Abenteuerpädagogik und strukturale Bildungstheorie. Ein Versuch der Präzisierung des Bildungsbegriffs in der Theorie der Abenteuerpädagogik


Master's Thesis, 2011

67 Pages


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Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Abenteuer und Bildung nach Peter Becker
2.1 Gesellschaftsanalyse
2.2 Identitätsproblematik
2.3 Das/Die Fremde
2.3.1 Fremde in unserer Kultur
2.3.2 Das Fremde in uns
2.3.3 Genese des Fremden
2.3.4 Fremde und Beziehung zu Bildung am Beispiel der Zeitmodi
2.4 Das Abenteuer als Handlungsmodell
2.4.1 Strukturmerkmale des Abenteuers
2.4.2 Schematische Darstellung des Abenteuers
2.4.3 Die Krise als Ort der Bildungstransformation
2.4.3.1 Krise in der Objektiven Hermeneutik
2.4.3.2 Die "Krise" in der Theorie der Abenteuerpädagogik
2.5 Zusammenfassung des bildungstheoretischen Kern der Abenteuerpädagogik

3. Strukturale Bildungstheorie nach Marotzki
3.1 Gesellschaftsanalyse
3.1.1 Die These der Individualisierung
3.1.2 Die These der Kontingenzsteigerung
3.1.3 Konsequenzen
3.2 Lernebenenmodell Gregory Bateson
3.2.1 Batesons Argumentationskontext
3.2.2 Das Lernebenenmodell
3.2.3 Zusammenfassung
3.3 Marotzkis Entwurf von Subjektivität
3.3.1 Subjektivität und Kontextur
3.3.2 Subjektivität und Bedeutungsverleihung
3.3.3 Subjektivität und Temporalitätsstruktur
3.4 Bildung bei Marotzki
3.4.1 Reflexiver Bezug zu Lernvoraussetzungen
3.4.2 Modalisierung von Welt und Selbstreferenz
3.4.3 Singuläre vs. ubiquitäre Deduktionsprinzipien
3.4.4 Kontexturtransformation
3.4.5 Temporalitätsstruktur des biographischen Entwurfs
3.4.6 Polykontexturalität und Verzicht auf Teleologie
3.5 Zusammenfassung

4. Präzisierung des Bildungsbegriffes
4.1 Grundlegende Annahmen beider Theorien zu Gesellschaft und Individuum
4.2 Zusammenfassung Bildung bei Marotzki
4.3 Erweiterung des Abenteuermodells

5. Fazit

Quellenangabe

Darstellungsverzeichnis

Wichtiger Hinweis im Sinne des Gleichbehandlungsgesetzes:

Aus Gründen der leichteren Lesbarkeit wird in der folgenden Arbeit auf eine geschlechtsspezifische Differenzierung, wie z.B. Teilnehmer/Innen, verzichtet. Entsprechende Begriffe gelten im Sinne der Gleichbehandlung für beide Geschlechter.

Abenteuerpädagogik und strukturale Bildungstheorie 4

1. Einleitung

„Jede Gelegenheit sich selbst zu verändern, ist eine Gelegenheit, die Welt zu verändern“ Paulo Coelho Pädagogik versucht ebenfalls zu verändern, und zwar in der Regel das Verhalten von Adres- saten pädagogischer Intervention. Die Abenteuerpädagogik stellt eine besondere Form der Pädagogik dar, in der das Strukturmodell des Abenteuers als handlungsleitendes Modell im Mittelpunkt steht. Es besitzt hohe Attraktivität, sowohl für Adressaten abenteuerpädagogi- scher Settings, als auch für Pädagogen, da es einen Lern- und Bildungsraum außerhalb üb- licher pädagogischer Institutionen wie Schule oder sozialer Hilfeeinrichtungen öffnet, sei es durch eine Wanderung im südspanischen Andalusien oder eine Kanutour durch Nordschwe- den.

Jede auch noch so erfolgreiche praktische Arbeit bedarf jedoch einer soliden Theorie, auf die sich gestützt werden kann.

Die Theorie der Abenteuerpädagogik entgeht der weitverbreiteten Kritik (z.B. Schott 2009), dass Erlebnisse sich nicht planen lassen und demnach nicht pädagogisch nutzbar seien, indem in der Theorie der Abenteuerpädagogik nicht das Erlebnis, sondern das Strukturmo- dell des Abenteuers in den Fokus gestellt wird. Der Marburger Sportsoziologe Peter Becker beschreibt mit diesem Modell strukturelle Bedingungen für die Möglichkeit von Bildungspro- zessen.

Diese Arbeit setzt sich kritisch mit dem Bildungsverständnis dieser Theorie auseinander. Die strukturale Bildungstheorie Winfried Marotzkis dient dazu als Kontrastfolie. Sie wird die theo- retische Erweiterung des Bildungsbegriffes der Abenteuerpädagogik sowie eine qualitative Differenzierung von Lern- und Bildungsprozessen und deren Verortung im Modell des Aben- teuers ermöglichen. Die Forschungsfrage lautet: "Wie kann die Bildungstheorie Winfrieds Marotzki bei der Beschreibung und Erklärung von im Abenteuer ablaufenden Lern- und Bil- dungsprozessen dienen?"

Das Abenteuer stellt das Subjekt in den Mittelpunkt. Dieses setzt sich im Abenteuer mit un- bekannten Situationen auseinander. Die dort ablaufenden Prozesse sind radikal von Seiten des Subjektes zu denken. Die strukturale Bildungstheorie Winfried Marotzkis findet aktuell Anwendung in der Medienpädagogik (vgl. Marotzki 2009), ist aber auch auf die Abenteuer- pädagogik übertragbar. Sie beschreibt subjektive Lern- und Bildungsprozesse und ihre Kon- texte.

Diese Arbeit stellt den Versuch dar, die bildungstheoretischen Erkenntnisse der strukturalen Bildungstheorie aufzuarbeiten und für die Abenteuerpädagogik fruchtbar zu machen.

Der Fokus liegt auf der Beschreibung von Lern- und Bildungsprozessen im Lernebenenmodell sowie der Ausarbeitung des Bildungsbegriffes.

Dieses Ziel dient drei Zwecken. Erstens schafft theoretische Präzisierung des bildungstheo- retischen Kerns Anschlussmöglichkeiten an weitere wissenschaftliche Forschung für die Theorie der Abenteuerpädagogik. Bildungsprozesse in abenteuerpädagogischen Settings werden empirisch zugänglich. Zweitens liefert diese Arbeit durch die Verortung von Lern- und Bildungsprozessen im Abenteuermodell die Möglichkeit der Reflexion abenteuerpäda- gogischen Arbeitens auf neuen theoretischen Ebenen. Drittens werden die Möglichkeiten und Grenzen von Bildungsprozessen in der Abenteuerpädagogik schärfer formuliert, was zu einer genaueren Verortung der Abenteuerpädagogik innerhalb der gesellschaftlichen Bil- dungsdebatte führen kann.

Angesichts der knappen zeitlichen Rahmung dieser Arbeit und der Zielstellung werden be- stimmte Schwerpunkte gesetzt. So ist nicht Ziel der Arbeit, beide Theorien in ihrer ganzen Komplexität darzustellen. Auf Seiten der Abenteuerpädagogik wird sich auf die Darstellung der theoretischen Grundlagen der Abenteuerpädagogik, des Abenteuers und der Krise be- schränkt. Auf Seiten der strukturalen Bildungstheorie wird auf eine ausführliche Darstellung der Entwicklung dieser Theorie sowie der empirischen Methoden zur Untersuchung dieser Theorie verzichtet.

Dazu wird in Kapitel 1 die Theorie der Abenteuerpädagogik in der für die Arbeit wichtigsten Punkten dargestellt. Die Gesellschaftsanalyse Beckers sowie sein Verständnis von Fremde werden Einsichten in die Theorie des Abenteuers geben. Darauf folgen eine detaillierte Dar- stellung des Abenteuers und eine Zusammenfassung des Bildungsbegriffes in der Abenteu- erpädagogik.

Kapitel 2 beschäftigt sich mit dem Bildungsverständnis der strukturalen Bildungstheorie Winf- ried Marotzkis. Nach Skizzierung der theoretischen Hintergründe wird das Lernebenenmodell Gregory Batesons beschrieben, da es als Grundlage dieser Bildungstheorie dient. Nach ver- tiefender Darstellung des von Marotzki verwendeten Subjektivitätsbegriffes wird der Bil- dungsbegriff erörtert.

In Kapitel 3 werden die Schnittmengen und Unterschiede beider Theorien beschrieben, um abschließend das Bildungsverständnis der strukturalen Bildungstheorie für das Abenteuer aufzuarbeiten und in diesem verortet.

2. Abenteuer und Bildung nach Peter Becker

Ziel dieses Kapitel ist es, die Abenteuerpädagogik in ihren wichtigsten Schwerpunkten für die Frage nach ihrer Bildungstheorie aufzuarbeiten. Die drei Schwerpunkte dafür sind: Verortung der Abenteuerpädagogik in der Gesellschaft, Umgang mit der Fremde als konstitutives Moment von Subjektivität und das Abenteuer als Handlungsmodell. Der erste Punkt beschäftigt sich mit der Frage nach der Verortung der Abenteuerpädagogik und ihrem Bildungsgedanken in der modernen Gesellschaft. Dazu werden die Darstellungen Peter Beckers zum aktuellen gesellschaftlichen Kontext und seinen Folgen für die Konstitution von Subjektivität entfaltet. Im zweiten Punkt wird der Umgang mit der Fremde, als konstutitives Merkmal von Subjektivität und seiner Beziehung zu Bildung näher beleuchtet. Abschließend wird das Handlungsmodell des Abenteuers analysiert. Dazu dient eine schematische Differenzierung des Modells in Phasen und eine ausführliche Darstellung des in der Abenteuerpädagogik verwendenten Krisenbegriffs, um einen kritischen Blick auf die bildungstheoretischen Grundlagen der Abenteuerpädagogik zu werfen und Anknüpfungspunkte für einen Vergleich der Bildungstheorien darzulegen.

2.1 Gesellschaftsanalyse

Die Thesen zur aktuellen Gesellschaft des Soziologen Peter Becker können als kritische Bewertung der Situation der in ihr lebenden Menschen gelesen werden. Einer der zentralen Gedanken ist es, dass wir in einer Gesellschaft "beschleunigter Erfahrungsveraltung" (Be- cker 2008, 7) leben.

In diesem gehen die Differenzen zwischen Erfahrung und Erwartung immer weiter auseinan- der. Es treten nur noch selten Situationen auf, in denen wir auf bewährte Erfahrungen und Handlungsmuster zurückgreifen können (vgl. ebd., 129). Dem Philosophen Odo Marquard folgend konstatiert Becker, dass wir immer stärker das Gefühl der Vertrautheit verlieren. Si- tuationen, in denen Erfahrungen gemacht wurden, treten immer seltener auf. Erfahrungen, verstanden als handlungsleitende und -entlastende Routinen, verlieren an Orientierungskraft (vgl. Becker 2008).

Gleichzeitig nehmen Situationen zu, in denen das Subjekt mit Neuem konfrontiert ist. Der „sich beschleunigende Veraltungsprozess“ von Erfahrung (Becker 2003,129) führt Becker zu der Erkenntnis, dass bewährte Handlungsmuster weniger Orientierungskraft besitzen und gleichzeitig fremde, unbekannte Situationen stärker auftreten. Das „Resultat ist eine Welt, in der leicht das Gefühlt der Fremdheit aufkommt“ (Marquard 1986 in Becker 2008, 129). Man gerät in die Lage von Kindern, da man sich nicht durch stetigen Zuwachs an Erfahrungen in der Welt orientieren kann, sondern sie immer wieder neu erkunden muss (vgl. Becker 2008, 129f.). Pointiert formuliert hieße das, es geht um die Auflösung von Erfahrungen aus ihren spezifischen, räumlichen, zeitlichen und sozialen Kontexten. Peter Becker spricht in diesem Zusammenhang von einer „tachogenen Weltfremdheit“ (Becker 2008, 7). Sie ist durch die beschleunigte Veränderung und zunehmende Offenheit der Zukunft gekennzeichnet. Bezüg- lich dieser Offenheit und Fremde ergeben sich bei Becker vier weitere Konsequenzen für das Individuum in der heutigen Gesellschaft.

Erstens führen die zunehmende Neuerungsgeschwindigkeit und damit auch die schneller Veränderung der Wirklichkeit zu einer „Situation der Vorläufigkeit“ (Becker 2003, 130), in der das Individuum in seine „Lebensplanung diese Vorläufigkeit einbeziehen muss.“ (ebd.). An- ders formuliert muss das Individuum lernen, mit einer unsicheren, nicht bis ins Detail planba- ren Zukunft umzugehen. Zweitens können die Offenheit der neuen Situation und die Unbe- stimmtheit der Zukunft dazu führen, dass sich das Individuum bedroht und überfordert fühlt. Es kann sich bei Auftreten von Ängsten an feste Routinen klammern und somit die gegebene Offenheit wieder schließen, aber sich damit auch Bildungsprozessen verschließen. Der dritte Punkt, auf den Becker hinweist, bezieht sich auf die Zunahme der Handlungsoptionen inner- halb der Gesellschaft, welche die Chancen autonomer Lebensgestaltung erhöhen. Gleichzei- tig wird jedoch auch der Handlungsdruck, die Verantwortung etwas zu tun, eine Chance zu ergreifen, stark erhöht, und damit auch bei Misslingen der Lebensgestaltung schnell der Vorwurf mangelnder Kompetenz gemacht. Viertens fordern die neu entstehenden Alternati- ven im Lebensentwurf Entscheidungen für und gegen bestimmte Optionen. Das eigene Han- deln wird angesichts einer prinzipiell geöffneten Zukunft risikoreich (vgl. Becker 2003, 131f.) Zusammenfassend kann konstatiert werden, dass für Becker die moderne Lebenssituation geprägt ist von Unbestimmtheit und einer offenen Zukunft. Damit einhergehend entsteht auf der einen Seite eine Optionssteigerung und -differenzierung der Handlungsmöglichkeiten der Subjekte, auf der anderen Seite jedoch auch Mangel an traditionellen Handlungsorientie- rungen durch zunehmende Erfahrungsveraltung. In dieser Situation wird das Individuum vor steigende Anforderungen an sich selbst und die Gesellschaft gestellt.

2.2 Identitätsproblematik

Die von Becker beschriebenen Gesellschaftsstrukturen wirken sich auf die in ihnen lebenden Individuen und ihre Identität aus. Aus der schnelleren Erfahrungsveraltung der „tachogenen Gesellschaft“ (Becker 2008, 7) und den Folgen von Orientierungslosigkeit angesichts der Unzulänglichkeit tradierter Handlungsmuster öffnet sich die Zukunft des Individuums der Offenheit und Unbestimmtheit (vgl. Becker 2007, 44).

Das Individuum muss sich zwangsläufig mit dieser Situation auseinandersetzen, muss Ent- scheidungen für seinen Lebensweg treffen, für seine Identität. Diese Identität konstituiert sich zwischen Vorläufigkeit der Lebensplanung und der Optionszunahme an Wahlmöglichkeiten (ebd.).

Becker beschreibt mit Bezug auf Rosa (Rosa 2002, 280 in Becker 2007, 44) die „immer ra- santer ablaufende Erosion identitätsstiftender und verbindlich handlungsleitender Traditio- nen“ (Becker 2005, 44) als Fakt für das Individuum, welchem es sich zu stellen gilt. „Zuneh- mende funktionale Differenzierung, Pluralisierungstendenzen und Optionszunahmen" (Be- cker 2007, 44) stellen immer höhere Anforderungen an „die Selbstfindung der Subjekte“ (ebd.).

Die Chancen autonomer Lebensgestaltung wachsen. Damit wächst auch die Verantwortung des Subjekts. In dieser Situation der Vorläufigkeit, einhergehend mit größer werdendem Handlungs- und Entscheidungsdruck, kann und muss das Individuum Entscheidungen treffen. Es kann sich dieser Wahl in der heutigen Gesellschaft nicht mehr entziehen. Becker folgert daraus, dass die Notwendigkeit autonomer Lebensgestaltung für jedes Individuum unserer heutigen Gesellschaft gilt. Es muss sich:

„gattungsgeschichtlich gesehen, der Entwurf eines Subjekts herausbilden, in dem die geöffnete Zu- kunft als ständige Herausforderung begriffen wird, an deren Bewältigung und Gestaltung sich die Sub- jekte in immer sich erneut stellenden Entscheidungssituationen ein Leben lang abarbeiten müssen“ (Becker 2008, 131).

Das sich bildende Subjekt wird als eigenverantwortlich für den Umgang mit seiner geöffneten Zukunft charakterisiert. Eben weil es nicht auf tradierte Muster zurückgreifen kann, weil die Normalbiographie ihre Gültigkeit verliert, ist das Subjekt in seinen Entscheidungssituationen auf sich selbst zurückgeworfen.

Der geöffneten Zukunft als konstitutiver Fakt für Subjektivität der modernen Gesellschaft gilt es sich permanent zu stellen, um den Anspruch auf autonome Lebensgestaltung nicht zu verlieren. Die Vor- sowie Nachteile für das Subjekt sind für Becker eindeutig. Die Subjekte erhalten „mit dem Verlust einer verbindlichen Orientierung (…) nicht nur die Möglichkeit, ihren Selbstentwurf vermehrt nach eigenen Fähigkeiten, Wünschen und Bedürfnissen selbst zu gestalten, sondern es wird auch erwartet, daß sie die Chance zur Selbstgestaltung aktiv ergreifen“(Becker 2007, 44).

Daraus folgt für Becker, dass diese Chancen der aktiven Selbstgestaltung, „die Möglichkeit zur autonomen Entscheidung [als] konstitutives Merkmal jeden Subjekts und jeder Lebenspraxis [gilt]“ (Becker 2003, 131).

Zusammenfassend kann hier bezüglich der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und damit einhergehenden Situation der Subjekte mit Becker konstatiert werden, dass „das Konzept eines selbstverantwortlichen Subjekts, das im Vertrauen auf die Chancen einer offenen Zukunft seine Bildungspotenziale dadurch entwickelt, daß es die angebotenen Alternativen als Herausforderungen begreift und seine Routinen aufgibt, um sich in krisenhafter Entscheidungsfindung zu bewähren oder zu scheitern.“ (Becker 2003, 133).

2.3 Das/Die Fremde

Die Situation der geöffneten Zukunft und ihrer Unbestimmtheit verdichtet sich in Beckers Begriff der Fremde (Becker, 2008). Die Auseinandersetzung mit ihr gilt als entscheidendes Moment für die Bildung von Subjektivität, denn „bis an das Lebensende bleibt die Auseinan- dersetzung mit Fremdem und Fremden ein Motor für den eigenen Bildungsprozess..." (Be- cker 2008,12). In diesem Abschnitt wird Beckers Verortung des Fremden in unserer Kultur und anschließend im Subjekt selbst beschrieben und erklärt. Im dritten Punkt wird die Gene- se des Fremden sowie eines möglichen Habitus diesbezüglich in der Theorie der Abenteuer- pädagogik dargelegt und zum Abschluss auf Beckers Verknüpfung von Fremde und Bil- dungsprozess an seinem Beispiel der Erfahrung verschiedener Zeitmodi eingegangen. Diese Verknüpfung wird in dieser Arbeit an späterer Stelle wieder aufgenommen und bezüglich der Bildungstheorie erneut kritisch untersucht.

2.3.1 Fremde in unserer Kultur

Ausgehend von seiner soziologischen Analyse kommt Becker zu dem Ergebnis, dass das Fremde „nicht mehr nur an den Rändern und Grenzen unserer Welt zu finden [ist], sondern mitten in unseren Alltag hineingewandert [ist]“ (Becker 2008,1). Als Beispiele dafür nennt er die Yucca Palme, Espresso und Capoeira. Doch die Öffnung gegenüber dem Fremden hat auch gleichzeitig Schließungen zur Folge: „Multikulturellen Gartenfesten stehen No-Go- Areas gegenüber“. (ebd.)

Mögliche Umgangsweisen mit dem Fremden, Dämonisierung und Idealisierung, sieht Becker schon zu Zeiten der portugiesischen Seefahrer und französischen Weltumseglern angelegt. Erstere berichteten mit ihren Erzählungen von „Völkern, die Monstern gleichen, Reisende verspeisten (…) oder die wie die Kynokephalen, die Hundsköpfler, sich über Bellen verständigen“ (Becker 2008,3).

Die Reduktion des Fremden auf diese Art von Fremdbildern ist mit Mario Erdheim plausibili- siert:

„Die Konstruktion monströser verzerrter Fremdbilder [als] das Ereignis einer Abspaltung der eigenen unerwünschten, bösen, üblen, verpönte Anteile und Wünsche ist [es], die dem Fremden zu geschrieben werden. Die psychohygienische Funktion wird unmittelbar verständlich. Das Eigene wird zum Guten und das Fremde zum Bösen. Und gegen das Böse darf man sich zur Wehr setzen, auch mit aggressiven Mitteln“(Becker 2008, 9f.).

Diese Art der Dämonisierung rechtfertigt einen gewaltsamen Umgang mit dem Fremden, verhindert aber auch, was Becker einen „angemessenen Umgang“ (Becker 2008, 4) mit diesem Fremden nennt.

Zweite Möglichkeit eines Umgangs mit dem Fremden besteht in seiner Idealisierung. Dazu wird das Beispiel den französischen Seefahrer und Botaniker Philibert de Commerson angeführt. Dieser berichtet von einem wahrhaften Paradiesgarten auf seiner Reise.

„Geboren unter dem schönsten Himmelstrich, genährt von den Früchten eines Landes, das fruchtbar ist, ohne bebaut zu werden, eher von Familienvätern als von Königen regiert, kennen sie keinen anderen Gott als die Liebe“ (Commerson zit. b. Bitterli 1987, 17 f. in Becker 2008,4).

Diese Erzählung kann als eine implizite Kritik der bestehenden Herrschaftsverhältnisse des 18. Jahrhunderts, sowie eine Formulierung von nicht verwirklichten Wünschen verstanden werden. Dennoch verhindere auch diese Haltung einen angemessenen Umgang1 mit dem Fremden, weil auch dort keine Distanz zu ihr aufgebaut werden kann(ebd.).

2.3.2 Das Fremde in uns

Dass diese Fremde nicht nur in unserer Gesellschaft besteht sondern auch im Subjekt selbst, verdeutlicht Becker mit dem Beispiel von Freuds Psychoanalyse. Zum einen führt Becker das ‚Es‘ aus Freuds Psychoanalyse an. Seine triebhafte Natur und unlogische Ratio- nalität sowie Morallosigkeit gilt es so weit wie möglich zurückzudrängen (vgl. Becker 2008 7f.).

Als Pendant dazu dient bei der Entdämonisierung unserer Leiblichkeit ihre Befreiung von den Lastern der Zivilisation. Die Naturhaftigkeit des Leibs und die Natur als solche sind das Ideal, welchem es nachzustreben geht (vgl. Becker 2008,8)

2.3.3 Genese des Fremden

Zur näheren Bestimmung von Fremde und Fremdheitserfahrungen um sowie in uns, geht Becker im Folgenden der Frage nach der Genese des Fremden an sic h nach. Er bezieht sich dabei auf den Psychoanalytiker Mario Erdheim und beschreibt die Wurzeln der Fremdheitswahrnehmung in unserer frühen Lebensgeschichte.

„Bereits mit dem Geburtsvorgang, der ersten großen Ablösungskrise in der Bildungsgeschichte der Subjekte, sind wir mit Fremdem, Unbekanntem, Irritierenden konfrontiert. Mit einem Male ist die soma- tische Situation des Neugeborenen eine andere als vor der Geburt. Die fötale Zirkulation muss auf Lungenatmung umgestellt werden, aktive Nahrungssuche wird notwendig, der Wahrnehmungsapparat muss anders eingestellt werden. Dieser Schockzustand wird im Allgemeinen mit bergender Wärme und beruhigenden Gesten der Mutter aufgefangen. Aber nichts kann verhindern, daß von nun an die Zukunft geöffnet und das Fremde, Ungewisse, das Unbekannte in die Welt des Neugeborenen ge- kommen ist. Es gibt keine Rückkehr mehr zur ursprünglichen Verbundenheit“ (Becker 2008,9).

Die erste Wahrnehmung von Fremde beginnt demzufolge bei der Geburt des Kindes. Die damit verbundenen Ablösung, welche Becker an anderer Stelle auch mythologisch als „die Vertreibung aus dem Paradies, dem Ende des Goldenen Zeitalters“ (ebd.) bezeichnet, bringt die erste Konfrontation des Subjekts mit Fremdem und die unumgängliche Öffnung seiner Zukunft mit sich. In dieser anfänglichen Situation des Kindes mit der Symbiose mit der Mutter wird auch das entscheidende Moment gesehen, in dem sich die Haltung gegenüber Fremde und Zukunft bildet.

„Die anfänglich enge Symbiose mit der Mutter ist die Phase, in der sich wichtige Habitusformation2 herausbilden, die für die Art des Umgangs mit Fremdem und ungewisser Offenheit später mitentscheidend sind. Die Nähe der Mutter, die im Notfall eingreifen kann, lässt Sicherheitsbedürfnisse in den Hintergrund treten und lässt damit mehr Neugier zu, so daß sich die Exploration ins Fremde auch lohnt. Ihre Präsenz sorgt dafür, daß die Präsenz überflüssig wird und umgekehrt die Autonomie des Kindes wachsen kann“ (Becker 2008,10).

Die symbiotische Phase mit der Mutter stellt bei Becker die entscheidenden Rahmenbedin- gungen für die Konstitution von Fremdheitsrepräsentanzen und den Umgang mit Fremde und Ungewissheit dar. Die Möglichkeit gesicherter oder beschützter Exploration spielt dabei eine entscheidende Rolle. Wie fügt sich aber die Sicherheit, die von der Mutter gegeben wurde, in einen fest verankerten Habitus des Kindes? Anders gefragt: Wo bleibt dieses Ge- fühl der Sicherheit, dieser Habitus gegenüber der offenen Zukunft, wenn die Mutter nicht anwesend ist? Die Antwort gelingt in Bezug auf den Gestaltpsychologen Bischof (Bischof 1997, 469 in Becker 2008,S 10):

„Phänomenologisch wird sinkende Abhängigkeit ähnlich wie steigende Sicherheit erlebt. Aber diese zusätzliche ‚Sicherheit‘ kommt nun von innen, sie bleibt erhalten, auch wenn die Mutter nicht mehr verfügbar ist. Sie wird als Selbst-Sicherheit erfahren! Die Rolle des vertrauten Spenders von Geborgenheit ist gewissermaßen von der Mutter auf das eigene Ich oder, in komplementärer Perspektive, auf die ganze Welt übergegangen“ (ebd.).

Die Sicherheit der Mutter wird demnach durch das Kind aufgenommen und auf sich selbst, beziehungsweise seine ganze Umwelt, übertragen. Diese positive Grundhaltung gegenüber sich und der Welt wird von Becker auch, an Anlehnung an Ulrich Oevermann, als strukturellen Optimismus bezeichnet. Auf seine für das Abenteuer und den Umgang mit Fremdem elementare Funktion erneut Becker:

„Dieser Optimismus sorgt dafür, daß in krisenhaften Situationen die Überzeugung nicht verloren geht, daß sich die Dinge zum Besten wenden werden, auch wenn es ganz dicke kommt - im Zweifelsfalle wird es gut gehen. Diese Haltung und Bereitschaft, die keiner Krise ausweicht, fördert die Auseinandersetzung mit Fremdem und die Suche nach noch Unbekanntem und neue Erfahrungen. Bewährungssituationen verlieren ihren Schrecken. Auf dieser Basis wird sich eine ganz andere Lebenspraxis entwickeln als auf einer, die eher zu einem strukturellen Pessimismus neigt, der erwartet, daß sich die Dinge im Zweifelsfalle eher zum Schlechteren wenden“(Becker 2008, S 10).

Wer glaubt „sich auf die Welt, das Leben, die Menschen und nicht zuletzt auf sich selbst ver- lassen zu können“ (Bischof o.J., 545 in Becker 2008, 10), der lässt sich nicht so schnell ent- mutigen und dem ist aggressive Feindseligkeit und Ablehnung gegenüber fremden Situatio- nen eher fremd“ (ebd.). Der strukturelle Optimismus fördert eine Grundhaltung, die auch in krisenhaften Situationen, in denen mit Fremdem und Widerstand umzugehen ist, versucht, die Handlungssequenz fortzusetzen anstatt den Widerständen aus dem Weg zu gehen. Be- cker spricht in diesem Zusammenhang vom strukturellen Optimismus als der entscheidenden energetischen Instanz, welche sich im Gefühl der potenziellen Bewältigung von ungewissen Situationen niederschlägt (vgl. Becker 2008 , 10).

Als Beispiel für die fortlaufende Differenzierung der Welt wird die kindliche Entwicklung, genauer die Achtmonatsangst des Kindes, angeführt. Das Kind lächelt nun nicht mehr alle sich nähernden Gesichter an, sondern reagiert erstmals mit ängstlicher Ablehnung. Das Vertrauensverhältnis zum Anderen, zum Fremden, muss erst in einer krisenhaften Situation hergestellt werden (vgl. Becker 2008, 11).

„Diese nicht vermeidbare Krisenhaftigkeit im Sinne, daß plötzlich bereits vorhandene Wahrnehmungsroutinen bei etwas Fremdem nicht mehr greifen - sonst wäre es ja nichts Fremdes - gilt für den Umgang mit fremden Sachen, fremden Situationen oder für den Umgang mit fremden Personen gleichermaßen“ (vgl. Bischof, 1997 in Becker 2008, 12).

Die Fremdheitserfahrungen und die Krisenhaftigkeit der Situationen kann, so denkt Becker angelehnt an Bischof, auf alle anderen Situationen übertragen werden. Die durch den struk- turellen Optimismus vermittelte Haltung stellt somit die Grundsituation der Weltaneignung dar.

Becker denkt diesen Schritt konsequent in Beziehung zu Bildungsprozessen weiter, wenn er schreibt: „Bis an das Lebensende bleibt die Auseinandersetzung mit Fremdem und Fremden ein Motor für den eigenen Bildungsprozess und eine Garantie für eine autonome Lebenspra- xis“ (Becker 2008, 12). In der Auseinandersetzung mit Fremde konstituiert sich das Subjekt. „Der Kontakt mit Fremdem ist eine existenzielle Notwendigkeit, soll sich ein autonomes Ich heranbilden“ (ebd.). Die Fremde ist für Becker also der Ort, an dem sich Autonomie und da- mit Selbstbestimmung des Subjekts konstituiert. Die Aufforderung nach Auseinandersetzung mit der Fremde in seiner Theorie der Abenteuerpädagogik ist daher für ihn naheliegend.

Zusammenzufassen ist, dass die Auseinandersetzung mit der Fremde für Becker der Moment ist, in dem sich das Subjekt in seiner Autonomie konstituieren kann. Ausgehend von der Geburt, als unwiderrufliche Öffnung des Subjekts gegenüber der Unbestimmtheit der Zukunft und der damit potenziell immer auftretenden Fremde, muss sich das Subjekt sein ganzes Leben lang dieser Herausforderung stellen.

„Bis zur Ablösung von der Herkunftsfamilie durchlaufen Kinder und Jugendliche einzelne Moratorien, in denen sie sich stufenweise und sukzessiv jene interne Ausstattung aneignen können, die sie benötigen, um sich mit den fremden Situationen der jeweils folgenden Lebensphasen auseinandersetzen zu können“ (2008, 13).

Der strukturelle Optimismus dient dabei als förderlicher Katalysator im Umgang mit der Fremde und zwar in der Formung eines Habitus, der den Umgang mit Fremde als Herausforderung sieht.

2.3.4 Fremde und Beziehung zu Bildung am Beispiel der Zeitmodi

Die Auseinandersetzung mit Fremde ist nach Becker als "Motor von Bildungsprozessen" (vgl. Becker 2008, 12) zu verstehen. Dies führt er am Beispiel der Erfahrung verschiedener Zeit- modi im Abenteuer aus. Um die Erfahrung des Fremden zu gewährleisten, ist es notwendig, Distanz zu seiner alltäglichen Lebensform zu schaffen. Das geschieht für Becker durch den „Gang ins Fremde“ (ebd., 16). Als Beispiel gibt er den Bergwanderer, der entgegen der dem Alltag üblichen Zeitwahrnehmung, der exakten Zeittaktung mit Terminkalender, Uhr und Tempobeschleunigung, im Gang in die Berge auf einen andere Zeiterfahrung stößt. Diese ist geprägt von natürlichen Zeitabläufen, vom Tag-/Nachtrhythmus sowie der eigenen körperli- chen Bedürfnislage. Es werden andere Zeitmuster bewusst erfahren, die in Differenz zum Alltäglichen stehen (vgl. Becker 2008,16f.). Hier ist implizit ein konstitutives Merkmal der Er- fahrung von Fremde angedeutet: Es ist der Aufbruch aus routinierten, bekannten (Zeit-) Mus- tern. Erst durch die Schaffung von Distanz zu diesen Mustern kann man sie überhaupt (wie- der) erfahren. Becker dazu : (Becker 2008, 16):

„Nur wenn ein Aufbruch aus der eigenen routinisierten Lebensform stattfindet, kann diese dem Alltag weitgehend fremd gewordene Lebensform erfahren werden. Gleichzeitig kann damit das Eigene, in dem wir uns sonst immer bewusstlos bewegen, auf Distanz gebracht werden. Erst in diesem Prozess der Distanzierung oder der Zurücklassung des Gewohnten wird es möglich, über den Gang ins Fremde uns selbst zu betrachten und zu erkennen“ (Becker 2008, 16).

Die Distanz zum Alltag, das Einnehmen eines anderen Standpunktes durch die Erfahrungen im Abenteuer sind zwingend notwendig, um die Gewohnheiten reflektieren zu können. Becker folgt dabei Plessner:

„Man muss der Zone der Vertrautheit fremd gewordensein, um sie wieder sehen zu können (…), wir nehmen nur das Unvertraute wahr. Um anschauen zu können, ist Distanz nötig (…). Nur das Unverständliche sucht man zu verstehen“ (ebd.).

Die hier angesprochene Differenzerfahrung ist notwendig, um die selbstverständlich gewor- denen Alltagsroutinen und -erfahrungen, hier im Bezug auf Zeitmuster, zu hinterfragen. All- gemeiner:

“Die durch die Erfahrung der fremden Lebensform geschaffene Differenz kann genutzt werden, um Selbstverständlichkeiten und Automatismen im Umgang mit Zeit und ihren Folgen zu reflektieren“ (Becker 2008, 17).

Becker spricht in diesem Zusammenhang vom „Sich Fremdwerden des Selbst“ (ebd.) als Teil des Bildungsprozesses. Vertiefend dazu schreibt Becker:

„in der Entäußerung an die fremde Lebensform und ihre Zeittakte und natürlich im Akt ihres Verste- hens wird das eigene Selbst erweitert. Würde das Selbst sich nicht fremd werden, mit sich identisch bleiben, käme keine neue Erfahrung zustande. Das "Eintauchen“ ins Fremde und seine Auseinander- setzung mit ihm darf keine exotische Flucht vor dem Selbst sein. Wäre es dies, würde sich kein Standpunkt ergeben, von dem aus das zurückgebliebene Dasein reflektiert werden könnte. Da die Differenz des Fremdem, - wie in allen individuellen Differenzen - im Allgemeinen aufgehoben ist, hebt sich das Selbst im Akt des Verstehens und der Anerkennung auf eine höhere Stufe des Allgemei- nen.(…) Das Allgemeine wird erst in Auseinandersetzung mit dem Fremden hergestellt“ (ebd).

Zusammenzufassen ist, dass sich das Selbst in der Erfahrung des Fremden erweitert, neue Standpunkte geschaffen werden und damit die Möglichkeit zur Reflexion gegeben wird, hier am Beispiel der Erfahrung verschiedener Zeitmodi. Es ist zu betonen, dass Distanz- und Differenzerfahrungen durch den Gang in die Fremde dieser Konzeption zufolge unabdingbar für den Fortgang des subjektiven Bildungsprozesses sind. Im Akt des Verstehens erweitert sich, mit den Worten Beckers, das Selbst.

Durch die Beschreibung der Fremde in der Abenteuerpädagogik ist nun die Grundlage für ein tieferes Verständnis des Abenteuers als Handlungsmodell der Abenteuerpädagogik in dem sich das Subjekt auf besondere Weise mit dem Fremden auseinandersetzt, gegeben. Im Abenteuer ist die Auseinandersetzung mit der Fremde in der potenziell auftretenden Krisensituation konstitutives Moment des Bildungsprozesses.

2.4 Das Abenteuer als Handlungsmodell

Bei Sichtung der Publikationen zur Abenteuerpädagogik und ihrer Bildungstheorie ist keine explizite Definition des Bildungsbegriffes Beckers zu finden. Um ihn dennoch greif- und damit vergleichbar für die Forschungsfrage3 zu machen, ist es unabdingbar, sich mit dem Hand- lungsmodell des Abenteuers eingehender zu beschäftigen. Dieses Modell kann als struktu- relle Rahmung der abenteuerpädagogischen Bildungsidee gesehen werden, in der Fremde und Krise zentrale Momente sind. Mit anderen Worten: die Bildungstheorie der Abenteuerpädagogik findet zwar nicht ihre konkrete Definition in den Publikationen Beckers, dennoch findet sie ihren Ausdruck im Handlungsmodell des Abenteuers.

In diesem Kapitel wird zuerst auf die Strukturmerkmale des Abenteuers eingegangen, so wie sie in der Abenteuerpädagogik geschildert werden. Darauf folgt eine eigene schematische Darstellung des Abenteuers, um den komplexen Ablauf und die Verweise auf Bildungspro- zesse möglichst differenziert darlegen zu können. Abschließend wird die Krisenbegriff, als „Motor der Bildungstransformation“ (Becker 2005, 232) näher beleuchtet. Dazu wird seine ursprüngliche Verwendung in der Objektiven Hermeneutik Ulrich Oevermanns rekurriert, um anschließend die von Becker vorgenommene Verortung des Begriffs für die Abenteuerpäda- gogik nachvollziehen zu können.

2.4.1 Strukturmerkmale des Abenteuers

Das Abenteuer bzw. abenteuerliches Unterwegssein wird von Peter Becker als Handlungs- modell beschrieben, welches durch seine strukturelle Rahmung dem Individuum erlaubt, in entlasteter spielerischer Form die Anforderungen an eine autonome Lebensführung zu erfah- ren.

„Das Abenteuer kann ein Ort sein, an dem in alltagsentlasteter Form dieser Wechsel zwischen gelingenden Handlungsroutinen, widerständigen krisenhaften Unterbrechungen und situationsangemessenen Lösungsfindungen spielerisch bewusst gemacht werden kann“ (Becker 2008,18).

Das Abenteuer ist im ersten Schritt gekennzeichnet durch den Aufbruch aus Vertrautem in die Fremde. Mit anderen Worten: Der Alltag mit seinen das Subjekt leitenden Hand- lungsroutinen wird während der Zeit des Abenteuers suspendiert. An den Aufbruch schließt sich eine Zwischenzeit an, in der das Subjekt in spielerischer Form, da alltags- entlastet und nicht unter Zwang der Lebensbewältigung stehend, mit dem Fremden, dem es ausgesetzt ist, umgehen muss. Die Handlungssequenzen des Subjekts sind nicht mehr durch geschlossene Alltagsroutinen bestimmt, sondern durch eine geöffnete Zu- kunft und dem „Modus der Möglichkeiten“ (Becker 2005, 242). In diesem Modus muss der Zukunft potenzielle Krisenhaftigkeit unterstellt werden. Handlungsroutinen können jederzeit zusammenbrechen und das Subjekt wird gezwungen, die durch Krise(n) geöff- nete Handlungssequenz(en) mit einer Entscheidung zu schließen.

„Der strukturelle Kern, der das Typische abenteuerlicher Situationen ausmacht, ist der Zwang zur Entscheidung. […] Für die zu treffenden Entscheidungen zwischen den zur Verfügung stehenden Handlungsalternativen gibt es keine ‚letzte‘ Sicherheit, daß sich die getroffene Entscheidung auch bewähren wird“ (Becker 2001, 11).

Der Zwang zur Entscheidung wird durch die möglicherweise auftretenden Krise(n) verursacht. Dadurch, dass keine Routinen mehr greifen, muss sich das Subjekt auf die neue Situation und ihre Besonderheit einlassen, Alternativen abwägen und entscheiden, um die Handlungssequenz fortzusetzen können.

Nach dieser krisenhaften Zwischenzeit folgt die Rückkehr. Sie ist bestimmt von der Verarbei- tung der gemachten Erfahrungen und der Reintegration in den Alltag. Das Subjekt kann sich im Abenteuer selbst fremd werden, so drückt es Becker aus. Denn, „wer unterwegs sein will, der muß Vertrautes überschreiten und sich auf Unvertrautes einlassen“ (Becker et.al 2005, 239). Dieses Überschreiten der eigenen Grenzen in das Fremde und Unvertraute dient dem Zweck, einen zum Alltag alternativen Standpunkt zu ermöglichen, von dem aus der eigene Alltag und die alltäglichen Routinen überhaupt erst betrachtet werden können. Man muss sich erst aus seinen unbewussten Alltagsroutinen und -Abläufen lösen, um sich in einer ge- wissen Distanz zu ihnen zu stehen und sie von dieser Distanz aus wieder wahrnehmen zu können. Durch diese mögliche Differenzerfahrungen und -Standpunkte zum Alltag, die im Abenteuer auftreten können, kann es gelingen, Rückschlüsse über die eigenen Handlungs- weisen zu ziehen. Wie sehen jedoch diese Rückschlüsse aus und welche Bedingungen müssen dafür vorliegen? Eine Möglichkeit der Selbstvergewisserung ist, dass die über Er- zählungen geäußerten Erfahrungen und Erwartungen weitere Momente der Selbstaufklärung und Differenzerfahrung liefern können (vgl. Becker 200, 479ff.). Es ist möglich, dass diese Erfahrungen weitreichende Konsequenzen für die Lebensgestaltung des Subjektes haben, „wenn die gemachten Erfahrungen rückwirkend ein Licht auf die bisherige Biographie werfen und die aus der Erfahrung des Abenteuers entstandene Erwartung vorausgreifend den Entwurf einer zukünftigen Biographie erweitern“ (Becker 2000, 480).

Die im Abenteuer gemachten Erfahrungen und ihre Verarbeitung bieten dem Subjekt die Möglichkeit, sich mit seiner eigenen Biographie und seinem eigenen Habitus bezüglich einer potenziell offenen Zukunft auseinanderzusetzen. Die Erfahrungen mit Offenheit und Unbe- stimmtheit, Vertrautem und Fremden, die die Struktur des Abenteuers zulässt, beziehen sich auf die „Grundsituation der Bildungsentwicklung aller Subjekte (…). [Denn würde] nicht der sichere Erwartungshorizont durchbrochen und damit auch die Zukunft offengehalten, gäbe es keine Unbestimmtheit, kein Abenteuer und auch keine Bildungsentwicklung“ (Becker 2001, 14f.).

Pointiert formuliert kann in Hinblick auf den Bildungsgedanken mit Becker gesagt werden, dass in der aktiven Auseinandersetzung mit den im Abenteuer auftretenden Situationen „Erfahrungen mit der Beschaffenheit der Dinge gemacht werden, kann sich das Wissen über die Welt und über das eigene Verhältnis zur Welt ändern“ (Becker2001, 12).

2.4.2 Schematische Darstellung des Abenteuers

Der Folgende Abschnitt stellt den Versuch dar, das Handlungsmodell des Abenteuers von Peter Becker schematisch darzustellen. Es soll dabei nicht der Anspruch nach Vollständigkeit gestellt werden, doch der Vorzug dieser Darstellung liegt in der Fokussierung des Modells auf die für unsere Forschungsfrage4 wichtigen Punkte. In der Vereinfachung durch die Schemata wird das Abenteuer in die drei schon angesprochenen konstitutiven Abschnitte5 sowie die Zwischenzeit in sechs Unterphasen eingeteilt, um es für eine exakte Verortung von Lern- und Bildungsprozessen aufzuarbeiten.

Abbildung 1 - Schematischer Ablauf des Abenteuer

I - Aufbruch

Der Aufbruch des Subjekts erfolgt von Bekanntem ins Unbekannte6. Dabei werden die Si- cherheit, Planbarkeit und Vertrauen gebenden Strukturen des Alltags, beispielsweise Familie oder Freundeskreis, für eine ungewisse Zeit hinter sich gelassen.

[...]


1 zu "angemessenem Umgang" mit Fremde detailliert in Kapitel 2.3.4

2 Habitusformation : Unter den Begriff der Habitusformation [fasst Oevermann] "jene tief liegenden, als Automatismen außerhalb der bewussten Kontrollierbarkeit operierenden und ablaufenden Handlungsprogrammierungen zusammen, die wie eine Charakterformation des Verhaltens und Handelns von Individuen kennzeichnen und bestimmen." Oevermann (2001, S 9)

3 Forschungsfrage : "Wie kann die Bildungstheorie Winfrieds Marotzki bei der Beschreibung und Erklärung von im Abenteuer ablaufenden Lern- und Bildungsprozessen dienen?"

4 Forschungsfrage : "Wie kann die Bildungstheorie Winfrieds Marotzki bei der Beschreibung und Erklärung von im Abenteuer ablaufenden Lern- und Bildungsprozessen dienen?"

5 Abschnitte : Aufbruch, Zwischenzeit, Rückkehr

6 im Folgenden synonym zum Begriff des Fremden verwand

Excerpt out of 67 pages

Details

Title
Abenteuerpädagogik und strukturale Bildungstheorie. Ein Versuch der Präzisierung des Bildungsbegriffs in der Theorie der Abenteuerpädagogik
College
University of Marburg  (Institut für Sportwissenschaft und Motologie)
Author
Year
2011
Pages
67
Catalog Number
V339007
ISBN (eBook)
9783668286788
ISBN (Book)
9783668286795
File size
949 KB
Language
German
Keywords
Pädagogik, Erlebnispädagogik, Abenteuerpädagogik, Lernprozesse, Bildungsprozesse, Marotzki, Peter Becker, Abenteuer- und Erlebnispädagogik, Abenteuer, Masterarbeit, Abschlussarbeit, strukturale Bildungstheorie, Subjekt, Subjektivität, Gesellschaft, Abenteuermodell, Fremde
Quote paper
Fabian Köpke (Author), 2011, Abenteuerpädagogik und strukturale Bildungstheorie. Ein Versuch der Präzisierung des Bildungsbegriffs in der Theorie der Abenteuerpädagogik, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/339007

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