Mit Dilthey nachdenken über den Sachverhalt Wissenschaft


Dossier / Travail de Séminaire, 2014

25 Pages, Note: 1,3


Extrait


Inhalt

1: Einleitung

2: Bewußtsein, Erfahrung, Wissenschaft

3: Der Sachverhalt Wissenschaft und seine erkenntnistheoretischen Grenzen

4: Der Komplex der Geisteswissenschaften und ihr innerer Zusammenhang

5: Zusammenfassende Betrachtungen

6: Literatur

1: Einleitung

I

In der 1883 veröffentlichten >>Einleitung in die Geisteswissenschaften<< unternimmt Wilhelm Dilthey, dessen Hundertsten Todestag das Jahr 2013 zählt, den Versuch dem Komplex der Geisteswissenschaften, die sich im Verlaufe des 19. Jahrhunderts einerseits in einem Abkoppelungsprozess von der Philosophie und andererseits in einem Abgrenzungsprozess gegen die Naturwissenschaften befanden, eine erkenntnistheoretische Grundlegung auf den Schultern der Philosophie zu erbringen. Dieses Vorhaben ist Fragment geblieben. Dem veröffentlichten ersten Band seiner >>Einleitung<< folgte Zeit seines Lebens kein geschlossener zweiter Band. Wohl hatte er eine unermessliche Anzahl von konzeptionellen Vorarbeiten und Ausarbeitungen, ergänzenden Aufsätzen und Vorträgen erstellt, aber eine in sich geschlossene Darstellung der für den zweiten Band seiner Einleitung geplanten eigentlichen philosophischen Grundlegung der Geisteswissenschaften hat er nie veröffentlicht. Mit der Monographie >>Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften<< legte Dilthey 1910, fast 30 Jahre nach Erscheinen des ersten Bandes seiner >>Einleitung<<, einen Versuch vor, das begonnene Projekt einer erkenntnistheoretischen Grundlegung der Geisteswissenschaften fortzusetzen. Doch auch diese Arbeit konzentriert sich im Wesentlichen auf die Abgrenzung der Geisteswissenschaften zu den Naturwissenschaften und den inneren Zusammenhang der Geisteswissenschaften untereinander und bringt die gestellte Aufgabe einer Grundlegung nicht zu einem zufriedenstellenden Ende.

Dilthey wollte mit seiner >>Einleitung<< einen konzeptionellen Zusammenhang legen, der die Wissenschaften des Geistes als einen Komplex darstellt, der als ein eigenständiges Ganzes neben den Naturwissenschaften Bestand findet. Er fragte sich folgerecht, „welcher ist der Zusammenhang von Sätzen, der gleicherweise dem Urteil des Geschichtsschreibers, den Schlüssen des Nationalökonomen, den Begriffen des Juristen zugrunde liegt und deren Sicherheit zu bestimmen ermöglicht?“1 Die bisherigen Versuche, den Wissenschaften eine solche Grundlegung zu erbringen und den gesamten Wissenschaftsbetrieb erkenntnistheoretisch zu umspannen, erfolgte auf dem Wege der Metaphysik. Dilthey wird aber im zweiten Buch des ersten Bandes der >>Einleitung in die Geisteswissenschaften<< zu zeigen versuchen, dass eine Grundlegung auf den Schultern der Metaphysik nicht mehr schlüssig ist, weil „eine allgemein anerkannte Metaphysik durch eine Lage der Wissenschaften bedingt war, die wir hinter uns gelassen haben.“2

Dilthey ist vor allem durch die Arbeiten der sogenannten Historischen Schule beeinflusst. Diese hatte im Verlauf des 19. Jahrhunderts die Geschichtswissenschaft zu einer gleichsam neuen Leitwissenschaft für die geisteswissenschaftliche Forschung nutzbar gemacht, nachdem die Philosophie mit ihren Luftschlössern des reinen Denkens als überkommen angesehen worden war. Die Historische Schule zeichnet sich für Dilthey vor allem durch zwei wesentliche Züge aus. Zum einen sieht er, dass in der Historischen Schule „ein universaler Geist der Geschichtsbetrachtung [tätig war], welcher den Wert des einzelnen Tatbestandes allein aus dem Zusammenhang der Entwicklung bestimmen will,“ und zum anderen konstatiert er in ihr “ein[en] geschichtliche[n] Geist der Gesellschaftslehre, welcher für das Leben in der Gegenwart Erklärung und Regel im Studium der Vergangenheit sucht und dem schließlich geistiges Leben an jedem Punkte geschichtliches ist.“3 Diesem historischen Vorgehen mangelte aber „der Zusammenhang mit der Analysis der Tatsachen des Bewußtseins, sonach [eine] Begründung auf das einzige in letzter Instanz sichere Wissen, kurz eine philosophische Grundlegung.“4 Aus diesem Mangel erklärt er den Umstand, dass es die Historische Schule nicht vermochte „weder einen selbständigen Zusammenhang der Geisteswissenschaften aufzurichten noch auf das Leben Einfluß zu gewinnen.“5 Geht Dilthey so überein mit den Ansichten der Historischen Schule, so bemüht er sich in seinen Arbeiten vornehmlich die positivistischen Konzepte, unter welchen als einflussreichster Vertreter Auguste Comte, und die empiristischen, unter welchen als einflussreichster Vertreter, vor allem im Bereich der Methodologie, John Stuart Mill anzusehen ist, abzuwehren. Er bemängelt besonders, dass diese beiden Richtungen über den Forschungsgegenstand der Geisteswissenschaften die Methoden der Naturwissenschaften in einer starren Gleichschaltung werfen und dabei dem Wesen dieses Gegenstandes und seiner Verschiedenheit zu dem Gegenstande der Naturwissenschaften nicht angemessen verfahren. Wohl zollt er ihnen das Zugeständnis, dass sich diese beiden Konzepte gut auf die Analysis verstünden, ein Vermögen, das, wie eben dargelegt, der Historischen Schule mangelt, aber gegenüber der „lebendigeren und tieferen Anschauung“ der Historischen Schule bleibt die Anschauung der Positivisten und Empiristen „eine dürftige und niedere“.6 Diltheys Vorhaben sucht nun das Gute dieser beiden Kontrahenten zu verbinden, Analyse und Deskription an einem entwicklungsgeschichtlich zu verstehenden Zusammenhang.

Folgerecht betrachtet er in einem historischen Vorgehen innerhalb seiner Untersuchung die gegebenen entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhänge, in denen der Komplex der Geisteswissenschaften sich konstituiert hat, und versucht aus diesen geschichtlichen Tatbeständen das Wesen und die Angemessenheit einer selbständigen und von den Naturwissenschaften zu unterscheidenden geisteswissenschaftlichen Gruppe darzulegen.

II

Schon seit einer geraumen Zeit hängt der Verfasser dieser Arbeit an Überlegungen darüber, wie der Sachverhalt, der gemeinhin als Wissenschaft vorgestellt wird, in seinem umfangreichen Daherkommen angemessen aufgefasst und besprochen werden kann, um eine klare Vorstellung über seinen allgemeinen Charakter herauszuarbeiten. Als ein letztes und fernstes Ziel eines solchen Nachdenkens mag hierbei der Gedanke Kraft tragen, dass die Funktionalität und damit die Lebenswelt konstruierende Reichweite des Sachverhaltes Wissenschaft mit dem größten Maß an Verlässlichkeit eingeschätzt werden kann. Diese Überlegungen erwuchsen vornehmlich in dem Bemühen, die jeweiligen Tatsachen, welche im Bereich der Lateinischen Philologie besprochen werden, hinsichtlich ihrer Gewißheit einschätzen zu können.

Doch wie es mit den Kräften zu oft sich einfindet, schnell kommt es zur Überschätzung der eigenen Leistungsfähigkeit. Daher mag sich diese kleine bescheidene Arbeit darin genügen, den Gedanken eines anderen, eben Wilhelm Diltheys, nachzugehen und an dessen Gedanken über den Sachverhalt Wissenschaft einen ersten Haltepunkt zu finden, von dem aus irgendeinmal mit frischem Mut, wenn es nur den Parzen zum Gefallen gereicht, das eigene Nachdenken über den Sachverhalt Wissenschaft weiter voranschreiten wird.

2: Bewußtsein, Erfahrung, Wissenschaft

I

Eine vorfindliche Welt, die eine Realität besitzt, wollen wir hinnehmen. Hinter diese Annahme zurückzugehen, erscheine als ein technisch-theoretisches Nachdenken, das als durchführbar, dessen Relevanz für die Handlungsnotwendigkeiten des Lebens aber als gering vorgestellt werden kann. Ob ein Nachdenken die Realität der vorfindlichen Welt im Wahrgenommenwerden durch das Subjekt begründe, oder angenommen werde, irgendein findiger (und vielleicht auch böser) Dämon dirigiere vor uns eine Welt der Täuschungen, gleichviel worin die Realität der vorfindlichen Welt einen begründeten Haltepunkt erhielte, die Handlungsnotwendigkeiten des Lebens bestehen unabhängig von einem jeweiligen Ergebnis in derselben. Als ein Mensch, d.h. mit Bewußtsein versehen, befinde ich mich in einem Zusammenhang mit den Tatsachen der vorfindlichen Welt und ich habe mit diesen Tatsachen meine Berechnung zu machen. In dieser Tatsächlichkeit des Lebenszusammenhanges macht der Mensch Erfahrungen mit der vorfindlichen Welt, indem er auf zweierlei Weise zu erfahren scheint, er kommt zu Erfahrungen mit einer äußerlichen und einer inneren Welt. Aus diesen Erfahrungen formt er sich seine Erkenntnisse über seinen vorgefundenen Lebenszusammenhang und generiert sich Handlungsmöglichkeiten innerhalb desselben. Dem Menschen ist das Erkenntnis verschaffende Bezugnehmen auf seinen Zusammenhang mit der vorfindlichen Welt unabweisbar. Es ist ein Streben nach Erklärung und Verständnis für das Vorgefundene. In diesem Vorgehen des Menschen liegt sein existenzialer Zustand. Und noch dieses: Der Vorgang, in dem der Mensch bemüht ist, sich über die vorfindliche Welt und im Reflex über sich selbst sichere Erkenntnis zu verschaffen, scheint ein Betrieb zu sein, der sich als ein nicht zu einem Ende führender Progress darstellt. Denn unermüdlich daran arbeitend, seine eigene Unwissenheit zurückzudrängen, wird sich der Mensch doch stets gewahr, dass ihm in diesem Bemühen immer neue Unwissenheit entsteht. Es ist ein Stemmen gleich dem mythischen Sisyphus.

II

Diltheys erkenntnistheoretischer Standpunkt nun geht von zwei Annahmen aus, zum einen „alle Wissenschaft ist Erfahrungswissenschaft“, zum anderen „alle Erfahrung hat ihren ursprünglichen Zusammenhang und ihre hierdurch bestimmte Geltung in den Bedingungen unseres Bewußtseins“.7 Hierin sieht er sich noch in vielfachen Übereinstimmungen zur empiristischen Schule von John Locke und David Hume und der Lehre Immanuel Kants. Abweichend von ihnen aber, da diese den Zusammenhang von Erfahrung und Erkenntnis „aus einem dem bloßen Vorstellen angehörigen Tatbestand“8 erklären, d.h. sie abstrahieren von der Menschennatur eine reine Vorstellungstätigkeit, fasst Dilthey den Menschen in seiner ganzen Natur auf. Nicht nur im Vorstellen, sondern in der Totalität des ganzen menschlichen Daseins, d.h. als eines wollenden, fühlenden und vorstellenden Wesens, erkennt Dilthey eine Basis, auf der sich Aufschluss über die mögliche Erkenntnisfähigkeit des Menschen verschafft werden kann.9 „[I]n der inneren Erfahrung, in den Tatsachen des Bewußtseins“, worin Dilthey ausschließlich „einen festen Ankergrund für sein Denken“10 findet, zeigt sich ein vielgestaltiger Sachzusammenhang, der in der Beschränkung als eines Vorstellungsaktes zu kurz gefasst wird. Im Bewußtsein findet Dilthey nicht nur den Akt des Vorstellens, sondern eben auch Gefühle und Willensregungen mit eingeschlossen. Wollen, Fühlen und Vorstellen sind nur verschiedene Seiten der als ein Ganzes zu verstehenden Menschennatur und auf diesem Ganzen seiner Natur entsteht dem Menschen seine Erkenntnis und verfertigt der Mensch seine wissenschaftliche Verarbeitung der in der Erfahrung vorfindlichen Welt. Das menschliche Erkenntnisvermögen, das an der gemachten Erfahrung die Bearbeitung seines Lebenszusammenhanges vornimmt, versteht Dilthey hierbei als ein historisches Erkenntnisvermögen, dessen jeweiliger Zustand hinsichtlich seiner Erkenntnisfähigkeit entwicklungsgeschichtlich verstanden werden muss.11

Der Vorgang der wissenschaftlichen Erkenntnis, der über die vorfindliche Welt, indem der Mensch sich eine solche Erkenntnis verschafft, Aufschluss gibt, liegt in der inneren Erfahrung des menschlichen Bewußtseins. Das heißt nicht, dass die äußere Erfahrung über die Körperwelt nicht auch Gegenstand der menschlichen Erkenntnisnahme wäre, denn hier liegt der Bereich, über den die Naturwissenschaften handeln, aber der Erkenntnis schaffende Vorgang, in dem Wissenschaft, Natur- wie Geisteswissenschaft, hervorgebracht wird und abläuft, und somit auch dessen Prinzipien, Bedingungen und Geltungsbereich liegen einzig in der inneren Erfahrung des menschlichen Bewußtseins.12 Mit diesem Material der inneren Erfahrung hat nach Dilthey derjenige zu verfahren, der sich über die Möglichkeiten der Erkenntnisfähigkeit des Menschen Aufschluss verschaffen, der den Wissenschaften eine erkenntnistheoretische Grundlegung leisten will.

In der inneren Erfahrung des menschlichen Bewußtseins wird auf dem gesamten Material der Erfahrung Wissenschaft generiert. Was aber versteht Dilthey unter dem Sachverhalt Wissenschaft? In einer allgemeinen Begriffsbestimmung - und er zitiert nach dem Sprachgebrauch - bestimmt er den Sachverhalt Wissenschaft als

[...]


1 Dilthey, I, Seite VXII

2 Ebd., Seite XIX

3 Ebd., Seite XVI

4 Ebd.

5 Ebd.

6 Vgl. ebd.

7 Dilthey, I, Seite XVII

8 Ebd., Seite XVIII

9 Vgl. ebd.

10 Ebd., Seite VXII

11 Vgl. ebd., Seite XVIII

12 Vgl. ebd., Seite 9

Fin de l'extrait de 25 pages

Résumé des informations

Titre
Mit Dilthey nachdenken über den Sachverhalt Wissenschaft
Université
University of Potsdam  (Philosophie)
Cours
Lebensphilosophie. Nietzsche - Dilthey - Bergson
Note
1,3
Auteur
Année
2014
Pages
25
N° de catalogue
V337581
ISBN (ebook)
9783668268098
ISBN (Livre)
9783668268104
Taille d'un fichier
566 KB
Langue
allemand
Mots clés
dilthey, sachverhalt, wissenschaft
Citation du texte
Magister Artium André Kühn (Auteur), 2014, Mit Dilthey nachdenken über den Sachverhalt Wissenschaft, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/337581

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