Die Liberalisierung der Kinderbetreuungsplätze. Behördliche Steuerung beim Ausbau der Berliner Kita-Landschaft


Masterarbeit, 2015

88 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Kurzfassung/Summary

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

1. Einleitung
1.1 Ziel der Arbeit
1.2 Aufbau der Arbeit

2. Von der Kleinkinderbewahranstalt zum Kindergarten
2.1 Die Kleinkinderbewahranstalt
2.2 Die Kleinkinderschule
2.3 Der Kindergarten

3. Ausweitung der Kindertagesbetreuung
3.1 Demografische Entwicklung
3.2 Bildungspolitische Entwicklungen
3.2.1 PISA, IGLU und die Bildungspläne
3.2.2 Kinderbetreuung für Kinder unter drei Jahren
3.3 Die Liberalisierung der Kindertagesstätten

4. Instrumente behördlicher Steuerung beim Berliner Kita-Ausbau
4.1 Angebotsstruktur
4.1.1 Betreuungsquote und Betreuungsbedarf
4.1.2 Träger und Einrichtungen
4.2 Bedarfsplanung
4.3 Bedarfsatlas
4.4 Betriebserlaubnis
4.4.1 pädagogisches Konzept
4.4.2 Raumkonzept
4.5 Finanzierung
4.6 Kita-Gutscheinsystem

5. Schlussfolgerungen und Ausblick

6. Literaturverzeichnis

7. Internetquellen

3. Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Geburtenrate Deutschland 1945 - 2006

Abb. 2: Bevölkerungsentwicklung 1964 - 2060

Abb. 3: Fertilitätsrate in Belgien und Deutschland

Abb. 4: Geburtenrate Deutschland und Belgien bis 2010

Abb. 5: Haupt-Einflussfaktoren auf die Geburtenrate

Abb. 6: Mehrebenenmodell der Entscheidung für Kinder (Auszug)

Abb. 7: Frauenerwerbstätigkeit in der DDR

Abb. 8: Frauenerwerbstätigkeit in der BRD

Abb. 9: Zuwachs der Absolventen mit Hochschulreife zwischen 1959 und 1970 im europäischen Vergleich

Abb. 10: Kindergartenplätze 3-6-jährige 1955 - 1998

Abb. 11: Kindergartenplätze 3-6-jährige 2007 - 2012

Abb. 12: Vorsprung durch Kindergarten

Abb. 13: Wirtschaftskreislauf

Abb. 14: Entwicklung Staatsverschuldung Deutschland 1950-2010

Abb. 15: Entwicklung der Staatsverschuldung in Berlin 1950-2011

Abb. 16: Betreuungsquote Kinder unter drei Jahren in Tagesbetreuung 2006

Abb. 17: Ost und West: Wo gibt es mehr Krippenplätze

Abb. 18: Betreuungsquote Kinder unter 3 Jahren Berlin 2008 - 2014

Abb. 19: Betreuungsquote Kinder unter 3 Jahren nach Bundesländer Stichtag 01.03.2014

Abb. 20: Betreuungsquote Kinder unter 3 Jahren Hamburg 2008 - 2014

Abb. 21: Betreuungsquote 2014 nach Alter des Kindes Berlin

Abb. 22: Betreuungsquote 2014 nach Alter des Kindes Hamburg

Abb. 23: Betreuungsbedarf nach Bundesländern 2014

Abb. 24: Differenz Betreuungsquote und -bedarf nach Bundesländer 2014

Abb. 25: Betreuungsbedarf Berlin 2014 nach Alter des Kindes

Abb. 26: Betreuungsbedarf Hamburg 2014 nach Alter des Kindes

Abb. 27: Differenz Betreuungsquote und -bedarf Berlin nach Alter des Kindes 2014

Abb. 28: Differenz Betreuungsquote und -bedarf Hamburg nach Alter des Kindes 2014

Abb. 29: Differenz Betreuungsquote und -bedarf Deutschland nach Alter des Kindes 2014

Abb. 30: Kinderbetreuungseinrichtungen 2008 - 2013

Abb. 31: Kategorien des Bedarfsatlas

Abb. 32: Prozessablaufdiagramm Betriebserlaubnis

Abb. 33: Objektfinanzierung der Kindertagesbetreuung

Abb. 34: Kita-Gutscheinsystem

Abb. 35: Vergleich PISA-Test 2000 - 2012

4. Tabellenverzeichnis

Tab. 1: Datenbasiertes Bezirksprofil für den Bezirk Tempelhof-Schöneberg von Berlin 47

Tab. 2: Output der Zusammenführung der Datenquellen in ISBJ 48

Tab. 3: eigene Darstellung Kategorie Bedarfsatlas 2015 49

Tab. 4: Kategorisierung und Bewertung des Bezirkes Tempelhof-Schöneberg von Berlin 52

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1. Kurzfassung/Summary

Diese Masterarbeit spannt den Bogen der 160-jährigen Geschichte der institutionellen Kinderbetreuung in Deutschland, von der historischen Entwicklung des Kindergartenwesens seit dem Mittelalter, über die gegenwärtigen demografischen Entwicklungen und der bildungspolitischen Diskussionen und setzt diese als Grundlage für einen begründeten quantitativen und qualitativen Ausbau der Kindertagesbetreuung miteinander in Beziehung und zeigt auf, dass eine gute Kinderbetreuung und frühe Förderung für alle Kinder zu den wichtigsten Zukunftsaufgaben in Deutschland gehören. Im Zusammenhang mit den gesetzlichen Entwicklungen des letzten Jahrzehntes zeigt die Arbeit die Weiterentwicklung der Aufgabenschwerpunkte der öffentlichen Jugendhilfe auf und erläutert die Steuerungsinstrumente der Berliner Behörde beim Ausbau der Berliner Kita-Landschaft.

This thesis draws the bow of the 160- year history of institutional childcare in Germany, of the historical development of the kindergarten system since Middle Ages, law on current demographic trends and the educational policy debate and sets this as the basis for a quantitative and qualitative justified expansion of child day care interrelated and shows that good child care and early support for all children pertains to the most important tasks for the future in Germany. In connection with the legal developments of the last decade shows this thesis the advance of main tasks of public youth welfare and explains the control instruments of the Berlin authorities in the expansion of the Berlin kindergarten-landscape.

1. Einleitung

„Bildung ist die wichtigste Ressource unseres Landes, die es uns ermöglicht, auch in Zukunft wettbewerbsfähig zu bleiben. Bildung beginnt nicht erst mit dem Eintritt in die Schule, sondern von Anfang an: mit der Geburt.“

Dr. Ilse Wehrmann

Am 01. August 2013 trat mit der neuen Fassung des § 24 II, 1 des Achten Buches des Sozialgesetzes SGB VIII (im Folgenden Kita-Ausbaugesetz genannt), ein individuell einklagbarer Rechtsanspruch auf einen bedarfsgerechten Betreuungsplatz in einer Tageseinrichtung oder einer Kindertagespflege, für Kinder ab Vollendung des ersten Lebensjahres, in Kraft.[1] Die vorige Gesetzeslage sah lediglich die Verpflichtung zur Betreuung ab Vollendung des dritten Lebensjahres vor.[2] Mit dieser gesetzlichen Neufassung stehen Länder und Kommunen in der Handlungspflicht, Kindertagesplätze für Kinder ab Vollendung des ersten Lebensjahres, zur Verfügung zu stellen.[3] In diesem Sinne hat sich der Kita-Ausbau zu einem zentralen familien- und bildungspolitischen Gestaltungsfeld entwickelt, dass starke Beachtung in der zivilen und medialen Öffentlichkeit gefunden hat.

Der bedarfsgerechte Ausbau der Kindertagesbetreuung wurde bereits 2007, von Bund, Länder und Kommunen auf dem sog. "Krippengipfel", unter der Verantwortlichkeit von Frau Ursula von der Leyen, der damaligen Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, mit sehr ehrgeizigen Zielvorgaben festgelegt. Dabei sollte, bis zum Inkrafttreten der gesetzlichen Neuregelung des Kita-Ausbaugesetzes, bundesweit, im Durchschnitt für mindestens jedes dritte Kind unter drei Jahren, ein bedarfsgerechter Betreuungsplatz zur Verfügung stehen. Dazu sollte die Zahl der Betreuungsplätze auf eine beträchtliche Zahl von 750.000 Plätze erhöht werden[4] Heute, acht Jahre nach dem "Krippengipfel" und ein Jahr und zehn Monate nach dem Inkrafttreten des neuen Kita-Ausbaugesetzes, gibt es scheinbar, trotz erheblicher Anstrengungen von Bund, Länder und Kommunen, bundesweit, immer noch umfangreiche Versorgungslücken.[5] Auch in Berlin, mit einem jährlichen Bevölkerungszuwachs[6] und einer stetig steigenden Nachfrage nach Kinderbetreuungsplätzen, ausgelöst durch die Verbesserung der qualitativen und quantitativen Angebote der Kindertagesbetreuung auf der einen Seite und der immer größer werdenden Notwendigkeit von Doppelverdiener-Paaren, einer steigenden Zahl an alleinerziehenden Elternteilen, sowie einer steigenden Zahl an Kindern mit erhöhtem Förderbedarf auf der anderen Seite, ist der Bedarf an Kinderbetreuungsplätzen bisher nicht gedeckt.[7] Während der Berliner Senat positiv von den bisher erreichten Ergebnissen des Kita-Ausbaus berichtet, betitelt die Presse immer häufiger die Situation mit Schlagzeilen, wie bspw. "Der verzweifelte Kampf um einen Kita-Platz"[8] oder auch "Nirgendwo in Berlin reicht die Zahl der Kita-Plätze aus"[9] und sorgt bei den Betroffenen für noch mehr Unmut.

1.1 Ziel der Arbeit

Ziel dieser Arbeit ist es, die Instrumente behördlicher Steuerung beim Ausbau der Berliner Kita-Landschaft aufzuzeigen und zu analysieren. Dabei sollen in der vorliegenden Arbeit zentral folgende Fragestellungen untersucht werden:

Welche Motivation liegt hinter der starken Forcierung des Ausbaus der Kindertagesbetreuung durch die Bundesregierung? Welche gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Gründe liegen vor?

Wie ist die derzeitige Angebots- und Bedarfssituation in Berlin und welche Entwicklungen fanden in den letzten Jahren statt? Welche Entwicklungen finden voraussichtlich in den kommenden Jahren statt?

Wird der Kita-Ausbau in Berlin behördlich geplant und gesteuert oder handelt es sich um einen freien Markt, in dem Angebot und Nachfrage zwar der staatlichen Wettbewerbspolitik unterliegen, sich ansonsten aber frei entfalten können?

1.2 Aufbau der Arbeit

Im ersten Teil der Arbeit wird zunächst auf die geschichtliche Entwicklung der Kinderbetreuung vom Mittelalter bis zur heutigen Zeit eingegangen. Dabei stehen gesellschaftliche und soziale Entwicklungen und weniger pädagogische Überlegungen und Ansätze im Vordergrund.

Anschließend beschäftigt sich Kapitel drei mit den Ursachen und der Notwenigkeit frühkindlicher Bildung. Dabei ist die Untersuchung der demografischen, sowie bildungspolitischen Entwicklungen für eine Beurteilung der aktuellen Situation der Kita-Landschaft und für ein Verständnis heutiger Überlegungen entscheidend. Aufgrund vieler bildungshistorischer Einzelheiten, die teilweise parallel und überschneidend verlaufen, kann aufgrund des Rahmens dieser Arbeit nicht auf jede Einzelheit umfassend Bezug genommen werden.

Kapitel vier zeigt die behördlichen Steuerungsinstrumente auf. Dabei werden auch Angebots- und Nachfragestruktur, sowie das Bedarfsermittlungssystem der öffentlichen Jugendhilfe in Berlin aufgezeigt und untersucht.

Im letzten Kapitel werden die Ergebnisse der Arbeit zusammengefasst. Die Arbeit schließt mit einem Ausblick.

Auf die in Deutschland vertretenen Ansätze der Kindergartenpädagogik soll in dieser Arbeit nicht eingegangen werden. auch nicht auf die Situation der Fachkräfte und der Qualität der Kindertagesbetreuung.

2. Von der Kleinkinderbewahranstalt zum Kindergarten

Im Mittelalter wurden Kinder einfach in das Leben der Erwachsenen integriert. Sie unterschieden sich lediglich hinsichtlich Körpergröße und Kraft. Die Sozialisation in die Gesellschaft erfolgte durch Nachahmen der sozialen, emotionalen, körperlichen und geistigen Fertigkeiten der Erwachsenen.[10] In einem langen Weg entwickelte sich aus dem Humanismus heraus eine neue Wahrnehmung des Kindes als eigenständiger Mensch. Aufgrund der fortschreitenden Industrialisierung und der Erkenntnis, dass späteres menschliches Verhalten durch frühkindliche Erziehung beeinflusst werden kann, trat die Notwendigkeit einer frühkindlichen Bildung in den Vordergrund.[11] Aus dieser Einsicht heraus entwickelte Johann Amos Comenius (1592-1670) im 17. Jhd. das Konzept der Mutterschule als erste Bildungsphase des Kindes, bei der die Mutter die Bildung der Kinder bis zum sechsten Lebensjahr nach einem Bildungsplan übernimmt.[12] Comenius geht dabei davon aus, dass die Anlagen zur Bildung angeboren sind und lediglich der Erziehung bedürfen, um sich herauskristallisieren zu können.[13] Im 18. Jhd. prägte Jean Jaques Rousseau (1712-1778) mit seiner Idee der Gleichberechtigung aller Bürger die Erziehung der Kinder. Nach diesem Grundsatz steht der Staat in der Verantwortung, die Struktur für eine frühkindliche Bildung für alle Bürger zu schaffen,[14] damit sie durch eine zielgerichtete Förderung zur Teilhabe an den öffentlichen Angelegenheiten eines demokratischen Staates befähigt werden.[15] Rousseau stellt damit die gemeinschaftliche frühkindliche Bildung als Fundament für eine positive Entwicklung der Gesellschaft in den Vordergrund.

Mit dem Beginn der Industrialisierung und dem Einsetzen des Wirtschaftsliberalismus Anfang des 19. Jahrhunderts, verschlechterten sich die allgemeinen Lebensbedingungen vieler Menschen in Deutschland, was sich u. A. durch eine Erhöhung der Kindersterblichkeit, Hungerleiden, Massenarmut und das Absinken des Bildungsniveaus bemerkbar machte,[16] und in einer neuen breiten Schicht des Proletariats mündete.[17] Die Armut der Unterschicht machte mindestens 12 bis 14-Stunden-Arbeitstage an sechs bis sieben Tagen in der Woche, unter unzumutbaren Bedingungen, sowie Frauen- und Kinderarbeit, notwendig.[18] [19] Der industrielle Fortschritt verschlechterte nicht nur die soziale Situation der Familien, sondern veränderte damit auch ihre Erziehungsmöglichkeiten tiefgreifend. In der Folge der Ausübung der kapitalistischen Idee wurde der Arbeiter zu einem Werkzeug degradiert, der ohne Rechte für eine industrielle Zukunft überbeansprucht wurde, während der Mittelstand als klarer Sieger der Industrialisierung immer mehr an wirtschaftliche Stärke und Besitztum gewann[20]

Aus diesem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel entstanden diverse Einrichtungsarten der Kleinkindererziehung, wobei die Kleinkinderbewahranstalten, die Kleinkinderschulen und der Kindergarten am meisten verbreitetet waren.[21] [22] Hier finden sich die ersten Grundzüge öffentlicher Einflussnahme im Bereich der Kinderbetreuung.

2.1 Die Kleinkinderbewahranstalt

Die zunehmende Frauenerwerbstätigkeit, aufgrund der niedrigen Löhne der Männer als eigentliche Hauptverdiener, zwang viele Familien des Proletariats, ihre Säuglinge während der langen Arbeitszeiten, unter den Einfluss von Schlafmitteln und anderen ruhigstellenden Mitteln, in der Wohnung einzuschließen, während die Kleinkinder auf der Straße verweilten. Die Folge war eine Zunahme der Säuglingssterblichkeit und die Kriminalisierung und Verwahrlosung der herumlungernden Kinder.[23] Um das Problem in den Griff zu bekommen, wurden Kleinkinderbewahranstalten eröffnet. Die Einführung der Kleinkinderbewahranstalten für Kinder ab dem Säuglingsalter, sollte eine zeitlich begrenzte Lösung für die soziale Notsituation der Familien der unteren Schichten darstellen. Die Bezeichnung "Bewahranstalt" macht bereits die Aufgabe der reinen Beaufsichtigung (Aufbewahrung) der Kinder deutlich, um diese vor Kriminalität, Unfällen und Verwahrlosung zu bewahren, da die Familien dieser Sorgfaltspflicht aufgrund ihrer langen Arbeitszeiten nicht mehr nachkommen konnten.

Der Grundgedanke bei der Einführung der Kleinkinderbewahranstalten war jedoch nicht rein karitativ. Die Eltern sollten entlastet und die Kinder zur Akzeptanz der Klassengesellschaft und des Adels als herrschende Elite erzogen werden, weil die Angst des Bürgertums vor einem breiten Aufstand des Proletariats wuchs.[24] Die Aufbewahrung erfolgte bei etwa 120 Kindern pro Bewahrerin als Massenabfertigung mit militärischen Erziehungsmethoden. Die Erziehung zu Gehorsam und Ordnung galt als oberstes Ziel der Bewahrerinnen,[25] um die Kinder zu den Verhaltens- und Denkweisen zu erziehen, die den Normen und Wertvorstellungen der herrschenden Klasse entsprachen.

2.2 Die Kleinkinderschule

Für die besser bemittelten Familien gab es Kleinkinderschulen, die im Gegensatz zu den Kleinkinderbewahranstalten familienergänzende Institutionen darstellten. Als einer der ersten Einflüsse behördlicher Steuerung, forderte eine Verordnung der preußischen Regierung im Jahre 1828 die Kleinkinderschulen auf, die Kinder über die disziplinarische Erziehung hinaus auch zu unterrichten.[26] So hieß es im Amtsblatt:

"Sie sollen die Kinder auf eine, ihren Kräften und Neigungen angemessene Weise durch Vorführung und Anschauung sinnlicher Gegenstände [...], durch Erzählungen, Übungen des Gedächtnisses, des Auges und der Hand, durch religiöse und sittliche Einwirkungen, durch Übung der Sprachfertigkeit, durch Gewöhnung an Zucht und Ordnung, [...], endlich durch zweckmäßiges, geordnetes Spiel, durch körperliche Bewegung und Übung etc. angenehm und lehrreich beschäftigen, [...], ihre Untugenden ihnen abgewöhnen, [...]".[27]

Die Aufgabe der Kleinkinderschulen, deren Träger hauptsächlich Vertreter der Kirche und die dadurch meist an Häuser der Diakonie oder kirchlicher Orden angeschlossen waren, bestand neben ihrer christlich-missionarischen Intention, mit dieser Verordnung, im Gegensatz zu den Kleinkinderbewahranstalten, darin, die Entwicklung der Kinder gezielt mit pädagogischen Methoden zu fördern und sie auf die Lernschule vorzubereiten.[28] Die Kinder wurden erst ab Vollendung des dritten Lebensjahres aufgenommen und verblieben nur wenige Stunden täglich in den Einrichtungen.[29]

2.3 Der Kindergarten

Beeinflusst vom Grundgedanken Rousseaus gründete Friedrich Wilhelm August Fröbel (1782-1852) den ersten Kindergarten mit ganzheitlicher pädagogischer Konzeption und bedarfsgerechter Förderung der Kinder,[30] durch für diese Zeit kompetentes Personal.[31] Damit trat der Kindergarten nach dem Vorbild Fröbels, der durch das aufgeklärte Bürgertum finanziert und unterstützt wurde, den Einrichtungen der Kleinkinderbewahranstalten und Kleinkinderschulen, deren Träger hauptsächlich kirchliche Organisationen waren, gegenüber. Im Gegensatz zu den anderen Einrichtungen strebte der Kindergarten im Grundgedanken danach, möglichst allen Kindern Bildung zu vermitteln.[32]

Fröbels revolutionäre pädagogische Konzeption beinhaltet die Förderung der Kinder durch spielerisches Lernen und die Notwendigkeit einer positiven Mutter-Kind-Beziehung.[33] Die Kinder sollen wie eine wohlbehütete Pflanze in einem Garten aufblühen, wobei der Mutter die Aufgabe einer Kindergärtnerin zugesprochen wurde. In den Einrichtungen wurden daher auch Kurse angeboten, in denen die Mütter lernen konnten, wie sie ihre Kinder möglichst pädagogisch sinnvoll erziehen. Damit stellte der Kindergarten ein differenziertes System mit einem eigenständigen Bildungsauftrag dar, dass familienergänzend und familienunterstützend ist, den sich jedoch aufgrund der relativ hohen finanziellen Elternbeiträge des Kindergartens nur der gehobene Mittelstand leisten konnte.[34]

Die Auseinandersetzungen, in den folgenden Jahren nach der Gründung des ersten Kindergartens, zwischen den kirchlichen Trägern der Kinderbewahranstalten und Kleinkinderschulen auf der einen Seite, die die Erziehungsanstalten auch als Vermittlungsstätten des Christentums verstanden, und der freien Träger, mit der Konzeption nach Fröbel als wesentliche Basis auf der anderen Seite, hat die gesamte Geschichte der frühkindlichen Erziehung bis zum Erlass der Kindergartengesetze in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts in entscheidendem Maße geprägt.[35] Erst seit dieser Zeit entwickelten sich die Kindertageseinrichtungen von einer Nothilfeeinrichtungen für erwerbstätige Mütter der Arbeiterklasse, zu frühkindlichen Bildungsstätten mit gezielter Förderungsabsicht unabhängig vom sozialen Hintergrund der Kinder.[36]

3. Ausweitung der Kindertagesbetreuung

Die bildungspolitische Entwicklung der Kinderbetreuungssysteme unter dem Einfluss anerkannter Bildungsstudien und der gesetzlich forcierte Ausbau der Kindertagesbetreuung seit Mitte des 20. Jhd. stehen in einem direkten Zusammenhang mit dem demografischen Wandel in Deutschland.

3.1 Demografische Entwicklung

Nach dem zweiten Weltkrieg und der politischen und wirtschaftlichen Unsicherheit der Nachkriegszeit, erlebten die Menschen in Deutschland einen massiven wirtschaftlichen Aufschwung, der heute von der breiten Masse als deutsches Jahrzehnt des Wirtschaftswunders bezeichnet wird. Die Erfolge und der damit verbundene Wohlstand kamen unter dem Leitgedanken der sozialen Marktwirtschaft auch in den breiten unteren sozialen Schichten an, und steigerten den Lebensstandard der Menschen in Deutschland in einem bisher noch nicht bekannten Ausmaß.[37] [38] Mit dem hohen Lebensstandard und der Sicherheit in Form von Vollbeschäftigung in Deutschland, stieg auch die Geburtenrate in den Jahren 1955-1969 kontinuierlich an und erreichte ihren Höhepunkt im sog. Babyboom-Jahr 1964 mit mehr als 1,3 Millionen lebenden Neugeborenen (Abb. 1).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: Geburtenrate Deutschland 1945 - 2006[39]

Als Ergebnis der Veränderungen der Geschlechterrollen und der damit verbunden gestiegenen Bildungspartizipation und beruflichen Teilhabe von Frauen,[40] ohne die Verfügbarkeit ausreichender Betreuungsplätze für Kinder,[41] gekoppelt mit der Einführung der Pille als effizientes und einfaches Verhütungsmittel,[42] sank das Geburtenniveau in den Folgejahren rapide ab und halbierte sich nahezu innerhalb eines Jahrzehntes. Die niedrige Geburtenrate der 70er Jahre sorgte demnach wiederum in den nächsten Jahrzehnten für ein niedriges Elternpotential, das sich wie eine Spirale auf eine niedrige Geburtenrate und dann wieder auf ein noch niedrigeres Elternpotential in den darauffolgenden Jahrzehnten auswirkt.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 2: Bevölkerungsentwicklung 1964 - 2060[43]

Die weiter sinkende Geburtenrate bei einer gleichzeitig steigenden alternden Gesellschaft (Abb. 2) führt zu einer Abnahme des Erwerbspersonenpotentials, wodurch die steigenden demografischen Lasten für Kranken- und Pflegeaufwendungen, sowie für Renten immer größer werden und von einer schrumpfenden Anzahl an Erwerbstätigen bei steigender Produktivität qualitativ getragen werden müssen. Der folglich auch daraus resultierende Mangel an Arbeitskräften, macht in Bezug auf die Thematik dieser Arbeit u.a.:

eine Erhöhung der Frauenarbeitsquote zwingend erforderlich, die wiederum ohne eine Politik der Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu einer weiter sinkenden Geburtenrate führt
eine verstärkte Förderung der Kinder zwingend erforderlich, da diese zukünftig die fehlende Quantität durch hohe qualitative Leistungen auffangen müssen

Die o.g. Abhängigkeit der Geburtenrate von der Verfügbarkeit der Kinderbetreuung, sowie einer Vereinbarkeit von Familie und Beruf, wurde 2013 durch eine Untersuchung des Max Planck Instituts für demografische Forschung (MPIDR) im Bereich der Fertilitätsentwicklung erforscht.[44] Die Studie setzt die Geburtenrate der deutschsprachigen Region Belgiens im Vergleich zur Geburtenrate in Deutschland. Ziel der Untersuchung ist es festzustellen, ob die niedrige Geburtenrate in Deutschland kulturell bedingt oder andere Ursachen hat. Entscheidend für die Untersuchung ist, dass beide Regionen die gleiche kulturelle Prägung haben.

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Abb. 3: Fertilitätsrate in Belgien und Deutschland[45]

Wie in Abb. 3 ersichtlich ist, erlebt auch Belgien seit einigen Jahrzehnten eine sinkende Geburtenrate. Im Vergleich zur Geburtenrate in Deutschland stagniert jedoch die fallende Geburtenrate in Belgien über dem deutschen Niveau, während die in Deutschland weiter sinkt. Ebenfalls ist in Abb. 3 klar zu erkennen, dass sich die Geburtenrate der deutschsprachigen Region Belgiens ähnlich wie die Geburtenrate der Belgier verhält und mit den Jahrgängen der geburtsfähigen Frauen 1955-1959 sogar leicht über dem Niveau der Belgier liegt. Abb. 4 verdeutlicht über die Betrachtung der Geburtsjahrgänge hinaus, d.h. über die endgültige Betrachtung der Frauen im geburtsfähigen Alter hinaus, die Geburtenrate nach Kalenderjahren. Dabei zeigt sich eine Stagnation der sinkenden Geburtenrate seit der Wiedervereinigung Deutschlands. Die Geburtenrate in Belgien stieg jedoch im gleichen Zeitraum enorm an und bleibt weiter konstant über dem deutschen Niveau.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 4: Geburtenrate Deutschland und Belgien bis 2010[46]

Bei gleichen kulturellen Bedingungen in der Betrachtung der Studie des MPIDR, verfügt Belgien im Gegensatz zu Deutschland über eine langjährige Tradition der öffentlichen Kinderbetreuung mit einer qualitativ sehr gut ausgebauten Kinderbetreuungsinfrastruktur, sowie familienpolitischer Leistungen,[47] die auch von der deutschsprachigen Region in Anspruch genommen wird.[48] Schlussfolgernd lässt sich ein Einfluss der Familienpolitik auf die Geburtenrate darlegen. Zudem wird die Geburtenrate, bzw. die Bereitschaft der gebärfähigen Frauen durch die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, auch im Hinblick auf die gestiegenen Anforderungen der Frauen an die Männer bezüglich einer gleichgestellten Partnerschaft, sowie von einer vorhandenen Erwerbstätigkeit des Mannes und der definierten Rahmenbedingungen, beeinflusst.[49] Abb. 5 veranschaulicht die wesentlichen Einflussfaktoren auf die Geburtenrate.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 5: Haupt-Einflussfaktoren auf die Geburtenrate[50]

Internationale Vergleichsuntersuchungen zeigen, dass "bestimmte Indikatoren der Geld-, Infrastruktur- und Zeitpolitik jeweils mit der Geburtenrate signifikant zusammenhängen".[51] Die Einflussfaktoren werden in Deutschland durch das enge Zeitfenster zwischen langer Ausbildungszeit und erster Berufserfahrungen und biologischer Voraussetzungen für Eltern, sowie der Angst vor eine Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation bestimmt. Dabei verringert sich das Zeitfenster mit dem Grad der Ausbildung und verstärkt gleichzeitig die Vorstellung der Unvereinbarkeit von Familie und Beruf. Demzufolge beeinflussen sowohl die Erwerbstätigkeit des Mannes, als auch die Sicherheit der Mütter in Bezug auf die Rückkehr in den Beruf die Entscheidung, da diese neben den bereits oben aufgeführten gestiegenen persönlichen Anforderungen an beide Elternteile, eine wirtschaftliche Sicherheit im instinktiven Nestbauverhalten werdender Eltern darstellt. Folglich spielen auch die finanziellen Familienleistungen eine entscheidende Rolle.[52] Die Wirkung familienpolitischer Maßnahmen auf die Geburtenrate wurde ebenfalls durch das BMFSFJ empirisch nachgewiesen. Den größtmöglichen Effekt zeigt dabei eine Kombination aus Kinderbetreuung und Transferleistungen.[53] Die finanziellen Transfers kompensieren den enormen Kostenaufwand den ein Kind für die Eltern produziert, während die Kinderbetreuung die Berufstätigkeit durch die Vereinbarkeit von Familie und Beruf erleichtert und damit auch zu einer positiven volkswirtschaftliche Entwicklung beiträgt. Nicht zu unterschätzen und bisher unerwähnt, ist der Einfluss der gesellschaftlichen Anerkennung für Mehrkinderhaushalte auf die Geburtenrate (Abb. 6), zumal sich in den letzten Jahrzehnten ein schlechtes Image für Mehrkinderhaushalte durchsetzte.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 6: Mehrebenenmodell der Entscheidung für Kinder (Auszug)[54]

Für die Kinderbetreuung bedeutet das, dass keine Betreuungslücken vorhanden sein dürfen. Durch die Änderung der Familienstrukturen werden die Betreuungslücken nicht mehr in ausreichender Zahl wie vorher durch die Großeltern oder anderer Verwandter aufgefangen.

Während sich eine ausreichende Kinderbetreuung auf die Geburtenrate auswirkt, zeigt sich anhand der familienpolitischen Maßnahmen in der DDR, dass sich eine ausreichende Kinderbetreuung auch auf die Frauenerwerbstätigkeit positiv auswirkt. Mit der flächendeckenden Infrastruktur in der DDR im Bereich der Kindertagesbetreuung Mitte der 1980er Jahre, stieg parallel auch die Frauenerwerbstätigkeit (Abb. 7).[55]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 7: Frauenerwerbstätigkeit in der DDR[56]

Abb. 8 zeigt im Vergleich zu Abb. 7 eine relativ niedrige Frauenerwerbstätigkeit in der BRD, die erst mit dem Ausbau der Kinderbetreuung ab Mitte der 1970er Jahre zu steigen scheint.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 8: Frauenerwerbstätigkeit in der BRD[57]

3.2 Bildungspolitische Entwicklungen

Wie in Kapitel 2 dargelegt, stellte bereits Rousseau im 18. Jhd. die frühkindliche Bildung als Fundament für eine positive Entwicklung der Gesellschaft in den Vordergrund. Studien der 1950er Jahre belegen, dass die Fähigkeit einer Volkswirtschaft ein hohes Produktionsniveau und eine starke Innovationsfähigkeit und damit auch den Wohlstand einer Gesellschaft zu erzielen, vom Bildungsniveau abhängt.[58] [59] Mit dem Erfolg der Sowjetunion, den ersten Satelliten der Weltgeschichte ins All zu schießen und der damit verbundenen Angst vor einer zukünftigen technischen Unterlegenheit, sog. "Sputnik-Schock", wurde in Deutschland eine Bildungsdebatte in Fachkreisen ausgelöst.[60] Gleichzeitig zeigen Analysen der OECD, eine nach dem Zweiten Weltkrieg gegründeten Organisation "zur Koordinierung des Marshall-Plans für den Wiederaufbau in Europa",[61] dass die deutschen Bildungsinvestitionen im Vergleich zu anderen Volkswirtschaften, sowie die Quote höherwertiger Schulabschlüsse, relativ gering ausfielen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 9: Zuwachs der Absolventen mit Hochschulreife zwischen 1959 und 1970 im europäischen Vergleich[62]

Im europäischen Vergleich schneidet das deutsche Bildungssystem als das schlechtesten ab (Abb. 9). In allen Vergleichsländern wird ein Zuwachs an Absolventen von mindestens 100% prognostiziert, während sich der Zuwachs in Deutschland bei lediglich 4% bewegt,[63] was den zukünftigen Nachwuchs an Fachkräften und damit das Wirtschaftswachstum und den Wohlstand erheblich gefährdet.[64] Wirtschaftswachstum hat die oberste Priorität, was auch durch die zentrale Rolle der Humankapitaltheorie auf der OECD Konferenz 1961 in Washington "Wirtschaftswachstum und Bildungsaufwand" deutlich wird.[65] Die Humankapitaltheorie nimmt an, dass höhere Bildung zu erhöhter Produktivität führt.[66] So heißt es in der Konferenz:

Heute versteht es sich von selbst, dass auch das Erziehungswesen in den Komplex der Wirtschaft gehört, dass es genauso notwendig ist, Menschen für die Wirtschaft vorzubereiten wie Sachgüter und Maschinen. Das Erziehungswesen steht nun gleichwertig neben Autobahnen, Stahlwerken und Kunstdüngerfabriken.[67]

Mit der Veröffentlichung der Artikelserie "Die deutsche Bildungskatastrophe" von Georg Picht in der Zeitschrift "Christ und Welt", 1964 greift Picht die Ergebnisse der OECD Analaysen und Prognosen auf (Abb. 9) und ruft den Bildungsnotstand als wirtschaftlichen Notstand aus, der das deutsche Wirtschaftswachstum gefährdet und löst damit eine öffentliche bildungspolitische Debatte auf breiter Ebene aus, bei der die Forderung nach einer Bildungsreform unter Erhöhung der Bildungsinvestitionen immer lauter wurde.[68] Dahrendorf greift die Kritik von Picht am Bildungssystem auf, und forderte unter dem Aspekt der Chancengleichheit die Abschaffung der starken sozialen Selektivität des deutschen Bildungssystems. Bildung soll als Grundrecht aufgefasst werden.[69] In Folge des steigenden gesellschaftlichen und ökonomischen Drucks auf die Politik Reformen anzustreben und mit der Publikation neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse zum Zusammenhang von Bildungsmaßnahmen und intellektueller Leistungsfähigkeit, d.h. die Möglichkeit der Wirkung der Umwelteinflüsse auf die Entwicklung der Intelligenz im frühen Kindesalter, geraten Chancen durch frühkindliche Förderungen als mögliche Lösung des Problems immer stärker in den Vordergrund der Debatten.[70] Als Konsequenz wurde der Deutsche Bildungsrat, mit dem Auftrag der Entwicklung von Bedarfs- und Entwicklungsplänen für das gesamten Bildungssystems, gegründet.[71] Die Organisationsstruktur des Deutschen Bildungsrates sah ein Zweikammersystem vor, bei dem eine Bildungskommission aus Wissenschaftlern einer Regierungskommission aus Bund und Ländern Vorschläge und Maßnahmen zur Reform des Bildungswesens unterbreitet. In der Kabinettssitzung vom 02. Februar 1966 heißt es dazu:

"Zur Behebung des sogenannten Bildungsnotstandes hatten Bund und Länder in dem gemeinsamen Verwaltungsabkommen vom 15. Juli 1965 beschlossen, mit der Einsetzung eines Bildungsrates, bestehend aus einer Regierungs- und einer Bildungskommission, ein geeignetes Gremium zu institutionalisieren, das die Bedarfs- und Entwicklungspläne für das Bildungswesen an den kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Maßgaben orientieren sollte und von den zuständigen Behörden des Bundes und der Länder unterstützt würde." [72]

Bislang wird die pädagogische Praxis im Kindergarten durch die Theorie des selbsttätig reifenden Kindes gelenkt, wonach man einfach darauf wartet was das Kind selbsttätig hervorbringt ohne es aktiv und zielgerichtet zu fördern.[73] Durch die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse gerät diese pädagogische Praxis zunehmend in Kritik: "Eine erzieherische Einstellung, die glaubt abwarten zu müssen, bis ein Kind reif für Lernprozesse geworden ist, [...], versäumt es die Lernmöglichkeiten der frühen Jahre zu nutzen".[74] Weiterhin wird die Benachteiligung von Kindern aus bildungsfernen Familien erkannt:

"[...] Besonders in unteren Sozialschichten fehlt es oft an Zeit, Interesse und dem notwendigem Wissen, so dass leicht ein Defizit [...] entsteht"[75].

Frühkindliche Bildung soll zukünftig der Anhebung des allgemeinen Bildungsniveaus aller Schüler durch die Kompensation der Sozialisierungsdefizite unterprivilegierter Kinder,[76] sowie der Ausschöpfung von Bildungsreserven dienen, um das Wirtschaftswachstum und die internationale Wettbewerbsfähigkeit zu sichern. Daher wird den neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen in Bezug auf die pädagogische Praxis absolute Priorität gewährt. Damit gerät auch das Modell der primären Verantwortung der Familien für ihre Kinder stark in Kritik. 1970 legte der Deutsche Bildungsrat einen langfristigen Strukturplan vor, der als Grundlage für die weitere bildungspolitische Planung dienen sollte.[77] Der Strukturplan löste kurzfristig erste strukturelle Reformen aus, wonach der Kindergarten als Elementarbereich offiziell dem Bildungswesen zugeordnet wurde.[78] Mit diesem Paradigmenwechsel wurde der Kindergarten als Bildungsort aufgewertet. Weiterhin verfolgte der Strukturplan des Deutschen Bildungsrates in Bezug auf die Erhöhung des Bildungsniveaus durch Reformen im wesentlichen Maßnahmen zur Erhöhung der Quantität und Qualität im Elementarbereich.[79] [80]

Im Strukturplan des Deutschen Bildungsrates heißt es explizit:

"[...] bedarf es dazu [...] den gründlichen Ausbau der Kindergärten, so dass alle Kinder, [...], nach dem vollendeten dritten Lebensjahr einen Kindergartenplatz bekommen können".[81]

Teile des äußerst modernen Strukturplans des Deutschen Bildungsrates, sowie weitere Reformvorschläge der folgenden Jahre, insbesondere in Bezug auf eine Autonomie des Schulwesens, führten zu immer größeren Differenzen zwischen Bildungskommission und Regierungskommission des Deutschen Bildungsrates und letztendlich 1975 zu dessen Auflösung. Nicht zuletzt beinhaltete die Kritik der Bundespolitik die aus ihrer Sicht stark aufgeblasenen Reformvorschlägen und den damit verbundenen hohen Investitionserfordernissen,[82] insbesondere auch aufgrund der Wirtschaftskrise als Folge der Ölkrise. Der vom Deutschen Bildungsrat im Rahmen des Strukturplanes 1970 vorgeschlagene quantitative Ausbau des Kindergartenwesens mit dem Ziel einer Erhöhung der Kindergartenplatze von etwa 30% auf 75% bis 1980,[83] wurde sogar übertroffen. Mit der finanziellen Unterstützung von Bund und Länder[84] expandierten die Kindergartenplätze für drei- bis sechsjährige bis 1980 auf durchschnittlich fast 80% (Abb. 10) und lagen damit über den Zielvorgaben des Deutschen Bildungsrates.

[...]


[1] Vgl . Sozialgesetzbuch (SGB), Achtes Buch (VIII), Kinder- und Jugendhilfe, vom 26. Juni 1990, BGBI. I. S. 1163, 43. Auflage, 2014.

[2] Vgl. Sozialgesetzbuch (SGB), Achtes Buch (VIII), Kinder- und Jugendhilfe, vom 26. Juni 1990, BGBI. I. S. 1163, 40. Auflage, 2011.

[3] Vgl. URL1: Homepage des BMFSFJ, Online im Internet: URL: http://v.gd/cgtstz [13.04.2015].

[4] Vgl. URL2: Weiland, S.: Krippen-Gipfel - Länder und Kommunen umzingeln von der Leyen, In: Spiegel Online vom 02.04.2007, Online im Internet: URL: http://v.gd/oEvnDg [13.04.2015].

[5] Vgl. URL3: Homepage des BMFSFJ. Online im Internet: URL: http://v.gd/YVBGSf [13.04.2015].

[6] Vgl. URL4: Amt für Statistik Berlin Brandenburg: Berliner Bevölkerung wächst auch 2014 weiter, Pressemitteilung Nr. 345, 17. Dezember 2014, Online im Internet: URL: http://v.gd/3Zboil [18.06.2015].

[7] Vgl. URL5: Baumeister, S.: Kita-Platz Not mit Folgen - Stadtrat fordert Brennpunktprogramm, Berliner Woche, Online im Internet: URL: http://v.gd/1IcEDs [21.06.2015].

[8] URL6: James, K.: Der verzweifelte Kampf um einen Kita-Platz, 16.02.2015, In: Die Welt, Online im Internet: URL: http://v.gd/BEqCmL [25.06.2015].

[9] URL7: Anders, F./Klar, B.: Nirgendwo in Berlin reicht die Zahl der Kita-Plätze aus, 22.01.2014, In: Die Morgenpost, Online im Internet: URL: http://v.gd/VcV006 [25.06.2015].

[10] Vgl. Ariès, P.: Geschichte der Kindheit. In: Aden-Grossmann, W.: Der Kindergarten - Geschichte, Entwicklung, Konzepte, Weinheim und Basel: Beltz-Verlag, 2011, S. 14.

[11] Vgl. Aden-Grossmann, W.: Der Kindergarten, a.a.O., S.14f.

[12] Vgl. ebd. , S.15.

[13] Vgl. Aden-Grossmann, W.: Kindergarten. Eine Einführung in seine Entwicklung und Pädagogik, Weinheim und Basel: Beltz-Verlag, 2002, S.18f.

[14] Vgl. Aden-Grossmann, W.: Der Kindergarten, a.a.O., S.16.

[15] Vgl. Hermsen, E.: Faktor Religion: Geschichte der Kindheit vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln: Böhlau Verlag, 2006, S.130.

[16] Vgl. Aden-Grossmann, W.: Der Kindergarten, a.a.O., S.16f.

[17] Vgl. Schöningh, F.: Taschenhandbuch zur Geschichte, Paderborn: Verlag Ferdinand Schöningh, 1988, S.213.

[18] Vgl. Petersen, G.: Kinder unter 3 Jahren in Tageseinrichtungen, Grundfragen der pädagogischen Fragen in altersgemischten Gruppen, Band I, Köln: Verlag W. Kohlhammer, 1991, S.2.

[19] Vgl. URL8: Koops, T: Gesellschaftlicher Wandel und soziale Frage, 2002, Homepage des Bundesarchivs, Online im Internet: URL: http://v.gd/BwhA7K [20.04.2015].

[20] Vgl. URL9: Kruse, W: Industrialisierung und moderne Gesellschaft, 2012, Homepage der Bundeszentrale für politische Bildung, Online im Internet: URL: http://v.gd/jfCy5t [20.04.2015].

[21] Vgl. Dammann, E./ Prüser, H. (Hrsg.): Namen und Formen in der Geschichte des Kindergartens. In: Erning, G./Neumann, K./Reyer, J.: Geschichte des Kindergartens. Band II, Freiburg: 1987, S.18ff.

[22] Vgl. Thoma, M. V.: Zur politischen Dimension der Entstehung des Kindergartens, Darmstädter Studien zur Pädagogik und Bildungstheorie, Darmstadt: Herausgegeben von Pengratz/Euler, 2008, S.7.

[23] Vgl. Petersen, G.: a.a.O., S. 2f.

[24] Vgl. Thoma, M. V.: a.a.O., S.7f.

[25] Vgl. Aden-Grossmann, W.: Der Kindergarten, a.a.O., S.19ff.

[26] Vgl. Franke-Meyer, D.: Kleinkindererziehung und Kindergarten im historischen Prozess, Ihre Rolle im Spannungsfeld zwischen Bildungspolitik, Familie und Schule, Kempten: Julius Klinkhardt, 2010, S.104ff.

[27] Wirth, J. G.: in Franke-Meyer, Diana: Kleinkindererziehung und Kindergarten im historischen Prozess, Ihre Rolle im Spannungsfeld zwischen Bildungspolitik, Familie und Schule, Kempten: Julius Klinkhardt, 2010, S.105f.

[28] Vgl. Thoma, M. V.: a.a.O., S.8.

[29] Vgl. Uhlhorn, G.: Die Christliche Liebestätigkeit, Stuttgart: Gundert Verlag, 1895. In: Aden-Grossmann, W.: a.a.O., S.20f.

[30] Vgl. Petersen, G.: a.a.O., S.4f.

[31] Vgl. Thoma, M. V.: a.a.O., S.8.

[32] Vgl. Aden-Grossmann, W.: Der Kindergarten, a.a.O., S.24ff.

[33] Vgl. Petersen, G.: Der Kindergarten - Geschichte, Entwicklung, Konzepte, a.a.O., S. 5.

[34] Vgl. Aden-Grossmann, W.: Der Kindergarten, a.a.O., S.29f.

[35] Vgl. ebd., S.35ff.

[36] Vgl. Aden-Grossmann, Wilma: Der Kindergarten, a.a.O., S.160f.

[37] Vgl. URL10: Andersen, U./Wichard W., Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, 2003, Online im Internet: Homepage der Bundeszentrale für politische Bildung, Artikel: Bundesrepublik Deutschland - Geschichte und Perspektive, URL: http://v.gd/d7Ywpg [28.04.2015].

[38] Vgl. URL11: Brunold, R., Die soziale Marktwirtschaft - Ludwig Erhard und das Wirtschaftswunder, Online im Internet: URL: http://v.gd/m5Q7HV [28.04.2015].

[39] Vgl. URL12: Pötzsch, O.: Geburten in Deutschland, Wiesbaden: Statistisches Bundesamt, 2007, Online im Internet: URL: http://v.gd/8Fbjd7 [23.04.2015].

[40] Vgl. URL13: Die Geschichte der Pille, Online im Internet: URL: http://v.gd/4tMAo5 [29.04.2015].

[41] Vgl. URL14: Homepage des BMSFSJ, Gender Datenreport, Online im Internet: URL: http://v.gd/H2Ptub [28.04.2015].

[42] Vgl. URL13: a.a.O. [29.04.2015].

[43] Vgl. URL15: Homepage des Statistischen Bundesamtes, Bevölkerungspyramiden, Online im Internet: URL: http://v.gd/wZoqr1 [28.04.2015].

[44] Vgl. URL16: Homepage des Max Plack Instituts für demografische Forschung: Kitas wichtiger als Kultur, Pressemitteilung vom 11.12.2013, Online im Internet: URL: http://v.gd/IFdF3Z [29.04.2015].

[45] ebd., a.a.O. [29.04.2015].

[46] Vgl. URL17: Google/Public Data, Online im Internet: Datenquelle Weltbank URL: http://v.gd/2Xz9iB [03.05.2015].

[47] Vgl. Bujard, M., Dr.: Familienpolitik und Geburtenrate - Ein internationaler Vergleich, Wiesbaden: BMFSFJ, 2011, S.7ff.

[48] Vgl. URL16: a.a.O. [29.04.2015].

[49] Vgl. Rürüp, B., Prof. Dr./ Gruescu S.: Nachhaltige Familienpolitik im Interesse einer aktiven Bevölkerungsentwicklung, Gutachten im Auftrag des BMFSFJ, 2003, S.15ff.

[50] Eigene Darstellung in Anlehnung an Bujard, M., Dr.: a.a.O., S.25ff.

[51] Bujard, M., Dr.: a.a.O., S.19.

[52] Vgl. URL18: Institut für Demoskopie Allensbach: Einflussfaktoren auf die Geburtenrate, Ergebnisse einer Repräsentativbefragung der 18 bis 44-jährigen Bevölkerung, im Auftrag des Staatsministerium Baden Württemberg, 2003. Online im Internet: URL15: http://v.gd/gw97r1 [25.05.2015].

[53] Vgl. Bujard, M., Dr.: a.a.O., S.20ff.

[54] Vgl. ebd., S.30.

[55] Vgl. Aden-Grossmann, Wilma: Der Kindergarten - Geschichte, Entwicklung, Konzepte, a.a.O., S.99.

[56] URL19: 25 Jahre Mauerfall, Die DDR war der Bundesrepublik bei Kinderbetreuung und Gleichberechtigung voraus, In: ZDF Faktencheck, Online im Internet: URL: http://zdfcheck.zdf.de/faktencheck/kinderbetreuung/ [02.06.2015].

[57] URL20: Bundeszentrale für politische Bildung, Erwerbstätigkeit von Frauen, 2010, Online im Internet: URL:www.bpb.de/system/files/pdf/O4NQPA.pdf [02.06.2015].

[58] Vgl. URL21: Schettkat, R., Prof. Dr., Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Online im Internet: URL: http://v.gd/Ynz8CF [09.05.2015], S.616ff.

[59] Vgl. Aden-Grossmann, W.: Der Kindergarten, a.a.O., S.158.

[60] Vgl. Aden-Grossmann, Wilma: Kindergarten. Eine Einführung..., a.a.O., S.163.

[61] Vgl. URL22: Homepage der OECD. Online im Internet: URL: http://www.oecd.org [10.05.2015].

[62] Vgl. URL23: „Bildungskatastrophe“ – ein weites Feld. Die Ausgangslage in den 1960er Jahren. Online im Internet: URL: http://v.gd/Uz4VHs [10.05.2015].

[63] Vgl. Hearnden, A.: Bildungspolitik in der BRD und DDR, Düsseldorf: Pädagogischer Verlag Schwann, 1973, S.137.

[64] Vgl. Aden-Grossmann, W.: Der Kindergarten, a.a.O., S.158.

[65] Vgl. URL24: Wirtschaftswoche Online: 50 Jahre Bildungskatastrophe, 13.02.2014, Online im Internet: URL: http://v.gd/wFJEKl [11.05.2015].

[66] Vgl. Gabler Wirtschaftslexikon, Wiesbaden: Gabler Verlag, 2014.

[67] Gehmacher, E.: Wirtschaftswachstum und Bildungsaufwand. Bericht über die OECD-Konferenz in Washington 1961, Wien: Europa Verlag, 1966, S.40.

[68] Vgl. URL25: Zeit Online: Hat Picht recht behalten? 14.02.2014, Online im Internet: URL: http://www.zeit.de/2014/06/bildungskatastrophe-these-georg-picht [09.05.2015].

[69] Vgl. Schützenmeister, J.: Professionalisierung und Polyvalenz in der Lehrerausbildung, Dissertation, Marburg: Tectum Verlag, 2002, S.155.

[70] Vgl. URL26: Roux, S.: Pisa und die Folgen: Der Kindergarten zwischen Bildungskatastrophe und Bildungseuphorie, Online im Internet: URL: http://www.kindergartenpaedagogik.de/967.html [09.05.2015], S.3.

[71] Vgl. ebd., S.4.

[72] URL27: Homepage des Bundesarchives, Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung, Online im Internet: URL: http://v.gd/IWFNNf [09.05.2015].

[73] Vgl. Deutscher Bildungsrat: Empfehlungen der Bildungskommission, Strukturplan für das Bildungswesen, Stuttgart: Klett Verlag, 1972, S.103f.

[74] Vgl. ebd., S.107.

[75] ebd., S43.

[76] Vgl.ebd, S43.

[77] Vgl. Aden-Grossmann, W.: Der Kindergarten, a.a.O., S. 158f.

[78] Vgl. Deutscher Bildungsrat: a.a.O., S98.

[79] Vgl. ebd., S102.

[80] Vgl. Vgl. Aden-Grossmann, W.: Der Kindergarten, a.a.O., S. 159.

[81] Deutscher Bildungsrat: a.a.O., S108.

[82] Vgl. Schützenmeister, J.: a.a.O., S.210.

[83] Vgl. Deutscher Bildungsrat: a.a.O., S21.

[84] Vgl. Aden-Grossmann, W.: Der Kindergarten, a.a.O., S. 169.

Ende der Leseprobe aus 88 Seiten

Details

Titel
Die Liberalisierung der Kinderbetreuungsplätze. Behördliche Steuerung beim Ausbau der Berliner Kita-Landschaft
Hochschule
Alice-Salomon Hochschule Berlin  (Paritätische Bundesakademie)
Note
1,3
Autor
Jahr
2015
Seiten
88
Katalognummer
V338860
ISBN (eBook)
9783668289291
ISBN (Buch)
9783668289307
Dateigröße
3532 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Sozialmanagement, Kita-Landschaft, SGB VIII, KitaFöG, KiFöG, Kita-Eigenbetrieb, Kinderbetreuung, Jugendhilfe, Bedarfsatlas, Kleinkinderbewahranstalt, Kindergarten, Bildungspolitik, Bildung
Arbeit zitieren
Ali El-Khatib (Autor:in), 2015, Die Liberalisierung der Kinderbetreuungsplätze. Behördliche Steuerung beim Ausbau der Berliner Kita-Landschaft, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/338860

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