Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Bedeutung von Schule als Sozialisationsinstanz
3. Die Bedeutung von Peers bei der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben in der Adoleszenz
4. Die Ganztagsschule als Ort des sozialen Lernens
4.1 Jugendliche zwischen schulischer Ordnung und Peerkultur
4.2 Möglichkeiten zur Förderung der Sozialkompetenz in Ganztagsschulen
5. Fazit
6. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
„ Eine Freundschaft macht sehr viel aus und man muss sie pflegen, um sie zu erhalten. “ 1 Dieses Zitat stammt von einem Schüler einer Ganztagschule und wurde im Rahmen einer Befragung, bezüglich der sozialen Kontakte und Freundschaften in der Ganztagsschule, erfasst. Aufgrund der Auswirkungen des demografischen Wandels, die bereits gegenwärtig spürbar sind und erheblichen Einfluss auf Familienstrukturen und Lebensformen nehmen, verändern sich die sozialen Kontakte Jugendlicher erheblich. Die Anzahl der Geschwisterkinder sinkt in Folge dieser Entwicklungen ebenso wie die Anzahl der Jugendlichen, die in der Nachbarschaft leben.2 Diese Entwicklungen nehmen Einfluss auf den Alltag von Jugendlichen und betont den Lebensort Schule als Sozialisationsinstanz und Treffpunkt für Gleichaltrige. Zudem lässt sich gegenwärtig feststellen, dass nie zuvor Schüler*innen so lange zur Schule gegangen sind wie im Jahre 2016. In Deutschland verbringen Schüler*innen zwischen 13 0000 und 15 000 Stunden Unterricht allein im allgemeinbildenden Schulwesen.3 Erschwerend kommt noch hinzu, dass das Leben vieler Familien sich zunehmend in den eigenen Wohnbereich verlagert und öffentliche Flächen immer seltener als Freizeiträume für Jugendliche verwendet werden. Veränderungen im Erziehungsstil, die ebenfalls auf gesellschaftliche und technokratische Veränderungen zurück zu führen sind, führen zu einer stärkeren Kontrolle Jugendlicher seitens der Eltern, die von Pädagog*innen durchaus kritisch betrachtet wird.4
Die folgende Ausarbeitung beschäftigt sich in Anbetracht dieser gesellschaftlichen Veränderungsprozesse mit der Fragestellung: Welche Bedeutung gewinnt die Ganztagsschule bezüglich der Entwicklung sozialer Kompetenzen von Jugendlichen?
Ziel dieser Ausarbeitung ist es, im Sinne dieser Fragestellung die Bedeutung der Ganztagsschule für die Vermittlung sozialer Kompetenzen herauszuarbeiten und anschließend Möglichkeiten aufzuzeigen, die sozialen Kompetenzen von Jugendlichen in der Ganztagsschule zu fördern.
Um diese Fragestellung begründet zu beantworten wird zunächst die besondere Bedeutung
von Schule als Sozialisationsinstanz herausgearbeitet und ihr Einflussfaktor auf Jugendliche veranschaulicht. Anschließend werden die Peers5 und die Peer-Group näher in den Blick genommen, um die Bedeutung von Peers als Unterstützer bei der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben und somit der Aneignung sozialer Kompetenzen, zu erläutern. Die Ganztagsschule wird als Ort des sozialen Lernens im zweiten Kapitel kritisch betrachtet. In Folge dessen wird das Spannungsverhältnis diskutiert, welches sich für Jugendliche in der Ganztagsschule ergibt, zwischen der Anerkennung der Peer-Group und der Anpassung an die schulische Ordnung. Abschließend werden Möglichkeiten dargestellt, die sich im Rahmen der Ganztagschule ergeben, um die sozialen Kompetenzen von Jugendlichen zu fördern und zu stärken. Im Fazit werden die Kernthesen der Ausarbeitung noch einmal gebündelt aufgeführt, um die Fragestellung begründet beantworten zu können.
2. Die Bedeutung von Schule als Sozialisationsinstanz
Die Bedeutung der Schule hat seit der Bildungsexpansion in den 1960er Jahren deutlich zugenommen. In Folge dieser Entwicklung hat sich der Verbleib von Kindern und Jugendlichen in Bildungsinstitutionen drastisch verlängert. Der Ausbau von Ganztagsschulen unterstützt diesen Prozess noch zusätzlich.6 Die Schule gilt neben der Familie als eine der primären Sozialisationsinstanzen und gewinnt dadurch an zentraler Bedeutung im Leben von Kindern und Jugendlichen.7 Hinzu kommt, dass Schule im Kontext der Verlängerung von Schulzeiten zunehmend als bedeutendster Kontext für die Entstehung und Aufrechterhaltung von sozialen Kontexten gesehen werden kann.8 Längere Betreuungszeiten innerhalb der Schule erfordern somit von den Schüler*innen eine Anpassung ihrer sozialen Kontakte an diese neuen Gegebenheiten.9 Die Ganztagsschule kann in diesem Kontext jedoch ebenfalls als Adaptionsprozess für gesellschaftliche Veränderungsprozesse gesehen werden. Veränderte Familienstrukturen und temporär abnehmende Geburtenraten können als eine mögliche Ursache genannt werden. Zudem ist jedoch ein neues Erziehungsparadigma in der postmodernen Kindheit feststellbar, dass die elterliche Kontrolle stark in den Fokus rückt. Hier kann ein Zusammenhang mit den sinkenden Geburtenraten vermutet werden, die dazu führen, dass viele Familien sich auf ein oder maximal zwei Kinder beschränken.10
Diese genannten Faktoren rücken die Bedeutung der Schule in den Vordergrund und zeigen auf, welchen entscheidenden Einfluss die Ganztagsschule für den Erwerb von Freundschaften und sozialen Kompetenzen einnimmt. Daher liegt es nahe, die Eigenschaften der Schule im Hinblick auf die Folgen für soziale Kontakte der Schüler*innen zu analysieren.
3. Die Bedeutung von Peers bei der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben in der Adoleszenz
Zunächst gilt es eine kurze Unterscheidung zwischen Peers und Freundschaftsbeziehungen vorzunehmen. Der Begriff Peer, den Dreher und Dreher bereits in ihrer Auflistung der Entwicklungsaufgaben von 1985 verwendeten, steht ursprünglich für ein Mitglied des englischen Oberhauses und impliziert Gleichrangigkeit im sozialen Status.11 Diese Gleichrangigkeit bezieht sich jedoch nicht direkt auf das Alter, sondern meint vielmehr den Stand der Entwicklung. Sie befinden sich demnach auf dem gleichen „ Stand der kognitiven und sozio-moralischen Entwicklung und stehen zudem vor den gleichen Entwicklungsaufgaben und Lebensereignissen “.12 Zudem muss der Anspruch auf Gleichrangigkeit unter den Peers anerkannt sein, damit von einer Peer-Group gesprochen werden kann. Das entscheidende Kriterium, das die Interaktion unter Peers kennzeichnet und diese klar abgrenzt von einer beaufsichtigten Situation durch Eltern oder pädagogisches Personal, ist das Prinzip der Freiwilligkeit und der Gleichrangigkeit.13 Peer Beziehungen können zudem als Vorläufer von Freundschaften gesehen werden können.14
Freundschaften kann in diesem Sinne als „ Beziehung mit wechselseitig anerkannter Egalität und strikter Symmetrie in den Ansprüchen und Pflichten “15 definiert werden. Freundschaftsbeziehungen weisen demnach eine andere Qualität auf als Peerbeziehungen. Diese Unterscheidung ist für den Zwangskontext Schule nicht ganz irrelevant, wie die nachfolgende Ausarbeitung zeigen wird.
Für die Bewältigung von Entwicklungsaufgaben16, die erstmalig von Robert Havighurst 1948 benannt worden sind, nehmen die Peers eine zentrale Stellung ein.
Beim Eintritt in die Pubertät werden an die jungen Menschen neue Anforderungen und gesellschaftliche Erwartungen gestellt, die allgemein als Entwicklungsaufgaben bezeichnet werden.17 In Bezug auf die Peer-Group und soziale Beziehungen formulierte Havighurst folgende drei Entwicklungsaufgaben: (1) Die Entwicklung neuer und reiferer Beziehungen mit Gleichaltrigen beiden Geschlechts, (2) Das Erreichen emotionaler Unabhängigkeit von Eltern und anderen Erwachsenen und (3) Anstreben und Entfalten sozialverantwortlichen Verhaltens. Dreher und Dreher überarbeiteten und modernisierten diese Entwicklungsaufgaben 1985 und gaben als Lernaufgabe mit der höchsten Priorität die Ausbildung eines Freundeskreises an.18 Diese kann als Basis für nachfolgende Entwicklungsaufgaben, wie beispielsweise das Erreichen emotionaler Unabhängigkeit von den Eltern, gesehen werden.19 Weitere Entwicklungsfunktionen von Peerbeziehungen und Freundschaften sind die Unterstützung bei der Identitätsfindung sowie der Ablösung von den Eltern. Sie bieten sozialen Freiraum für die Erprobung neuer Möglichkeiten im Sozialverhalten und tragen zur Orientierung und Stabilisierung bei und gewähren emotionale Geborgenheit.20 Bei diesen Entwicklungsaufgaben können Peers eine starke, positive Wirkung auf Jugendliche haben. Sie lernen, zwischenmenschliche Sensibilität zu entwickeln und andere Persönlichkeiten zu akzeptieren.21 Freundschaften bieten demnach einen Rahmen, in dem Jugendliche ihr sozialen, kognitiven und moralischen Ansichten aushandeln, überprüfen und reflektieren können. Durch soziale Vergleiche lernen sie, ein realistisches Selbstkonzept aufzubauen und das in diesem Alter oft niedrige Selbstwertgefühl zu steigern.22 Bestenfalls erleben Jugendliche in ihren Freundschaften und Peerbeziehungen Nähe, Zuneigung und verlässliche Bindungen. Ist dies der Fall, besteht die Chance, dass Jugendliche eine Resilienz23 gegenüber Depressionen oder erhöhter Aggressivität entwickeln.24 Gleichzeitig unterliegt der Einfluss von Peers jedoch auch kontroversen Ansichten. So werden seitens der Eltern häufig negative Einflüsse von der Peer-Group befürchtet, die sich durchaus bestätigen, wenn die Qualität der Freundschaft auch von den Jugendlichen als negativ beurteilt wird. So fühlen sich die Jugendlichen weniger eingebunden und erleben schneller Selbstzweifel als andere Gleichaltrige.25 Die Ganztagsschule will sich die positiven Einflüsse der Peer-Group zu nutzen machen und dafür den zeitlichen Rahmen in der Schule ausweiten.
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1 Antwort eines Zwölfjährigen aus der qualitativen Befragung von Annegret Schmalfeld 2013 an einer Ganztagsschule in Brandenburg, S. 9.
2 Vgl. Otto 2015, S. 44.
3 Vgl. Tillmann 2006, S. 114.
4 Vgl. ebd., S. 46.
5 Der Peerbegriff wird im Folgenden noch genauer erläutert werden.
6 Vgl. Otto 2015, S. 42.
7 Vgl. Kanevski 2008, S. 119.
8 Vgl. ebd., S. 121.
9 Vgl. Deckert-Peaceman 2009, S. 83.
10 Vgl. Deckert-Peaceman 2009, S. 85.
11 Vgl. Schmalfeld 2013, S. 21.
12 Kanevski 2008, S. 35.
13 Vgl. Schmalfeld 2013, S. 21.
14 Vgl. Salisch von 2000, S. 1.
15 Kanevski 2008, S. 114.
16 Entwicklungsaufgaben können als Herausforderungen eines bestimmten Lebensabschnittes bezeichnet werden und stellen bestimmte Lernaufgaben dar. Erfolg oder Misserfolg bei einer Entwicklungsaufgabe kann zudem positive oder negative Auswirkungen auf die Bearbeitung weiterer Entwicklungsaufgaben nach sich ziehen.
17 Vgl. Schmalfeld 2013, S. 15.
18 Vgl. ebd., S. 17.
19 Vgl. ebd., S. 20.
20 Vgl. Kanevski 2008, S. 113.
21 Vgl. Kienbaum; Schuhrke 2010, S. 32.
22 Vgl. Salisch von 2000, S. 385.
23 Resilienz beschreibt den psychischen und physischen Zustand, durch den belastende Lebensumstände auch ohne andauernde Beeinträchtigungen durchlebt werden können.
24 Vgl. Kienbaum; Schuhrke 2010, S. 33.
25 Vgl. Schmalfeld 2013, S. 35.