In der folgenden Arbeit wird die Idee der Weltliteratur im Lichte des Diskurses über die Dialogizität und der Kommunikationsphilosophie ausgelegt. Spricht die Idee der Weltliteratur vom Gespräch zwischen der eigenen und der fremden Kultur, so wird hier versucht, den Begriff des Gesprächs im Lichte der Theorie des Dialogs und der Kommunikationsphilosophie erkenntnistheoretisch unter die Lupe zu nehmen. Darum ist der folgende Versuch als eine Ergänzungsarbeit anzusehen, in der eine Auslegung der Idee der Weltliteratur von der Perspektive der Theorie des Dialogs und der Kommuniktionsphilosophie angestrebt wird.
2
I
Die Weltliteratur
Begriffsbestimmung
Die Idee der Weltliteratur bezieht sich auf eine kosmopolitische Vorstellung des
Weltbürgertums. Dabei geht es darum, fremde Kulturen kennenzulernen, und dadurch ein
erneutes Verständnis über die eigene Kultur zu erreichen. Die dialektische Beschäftigung
zwischen der eigenen und der fremden Kultur sollte zu einem ,,erhabenen" Bewusstsein des
Weltbürgertums führen. Die komplizierte Idee der Weltliteratur setzt den Menschen in der
Moderne als Ziel. Der Mensch in der Moderne erlebt einen verwirrenden Epochenwandel, in
dem er sich zwischen den unterschiedlichen Heimatsbildern zerrissen fühlt, nämlich die
Zugehörigkeit zur Ständegesellschaft, zu der aufkommenden Nation und nicht zuletzt zu der
Welt. Einerseits erweitert sich sein Bewusstsein vom Lokalen zum Nationalen, andererseits
grenzt es sich zugleich von allem ab, was als ,,übernational" verstanden wird. Die Idee der
Weltliteratur beruht auf diesem komplexen Vorgang des menschlichen Bewusstseins, das
gleichzeitig seine Selbsterweiterung und geistige Schrumpfung erlebt. Daraus entsteht die
Vorstellung des neuen Menschenbildes, was die Idee des Kosmopolitismus betrifft.
1
Der
Weltliteratur geht es um das Verhältnis des Menschen zu seiner sich verändernden Umwelt
und darin zu den anderen Menschen und Völkern.
Der Begriff der Weltliteratur geht auf Johann Wolfgang von Goethe zurück, der eine
entscheidende Rolle bei den geistigen Strömugen des 18. Und 19. Jahrhundert in Europa
spielte. Die Idee der Weltliteratur ist in einem politischen und technologischen Kima
enstanden, in dem einerseits die nationalistischen Tedenzen am Steigen waren, und
andererseits die technischen Enwicklungen die grenzüberschreitende Kommunikation
erleichterten. Die Idee der Weltliterartur ist als eine Auseinandersetzung mit diesen
kulturellen Veränderungen zu begreifen. Sie machte die ,,Kommunikation" zum Kern ihrer
geistigen Bemühungen. Im Zentrum dieser Idee sind die Begriffe Toleranz und Duldung
zwischen den Völkern und den Nationen, deren geistiges Mittel die Kommunikation bilden
sollte. Die Idee geht von der Ganzheit der Menschengattung aus, indem die Wahrnehmung
des eigenen Menschseins weder von dem Territorium noch von der Nation eingeschränkt ist.
Die Idee der Ganzheit erweist sich hier als ein Gegengift gegen Gewalt und Disharmonie, die
1
Dieter Lamping, Die Idee der Weltliteratur. Ein Konzept Goethes und seine Karriere (Stuttgart: Alfred Kröner
Verlag, 2010). S. 67-69
3
in einer fragmentierten Welt aus Zweifel, Unwissen und Angst enstehen. Fritz Strich erläutert
den Begriff folgendermaßen
,,Weltliteratur also ist nach Goethe die zwischen den Nationalliteraturen und damit
zwischen den Nationen überhaupt vermittelnde und ihre ideellen Güter
austauschende Literatur. Sie umfaßt alles, wodurch sich die Völker auf literarischem
Wege gegenseitig kennen, verstehen, beurteilen, schätzen und dulden lernen, alles,
was sie auf literarischem Wege einander näherrückt und verbindet. Sie ist ein
literarischer Brückenbau über trennende Ströme, ein geistiger Straßenbau über
trennende Gebirge. Sie ist ein geistiger Güteraustausch, ein ideeller Handelsverkehr
zwischen den Völkern, ein literarischer Weltmarkt, auf den die Nationen ihre
geistigen Schätze zum Austausch bringen."
2
Im Mittelpunkt steht der Begriff des Gesprächs. Das Gespräch dient nicht nur der Erkenntnis
über den Anderen, sondern auch der Selbsterkenntnis. Das Verfahren bedarf der Anwesenheit
des Anderen sowie der Teilnahme an dem Anderen. So wird die Weltliteratur als ein geistiger
Raum wahrgenommen, in dem das Gespräch stattfindet.
,,Weltliteratur: Sie ist der geistige Raum, in welchem die Völker mit der Stimme
ihrer Dichter und Schriftsteller nicht mehr nur zu sich selbst und von sich selbst,
sondern zueinander sprechen. Sie ist ein Gespräch zwischen den Nationen, eine
geistige Teilnahme aneinander, ein wechselseitiges Geben und Empfangen geistiger
Güter, eine gegenseitige Förderung und Ergänzung in den Dingen des Geistes."
3
Das Gespräch führt zur ,,Öffnung des Indiviuums sowohl den anderen Menschen wie auch
fremden Ländern gegenüber".
4
Instrumente der Weltliteratur
Die Weltlitertur ist keine formlose Idee. Im Zusammenhang des 19. Jahrhunderts
berücksichtigt Goethe literarische und wissenschaftliche Übersetzungen, Briefwechsel
zwischen den Autorinnen und Autoren, Zeitschriften und nicht zuletzt das Reisen als
Instrumente der interkulturellen Kommunikation. Er besteht auf der Übersetzung
zeitgenößischer Literaturen, damit man die zeitgenößische Existenz verschiedener Völker,
2
Fritz Strich, Goethe und die Weltliteratur, 2. Aufl. (Bern: Francke Verlag, 1957). S. 17. Meine Hervorhebung
3
Ebd. S. 18
4
Gonthier-Louis Fink, "Weltbürgertum Und Weltliteratur," in Goethe Und Die Weltkultur, Hrg. Manger Klaus
(Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2003). S. 111
4
Kulturen und Nationen anerkennen lernt, was zur Gründung einer geistigen
Zeitgenossenschaft führen kann. Neben den literarischen Übersetzungen gelten die
Zeitschriften als wichtige Triebkräfte der Weltliteratur. Dank den enthaltenen Rezensionen
und der Kritik von literarischen Werken aus unterschiedlichen Nationen dienten die
Zeitschriften drei Zwecken das eigene Volk über die fremde Literatur und Kultur
informieren; die fremden Völker über die eigene Literatur und Kultur informieren; und das
eigene Volk über die Wirkungsgeschichten fremder Literaturen in anderen, fremden Ländern
berichten.
5
Die ,,Horen" gegründet 1794 von Schiller und ,,die Propyläen" gegründet 1799
von Goethe erweisen sich dabei als entsprechende Beispiele. Diese Zeitschriften sollten
Kulturkontakte für Literaturen und literarische Kulturen verschiedener Nationen fördern.
Daraus ist ein Vorschlag eines Netzwerks des Literatur- und Kulturaustauschs herauszulesen.
Eine ähnliche Platform für interkulturelle, geistige Kommunikation war der Briefwechsel. Der
Briefwechsel zur Zeit Goethes war ein wichtiges Mittel intersubjektiver Kommunikation
geworden. Die Post vertrat eine Schnittstelle unterschiedlicher Diskurse. Der Briefwechsel
des späteren Goethes schließt nicht nur Deutschland, sondern auch unterschiedliche Länder
ein. Nennenswert ist dabei der Briefwechsel zwischen Goethe und Allesandro Manzoni, Lord
Byron, Thomas Carlyle sowie Germain de Stäël. Auch das Reisen war ein wichtiges Mittel,
um in Kontakt mir fremden Kulturen zu kommen. Die verschiedenen kulturellen sowie
technischen Kommunikationsmöglichkeiten sollen Goethes Begriff der Weltliteratur geprägt
haben. Die neuen Kommunikationsmöglichkeiten bilden die Bausteine des historisch-
kulturellen Kontext, in dem das Aufkeimen der Idee der Weltliteratur möglich wurde.
6
Historischer Kontext
Den Hintergrund der Idee der Weltliteratur bildet der Humanismus des 18. und 19.
Jahrhunderts. Dieser ist auch als eine komopolitische Reaktion auf den zunehmenden
Nationalismus in Europa anzusehen. So muss die Weltliteratur als eine Idee verstanden
werden, die durch eine kritische Beschäftigung mit den politischen und kulturellen
Geschehnissen ihrer Zeit entstanden ist. Dabei spielten die Aufklärung, die Industrialisierung
und die Moderne eine entscheidende Rolle.
5
Vgl. Strich, Goethe und die Weltliteratur. S. 21
6
Für die Instrumente der Weltliteratur siehe Fritz Martini, Deutsche Literaturgeschichte, 19th Hrg. (Koeln:
Komet Verlag, Koeln, Lizenzausgabe von Alfred Kroener Verlag, Stuttgart, 1991)., Strich, Goethe und die
Weltliteratur., Bernhard Siegert, Relais: Geschicke Der Literatur Als Epoche Der Post, 1751-1913 (Berlin:
Brinkmann & Bose, 1993).
5
Die Moderne besteht aus komplexen, widersprüchlichen Phänomenen. Einerseits stand sie für
die Ideen der Säkularisierung, Freiheit und Rationalität. Daraus ging eine neue Vorstellung
der Zeit hevor. Die zirkuläre Zeit wurde durch die lineare Zeit und damit das
Fortschrittsdenken ersetzt, was die Zeit und die Zukunft in eine unabschließbare
Unendlichkeit mit unzähligen Möglichkeiten öffnete.
7
Eine wissenschaftliche Haltung und
damit das Kausalitätsprinzip gewannen an Bedeutung. Der Mensch wurde zum Subjekt der
Geschichte. Damit hing die Entmystifizierung der Natur, der Individualismus und der
Subjektivismus zusammen.
8
Einerseits herrschte die Rhetorik der Freiheit sowie der
Neugeburt des Menschen im Zusammenhang der wissenschaftlichen und industriellen
Fortschritte. Man erlebte auch die Verbreitung dieser Ideen durch die neuen
Kommunikationsmöglichkeiten. Andererseits wurde er zum Mittel zur Erlangung der
materiellen Erfolge, was der Organisierbarkeit, der Zivilisierbarkeit und der Subsumierung
des Menschen
9
unter den neuen rationalistischen Systemen der modernen Industrie und der
Nation bedurfte, wie Max Weber zurecht verdeutlicht hat. Laut Weber haben diese Prozesse
zur Verapparatisierung des Menschen geführt.
10
In der Moderne veränderte sich neben der Zeit auch die Vorstellung des Raumes. Das
netzwerkliche Denken entwickelte sich seit dem 18. Jahrhundert, das zunächst mit dem
Interesse an der Anatomie begann, betrat nacher auch die Gebiete der Technik und
Urbanisierung.
11
Einen weiteren Beitrag zur Veränderung der Raum-Vorstellung leisteten die
Erfindungen des Dampfschiffs, der Eisenbahn und nicht zuletzt des Telegraphs. Sie sorgten
für die weitere Befreiuung des Menschen von den Kräften der Natur sowie für die Herrschaft
über sie. Die neuen, technischen Fortschritte erlangten eine genaue Kalkulierbarkeit und
Verlässlichkeit der Reisepläne, was die Verfestigung der kulturellen Interaktionen in der Welt
föderte.
12
Daraus ergaben sich, wie Bauer zeigt, neue Formen des Sehens und Erlebens.
13
7
Vgl. Franz J. Bauer, Das >lange< 19. Jahrhundert. Profil Einer Epoche (Stuttgart: Philipp Reclam jun., 2004).
S. 32
8
Vgl. Ebd. S. 18, 30, 31
9
Ebd. S. 61-62
10
Ebd. S. 36
11
Im 17. Jahrhundert fand William Harvey den Körper als Zirkulationssystem heraus. Etwas später übertrug
François Quesnay dieses Modell auf die Wirtschaft und Gesellschaft. Auf die Technik wurd dasselbe von
Friedrich List übertragen, als er sich ein Eisenbahnenschienennetz vorstellte, und damit Deutschland sein
Nationaltransportsystem schenkte. Siehe Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung Der Welt. Eine Geshichte Des
19. Jahrhunderts, 5. Aufl. (München: C.H. Beck Verlag, 2010). S. 1011.
12
Ebd. S. 1110-1026
6
Die politischen Folgen dieser techno-kulturellen Entwicklungen trugen zur Entstehung der
Nation und des Nationalismusdiskurses bei. Die Nation wurde zu einem neuen normativen
Oberbegriff, der über die Sippen und Zünften hinausging. Er wurde zu einer neuen politischen
Obereinheit, die sich als ein neues Loyalitätszentrum darstellte, das über die Familie, die
Sippe, bzw. das lokale Territorium hinausging. Das wurde durch Prozesse der
Vereinheitlichung der Diskurse erreicht.
14
Die Idee der Nation beruhte auf den geistigen
Beiträgen von Philosophen bei Rousseaus ,,volonté générale" wird der Wille des Einzelnen
dem Willen des Kollektiven untergeordnet; bei Herder sind ähnliche Züge in seinem Bild des
Volkes als ,,geschichtlich gewordene Ganzheit" erfahrbar; weitere Anstöße kamen von
Johann Gottlieb Fichte und Wilhelm Friedrich Hegel (der Weltgeist). Aus der Verschmelzung
Herders Idee des Volkes als kultureller Ganzheit, Hegels Weltgeists und des modernen Staates
als des neuen Legitimationsprinzips geht eine Totalität von Volk, Staat und Nation hervor.
Weltliterarische Tendenzen um 1800
Goethes Idee der Weltliteratur enstand aus einem diskursiven Klima des universiellen
Denkens. Er baute seine Gedanken auf dem Boden weltliterarischer Denkrichtungen seiner
Vorgänger. Das Epizentrum dieser Denkrichtung liegt in der Aufklärung. Die Aufklärung
betrachtete die Menschheit als eine einzige Gattung und dabei strebte sie nach einem
verbindenden Glied zwischen den Völkern der Welt. Im Vordergrund standen die Ideen der
Gleichberechtigung und der Bildung des Menschen.
Der wichtige Anstoß der Idee der Aufklärung kommt von Immanuel Kant. Er betrachtet den
Menschen nicht als Mittel zur Erlangung eines Zieles, sondern als das Ziel an sich. Das die
Menschen vereinigende Glied war bei ihm der erkenntnistheoretische Ansatz der apriorischen
Erkenntnis die Fähigkeit, die allen Menschen angeboren ist. Kant leistet einen ergänzenden
Beitrag zum Empirismus, der die erkenntnistheoretische Einsicht ergibt ,,Ich bin mehr als
das, was ich erfahre." Die menschliche Existenz wird hier ins Verhältnis mit der
Erkenntnistheorie gesetzt. Die Idee entspricht einem neuen Bewusstsein, nach dem der
Mensch sich über seinen Stand, seine Kultur und seine Nation hinaus bestimmen kann. Kants
13
Bauer, Das >lange< 19. Jahrhundert. Profil Einer Epoche. S. 64-65
14
Vgl. Ebd. S. 52
7
,,Kategorischer Imperativ"
15
und die ,,Tugendlehre"
16
sprechen von der Ethik der Koexistenz
sowie von der Würde des Menschen.
Dieser Universalitätsanspruch lässt sich auch in der Entwickelung der allgemeinen
Literaturgeschichte im 17. Und 18. Jahrhundert. Ihr Ziel war die Suche nach Elementen, die
auf das allgemeine Menschentum hinweisen. Am Anfang begann sie mit der Allgemeinen
Wissensgeschichte (Historia Literaria); darauf folgte die Enstehung von Zeitschriften
17
, die in
begrenzten Kapazitäten die europäischen Nationen mit englischen, deutschen und
italienischen Literaturen bekannt machten. Später im 19. Jahrhundert verschob sich der Fokus
von litterae auf Literatur als den neuen Ort der Erkenntnis.
18
Hier verdient Johann Gottfried
Herder ein besonderes Erwähnen, der den Boden der weltliterarischen Idee vorbereitete. Bei
Herders Denken fällt einem seine Abkehrung von der Antike als Maßstab zur Bewertung
neuer Literatur auf. Herder betrachtete die Kultur jener Nation als individuell und
eigenständig. Sein Beitrag bedeutete die Befreiung der Literatur von der Dominanz der
klassischen Maßstäbe, und die Anerkennung dieser Literaturen in ihrer eigenen
Entstehungsgeschichte.
19
Das bedeutete auch die Ethnographisierung der Poesie mit dem
Interesse an den zeitgenößischen Literaturen. Herder geht von der Originalität jeder Kultur
aus und betrachtet sie in ihrem eignen Entstehungszumsannenhang aus. Die Motivation für
diesen Ansatz ensteht im Anschluß an den Aufklärungsgedanken der Ganzheit der
Menschengattung. Der literaturgeschichtliche Ansatz von Herder betraf die humanistische
Suche nach einem transnationalen Kontinuum des Menschentums. Bei Herder ist auch ein
wichtiger erkenntnistheoretischer Paradigmenwechsel zu erleben, nämlich die Verschiebung
der Sicht auf die Raum-Kategorie. Seine kulturwissenschaftliche Stellungnahme und seine
15
Siehe Immanuel Kant, "Kritik Der Praktischen Vernunft," in Kritik Der Praktischen Vernunft. Grundlegung
Zur Metaphysik Der Sitten, Hrg. Willhelm Weischedel, 1. Aufl. (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1974), 103302. S.
140
16
Hans Joachim Störig, Kleine Weltgeschichte der Philosophie, 5. Aufl. (Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch
Verlag, 2006). S. 485-486
17
,Bibliothèque Anglais (1717)`, ,Bibliothèque Germanique (1720)`, Bibliothèque Italique (1729)`, Fr. Melchior
Grimms ,Bulletins littéraires`, ,Journal étranger` und das ,Journal littéraire (1754)`. In der Vorrede der
,Journal étranger` wird die Hoffnung ausgesprochen, dass diese in Frankreich goûtiert werde, in ganz Europa
verbreitet und dazu beitragen werde, die einzelnen literarischen Republiken zu einer einzigen Konföderation des
Geistes, einer République des lettres zu verbinden, die bisher durch die nationalen Grenzen so zerteilt war.
Siehe Strich, Goethe und die Weltliteratur. S. 91-92; Siehe Pascale Casanova, The World Republic of Letters,
trans. M.B. DeBevoise (London: Harvard University Press, 2004). S. 71-72
18
Literaturhistoriker wie Friedrich Bouterwek Ludwig Wachler bereiteten einen wichtigen weltliterarischen
geistigen Boden vor. Siehe Peter Goßens, Weltliteratur. Modelle Transnationaler Literaturwahrnehmung Im 19.
Jahrhundert (Weimar: J.B. Metzler, 2011). S. 35, 46
19
Vgl. Ebd. S. 51-52
8
Abkehrung von der klassischen Vorbildern deuten auf einen Paradigmenwechsel im Denken
zum Raum. Einen weiteren Beitrag wurde von den Schlegel Brüdern geleistet. Allerdings ist
bei ihnen die Rückwendung zur Zeit vom Raum zu sehen. Sie interessierten sich für ein
einheitliches Europa, dessen Vorbild sie im Mittelalter empfanden. Allerdings kann bei ihnen
ein wichtiger methodologischer Vorschlag zu gewonnen werden. Sie setzten sich der
wissenschaftlichen Rationalität der Aufklärung Das Zerteilen der Erkenntnisgegenstände
der objektiven Erkenntnis halber in kleineren Kategorien entgegen. Durch die Vorstellung
der ,,Progressive[n] Universalpoesie" sprachen sie von Verhältnissen und Verbindungen
zwischen den unterschiedlichen Elementen des Lebens, woraus eine harmonische Ganzheit
hevorzugehen geglaubt wurde. Auch Friedrich Schiller äußert sich zu der Idee der
Weltliteratur in einem Brief an Körner: ,,Es ist ein armseliges, kleinliches Ideal, für eine
Nation zu schreiben; einem philosophischen Geiste ist diese Grenze durchaus unerträglich.
Dieser kann bei einer so wandelbaren, zufälligen und willkürlichen Form der Menschheit, bei
einem Fragmente (und was ist die wichtigste Nation anders?) nicht stille stehen."
20
Goethe und die Idee der Weltliteratur
Obwohl die Idee der Weltliteratur in einem ideengeschichtlichen Zusammenhang des 18. und
des 19. Jahrhunderts entsteht, erreicht sie den Status eines Begriffs bei Goethe. Wie Herder
interessierte Goethe die Frage nach dem Allgemeinmenschlichen. Er suchte nach dem
Element, das allen Menschen gemeinsam ist, das sie alle zu einer Gattung zusammenschließt.
Die Antwort empfand der in der Poesie. Goethes geistige Beschäftigung führte ihn zu der
erkenntnistheoretischen Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen
auch begreiflich als die Frage nach der Universalität und der Alterität.
Alterität
Die Alterität bildet die Voraussetzung für die Duldung und den Toleranz. Ohne Differenz und
Vergleichung wäre die Idee der Weltliteratur unvorstellbar. Goethe wurde allmählich der
Alterität in seinem Land gewahr. Die ersten Erfahrungen enstanden während des Sieben
Jährigen Krieges während der Besatzung von den Franzosen von Frankfurt, wo Goethe die
erste Begegnung mit der französischen Sprache hatte. Das führte ihn später zum Erlernen der
Englischen, Jiddischen und Hebräischen Sprachen. Als Goethe später nach Leipzig verreiste,
20
Friedrich Schiller, "Brief an Körner. Rudolstadt, 13. Oktober 1789," in Friedrich Schiller. Briefe, Hrg.
Gerhard Fricke (München: Carl Hanser Verlag, 1955), 21718., S. 217-18
9
wurde er der Alterität innerhalb von der deutschen Kultur gewahr, wo er selbst wegen seiner
Frankfurter Mudart, seiner Kleider und der ,,altfränkischen" und ,,hinterwälderischen" Sitten
von den Leipzigern als ein auffälliger Fremder wahrgenommen wurde.
21
Der Aufenthalt
Goethes in Elsaß und seine Bekanntschaft mit den Deutschsprachigen an einem fränzösichen
Ort führten ihn zu seinem nationalen Bewusstsein sowie zum Zweifeln an der kulturellen
Hegemonie Frankreichs. Dennoch kehrte er während des Aufenthalts in Weimar zu der
Beschäftigung mit der fränzösischen, klassischen Literatur.
22
Dass er später 1786 während der
Italienreise eine anonyme Identität eines Malers oder Kaufmanns übernahm, dass er aus
seinem Stand heraustretend als bloßer Mensch und Künstler sich wiederentdecken wollte,
deutet auf seine Suche nach einem neuen Ich hin.
23
In Italien stellte er den Unterschied
zwischen der ,,individualistischen" deutschen Kultur und der ,,kollektivistischen",
,,geselligen" italienischen Kultur.
24
Kampf gegen Einsamkeit
Das Bewusstsein der Alterität, die politische Krise und die Begegnung mit der Moderne
bilden die Zentralität der Kommunikation in der Idee der Weltliteratur. Der Drang, fremder
Kulturen und Literaturen kennenzulernen , diente bei Goethe dem Kampf gegen seine geistige
Einsamkeit, die er von der persönlichen Ebene auf die geistige Ebene Deutschlands
übertrug.
25
Dabei spielte die steigende Bedeutung der Post eine wichtige Rolle. Bernhard
Siegert nennt diese Zeit die Epoche der ,,Literarisierung der Post" sowie ,,die Postalisierung
der Literatur", in der die Autoren sowie die Post sich gegenseitig benötigten.
26
Hier wurde die
Post als ein Instrument der Menschenbildung betrachtet. Goethe wurde als das Vorbild
dargestellt und die Korrespondenz zwischen ihm und den Lersern sollte die Leser dazu
motivieren, einen ,Goethe` in sich entdecken zu lassen. Der Dialog mit dem Autor sollte zum
Dialog mit sich selbst, und damit zur Selbstentdeckung führen. Schlegel setzte das
Briefschreiben sowie das Brieflesen mit dem aufmerksamen Lesen der literarischen Werke
21
Gonthier-Louis Fink, "Universalismus, Alterität Und Kommunikation. Die Wandlungen von Goethes Europa-
Bild," in Wesöstlicher Und Nordsüdlicher Divan. Goethe in Interkultureller Perspektive, Hrg. Ortud Gutjahr
(Paderborn: Ferdinand Schöningh, 2000), 540. S. 12-15;
22
Ebd. S. 20
23
Ebd. S. 23-24
24
Ebd. S. 25
25
Siehe Hans Mayer, Goethe. Ein Versuch über Den Erfolg, 1. Aufl. (Frankfurt a. M. und Leipzg: Insel Verlag,
1992). S. 14
26
Siegert, Relais: Geschicke Der Literatur Als Epoche Der Post, 1751-1913. S. 79
10
gleich, was den Leser zur Auffindung eigener Individualität führt. Das ,,aus sich selbst
verstehen" werde zu ,,sich selbst verstehen", so Siegert.
27
Die Leser schrieben eigene Gedichte
in den Briefen an Goethe, die er mit eigenen Gedichten beantwortete. Die Post wurde dadurch
zum Medium für die Verbreitung der Geschichten der eigenen Invidualität und Dichtung.
Später stellte Goethe mittels der Post auch transnationale Kontakte mit den Französen, den
Engländern, und den Italienern her.
Zeit
Die erkenntnistheoretische Bedeutung von der Weltliteratur liegt an der Vorstellung der Zeit.
Im Gegensatz zu der gängigen Übersetzungspraxis zur Übersetzung klassicher Werke
schlug Goethe die Übersetzung von zeitgenößischen Literaturen vor. Die Zeitgenossenschaft
nimmt einen wichtigen methodologischen Platz in der Vorstellung der Weltliteratur ein, mit
einem Bildungsideal, indem Dichter und Übersetzer mit einem Gemeinsinn versuchen,
gesellschaftlich zu wirken. Fritz Strich sieht in der Idee der Weltliteratur Goethes
Lebensprinzip an, in dem er einen methodologischen Vorschlag eines intersubjektiven
Zusammenlebens enthalten sieht. Wenn Goethe von einer geistigen Genossenschaft spricht,
dann wird hier die Zeit nicht als Nacheinander sondern als Nebeneinander betrachtet. In
diesem Lichte lässt sich Goethes Unterscheidung zwischen dem Dichter und dem Poeten
nachvollziehen. Nach ihm steht der Dichter für den subjektiven, zurückblickenden,
nostalgischen Menschen, während der Poet ein objektiver und in die Zukunft hinschauender
Mensch sei. Mit objektiv wäre hier die zeitgenößische, durch die neue
Kommunikationstechnik näher gerückte Welt gemeint.
28
Die Unterscheidung bezieht sich
auch auf den Unterschied zwischen den nationalistischen Romantikern und dem
kosmopolitisch denkenden Goethe, indem es angenommen wurde, dass der Dichter für seinen
Ruhm auf die Nation gerichtet ist, wobei der Poet sich nach eigener Verewigung und
Überzeitlichkeit sehnt, wessen Möglichkeit in der übernationalen Weltliteratur enthalten sein
sollte. Nach Goethe genießt der Poet der Weltliteratur eine übernationale und überzeitliche
Gemeinschaft von Lesern, denn er lehnt die unveränderliche Individualität der nationalen
Dichtung ab, und sucht nach den Grundelementen der Dichtung, die allen Völkern gemeinsam
sein soll.
29
27
Ebd. S. 72
28
Vgl. Strich, Goethe und die Weltliteratur. S. 24-25
29
Vgl. Goßens, Weltliteratur. Modelle Transnationaler Literaturwahrnehmung Im 19. Jahrhundert. S. 25
11
Raum
Die Idee der Weltliteratur enthält einen methodologischen Perspektivenwechsel von der
Kategorie der Zeit zu der Kategorie des Raumes. Der Raum ist nicht bloß als eine physische
Entität zu verstehen, denn Goethe unterscheidet zwischen einem politischen Territorium und
dem Territorium der poetischen Kräfte. Das Vaterland als politisches Territorium wird hier
von dem Vaterland der poetischen Kräfte unterschieden. In einem Gespräch mit Eckermann
erklärt Goethe, dass das Vaterland seiner poetischen Kräfte sich bilde, woauchimmer es sich
finde. Es sei an keine Provinz gebunden.
30
In der humanistischen Tradition schlägt Goethe
vor, dass das Bewusstsein des Menschen nicht durch das politische Territorium, in dem er
lebt, bestimmt wird. Nach Manfred Koch entspreche das keiner metaphysichen Philosophie,
sondern sei eine ethisch beladene Idee mit einem Handlungsprinzip am Kern der Idee. Das
zeige sich an Goethes Bemühungen, Kontakt mit Mailand oder mit einem polnischen Autor
aufgenommen zu haben.
31
Goethe verbindet die alte humanistische Idee der Bildung mit der
interkulturellen Kommunikation, deren Möglichkeiten im 19. Jahrhundert sich vermehrten.
Gespräch als Arbeit ans sich
Wir haben festgestellt, dass der Weltliteratur der kommunikative Ansatz zugrundeliegt. Die
Idee des Gesprächs wird hier besonders betont. Ist die Weltliteratur eine Idee der
transnationalen Literaturvermittlung, geht es dabei um das humanistische Ziel der Bildung des
Menschen. Das transnationale Gespräch kann ohne die darin bestehenden Machtverhältnisse
nicht angesehen werden. Dafür ist es wichtig, dass der Dichter, der an der fremden Literatur
teilnimmt, auch an sich arbeiten lernt.
32
Die humanistische Idee der Bildung basiert bei
Goethe darauf, dass der Mensch sich vom begrenzten Individuum in eine unbegrenzte
Vollkommenheit entwickelt. Das Gespräch ist das Mittel zum Erreichen dieses Zieles. In
Kunst und Altertum schreibt Goethe:
30
Goethes Antwort an Eckermann auf die Frage des Patriotismus in einem Gespräch im März 1832. Johann
Peter Eckermann, "Anfangs März [?] 1832," in Gespräche Mit Goethe in Den Letzten Jahren Seines Lebens
(Projekt Gutenberg-De), heruntergeladen am July 17, 2015, http://gutenberg.spiegel.de/buch/-1912/210. Zitiert
und vlg. nach Strich, Goethe und die Weltliteratur. S. 31
31
Manfred Koch, Weimarer Weltbewohner. Zur Goethes Begriff >Weltliteratur< (Tübingen: Max Niemeyer
Verlag, 2002). S. 251
32
Vgl. Strich, Goethe und die Weltliteratur. S. 30
12
,,Geselligkeit lag in meiner Natur; deswegen ich bei vielfachem Unternehmen mir
Mitarbeiter gewann und mich ihnen zum Mitarbeiter bildete und so das Glück
erreichte, mich in ihnen und sie in mir fortleben zu sehn"
33
Die eigene Bildung durch das Gespräch mit fremden Kulturen bedeutet für die Verjüngung
der eigenen Sprache sprich ihre Neugeburt. Die Neugeburt wird möglich durch eine
dialogische Auseinandersetzung mit der fremden Literatur, wo man nicht nur den fremden
Inhalt, sondern auch die fremde Form in die eigene Sprache hereinfließen lässt, damit die starr
und stationär gewordene Form der eigenen Sprache aufgelockert wird.
34
Die Fremdheit der
fremden Literatur steht hier im Mittelpunkt. Nach Fawzi Boubia ist die Idee der Weltliteratur
überhaupt eine auf den Fremden gerichtete Idee. Das entspricht der dritte Stufe Goethes
Gedanken zur Übersetzung, indem die Fremdheit des originalen Textes auf der formalen
Ebene in der Übersetzung beibehalten wird
35
. Das hat zur Folge, dass es zur
Selbstverfremdung der eigenen Leser führen kann, wo der Fremde begrüßt wird. Nach Boubia
entsünde aus dieser Einstellung ein echter interkultureller Dialog.
36
Die humanistische
Weltanschuung Goethes basiert auf den Ideen der Harmonie und Versöhnung. Die
Versöhnung ist ein Versuch den Dualismus jeder Art, der einer Hierarchie entspricht, in Frage
zu stellen. Goethe stellt sich eine harmonische, dialogische Beziehung zwischen der
Vergangenheit und der Gegenwart, der Natur und der Kultur, der Wissenschaft und der Kunst.
Das Denken Goethes enthält die Spannung zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen. Das
widerspiegelt sich in seiner Beschäftigung mit der Naturwissenschaft sowie der Philosophie.
In der Naturwissenschaft geht er von der Vorstellung einer Urpflanze und der Vielfalt der
Pflanzen, die aus ihr hervorgegangen ist.
37
In der Philosophie beschäftigt er sich mit Kant und
dem Verhältnis zwischen Noumenon und Phänomenon. Dasselbe ist auch in seinem Denken
über die Nation als das Einzelne und die Welt als das Ganze ersichtlich.
33
Johann Wolfgang von Goethe, "Einzelnes," in Goethe. Ästhetische Schriften. 1824-1832. Über Kunst Und
Altertum. Bd. V-VI, Hrg. Anne Bohnenkamp, vol. 22, 40 vols., Hamburger Ausgabe (Frankfurt a. M.: Deutscher
Klassiker Verlag, 1999), 20517. S. 210. Besprochen in Strich, Goethe und die Weltliteratur. S. 54
34
Vgl. Strich, Goethe und die Weltliteratur. S. 36
35
Die erste Stufe des Übersetzens handelt von der bloßen Wiedergabe des Gehalts in der Prosa-Form. Die zweite
Stufe handelt von der Wiedergabe des Sinnes des Originaltextes in eigener Dichtungsform. Die dritte Stufe des
Übersetzens bezieht sich auf die Wiedergabe des Gehalts und der Form des Originals. Goethe hielt die dritte
Stufe als die ideale Form der Übersetzung, die die Fremdheit des Textes beibehält und dardurch die Erfahrung
der Alterität ermöglicht. Ebd. S. 20
36
Boubia, "Universal Literature and Otherness", trans. Jeanne Fergusson, Diogenes 141 (1988), 81-101.
Besprochen in John Pizer, The Idea of World Literature. History and Padagogical Practice (Baton Rouge:
Louisiana State University Press, 2006). S. 28
37
Besprochen in Fink, "Universalismus, Alterität Und Kommunikation. Die Wandlungen von Goethes Europa-
Bild." S. 27
13
II
Dialogizität
Begriffsbestimmung
Das Wort Dialog besteht aus zwei Hauptteilen ,,dia" und ,,logoi". Bernhard Waldenfels
bezeichnet das Präfix dia als Zerteilung
38
, wobei Vilem Flusser logoi als Werte d.h.
geordnete Modelle bezeichnet, die in verschiedenen ,Codes` übermittelt werden.
39
Nach
Waldenfels deutet die Zerteilung auf einen Zwischenbereich hin, in dem die logoi sich hin
und herbewegen. Flusser beschreibt diese Idee anhand der Metapher des griechischen
Marktplatzes. Der Marktplatz bezeichnet sich nach Flusser als den öffentlichen Raum, der
sich von dem Haus als privatem Raum unterscheidet, und in dem Waren und Gedanken
(Doxai d.h. Meinungen) zum Austausch ausgestellt werden. Der Austausch führt zur
Veränderungen der Meinungen. Dieses Phänomen wird von Flusser als die Herstellung der
neuen Information bezeichnet.
40
Die Überwindung der eigenen alten Meinungen führt bei
Flusser zur Selbsterkenntnis. Bei dem russischen Sprachphilosophen Michael Bakhtin bildet
der Dialog sogar eine Lebensweise eine bewusstseinstiftende, epistemologische Grundlage.
Der Mensch wird sich seiner bewusst, wenn er einen Dialog mit dem Fremden eingeht. Das
Selbst und der Fremde werden bei Bakhtin zu grundlegenden Erkenntniskategorien. Eine
Vereinigung am Ende einer Begegnung zwischen dem Selbst und dem Fremden ist nicht
wünschenswert. Die Begegnung zwischen dem Selbst und dem Fremden dient nicht der
Erlangung der Erkenntnis über das eigene Bewusstsein, sondern die Fremdheit ist das
Bewusstsein überhaupt.
41
Erkenntnistheorie
Steht bei dem Dialog die Frage der Selbsterkenntnis im Mittelpunkt, so wird die Beziehung
des Dialogs mit der Erkenntnistheorie im folgenden betrachtet. Seit Kant geht es der
Erkenntnistheorie nicht um die Erkenntnis über das Universum, sondern um die
Selbsterkenntnis bzw. um die Erkenntnis über den Menschen. ,,Erkenne dich selbst" so
38
Bernhard Waldenfels, Der Stachel Des Fremden (Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1990). S. 43
39
Vilém Flusser, Kommunikologie, 3. Aufl. (Frankfurt a. M.: Fischer, 2003). S. 291
40
Dabei muss bemerkt warden, dass das Beispiel des griechischen Marktplatzes auf der alten
Gesellscahftsordnung Platons basiert, was kritikwürdig ist. Vgl. Ebd. S. 289-91
41
Vgl. Michael Holquist, Dialogism. Bakhtin and His World, 2. Aufl. (London: Routledge, 1990). S. 17
14
lautet die Maxime Kants.
42
Dabei geht es darum, wie der Mensch die Wahrheit über sich
selbst und über seine Existenz in der Welt erkennt. Bei Descartes erlebt man angesichts der
Suche nach einer universalgültigen, logisch ableitbaren, sicheren Erkenntnis die
Unterscheidung der materiellen Welt vom Denken. Dabei wird die unräumliche,
unkörperliche Welt des Denkens der räumlichen, sinnlichen und darum für unzuverläßig
gehaltenen Körperwelt höher gestuft. Das Menschsein bzw. die Erkenntnis als eine
existenzielle Bedingung des Menschen wird auf diese Weise in Denken verortet. Der Zweifel
ist hier die Schlüsselbegriff.
43
Man erlebt hier die Geburt des vom Raum unabhängigen
Subjekts. Dieser Subjektbegriff wird bei Leibniz verschärft und individualistisch gestaltet.
Leibniz stellt die Idee der Monadologie vor, indem er den Menschengeist als eine Monade
darstellt. Die Monaden sind fensterlose Individueen, die selbstreferenzielle Verfahren
vertreten. Die Selbstreferenzialität stellt jede Monade als ein inviduelles Universum dar. Die
Monaden sind von einander unabhägig und daher frei von jener Begegnung.
44
Trotz dieser
isolierten Existenz jeder Monade erklärt Leibniz, dass das Zusammenleben verschiedener
Monaden sprich Menschen durch eine präetabilierte Harmonie gewährleistet wird.
45
Das
metaphysische Subjekt wurd hier als die absolute Erkenntnis stiftende Instanz angenommen,
bis es durch Karl Marxs Materialismus und Sigmund Freuds Psychoanalyse in Verdacht
geriet. Der Beirtrag Freuds hatte zur Folge, mit Waldenfels zu sprechen, dass das Subjekt
nicht mehr im eigenen Haus der Herr sei.
46
Nach Holquist beschäftigt sich der Dialogismus mit der Krise der Metaphysik am Ende des
19. Jahrhunderts, die wegen der neuen Entwicklungen in der Naturwissenschaft und
Mathematik enstand. Die Philosophie auch als ,,Epistemologismus" genannt , die das
Bewusstsein für selbstständig, einheitlich und ganzheitlich hielt, und die die Trennung
zwischen dem Geist und der Materie aufrechthielt, geriet dank der Relativitätstheorie in
Verdacht. Das führte zur Vertiefung der Kluft zwischen der Philosophie und der
Naturwissenchaft. Die Relativitätstheorie, die die Welt der Physik dynamisierte, ließ auch das
selbstreferenzielle Subjekt als die absolute Erkenntnis stiftende Instanz in Krise geraten. Das
führte zum Ende des Hegelianismus und zum Aufkommen des Neo-Kantianismus. Der
42
Störig, Kleine Weltgeschichte der Philosophie. S. 485
43
Siehe Ebd. S. 360-61
44
Vgl. Bertrand Russel, History of Western Philosophy, Special Indian Edition, 2010 (London and New York:
Routledge Classics, 2004). S. 533
45
Vgl. Störig, Kleine Weltgeschichte der Philosophie. S. 384-386
46
Waldenfels, Der Stachel Des Fremden. S. 57
15
letztere versuchte die Versöhnung zwischen der Philosophie und der Naturwissenschaft. Die
dialogische Philosophie Bakhtins ist in diesen ideengeschichtlichen Zusammenhang zu
verorten.
47
Das Selbst in Raum und Zeit
Das Aufkommen der neokantianischen Wende ergab, dass die Zeit und der Raum als
ausschlaggebende, erkenntnistheoretische Kategorien in den Vordergrund rückten. Die Frage
nach der Selbsterkenntnis verbindet sich hier mit der Verortung des Selbst in Raum und Zeit
Kategorien. Im Gegensatz zur Metaphysik ist das Selbst bei Bakhtin in den konkreten
Lebenssituationen verortet. Die Relativitätstheorie stellte nicht nur die Metaphysik des 19.
Jahrhunderts, sondern auch die Newtonsche Physik in Frage. Im Gegensatz zu dem
Newtonschen Weltbild, das aus sich in der konstanten Zeit bewegenden Körpern besteht, wird
die Zeit bei der Relativitätstheorie für dynamisch gehalten. Der Eingriff der
Relativitätstheorie in die Erkenntnistheorie hat zur Folge, dass das Selbst durch die
Dynamisierung der Zeit auch als dynamisch verstanden wird. Das Selbst wird bei Bakhtin
nicht als das Einheitlichen, sondern als relational verstanden.
48
Dieser Erkenntnis nach
bestimmt sich die Existenz weder als den unbeweglichen Geist wie bei Descartes, noch den
dialektischen Geist auf dem Weg zur einheitlichen Vervollkommnung wie bei Hegel, sondern
durch die Idee der unüberwindlichen Differenz. Diese Differenz besteht aus Simultaneität und
Getrenntheit. Das Selbst versteht sich darum als den Zusammenhang (relation) der
Simultaneität.
49
Die Relativitätstheorie bringt wichtige methodologische Impuse zur
Epistemologie. Die Wahrnehmung der Bewegung eines Körpers hängt von drei Entitäten ab
dem sich bewegenden Körper, einem anderen Körper, dem gegenüber die Bewegung
erfahrbar wird, und dem Betrachter. Da die Wahrnehmung der Bewegung ohne die
gegenseitige Abhängigkeit dieser drei Elemente nicht möglich ist, meint Holoquist, dass es
eine dialogische Situation zwischen ihnen entstehe.
50
Die Wahrnehmung kommt in diesem
Fall durch die kognitive Raum- und Zeit-Kategorie zustande.
51
Nachdem das Selbst sich als
einen in Raum und Zeit verortet sieht, kommt es als ein begrenztes Wesen vor. So findet es
sich auf andere Seinesgleichen angewiesen, um die Erkenntnis über sich selbst und über seine
47
Vgl. Holquist, Dialogism. Bakhtin and His World. S. 3
48
Ebd. S. 18
49
Ebd. S.18
50
Ebd. S. 19-20
51
Ebd. S. 20
16
Umgebung zu gewinnen.
52
So gewinnt der Fremde nach der Krise der Metaphysik des 19.
Jahrhunderts einen unentbehrlichen Platz in der Erkenntnistheorie.
Das Selbst und der Fremde
Nach der Krise der cartesianischen Metaphysik geht es nicht um das selbstständige
Bewusstsein des Subjekts, das einen Fremden braucht, sondern es ensteht eine neue
Ontologie, nämlich die Fremdheit des Fremden selbst als das Bewusstsein. Nach Waldenfels
ensteht die Fremdheit, wenn die Lebensbereiche und Lebenswelten im Persönlichen und
Gesellschaftlichen ihre Vertrautheit verlieren.
53
Dafür muss nicht unbedingt ein politischer,
sozialer, kultureller Fremder ins Spiel kommen, sondern die Fremdheit kann einen durch auch
eine plötzlich empfundene Entfremdung im eigenen bisher wohl vertrauten Zusammenhang
betreffen. Das Beispiel Freuds zeigt, dass das Subjekt infolge der Krise der Vernuft im
eigenen Hause auf die Fremdheit gestoßen ist.
Waldenfels warnt allerdings, dass nicht jede Begegnung zwischen dem Selbst und dem
Fremden zu einer dialogischen Begegnung führt. Er erwähnt dabei drei Gefahren die erste
Gefahr bezieht sich auf die Begegnung in einem logozentrischen Zusammenhang. Das führt
zur Egozentrik, denn der Fremde wird hier an den eigenen Maßstäben gemessen, um die
Erkenntnis über sich selbst zu bestätigen. Die zweite Gefahr bezieht sich auf eine exotische
Begegnung, in der der alte logozentrische Struktur der Welt beibehalten wird. Allerdings
werden hier beispielsweise der Kranke und der Wilde dem Gesunden und dem Zivilisierten
gegenüber ins Zentrum gestellt. Die dritte Gefahr handelt sich um die Auflösung der Grenze
zwischen dem Fremden und dem Eigenen. Die Sesshaftigkeit der Vernunft wird durch ein
postmodernes Nomadentum ersetzt. Stattdessen lenkt Waldenfels unsere Aufmerksamkeit
überhaupt auf die Grenze. Das Subjekt muss sich weder auflösen, noch muss der Fremde
verdinglicht und angeeignet werden. Stattdessen kommt es zu einem Verfahren, indem das
Subjekt infolge der Begegnung mit dem Fremden zu einem veränderten Selbst zurückkommt.
Die Begegnung mit dem Fremden führt zur Entdeckung bzw. Entstehung eines Fremden in
sich selbst. Das nennt Waldenfels ,,das Agieren und Denken auf der Grenze".
54
Hier versteht
sich die Grenze an sich als die Ontologie.
52
Holquist erklärt diese Pointe anhand ,,Law of Placement". Siehe Ebd. S. 20
53
Waldenfels, Der Stachel Des Fremden. S. 58
54
Ebd. S. 64
17
So stellt Waldenfels drei Kategorien der Fremdheit vor
55
erstens die Intersubjektivität, in der
es um einen Verständigungsprozess zwischen dem Eigenen und dem Fremden geht; zweitens
die Intrasubjektivität, in der das Subjekt bzw. das Ich sich den im eigenen Wesen enthaltenen
Fremden gewahr wird. Hier wird auch an Bakhtins Vergleich des Wortes als ambivalenten
Wesens mit dem Individuum erinnert.
56
; drittens die Interdiskursivität, in der es um die
Andersheit der fremden Ordnung geht. Unter der Ordnung versteht man die Normen des
Redens und des Handelns einer bestimmten Gruppe.
Dialog und Kommunikationsphilosophie
Der Zusammenhang zwischen dem Dialog und der Kommunikationstheorie bringt einen auf
den Medienphilosophen, nämlich Vilem Flusser. In seinen intellektuellen Bemühungen richtet
er sich sowohl gegen das cartesiansiche Subjekt, als auch gegen den Tod des Subjekts in der
Postmoderne. Stattdessen ist er auf der Suche nach einer neuen Subjektivität, deren
Bestimmung eine Beschäftigung mit dem Medium der Kommunikation einschließt. Seine
Kommunikationstheorie hat ein existenzphilosophisches Anliegen als Ausgangspunkt.
,,Die menschliche Kommunikation ist ein Kunstgriff, dessen Absicht es ist, uns die
brutale Sinnlosigkeit eines zum Tode verurteilten Lebens vergessen zu lassen."
57
Die Sinnlogiskeit des Todes wird durch Kultur d.h. durch die symbolische Übertragung von
Botschaften bekämpft. Die Übertragung von Botschaften erfolt, wenn alle oder einige der
gekoppelten Systeme Formveränderungen erleben. Hier bringt Flusser das Beispiel von der
Kreide und der Tafel als zwei Systeme die beiden Gegenstände erleben Forveränderungen,
wenn sie mit einander in Kontakt kommen.
58
Die Begenung ergibt eine neue Information. Die
Entstehung der neuen Information durch eine dialogische Begegnung liegt Flussers Anliegen
zugrunde. Von den tödlichen Erfahrungen des zweiten Weltkriegs ausgehend ist er um neue
kulturelle und intellektuelle Möglichkeiten für den Menschen bemüht. Er sieht die Natur als
entropisch an, in der die Information verloren geht. Dagegen sieht er in der Kultur, die
55
Ebd. S. 67-69
56
Siehe Julia Kristeva, "Word, Dialogue and Novel," in The Kristeva Reader, Hrg. Toril Moi (New York:
Columbia University Press, 1986), 3461.
57
Flusser, Kommunikologie. S. 10
58
Wenn man mit der Kreide an der Tafel einen Strich zeichnet, dann kann man im Strich die Existenz der Kreide
wiedererkennen, auch wenn die Kreide nicht mehr vorhanden ist. Beide Systeme erleben eine Formveränderung,
indem die Kreise ihre Spitze verliert, während die Tafel eine Wölbung bekommt. Am Ende des Dialogs
zwischen den beiden Gegenständen ist die Kreide deformiert und die Tafel in-formiert. Siehe Ebd. 250-251
18
Möglichkeit des Widerstands gegen Entropie, da in der Kultur neue Informationen hergestellt
werden können (Kultur als ein Ordnung schaffendes System), was er als negentropisch
betrachtet.
59
Die neue Information bedeutet für ihn Sinnstiftung, was als Widerstand gegen die
Sinnlosigkeit des Todes wirkt. Diese entropische Tendenzen sind auch in dem Menschen
enthalten und der Dilaog wäre nach Flusser das Mittel zur Überwindung dieser
zerstörerischen Tendenzen im Menschen. In einer dialogischen Situaton in-formieren die
Menschen einander. Diese kulturelle Negentropie würde die Unsterblichkeit gegen die
Einsamkeit des kulturellen Todes bedeuten.
Die Frage des Eigenen und des Fremden in der Kommunikationsphilosophie Flussers bezieht
sich auf seine Unterscheidung zwischen zwei Ontologien der Griechischen und der
Jüdischen. Laut Flusser ist in der griechischen Ontologie der Mensch das Subjekt und die
Welt sein Objekt. Es geht dabei um eine ,,Ich-Es" Beziehung. Der Mensch bestimmt sich als
,,Ich" durch die Anerkennung der Welt als ,,Es". Dagegen bestimmt sich der Mensch in der
jüdischen Ontologie als ,,Ich", weil der Gott ihn anspricht der Mensch ist hier nicht der Herr
der Welt, sondern als ein Ebenbild Gottes verstanden. Hier bestimmt sich der Mensch als
,,Ich", vorausgesetzt, dass der der Gott ihn anspricht. Zugleich existiert der Gott, solange der
Mensch an ihn glaubt. Der Gott wird nicht als eine apriorische Idee verstanden, sondern er
kommt erst durch den Glauben des Menschen zustande. Im Gegensatz zu einem Subjekt-
Objekt Beziehung geht es hier um eine ,,Ich-Du" Beziehung, die einen intersubjektiven
Charakter trägt. Das ,,Ich" und das ,,Du" zwischen den Gesprächspartnern sind austauschbar.
Flusser basiert den Ansatz seiner Seinsfrage auf Martin Bubers philosophischen Ideen. Nach
Flusser sei die folgende Aussage als der Kern der jüdischen Philosophie zu begreifen
,,Fragt man: gibt es Gott, sage ich: nein. Fragt man: glaubst du an Gott, sage ich:
ja"
60
Die Seinesfrage wird auch auf den Menschen und die zwischenmenschliche Beziehung
bezogen. Der Mensch so wie der Gott ist von keine vorneherein gegebene Kategorie, sondern
er wird erst durch den Dialog zum Menschen. Die dialogische Situation zwischen den beiden
Ontologien bezieht sich auf unterschiedliche Methoden und Zielsetzungen. Zielt die die
griechische Ontologie auf die hinter den Erscheinungen steckende Wahrheit ab, so ist für die
jüdische Ontologie die Antwort auf den ,,Sinn des menschlichen Lebens" das Ziel. Bei der
59
Siehe Ebd. S. 255-57
60
Ebd. S. 294
19
ersteren ist daher der Dialog mit dem Fremden als ein Mittel zur Selbsterknntnis bzw. zur
Wahrheit, wobei bei der letzteren ist der Dialog an sich die Wahrheit zu verstehen. Der
Fremde ist daher in dem griechischen Fall das Mittel, wobei dieser sich in dem jüdischen Fall
als das Medium erweist. Der Dialog bei einer ,Ich - Es` Bezieung basiert auf einem ,Sender-
Botschaft-Empfänger` Modell, wobei dieser bei der ,,Ich Du" Beziehung auf einem Modell
des Fragen und Anwortens und daher des Verantwortens basiert.
61
Bei Flusser geht die Kommunikation als Ethik von einem Zusammenhang zwischen der
Ontologie, der Struktur der Medien und dem Menschen und seinem Bewusstsein aus.
Während seiner Beschäftigung mit dem Dialog fokussiert sich Flusser eben auf die
Kommunikationsmodi. Zum Beispiel ist seiner Unterscheidung nach der alphabetische Code
für das diachronische Lesen verantwortlich, das ein teleolgisches Bewusstsein stiftet.
Dagegen ist der Flächencode des Bildes mit dem synchronischen, analytischen und a-
historischen, räumlichen Lesen verbunden. Das ergibt eine räumliche statt einer zeitlichen
Vorstellung der Wirklichkeit. Flusser unterscheidet noch zwischen den diskursiven und den
dialogischen Medien die diskursiven Medien sind Massenmedien, die der cartesianischen
Kommnikationsstruktur ensteprechen, wobei die dialogischen Medien sich auf Netzdialoge
beziehen, wo jeder Beteiligte ein potentielles Zentrum bzw. einen Knoten bildet.
62
III
Weltliteratur und Dialogizität. Ein Ergänzungsversuch
Als ein historisches Ereignis war die Weltliteratur ein poltisches und kulturelles Programm im
politischen Zusammenhang des 19. Jahrhunderts. Dennoch lässt sich die Idee der Weltliteratur
auf ein historisches Moment nicht begrenzen. Sie enthält ein wichtiges
erkenntnistheoretisches Potential. Diese Arbeit hat versucht, die erkenntnistheoretische
Bedeutung der Weltliteratur mittels des Diskurses über die Dialogizität, zu untersuchen.
In der Idee der Weltliteratur wird die cartesianische ,Zentrum-Peripherie` Struktur abgelehnt.
Herders Abkehrung von der Antike suggeriert diesen Gedanken. Die Ablehnung des
absoluten Zentrums kann auch als die Ablehung des Konformismus angesehen werden.
61
Vgl. Ebd. S. 296
62
Vgl. Ebd. S. 29-34; 275-85
20
Insofern hat die Weltliteratur ein Element der Subversion bzw. des geistigen Widerstands
inne.
63
Die Ablehnung des cartesianischen Zentrums wird durch die paradigmatische Wende zum
Raum erreicht. In Cassirers Beschäftigung mit Goethe erfährt man über Goethes Abneigung
gegen eine formlose Abstraktion des Geistes, wo das Denken und das sinnliche Erleben
kategorisch unterschieden wird.
64
Auch Flusser bemerkt, dass für Goethe die Oberfläche
selbst als Wahrheit vorkam, anstatt, nach einer hinter der Oberfläche verborgenen Wahrheit
zu suchen.
65
Diese Wendung zum Raum kommt in der Vorstellung der Gleichzeitigkeit und
der Zeitgenossenschaft zum Ausdruck. Hier wird die Kategorie ,,Zeit" selbst als räumlich
wahrgenommen. Die Wende zum Raum zersplittert das Subjekt und stellt es als eine
intersubjektive Pluralität dar.
Liegt der Idee der Weltliteratur das Gespräch zwischen dem Eigenen und dem Fremden
zugrunde, zeigt uns der Diskurs über die Dialogizität, was zwischen dem Eigenen und dem
Fremden während des Gesprächs geschieht. Die dialogische Philosophie betont, das der
Fremde im Gespräch zur Bestätigung des überlieferten Bewusstseins von dem Selbst
gebraucht wird, sondern dass der Fremde selbst das Bewusstsein ist. Mit Waldenfels zu
sprechen zielt ein Gespräch auf die Suche nach dem Fremden in sich durch die Begegnung
mit dem äußeren Fremden ab. Das ist am Bild des Wanderers bei Goethe ersichtlich. Der
Wanderer ist stets bereit, sich neuen Verwandelungsmöglichkeiten zu unterziehen. Es geht
dabei um das Wandern in der äußeren sowie in der inneren Welt des Menschen, was durch
die Öffnung des Selbst dem Fremden gegenüber verursacht wird. Für die Idee der Alterität
bedeutet es, dass sie sich nicht nur in der Beziehung zwischen dem Selbst und dem Fremden
besteht, sondern auch als die innere Alterität des Selbst verstanden wird. Goethes Erfahrung
der Alterität auf dem deutschen Boden in Leipzig und Elsaß unterstreicht diesen Gedanken.
Die innere Alterität bedeutet auch ein fragmentiertes Wesen des Menschen, das die
Vorstellung des Bewussteins als eines einheitlichen und daher kulturell absoluten
Bewusstseins ablehnt. Das Bild des Wanderers stellt die Existenz bzw. das Bewusstsein des
63
Cassirer macht auf den Genie-Begriff bei Goethe aufmerksam, das die etabilierten Regel brechenden,
subversiven und kritischen und damit eine neue Regel schaffenden Tendenzen im Menschen vertritt. Cassirer
beschäftigt sich hier mit Goethes Beschäftigung mit Kant. Siehe Ernst Cassirer, Rousseau, Kant, Goethe, trans.
James Gutmann, Paul Oskar Kristeller, and John Herman Randall, Jr. (New Jersey: Princeton University Press,
1945). S. 87-88
64
Ebd. S. 81
65
Siehe Flusser, Kommunikologie. S. 264
21
Menschen als einen Prozess statt eines Produkts dar. Die Ideen der Morphologie und der
Metamorphose aus Goethes Beschäftigung mit der Pflanzenwelt
66
und deren Übertragung auf
die geistige Welt betont die epistemologische Denkrichtung des Werdens statt des Seins.
Goethes Bild des Wanderes und seine Sehnsucht nach der Verjüngung der Sprache und damit
des eigenen geistigen Lebens lassen sich durch Flussers Kommunikationsphilosophie wohl
beleuchten. Das Gespräch selbst bzw die ,,Ich-Du" Beziehung als Ontologie, wie es bei
Flusser und Buber zu erfahren ist, ist als Widerstand gegen die Sinnlosigkeit der
apokalyptischen Lebenssituation zu verstehen, die aus der Gewalt des alten einheitlichen
Subjektbildes hervorgeht. Das sich Verjüngen setzt das Wandern voraus, und das Wandern
setzt die eigene Öffnung dem Fremden gegenüber voraus. Die Öffnung des Selbst bedeutet
die Überwindung des selbstreferenziellen, cartesianischen Subjekts.
Schließlich werfen wir den Blick auf den Ort des Dialogs bzw. den Dialog als einen
erkenntnistheoretischen Ort. Ist nach Waldenfels der Dialog als der Zwischenbereich, so ist
für Goethe der Ort des Dialogs der Weltmarkt, auf dem Ideen ausgetauscht und
herausgefordert werden. In diesem Bereich wird nicht nur ein Dialog mit dem Fremden,
sondern auch ein Dialog mit sich selbst geführt. Der Weltmarkt bezeichnet sich auch als das
Medium bzw. die Art und Weise, wie Dialoge geführt werden. Lehrt einen die
Kommuniktionstheorie über die Bedeutung des Mediums bei der Bewusstseinsstifung, so
muss der Weltmarkt nicht für selbstverständlich hingenommen werden, sondern dialogisch
gestiftet werden. Die Form des Weltmarkts ist bei der Art der Dialoge und den an ihnen
teilnehmenden Inter-Subjekten entscheidend.
66
Cassirer, Rousseau, Kant, Goethe. S. 68-73
22
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Ende der Leseprobe aus 23 Seiten
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