Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Merkmale von Phraseologismen
2.1 Polylexikalität
2.2 Festigkeit
2.2.1 Gebräuchlichkeit
2.2.2 Psycholinguistische Festigkeit
2.2.3. Strukturelle Festigkeit
2.3 Idiomatizität
3. Korpusbasierte Analyse des Idioms „über die Klinge springen“
3.1 Vorgehensweise
3.1.1 Auswahl des Korpus
3.1.2 Suchphrasen
3.2 Ergebnisse
3.2.1 Morphosyntaktische Festigkeit
3.2.2 Semantik
4. Versuch eines Wörterbucheintrags
5. Schluss
Literatur
1. Einleitung
Die vorliegende Arbeit ist das Produkt der Auseinandersetzung mit dem sprachlichen Phänomen der Phraseologismen im Rahmen des Blockseminars „Phraseologie“ im Wintersemester 2013/2014 am Germanistischen Seminar der Universität Heidelberg unter Leitung von Dr. Marcus Müller.
Das Seminar gab einen Überblick über die seit den 1980er Jahren sich etablierende linguistische Teildisziplin der Phraseologie und versuchte, die Möglichkeiten der Phraseologie hinsichtlich ihres Beitrags zur Beschreibung der Gegenwartssprache zu ergründen.
Die Arbeit stellt den Versuch dar, die Möglichkeiten korpuslinguistischer Untersuchungen von Phraseologismen für die Lexikographie kritisch zu beurteilen.
Wert und Nutzen der Korpuslinguistik sind in der Sprachwissenschaft höchst umstritten. Dabei sind die Gegenpositionen durch ideologische Differenzen voneinander getrennt. Während Befürworter korpuslinguistischer Methoden sich bei der Beschreibung von Sprache auf den Primat der tatsächlich verwendeten Sprache, der sich vermeintlich in den Korpora widerspiegelt, berufen, unterscheidet die traditionelle Linguistik zwischen Kompetenz und Performanz und priorisiert die Introspektion als Methode, um Regeln für die sprachliche Kompetenz, d.h. die Sprachfähigkeit abzuleiten. Der tatsächliche Sprachgebrauch, die Performanz, stellt innerhalb dieses Paradigmas eine Degeneration dar, die nicht dazu geeignet ist, aus ihr Regeln über Sprache ableiten zu können.[1]
Die Argumente in dieser Kontroverse sollen an dieser Stelle nicht diskutiert werden. Es wird hier jedoch davon ausgegangen, dass zur Beschreibung der Gegenwartssprache ihr (messbarer) Gebrauch Grundlage sein soll.
Anders als die Grammatik, die sich durch Regeln beschreiben lässt, existiert für die Beschreibung der Bedeutung von Wörtern und komplexeren Ausdrücken keine verbindliche und zufriedenstellende Methode. Die Entscheidungen, die Lexikographen hinsichtlich der Bedeutung einzelner Lexeme treffen, bleiben daher subjektiv und arbiträr. Schlimmer noch, die in Wörterbüchern definierten Bedeutungen weichen mitunter deutlich vom Verständnis der Sprecher und ihrem Sprachgebrauch ab.[2]
Am Beispiel der idiomatischen Wendung „über die Klinge springen“ soll demonstriert werden, wie mit Hilfe einer korpusbasierten Untersuchung ein lexikographischer Eintrag, der dem im tatsächlichen Sprachgebrauch zu beobachtenden Bedeutungsspektrum des Idioms gerecht wird, vorgenommen werden kann.
Um den Gegenstand von anderen sprachlichen Phänomenen abgrenzen zu können, soll im Anschluss jedoch zunächst eine Definition von Phraseologismen und insbesondere von Idiomen gegeben werden.
2. Merkmale von Phraseologismen
Unter Phraseologismen verstehen wir Bestandteile des Lexikons einer Sprache, die aus Wortverbindungen bestehen und die - genau wie einzelne Wörter – als Äußerungsverfahren dienen. Für solche Wortverbindungen existieren neben dem Terminus auch alternative Bezeichnungen. Die Termini Phraseme, Phraseolexeme, phraseologische Einheiten, Idiome, fixierte Wortfügungen u.a. finden sich in der Literatur, die sich mit Phraseologismen beschäftigt. Hier soll im Folgenden durchgängig der Terminus Phraseologismus Verwendung finden. Um den Untersuchungsgegenstand präzise zu bestimmen, soll eine Definition von Phraseologismen anhand zentraler Merkmale dieses sprachlichen Phänomens vorgenommen werden. Dazu zählen insbesondere die Polylexikalität, Festigkeit[3] und Idiomatizität.
2.1 Polylexikalität
In der Forschung herrscht Konsens darüber, dass das Kriterium der Polylexikalität notwendige Bedingung für das Erkennen eines sprachlichen Ausdrucks als Phraseologismus ist.[4] Ein Phraseologismus besteht somit aus mindestens zwei Wörtern, wobei Burger jene Einheiten ausschließt, bei denen durch den Prozess der Univerbierung ursprünglich autonome Wörter zu einer Einheit verschmolzen sind. Burger schließt somit ehemals phraseologische Einheiten wie „Gewähr leisten“, die durch Rechtschreibreformen zu einem Wort verschmolzen sind – „gewährleisten“ – aus. Die obere Grenze wird hingegen nicht lexikalisch festgelegt, das heißt es ist nicht die Anzahl der Wörter, die die Identifikation als Phraseologismus einschränkt. Vielmehr ist die Restriktion der Anzahl der Komponenten syntaktisch bestimmt und die Obergrenze ist der Satz. Dabei herrscht in der Forschung allerdings kein Konsens. Während einige Forscher phraseologische Ausdrücke mit Satzwertigkeit mit einbeziehen, gilt die Satzwertig anderen als Ausschlusskriterium.[5]
Wie oben angemerkt ist die Polylexikalität eine notwendige Bedingung für die Bestimmung eines Ausdrucks als Phraseologismus. Allein der Mehrwortcharakter reicht jedoch zur Bestimmung nicht aus. Satzglieder und ganze Sätze weisen dieses Merkmal auf, ohne dass sie Phraseologismen bilden müssen.
2.2 Festigkeit
Vor mehr Probleme als beim Kriterium der Polylexikalität sind wir bei der Definition des Merkmals Festigkeit gestellt. Burger qualifiziert das Merkmal weiter, indem er zwischen Gebräuchlichkeit, psycholinguistischer, struktureller und pragmatischer Festigkeit unterscheidet.[6]
2.2.1 Gebräuchlichkeit
Für Burger ist die Gebräuchlichkeit von Phraseologismen Grundbedingung für ihre Festigkeit. Dabei unterscheidet er zwischen dem „Kennen“ und dem aktiven „Gebrauch“ der Ausdrücke. Das bloße Kennen eines Phraseologismus bedeutet noch nicht, dass Sprecher ihn auch gebrauchen. Er weist auf das Problem hin, dass weder die „Intuition“ des Linguisten, noch der Rückgriff auf Wörterbücher Aufschluss über die tatsächliche Gebräuchlichkeit phraseologischer Ausdrücke geben kann.[7] Überraschend unterschlägt er die Möglichkeit, die Korpora bei der Beantwortung dieser Frage bieten. In Abwesenheit der Möglichkeit der Abfrage von Korpora ist Burger der Ansicht, dass die Annahme der Gebräuchlichkeit eines Phraseologismus mit der Frage einhergehen muss, wie sich diese Gebräuchlichkeit äußert. Dabei schlägt er die Untersuchung des phraseologischen Ausdrucks auf drei Ebenen vor: hinsichtlich seiner psycholinguistischen, strukturellen und pragmatischen Festigkeit.
2.2.2 Psycholinguistische Festigkeit
Als psycholinguistisch fest kann nach Burger ein Ausdruck gelten, wenn er „mental als Einheit ‚gespeichert‘“ ist und ähnlich wie ein Wort „als ganzer abgerufen und produziert werden kann.“[8] Er weist im Anschluss jedoch auf die Problematik des Begriffs „Einheit“ hin. Im Gegensatz zu Wörtern verhalten sich Phraseologismen nicht wie „kompakte“ Einheiten, sondern häufig wie syntaktische Gebilde, bei denen die einzelnen Komponenten „dekliniert, konjugiert und umgestellt“ werden können.[9] Die als „mental gespeicherten Einheiten“ benannten Ausdrücke können somit in gewissen Grenzen Veränderungen erfahren.[10]
Burger hält das Kriterium der psycholinguistischen Festigkeit für messbar mit Hilfe von „Lückentests“, bei denen Probanden einen Teil phraseologischer Ausdrücke vorgelegt bekommen und dazu angehalten sind, die Lücken zu füllen.[11]
2.2.3. Strukturelle Festigkeit
Das Kriterium der strukturellen Festigkeit definiert Burger ex negativo durch die Abgrenzung von Phraseologismen zu „freien Wortverbindungen“. Diese unterliegen den „normalen“ morphosyntaktischen und semantischen Regeln, während bei phraseologischen Ausdrücken auch Restriktionen gelten, die für freie Wortverbindungen keine Gültigkeit besitzen. Ebenso können in Phraseologismen Abweichungen von der Grammatik beobachtet werden. Der Ausdruck „auf gut Glück“ zum Beispiel weicht von den morphosyntaktischen Regeln des Deutschen ab, da das Adjektiv unflektiert bleibt. Diese Abweichung von der Grammatik ist jedoch gerade erforderlich, damit der Ausdruck seine phraseologische Bedeutung behält.[12]
Phraseologismen sind häufig morphosyntaktischen wie lexikalisch-semantischen Restriktionen unterworfen, die für freie Wortverbindungen nicht gelten. Der Ausdruck „das ist kalter Kaffee“ ist in seiner morphosyntaktischen Form fest. Durch Veränderungen an Syntax und morphologischer Ausprägung verliert der Ausdruck seine phraseologische Bedeutung. Durch die Umstellung zu „der Kaffee ist kalt“ geht die Bedeutung, dass der berichtete Gegenstand bekannt ist, verloren. Der Ausdruck „die Katze im Sack kaufen“ leidet einen Bedeutungsverlust, wenn er zu „die Katzen im Sack kaufen“ verändert wird.[13]
Von lexikalisch-semantischen Restriktionen sprechen wir, wenn Wörter innerhalb eines phraseologischen Ausdrucks nicht durch synonyme oder bedeutungsähnliche Wörter ausgetauscht werden können, ohne dass die Bedeutung des Phraseologismus verloren geht. Bei der Wendung „die Flinte ins Korn werfen“ können die Substantive nicht beliebig durch „Gewehr“ und „Hafer“ ausgetauscht werden, ohne dass der Ausdruck seine Bedeutung verliert.
Abweichungen von der strukturellen Festigkeit bezeichnet Burger durch die Termini Variationen Modifikation und Fehler. Unter Variationen versteht Burger Unregelmäßigkeiten, die er als „Spielraum, innerhalb dessen formale Veränderungen des Phraseologismus möglich sind, ohne daß die phraseologische Bedeutung verloren geht“ beschreibt.[14]
Von Modifikation spricht Burger hingegen, wenn Phraseologismen - etwa zum Zwecke der Aufmerksamkeitserregung z.B. in der Werbesprache – verändert werden.
Fehler sind schließlich nicht-intendierte Abweichungen bei der Verwendung von Phraseologismen, die sich unter anderem im Vertauschen der Reihenfolge der Worte innerhalb phraseologischer Ausdrücke (z.B. drüben wie hüben statt hüben wie drüben) oder anderer Versprecher ausdrücken.
2.3 Idiomatizität
Um das Merkmal der Idiomatizität zu beschreiben, bietet sich erneut der Vergleich mit freien Wortverbindungen an. Ein für die Semantik zentraler Gedanke ist das Kompositionalitätsprinzip bzw. „Fregeprinzip“. Löbner formuliert es folgendermaßen:
„Die Bedeutung eines komplexen Ausdrucks ergibt sich eindeutig aus der lexikalischen Bedeutung seiner Komponenten, aus deren grammatischer Bedeutung und aus seiner syntaktischen Struktur.“[15]
Voraussetzung für dieses Prinzip ist die Vorstellung, dass sich Wörter mit ihren Bedeutungen zu komplexen Einheiten, d.h. zunächst zu Phrasen und dann zu ganzen Sätzen, verbinden, und dass deren Bedeutung sich aus der Summe der Bedeutungen der einzelnen Komponenten ergibt. Entscheidend für die Bedeutung der komplexen Einheit ist dabei ihre syntaktische Struktur. Der Prozess, der einem komplexen Ausdruck seine Bedeutung zuweist, nennt sich semantische Komposition. Er benötigt drei Informationsquellen:
1. Die lexikalische Bedeutung der Grundausdrücke
2. Die grammatische Bedeutung ihrer Form
3. Die syntaktische Struktur des komplexen Ausdrucks
In einem „Bottom-up-Prozess“ beginnt die semantische Komposition des komplexen Ausdrucks mit den lexikalischen Bedeutungen der Grundausdrücke, setzt sich fort mit den grammatischen Informationen dieser Ausdrücke und wird komplettiert durch die syntaktische Struktur des komplexen Ausdrucks.[16] Schematisch kann dieser Prozess wie folgt dargestellt werden:
Dieses für die Semantik freier Wortverbindungen zentrale Konzept ist für die Bestimmung der Bedeutung von idiomatischen Ausdrücken jedoch wenig hilfreich, da Idiome nicht dem Kompositionalitätsprinzip unterliegen. Ihre Gesamtbedeutung lässt sich nicht aus den Einzelbedeutungen ihrer Komponenten erschließen.[17]
Will man die Bedeutung von Idiomen mittels einer korpusbasierten Untersuchung erfassen, so muss man einen „Top-Down-Ansatz“ verfolgen. Nicht die einzelnen Komponenten des Idioms stehen am Anfang der Betrachtung, sondern der Text und die Interpretation. Stathi merkt dazu an:
[...]
[1] Vgl. Perkuhn, Rainer / Keibel, Holger / Kupietz, Marc, Korpuslinguistik, Paderborn 2012, S. 11.
[2] Vgl. Cermakova, Anna / Teubert, Wolfgang, Corpus Linguistics. A Short Introduction, London 2007, S. 31.
[3] Synonym werden auch die Termini Stabilität und Fixiertheit verwendet.
[4] Burger, Harald, Phraseologie. Eine Einführung am Beispiel des Deutschen, Berlin 1998, S. 11.
[5] Palm spricht beispielsweise von „nicht satzwertigen Wortgruppen“. Vgl. Palm, Christine, Phraseologie. Eine Einführung, Tübingen 1995, S.2.
[6] Auf die pragmatische Festigkeit wird im Folgenden nicht eingegangen werden, da sie nur zwei spezielle Formen von Phraseologismen, die nicht Gegenstand der Untersuchung sind, betrifft.
[7] Burger 1998, S. 16.
[8] Ebd., S. 17.
[9] Ebd.
[10] Zu den unterschiedlichen Arten von Veränderungen soll im Abschnitt über die strukturelle Festigkeit genauer eingegangen werden.
[11] Für Genaueres vgl. ebd., S. 17-20.
[12] Soweit nicht anders verzeichnet folgt diese Zusammenfassung der Darstellung bei Burger, S. 22-25.
[13] Palm, S. 8.
[14] Burger, Harald / Buhofer, Annelies / Sialm, Ambros, Handbuch der Phraseologie, Berlin, New York 1982., S. 67.
[15] Löbner, Sebastian, Semantik. Eine Einführung, Berlin, New York 2002, S. 20.
[16] Ebd., S. 18-19.
[17] Stathi, Katerina, Korpusbasierte Analyse der Semantik von Idiomen, in: Hallsteinsdóttir, Erla / Ken Farø (Hg.), Neue theoretische und methodische Ansätze in der Phraseologieforschung / New Theoretical and Methodological Approaches to Phraseology. Linguistik Online 27 2/2006, 73-89. Hier S. 77.