Einleitung – oder was es über Grenzen zu sagen gibt

2 Grundlagen des Judo
2.1 Begriffserklärung und Prinzipien
2.2 Bedeutungsvolle Rahmenbedingungen des Judo
2.2.1 Dojo, Judogi und Graduierung
2.2.2 Rei – Der Gruß als Ritual mit Botschaft
2.2.3 Die Judowerte des DJB als gemeinsames Wertverständnis
2.3 Judo-Techniken
2.3.1 Systematik
2.3.2 Kontrolle und Körperkontakt
2.3.3 Aufgabe
2.4 Training und Wettkampf
2.4.1 Randori und Kata
2.4.2 Shiai – Wettkämpfe im Judo
2.4.2.1 Fairness im Shiai
2.4.2.2 Die Rolle der Kampfrichter im Shiai
2.5 Erziehung und Judo
2.5.1 Shitei – Die traditionelle Lehrer-Schüler-Beziehung im Budo
2.5.2 Erziehung bei Jigoro Kano

3 Perspektiven auf Freiheiten und Grenzen
3.1 Juristische Perspektive
3.1.1 Allgemeine Gesetzeslage
3.1.2 Körperverletzung als besonderer Konfliktbereich
3.1.3 Schutzbefohlene
3.1.4 Die juristische Perspektive auf Judo
3.1.5 Außenperspektive
3.2 Psychologische Perspektive
3.2.1 Identität und Abgrenzung
3.2.2 Gewissen
3.2.3 Reaktionen auf Grenzüberschreitungen
3.2.4 Die psychologische Perspektive auf Judo
3.3 Pädagogische Perspektive
3.3.1 Selbstbestimmung und Grenzen
3.3.2 Die Rolle von Autoritäten und Vorbildern
3.3.3 Die pädagogische Perspektive auf Judo

4 Formen von Grenzüberschreitungen im Judo
4.1 Physische Grenzüberschreitungen
4.1.1 Dimensionen von Körperlichkeit
4.1.2 Direkte physische Grenzüberschreitungen
4.1.3 Indirekte physische Grenzüberschreitungen
4.2 Sexuelle Grenzüberschreitungen
4.2.1 Grenzverletzungen und sexueller Missbrauch
4.2.2 Missbrauch von Körperkontakt und Kontrolle
4.2.3 Missbrauch von Hierarchien
4.2.4 „Nein-Sagen“ können, aber nicht müssen müssen
4.3 Psychische und soziale Grenzüberschreitungen
4.3.1 Grenzverletzungen und Selbstkonzept
4.3.2 Traumata und Extremsituationen
4.3.3 Identität und das moralische Prinzip (ein Plädoyer)

5 Zusammenfassung und Fazit

Literatur

Vorwort

Diese sportwissenschaftliche Arbeit hat eine pädagogische Ausrichtung und bezieht sich dabei auch auf Erkenntnisse anderer Wissenschaftsdisziplinen. Zum Hintergrund meiner Person gibt es dazu qualifizierendes und relativierendes zu sagen.

In meinem Grundberuf bin ich Diplom-Sozialpädagoge (FH), der unter anderem seit einigen Jahren in der ambulanten Jugendhilfe arbeitet. Den Schwerpunkt meiner Arbeit nimmt die intensive pädagogische Auseinandersetzung mit Jugendlichen ein, die sich zum Teil freiwillig, zum Teil auch zwangsweise im Kontext der Jugendhilfe befinden. Wichtige Bestandteile in Studium und Beruf waren sowohl die wissenschaftliche als auch die praktische Auseinandersetzung mit den auch bei dieser Arbeit hinzugezogenen Bezugswissenschaften.

Mein Hauptinteresse liegt neben dem Sport weiterhin in der Pädagogik. Die vorliegende Arbeit wurde im Fach Sportwissenschaft verfasst. Das zweite Hauptfach in diesem Studiengang war Pädagogik.

Ich bin weder Jurist noch Psychologe. Ein tieferes Einsteigen in die Materie ist sicherlich möglich. Im Rahmen dieser Arbeit stellen die pädagogischen Konsequenzen aus den Erkenntnissen der anderen Zugänge Teil der Grundlage für die Auseinandersetzung mit persönlichen Freiheiten und Grenzen im Judo.

Im Übrigen bin ich Träger des zweiten Dan im Judo und ehemaliger Kinder-, Jugend- und Erwachsenentrainer.

Mit den von mir dargelegten Ansätzen erhoffe ich mir, als Ideengeber fungieren und eine Diskussionsgrundlage bieten zu können.

1 Einleitung – oder was es über Grenzen zu sagen gibt

Was gibt es nicht alles über Grenzen zu sagen? Sie existieren überall. In jedem Lebensbereich. Mal sind sie scharf, mal sind sie fließend. Sie stören und halten uns von dem ab, was wir tun möchten und lassen uns nicht dorthin, wo wir hin wollen. Grenzen beschützen uns aber auch vor dem, was wir nicht möchten. Und es ist spannend, sie zu verschieben! Sie lassen davon träumen, was dahinter liegen mag.

Es gibt geographische, zeitliche, finanzielle Grenzen. Es gibt Altersgrenzen, körperliche und kognitive Grenzen, Grenzen der Belastbarkeit, Grenzen der Geduld und viele mehr. Ohne weiter zu differenzieren steht im Online-Wörterbuch Wiktionary (2015) zur Bedeutung von Grenze: „ein Rand eines Raumes und damit ein Trennwert, eine Trennlinie oder Trennfläche“. Als Synonym steht dort „Ende“. Als imperativer Ausdruck fällt einem hierzu das kleine, aber gewichtige Wörtchen „Stopp“ ein. Denn wo auch immer Grenzen gezogen oder als gegeben angenommen werden, gibt es die Versuchung, diese zu überschreiten. Nicht immer ist das von allen gewollt. In diesem Zusammenhang zeigt sich die Problematik, dass Grenzen häufig unterschiedlich wahrgenommen oder von unterschiedlichen Parteien als vorhanden oder auch als nicht-vorhanden gesehen werden, oder aber schlichtweg ignoriert werden.

Aber wer bestimmt nun Grenzen? Neben natürlichen Grenzen, wie beispielsweise Flüssen oder Gebirgszügen, dem Tod, oder dass der Mensch ohne Hilfsmittel nicht fliegen kann, sind sie in der Regel Aushandlungssache. Beim Fortschritt und dessen Grenzen wollen sich mittlerweile viele nicht mehr aus dem Fenster lehnen. Dafür gibt es bereits zu viel, was vorher noch undenkbar war. Mit den eigenen, persönlichen Grenzen sieht es anders aus. Abgeleitet aus dem pädagogischen Wert der Selbstbestimmung und dem in Deutschland herrschenden Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG besteht für jeden eine gewisse Freiheit, seine eigenen Grenzen selbst zu stecken. Den Rahmen hierfür stellen im sozialen Miteinander vor allem soziale Normen und das Gewissen. Im Sport gehören hierzu die jeweiligen Regeln und die Gebote der Fairness. Immer bewegt man sich dabei im Spannungsfeld von gleichberechtigten Parteien, Autoritäten und den eigenen Bedürfnissen.

Im Sport spielen Grenzen eine ganz besondere Rolle. In einigen Sportarten geht es darum, die Leistungsgrenzen – das Menschenmögliche – zu verschieben bzw. zu erweitern. Paradebeispiele hierfür sind die sogenannten cgm-Disziplinen (centimetre – gram – second). Im Wettkampf stellen sich die Sportler[1] dabei dem Vergleich mit Konkurrenten um das Siegertreppchen. In anderen Sportarten dreht sich vieles darum, dem Gegner die Grenzen dessen Leistungsfähigkeit aufzuzeigen und sich dabei den Regeln entsprechend im Vergleich besser darzustellen. Hierbei wird unter Zuhilfenahme von Technik und Taktik sowie unter Ausnutzung konditioneller, koordinativer und psychischer Voraussetzungen aktiv auf die Handlungen der anderen Sportler Einfluss genommen. Im Judo geschieht dies explizit in einer körperlichen Auseinandersetzung mit dem Gegner. Es wird innerhalb der ausgehandelten bzw. akzeptierten Regeln und hoffentlich auch den Geboten der Fairness entsprechend gekämpft. Doch wo fangen Grenzen und Grenzüberschreitungen dabei an? Im Wettkampf wird dies hauptsächlich durch einen oder mehrere Kampfrichter entschieden. Wie konkret sind dabei aber deren Richtlinien? Was kann der Einzelne mitbestimmen? Und wie sieht es im Trainingsalltag und darüber hinaus aus? Was haben Grenzen im Judo mit dem restlichen Leben zu tun? Ist Judo als Untersuchungsgegenstand bei dieser Frage eigentlich besonders interessant?

Warum nun diese lange Vorrede zum Thema unterschiedlicher Grenzen, wenn es doch „nur“ um das Thema Grenzen und Grenzüberschreitungen im Judo gehen soll? Wie deutlich werden sollte, bestehen Grenzen im sozialen Miteinander nicht „einfach so“, also automatisch oder gar selbstverständlich. Sie unterscheiden sich von Kultur zu Kultur, von Zeit zu Zeit, von Gruppe zu Gruppe und von Individuum zu Individuum. Und es gibt immer auch unterschiedliche Perspektiven auf ein und dieselbe Situation. Was ist in den unterschiedlichen Zusammenhängen mit Grenzen gemeint und wann beginnt deren jeweilige Überschreitung? Welche Formen davon gibt es und wie sieht das Ganze im Sport aus? Befindet sich Judo dabei in einer besonderen Rolle? Gibt es besondere Gefahren oder auch Potentiale im Judo, einem Sport, bei dem mit- und gegeneinander gekämpft wird, und das sich stets auch auf die Grundgedanken Jigoro Kanos bezieht, der Judo immer auch als Werte- und Erziehungssystem verstand?

Es handelt sich hier um eine sportwissenschaftliche Arbeit, die sich den für ihren pädagogischen Schwerpunkt relevanten Perspektiven ihrer Bezugswissenschaften widmet. Ihr pädagogischer Fokus hat die Absicht herauszufinden, ob oder inwiefern Judo durch dessen spezifische Merkmale für Grenzüberschreitungen prädestiniert ist oder nicht, und welche Rolle dies auch außerhalb des Judo spielen kann. Eindeutige Grenzziehungen werden nur schwer möglich sein. Was diese Arbeit leisten möchte, ist eine Sensibilisierung für das Thema. Durch das Aufzeigen der Vielfältigkeit von Grenzen dürfte bereits deutlich geworden sein, dass es auch Grenzen im Judo gibt, deren Thematisierung den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde. So werden beispielsweise konkrete Grenzverletzungen im Zusammenhang mit dem Sport im Allgemeinen, bei denen nicht von einer Unterscheidung zu anderen Sportarten ausgegangen werden kann, höchstens tangiert. Dies betrifft insbesondere strukturelle Bedingungen des Leistungssports oder auch periphere zum Sport gehörende Ereignisse wie das gemeinsame Umkleiden oder das Feiern von Festen. Wie noch festzustellen sein wird, wird durch die im Judo existierende Vielfalt an Techniken und Übungsformen auch nicht jede einzelne potentielle Grenzüberschreitung thematisiert werden können, was auch nicht sinnvoll erscheint. Das, was Judo reizvoll und attraktiv erscheinen lässt, ist ja gerade die Handlungsfreiheit, die man bei dessen Ausübung hat.

Die Arbeit gliedert sich in drei große Teile. Zunächst werden die Grundlagen des Judo aufgezeigt. Im Anschluss daran wird anhand unterschiedlicher Perspektiven auf das Thema Freiheiten und Grenzen eingegangen, bevor noch unterschiedliche Formen von Grenzüberschreitungen behandelt werden.

2 Grundlagen des Judo

„Judo ist – in letzter Konsequenz – der höchst wirksame Gebrauch von Geist und Körper zu dem Zweck, sich selbst zu einer reifen Persönlichkeit zu entwickeln und einen Beitrag zum Wohlergehen der Welt zu leisten“ (Jigoro Kano, der Begründer des Judo In: Pöhler u. a., 2014, S. 6).

Diese Untersuchung richtet sich in erster Linie an Leser, die bereits in irgendeiner Form einen Zugang zum Judo haben[2]. Da der Rahmen dieser Arbeit andernfalls gesprengt würde, soll hier lediglich auf die für die Untersuchung relevantesten Aspekte im Hinblick auf die Fragestellung dieser Arbeit eingegangen werden[3] +[4]. Potentielle Grenzsituationen, und auch Grenzen schützende Aspekte werden hierbei zum Teil bereits deutlich.

2.1 Begriffserklärung und Prinzipien

Das Wort „Judo“ ergibt sich aus den beiden sinojapanischen Schriftzeichen für „Sanftheit“ oder „Nachgeben“ („Ju“) sowie für „Grundsatz“ oder „(Lebens)-Weg“ („Do“) und kann somit als „Weg des Nachgebens“ bezeichnet werden (Kano, 2007).

Für das Handeln im Judo und darüber hinaus formulierte der Begründer des Judo Jigoro Kano zwei alles umfassende Prinzipien:

- Sei-Ryoku-Zen-Yo – Das technische Prinzip: „Bester Einsatz von Geist und Körper“ verdeutlicht vor allem das, was mit Nachgeben („Ju“) gemeint ist, geht jedoch darüber hinaus und
- Ji-Ta-Kyo-Ei – Das moralische Prinzip: „Gegenseitige Hilfe für den wechselseitigen Fortschritt und das beiderseitige Wohlergehen“ verdeutlicht vor allem das, was mit Weg („Do“) gemeint ist (Pöhler u. a., 2014; Klocke, 2005; Kano, 1932).

Unter Berücksichtigung dieser beiden Prinzipien sah Kano die Möglichkeit zur Vervollkommnung des Menschen als ein personales und soziales Wesen in der Begegnung und Auseinandersetzung mit anderen (Niehaus, 2010).

2.2 Bedeutungsvolle Rahmenbedingungen des Judo

Im Judo existieren einige Symbole und Rituale, die verschiedene Rahmenbedingungen darstellen. Diese Symbole und Regeln der Etikette haben ihre Grundlage unter anderem im übergreifenden Wert des Respekts. Nach Kanos Intention soll Judo pädagogisch bedeutsam sein. Hierfür erscheint die Kenntnis der Prinzipien, Werte und Etikette notwendig, welche bei den Judoka jedoch nur zum Teil vorhanden ist (Tsafack, 2015).

2.2.1 Dojo, Judogi und Graduierung

Im mit den „Tatami“ (japanische Reisstrohmatten) ausgelegten „Dojo“ („Ort zum Üben des Weges“) finden das Training und die Wettkämpfe statt. Im Wettkampf wird die Kampffläche mit Hilfe unterschiedlicher Farben der Tatami begrenzt. Die vier Wände des Dojos haben ihre je eigene Bedeutung, welche eine Atmosphäre gegenseitigen Respekts schaffen und ein konzentriertes, ablenkungsfreies Üben unterstützen soll. Eine normale Turnhalle kann zum Dojo werden (Kano, 2007; Lind, 2004; Lippmann, 2001).

Der „Judogi“ (Judo-Bekleidung) besteht aus Jacke und Hose sowie einem der Graduierung des Trägers entsprechenden Gürtel (Kano, 2007). Der technische Fortschritt, die Verinnerlichung der Haltung im bzw. zum Judo und später auch der Beitrag des Judoka[5] zum Judo sollen sich in der Graduierung zeigen (Pöhler, 2014). Dabei durchläuft der Judoka zunächst die rückwärts gezählten „Kyu-Grade“ (je nach Fortschritt immer dunkler werdende „Schüler-Grade“) und dann die vorwärts gezählten „Dan-Grade“ („Meister-Grade“ in Schwarz, vom 6. bis 8. Dan alternativ auch in Rot-weiß und vom 9. bis 10. Dan alternativ auch in Rot). Die Grade können im Rahmen des DJB bis zum 5. Dan zunächst durch Prüfung und mit Ausnahme des 1. Dan auch durch Verleihung erreicht werden (Bayerischer Judo-Verband e.V., 2015; Pöhler u. a., 2014; Kano, 2007; Saldern, 2004; Lind, 2004; Hofmann, 1978). Im Wettkampf sollen Kämpferinnen ein sauberes weißes oder fast weißes kurzärmeliges T-Shirt oder einen entsprechenden Einteiler unter dem Judogi tragen (Deutscher Judo-Bund e.V., 2015b).

2.2.2 Rei – Der Gruß als Ritual mit Botschaft

Vor und nach dem Üben bzw. Wettkämpfen verneigen sich die Judoka in geordnetem Judogi voreinander. Dies spielt im Judo eine große Rolle und geschieht einerseits aus der Tradition als japanische Zweikampf-Disziplin, hat aber im Kern auch eine sachliche und das Miteinander auf der Matte gestaltende Begründung. Hinter jedem „Rei“ („Gruß“, „Begrüßung“, „Verbeugung“) soll nicht Unterwürfigkeit, sondern Respekt vor dem Partner/Gegner stehen. Vor dem Üben wird damit die Botschaft gesendet, sich an die Regeln halten zu wollen. Nach dem Üben drückt es den gegenseitigen Dank aus. Hinzu kommt, dass das Verneigen der Konzentration dienlich ist (u.a. Pöhler u. a., 2014; Kano, 2007; Klocke, 2005; Mifune, 2004).

Die beiden Formen „Ritsu-Rei“ (im Stand) und „Za-Rei“ (im Kniesitz) werden in vielfältigen Situationen verwendet und folgen jeweils einem festen Ablauf. So kann durch das Rei beispielsweise ein Partner zum Üben aufgefordert werden. Das Za-Rei findet seine größte Bedeutung zu Beginn und am Ende einer jeden Übungsstunde, wenn sich die Judo-Schüler und -Lehrer gemeinsam voreinander verneigen, wobei sich die Schüler in einer nach Graduierung geordneten Reihe vor den ebenfalls nach Graduierung geordneten Lehrern befinden (u.a. Pöhler u. a., 2014; Kano, 2007; Klocke, 2005; Mifune, 2004).

2.2.3 Die Judowerte des DJB als gemeinsames Wertverständnis

Um zur Auseinandersetzung bzw. Diskussion über das Verhalten im Judo anzuregen, stellte der DJB einen Wertekatalog zusammen, der sich aus den Schriften Kanos, der japanischen Kultur bzw. Tradition und dem tatsächlichen bzw. gewünschten Umgang im Dojo ergibt. Diese „offiziellen Judowerte“ sind Respekt, Höflichkeit, Wertschätzung, Selbstbeherrschung, Hilfsbereitschaft, Ehrlichkeit, Mut, Bescheidenheit, Ernsthaftigkeit und Freundschaft (Deutscher Judo-Bund e.V., 2015a). Die Werte schlagen sich in vielfältiger Form im Übungsprozess und in den Wettkampfregeln nieder. Als Beispiele seien hier der Umgang mit Unsportlichkeit bei Wettkämpfen und die Hygieneregeln zu nennen (Deutscher Judo-Bund e.V., 2015a; Tsafack, 2015).

2.3 Judo-Techniken

2.3.1 Systematik

Die großen Kategorien, in welche die Judo-Techniken eingeordnet werden können, sind die „Ukemi-waza“ („Falltechniken“), die „Nage-waza“ („Wurftechniken“), die „Katame-waza“ („Festlegetechniken“) und die „Atemi-waza“ („Schlag-, Stoß- und Tritt-Techniken“). Traditionell gehörte auch „Kappo“ (Wiederbelebung) dazu, was heutzutage kaum mehr eine Rolle spielt (Daigo, 2009; Kano, 2007; Ohlenkamp, 2006; Mifune, 2004; Velte, 1997).

Die Anwendung von Atemi-waza stellt im Judo-Wettkampf eine Regelverletzung dar, weshalb diese Techniken bei vielen Judoka keine Relevanz im häufig wettkampforientierten Trainingsalltag haben. Bei anderer Schwerpunktsetzung im Training spielen sie bei meist erfahreneren Judoka insbesondere in der Kata (s. u.) dennoch eine Rolle. Zuletzt gewannen sie wieder an Bedeutung, da sie erneut in das Kyu- und Dan-Prüfungsprogramm aufgenommen wurden (Daigo, 2009; Kano, 2007; Ohlenkamp, 2006).

Die Katame-waza können zwar zum Teil auch im Stand genutzt werden, haben jedoch ihren Hauptanwendungsbereich als „Ne-waza“ („Bodentechniken“). Sie werden unterteilt in „Osae-komi-waza“ („Festhaltetechniken“), „Shime-waza“ („Würgetechniken“) und „Kansetsu-waza“ („Gelenk- bzw. Hebeltechniken“). Letztere sind im Wettkampf mit Ausnahme der Hebel der Ellenbogengelenke ebenso wie die Atemi-waza nicht erlaubt. Die genannten Unterkategorien beinhalten weitere Unterteilungen (Kodokan Judo Institute, o. J.; Daigo, 2009; Kano, 2007; Ohlenkamp, 2006; Velte, 1997).

Zuletzt definierte die von Jigoro Kano in Tokio gegründete Judo-Schule („Kodokan“) 67 Grundformen der Nage-waza, welche unzählige Varianten aufweisen. Die Techniken werden unterteilt in erstens „Tachi-waza“ („Standtechniken“), bei denen „Te-waza“ („Handtechniken“), „Koshi-waza“ („Hüfttechniken“) und „Ashi-waza“ („Fuß- bzw. Beintechniken“) unterschieden werden, und zweitens in „Sutemi-waza“ („Selbstfalltechniken“), bei denen „Ma-sutemi-waza“ („gerade Selbstfalltechniken“) und „Yoko-sutemi-waza“ („seitliche Selbstfalltechniken“) unterschieden werden. Alleine im Standkampf ergeben sich durch diese Technikvielfalt und der Möglichkeit der Anwendung von „Renraku-waza“ („Kombinationstechniken“) und „Kaeshi-waza“ („Kontertechniken“) schier unendlich viele Situationen (Kodokan Judo Institute, o. J.; Daigo, 2009; Kano, 2007; Ohlenkamp, 2006; Daigo, 2005; Mifune, 2004; Velte, 1997).

2.3.2 Kontrolle und Körperkontakt

Bei allen Techniken (mit Ausnahme der Ukemi-waza) spielt die durchgängige Kontrolle des Partners/Gegners eine wichtige Rolle. Bei den Nage-waza geschieht dies in der Regel zuerst durch das „Kuzushi“ („Gleichgewichtsbruch“) vor dem „Tsukuri“ („Wurfansatz“) und dem „Kake“ („Abwurf“).

Abgesehen von Übungsformen ohne Partner wie dem „Tandoku-renshu“ ergibt sich bei allen Techniken zudem ein enger Körperkontakt. Dies trifft insbesondere auf die Nage-waza, noch mehr jedoch auf die Katame-waza zu. Bei den Osae-komi-waza beispielsweise liegt Tori je nach Technik seitlich, quer oder längs von den Füßen oder vom Kopf herkommend auf Uke und hält diesen nach bestimmten Kriterien fest. Bei allen Katame-waza ist sowohl die Zieltechnik als auch das Hinarbeiten darauf stets mit Toris enger Kontrolle von Uke verbunden.

2.3.3 Aufgabe

Die Schädigung des Uke ist bei den Judo-Techniken nicht das Ziel. Ausnahmen bilden die Atemi-waza, die im Wettkampf nicht erlaubt sind, und zum Teil die Katame-waza. Bei den im Wettkampf erlaubten Kansetsu-waza bzw. den Shime-waza ist es das Ziel, den Partner/Gegner zur Aufgabe zu zwingen, der damit Verletzungen bzw. die durch das potentiell tödliche Abdrücken der Hauptschlagader drohende Bewusstlosigkeit vermeiden will. Im Wettkampf wird dies als „Kiken-gachi“ („Sieg durch Aufgabe“) bezeichnet.

Bei allen auch im nächsten Unterpunkt beschriebenen Trainingsmethoden spielt die Möglichkeit zur Aufgabe eine wichtige Rolle. Diese begrenzt den Partner bzw. Gegner in seiner Handlungsfreiheit sowohl im Übungsprozess als auch im Wettkampf. Als allgemein anerkanntes Symbol für Aufgabe ist neben deren Verbalisierung („Maitta“, „Stopp“, „Hör auf“ etc.) das mindestens zweimalige Abklopfen mit Händen oder Füßen auf der Matte oder dem Partner/Gegner festgelegt. Zusätzlich wird auch ein deutlicher Schmerzenslaut („Aua“) als Stoppsignal verstanden. Im Wettkampf wird „Maitta“ gerufen oder abgeklopft. Das deutliche Wirksamwerden einer Technik durch Verletzung oder Bewusstlosigkeit sollte vermieden werden, gilt im Wettkampf jedoch bei dadurch entstehender Kampfunfähigkeit ebenfalls als Sieg (Deutscher Judo-Bund, 2015b).

2.4 Training und Wettkampf

Zu den primären Trainingsmethoden im Judo zählen das „Randori“ („freies Üben“) und die „Kata“ („Form“). Auch der „Shiai“ („Wettkampf“) war ursprünglich nicht als Ziel des Trainings, sondern als eine Methode zur Verbesserung des eigenen Judo gedacht (Niehaus, 2010; Kano, 2007; Ohlenkamp, 2006). Im Übrigen werden auch Kata-Meisterschaften durchgeführt, bei denen kooperierende Paare gegeneinander antreten.

2.4.1 Randori und Kata

Im Randori können Techniken mit vollem Krafteinsatz angewendet werden, da Jigoro Kano zur Reduzierung des Verletzungsrisikos und zur Effektivitätssteigerung die gefährlichsten Techniken auf die Kata beschränkte. Bei letzterer kooperieren die Partner vollständig miteinander, um auch die im Randori nicht mehr anwendbaren traditionellen Kampfmethoden üben und erhalten zu können. Das Za-Rei zu Beginn und am Ende, die Reihenfolge der Techniken und auch alle zu deren Ausführung gehörenden Bewegungen sind dabei genau festgeschrieben (Kano, 2007; Ohlenkamp, 2006). Dahingegen kann das Randori vielfältig gestaltet werden. Obwohl es wie auch die Kata weder Sieger noch Besiegten hervorbringt, wirken sich die jeweils aktuellen Wettkampfregeln für gewöhnlich direkt auf das Randori aus (Lippmann, 2001). Bei beiden Übungsformen ist eine hohe Verlässlichkeit zwischen den Partnern notwendig, da vor allem bei fehlender Kontrolle eine potentielle Verletzungsgefahr besteht.

2.4.2 Shiai – Wettkämpfe im Judo

Judo wurde als Sportart mit einem eigenen, sich ständig verändernden Regelwerk, eigenen Verbänden und eigenen Wettbewerben institutionalisiert (Ohlenkamp, 2006; Prahl, 2002). Der Shiai als dritte große Säule des Judo neben dem Randori und der Kata hat heutzutage eine tragende Bedeutung, auf die bereits folgende Formulierung in den Ausbildungsinhalten für Kyu-Grade hindeutet:

„Der Kerngedanke unserer Judoausbildung ist das moderne Technikverständnis: Judotechniken sind kein Selbstzweck! Sie sind bewährte Lösungen einer Kampfsituation, mit dem Ziel, den Gegner gegen dessen Widerstand mit Ippon zu besiegen“ (Pöhler u. a., 2014, 15).

Das Erzielen eines „Ippon“ („Punkt“) führt zu einem vorzeitigen Sieg. Im Gegensatz zu den beiden anderen primären Trainingsmethoden geht es hier also um das Ziel – das liegt in der Natur des Wettkampfs –, als Sieger hervorzugehen. Dabei findet das Sich-miteinander-messen geschlechtergetrennt innerhalb von Alters- und Gewichtsklassen statt. Die Regeln variieren zwischen den jeweiligen Altersklassen zum Teil. Wie bereits weiter oben beschrieben, geht es aber immer darum, in einer direkten körperlichen Auseinandersetzung, „die körperliche Kontrolle über [...] [den Gegner] unter Zuhilfenahme eines Anzuges herzustellen“ (Lippmann, 2001, 194). Die Judoka können durch Nage- und Katame-waza unter Einhaltung verschiedener Kriterien unterschiedliche Wertungen erhalten. Zudem vergeben die Kampfrichter auch Strafen für bestimmte Verhaltensweisen, welche den Ausgang eines Wettkampfs ebenfalls entscheiden können (Deutscher Judo-Bund, 2015b).

2.4.2.1 Fairness im Shiai

Kampfregeln sichern ein gewisses Maß an Fairness im Judo. Die Judoprinzipien und -werte sollen jedoch über die offiziellen Wettkampfregeln hinaus Gültigkeit erfahren. Dies gilt auch für den Übungsprozess, bei dem zwar in der Regel ein Judo-Lehrer, aber kein Kampfrichter anwesend ist. Erfahrbar wird dies vor allem im häufig wettkampfnahen Randori. Dem moralischen Prinzip entsprechend stehen das beiderseitige Wohlergehen und die jeweilige Sicherheit vor dem technischen Fortschritt und dem Sieg (Tsafack, 2015; Niehaus, 2010; Klocke, 2006; Ohlenkamp, 2006). Zusätzlich zu Kontrollmechanismen von außen soll jeder Judoka seine Partner und Gegner aus seinem eigenen Gewissen heraus gut behandeln. Hier wird die Wichtigkeit dessen Ausbildung deutlich, die im Rahmen eines Erziehungs- und Sozialisationsprozesses geschehen muss. In diesem Zusammenhang hat Judo bereits in seinem Ursprung einen hohen Anspruch an sich selbst.

Auch innerhalb der Wettkampfregeln findet sich dieser Ansatz im Judo. So ist in den aktuellen Regeln folgender Passus festgelegt: „Jede Handlung gegen den Geist des Judo kann sofort mit Hansoku-make bestraft werden, zu jeder Zeit des Wettkampfes“ (Deutscher Judo-Bund, 2015b, 37). Hierunter fällt unter anderem unsportliches bzw. abfälliges Verhalten. Mit „Hansoku-make“ („Disqualifikation“) werden der vierte leichte Regelverstoß innerhalb eines Kampfes sowie alle schweren Regelverstöße bestraft. Hierzu gehört auch die Anwendung verletzungsträchtiger Techniken wie „Kawazu-Gake“. Auch sind die Regeln an die unterschiedlichen Altersklassen angepasst, um Verletzungen und nachhaltige Frustrationserlebnisse zu vermeiden. Als Symbol für die Absicht, sich fair zu verhalten, dient auch im Wettkampf das Rei, welches zu Beginn und am Ende Pflicht ist (ebd.; Kano, 2007).

2.4.2.2 Die Rolle der Kampfrichter im Shiai

Die Art und Weise wie und in welcher Anzahl Kampfrichter über das Geschehen auf den Tatami urteilen, unterliegt einem Entwicklungsprozess und hängt unter anderem von den technischen Möglichkeiten und auch vom Wettkampfniveau ab. Die Kampfrichter auf bzw. an der Wettkampfläche und zum Teil die sogenannte Kampfrichterkommission bewerten die Ausführung von Techniken. Außerdem wachen sie über die Einhaltung der Regeln und reagieren entsprechend auf Regelübertritte und Verletzungen. Im Zusammenhang mit Grenzüberschreitungen gehören zu den wichtigsten Kompetenzen das Unterbrechen und Beenden des Kampfes unter Beachtung des Verhaltens der Judoka sowie der begrenzenden Rahmenbedingungen Zeit und Wettkampffläche.

Zur Kommunikation mit den Kämpfern und den Offiziellen (z. B. Zeitnehmer) nutzen sie neben der Sprache auch eine große Anzahl an Handzeichen. Als wichtigste begrenzende Kommandos gelten „Mate“ („Warten“) und das seltener verwendete „Sono-mama“ („nicht bewegen“), welches seinen Anwendungsbereich nur in Ne-waza-Situationen findet. Zu Beginn und nach jeder Unterbrechung startet der Kampf erst wieder mit dem Kommando „Ha-jime“ („Beginnt!“) bzw. nach „Sono-mama“ mit „Yoshi“ („Weitermachen“). Der Kampf endet mit „Sore-made“ („das ist alles“) (Velte, 1997).

Für verbotene Handlungen sprechen die Kampfrichter Strafen aus. Es wird derzeit unterschieden in „leichte“ Regelverstöße, für die es eine Verwarnung durch ein „Shido“ gibt und in „schwere“ Regelverstöße, wonach es zur Disqualifikation durch „Hansoku-make“ kommt. Mit Ausnahme des selbstgefährdenden Diving und von Aktionen mit Händen und/oder Armen unterhalb des Gürtels kommt es bei einer Disqualifikation zusätzlich zur Niederlage im aktuellen Kampf auch zum Turnierausschluss. Hansoku-make wird ebenfalls ausgesprochen, wenn einer der Judoka seinen Gegner durch eine absichtliche Aktion verletzt, und dieser dadurch kampfunfähig wird (Deutscher Judo-Bund, 2015b; Velte, 1997).

2.5 Erziehung und Judo

Wie bereits angesprochen, spielt der Erziehungsgedanke eine große Rolle im Judo. Jigoro Kano war selbst Pädagoge und hatte die Absicht, mit der Entwicklung des Judo gleichzeitig ein Erziehungssystem zu etablieren. Vielen deutschen Judoka fehlen hierzu Kenntnisse (Tsafack, 2015). Dennoch sind Kanos Ansichten zur Erziehung neben Alltagstheorien teilweise unter Judoka bekannt und bilden zum Teil die Grundlage für die Gestaltung des Lebens auf den Tatami und darüber hinaus. Dieses Erziehungssystem soll nur in seinen Grundzügen dargestellt werden, da es zum einen bereits eine Fülle an Literatur zum pädagogischen Wert des Judo und auch ergiebige Zusammenfassungen von Kanos Auffassungen zur Erziehung gibt (u.a. Niehaus, 2010; Pöhler, 1999 & 2004; Tsafack, 2015) und zum anderen, weil bei dieser Arbeit das Augenmerk auf der Verschränkung von für die Pädagogik relevanten Perspektiven im Zusammenhang mit Grenzen und Grenzüberschreitungen liegt.

Bevor auf Kanos Gedanken zur Erziehung eingegangen wird, wird die Lehrer-Schüler-Beziehung im „Budo“ („Weg des Kriegers“; Oberbegriff für die japanischen Kampfkunstmethoden unter dem Aspekt des Weges), in dessen Tradition sich Judo einreiht, kurz beschrieben.

2.5.1 Shitei – Die traditionelle Lehrer-Schüler-Beziehung im Budo

Das traditionelle Verhältnis im Budo zwischen einem „Sensei“ (übliche Anrede für „Lehrer“, „Meister“; auch „Professor“, „Arzt“) und einem „Deshi“ („Schüler“, „Lernender“) bzw. „Senpai“ („älterer (Mit-)Schüler“) heißt „Shitei“ (Neumann, 2004; Lind, 2004; Velte, 1997).

Wenn der Judo-Lehrer über das Trainer-Dasein hinaus auch Sensei sein möchte, muss er dem Deshi mit Hilfe der Technik („Jutsu“) den Weg („Do“) zeigen. Das Ziel ist dabei der vollendete Mensch. Dabei unterstützt er das, was die Persönlichkeit des Schülers ausmacht, statt diesen lediglich zu bestehenden Werten hinzuführen (Neumann, 2004; Saldern, 2004; Lind, 2004).

Der Deshi hat die Möglichkeit, vom Technikschüler zum Wegschüler zu werden (Lind, 2004). Dabei steht er auch unter dem Einfluss des Senpai, zu dem er später selbst wird und dessen Unterweisung durch den Sensei abnimmt (Saldern, 2004).

Durch ein Abkommen zwischen Lehrer und Schüler entsteht erst das, was unter Shitei zu verstehen ist. Die Vereinbarung beinhaltet auf der einen Seite das Versprechen des Deshi, sich um eine angemessene Haltung zu bemühen und auch seine eigene Persönlichkeit in die Kampfkunst einzubringen. Auf der anderen Seite besteht das Versprechen des Sensei darin, dem Schüler den Weg zu zeigen, dessen Hindernisse dieser schon kennt, weil er sich bereits länger auf diesem Weg befindet. Die Grundlage für diese Beziehung bildet von Anfang an gegenseitige Achtung und gegenseitiges Vertrauen. Das zunächst hierarchische Verhältnis wird zunehmend zu einem partnerschaftlichen (Saldern, 2004; Neumann, 2004; Grundmann, 1983).

2.5.2 Erziehung bei Jigoro Kano

Für Kano liegt die Aufgabe der Erziehung in der Ausbildung eines dem einzelnen Menschen als Gemeinschaftswesen im Zusammenhang mit der Gesellschaft, der Nation und dem Staat nützlichen Verhaltens. Von der Erziehung soll dementsprechend der Einzelne und jede Gemeinschaft, in der sich dieser befindet, profitieren. Er verfolgte dabei auch einen patriotischen Ansatz im Sinne der Stärkung der Gesellschaft, welcher, wie auch sein pädagogischer Ansatz insgesamt, unter dem Gesichtspunkt der damaligen Zeit bewertet werden muss (Niehaus, 2010; Pöhler, 1999). Innerhalb der zu Kanos Lebzeiten hierarchisch strukturierten Gesellschaft ist in seinem Prinzip des wechselseitigen Gedeihens vielmehr ein pragmatischer und praktischer als ein ideologischer Ansatz zu sehen. Loyalität und Verantwortung bzw. Pflichtbewusstsein spielten im Rahmen seiner Vorstellung von Moral eine wichtige Rolle. Normen und dahinterstehende Werte hinterfragte er jedoch gründlich, was eine grundsätzliche Offenheit gegenüber einem Wandel der Zeit vermuten lässt (Niehaus, 2010). Für die Umsetzung der beiden Prinzipien seien zwar Selbstdisziplinierung und Mäßigung notwendig, eine späte Formulierung Kanos relativiert allerdings seine Konzentration auf staatliche Zwecke: „... sich selbst aufzugeben, ist keinesfalls gleichzusetzen mit Sittlichkeit“ (Kano, 1933 In: Niehaus, 2010, 162). Auch im Judo-Unterricht war er der Meinung, diesen an den individuellen Fähigkeiten der Kinder auszurichten und stellte sich damit gegen die allgemein verbreitete Unterrichtsmethode, der Gesamtgruppe Befehle zu erteilen. Auch distanzierte er sich von der traditionellen Methode des Demonstrierens und Imitierens und ergänzte die physische Dimension des Lernens durch die verbale, kognitive Auseinandersetzung mit Hilfe von „kogi“ („Vortrag“) und „mondo“ („Frage und Antwort“) (Niehaus, 2010).

Kanos Blick auf den einzelnen Menschen war gekennzeichnet von einer gegenseitigen dialektischen Angewiesenheit von Körper und Geist. „Beide scheinen getrennt, sind aber eins. Sie scheinen eins, sind aber getrennt. Die geistige Entwicklung braucht eine körperliche Basis und die körperliche Entwicklung erfordert die Kraft des Geistes“ (Kano, 1917 In: Niehaus, 2010, 148).

An der japanischen Gesellschaft kritisierte Kano, dass es eine zu starke Betonung der kognitiv-intellektuellen Erziehung gebe und es an der körperlichen und moralischen fehle. Im Judo sah er ein ganzheitliches Erziehungssystem, welches in den drei Judo-Systemen der Leibesübungen, des Kampfes und der Moral wirke. Ziele seien zusammengefasst: Stärke, Gesundheit und Nutzbarkeit (Tsafack, 2015; Niehaus, 2010).

[...]


[1] Der besseren Lesbarkeit wegen wird lediglich die maskuline Form der Personenbezeichnung verwendet. Sofern nicht gesondert darauf hingewiesen, sind jeweils beide Geschlechter gemeint.

[2] Die international gebräuchliche Terminologie im Judo ist die japanische, welche auch hier beibehalten wird.

[3] Bei Regelungen, die international unterschiedlich gehandhabt werden, sind diejenigen des Deutschen Judo-Bundes (DJB) gemeint.

[4] Für weitere Ausführungen siehe unter anderem auch das Kapitel V bei Schmitt (2014).

[5] Diejenigen, die Judo ausüben, nennt man „Judoka“. Dabei ist „Tori“ derjenige, der im entscheidenden Moment eine Technik ausführt und „Uke“ derjenige, an dem dies geschieht. Beide sind im Übungsprozess für den jeweils anderen von größter Bedeutung.

Excerpt out of 56 pages

Details

Title
Grenzen und Grenzüberschreitungen im Judo
College
University of Würzburg  (Institut für Sportwissenschaft)
Grade
1,0
Author
Year
2015
Pages
56
Catalog Number
V337109
ISBN (eBook)
9783668266803
ISBN (Book)
9783668266810
File size
649 KB
Language
German
Keywords
Sport, Sportwissenschaft, Sportpädagogik, Sportpsychologie, Sportsoziologie, Recht, Judo, Grenzen, Kampfsport, Grenzüberschreitungen, Fairness, Macht, Hierarchie, Japan, Kampfkunst, Verein, Sexualität, Missbrauch, Nötigung, Körperverletzung, Gesetz, Werte, Judowerte, Trainer, Schüler, Schutzbefohlene, Kano, Erziehung, Gefahr, Risiko, Chance, Kämpfen, Nähe, Distanz, Jura, Justiz, Psychologie, Pädagogik
Quote paper
Michael Schmitt (Author), 2015, Grenzen und Grenzüberschreitungen im Judo, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/337109

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