Leseprobe
Gliederung
1. Einleitung
2. Gattungsspezifische Einordnung von Voyage au bout de la nuit
3. Unterschiede zwischen den Vergangenheiten von Céline und Bardamu
3.1 Vergleich 1: Bardamu und Céline zur Zeit des 1. Weltkrieges
3.2 Vergleich 2: Bardamu und Céline in Kolonialafrika
4. Conclusion
5. Bibliographie
1. Einleitung
Der RomanVoyage au bout de la nuit, erschienen in dem Jahr 1932, war der erste und wohl auch erfolgreichste Roman des Schriftstellers Céline. Seit seiner Herausgabe stößt er auf Ablehnung, Kritik und Bewunderung gleichermaßen.[1]Hauptgrund hierfür ist der antisemitisch-rassistische, radikale Sprachstil, den Céline verwendet und durch seinen Protagonisten Bardamu ausdrücken und zu Taten werden lässt. Auf den ersten Seiten seines Romanes erklärt er: „Notre voyage à nous est entièrement imaginaire. […] tout est imaginé” (Céline,Voyage au bout de la nuit,9). Übersetzt wird dies in der deutschen Fassung mit den Worten „Unsere Reise hier findet ganz und gar in der Phantasie statt. […] alles ist erdacht” (Céline,Reise ans Ende der Nacht,7). Wenn man das Leben Célines mit der Reise Bardamus vergleicht fallen allerdings einige Ähnlichkeiten auf, wodurch die Reise keinen „rein erfundenen” Eindruck mehr macht. Diese Parallelen zwischen Schriftsteller und Protagonisten erwecken viel mehr den Eindruck, dass das Werk eine Ausformulierung Célines Gedanken und Taten ist, geschrieben durch ihn selbst – also eine Autobiographie. Ob diese Feststellung richtig ist, oder ob es doch einige Unterschiede gibt, welche dieser Aussage widersprechen und somit doch auf Fiktion hinweisen, soll diese Arbeit klären. Hierfür wird der Roman zunächst gattungsspezifisch eingeordnet, indem das Werk anhand einer Auswahl an Romangattungen analysiert wird. Durch diese Untersuchung soll geklärt werden, ob das WerkVoyage au bout de la nuiteindeutig zuzuordnen ist, oder ob dessen Charakter auf mehrere Gattungen zutrifft. Anschließend überprüft eine Gegenüberstellung von Schriftsteller und Protagonisten, wie stark sich deren Leben überschneiden und in welchem Maß der Roman demzufolge als Autobiographie bezeichnet werden kann. Zu diesem Zweck wird zunächst Bardamus Leben in Europa (während dem 1. Weltkrieg), danach dessen Erfahrungen in Afrika mit Célines Aufzeichnungen verglichen. Die auftretenden Parallelen, sowie die Unterschiede, werden anhand von Textstellen ausVoyage au bout de la nuitaufgezeigt.
2. Gattungsspezifische Einordnung von Voyage au bout de la nuit
Es gestaltet sich schwer, das WerkVoyage au bout de la nuiteindeutig einer literarischen Gattung zuzuweisen. Dennoch soll in der folgenden Auseinander-setzung eine Auswahl an Romangattungen mitVoyage au bout de la nuitverglichen werden. Überprüft wird hierzu zunächst der historische Roman – also die zeitgenössischen Begebenheiten. Anschließend wird der Roman auf seine Einordnung in das Genre des Entwicklungsromans (die Entwicklung des Prota-gonisten) und des Schelmen-/ Pikaroromans (Wahrnehmung des Protagonisten; bzw. dessen Sozialkritik) untersucht. Am Ende der gattungstheoretischen Einordnung wird der autobiographische Roman, also die Analogie zwischen dem Schriftsteller Céline und dem Protagonisten Bardamu, analysiert.
Historische Romane werden an ihrer Authentizität und Faktizität erkannt. In derVoyagewerden historische Anspielungen eher vage und „versteckt” aufgezeigt, sind aber dennoch zu erkennen. So lernt man beispielsweise die Lage einiger afrikanischer Städte kennen und erfährt über die Herrschaftsstruktur der afrikanischen KolonieBambola-Bragamance.[2]Allerdings geschieht dies ohne zeitliches Eingrenzen. Historische Persönlichkeiten werden ebenfalls kaum erwähnt, was ein weiteres Kriterium für einen historischen Roman wäre. Die Entwicklung des Protagonisten steht mehr im Fokus als die historische Aufarbeitung derhistoire. Daher lässt sich dieVoyagenur sehr eingeschränkt als ein historischer Roman benennen.
Bardamus Entwicklung erscheint durchweg negativ. Von Beginn an zeichnet ihn starker Pessimismus und es scheint, als möchte er seine Leser von dieser Einstellung überzeugen. Ebenso zeigt er sich durchweg als Antiheld und versucht stets sich zu entlasten, was bereits in den ersten Sätzen derVoyagedeutlich wird: „Moi, j’avais jamais rien dit. Rien. C’est Arthur Ganate qui m’a fait parler” (Céline,Voyage au bout de la nuit, 11). Am Ende des Romans scheint sich diese Einstellung nicht verändert zu haben. Ein (Haupt-)Charakteristikum des Entwicklungsromans ist die (positive) Entwicklung des Protagonisten, im Sinne von einer „Einsicht” und dem darauffolgenden Umkehren des Lebensgangs.[3][4]Da dies nicht erfüllt wird, kannVoyage au bout de la nuitunter diesen Aspekten nicht als Entwicklungsroman dargestellt werden.
Der Schelmen-, bzw. Pikaroroman zeichnet sich unter anderem durch sein Reisemotiv aus. Egal an welcher Stelle seiner Reise er sich befindet, Bardamu kritisiert seine Umwelt während seiner Reise ständig und sehr heftig, was ihm vor allem durch seine starke Beobachtungsgabe ermöglicht wird. Dies wird vor allem anhand seiner schonungslosen, obszönen Sozialkritik deutlich. Ein weiteres erfülltes Kriterium des Pikaroromans ist das ständige untergeordnete Dienst-verhältnis zu verschiedenen Herren.[5]Der häufige Wechsel seiner Dienstherren ist auf die Vielzahl an Ortswechsel, bedingt durch die Reise, zurückzuführen. Bardamus Reise wird durch die Verderbtheit und die Rohheit der Welt stets vorangetrieben, da er bei Verbleiben an einem Ort nur Leiden empfindet, welches er nicht ertragen kann. Anstatt zu versuchen ein geregeltes Leben zu führen, zieht Bardamu stets weiter und flieht vor dem Elend. Sein Schelmendasein setzt er auf diese Weise fort.
Bevor eine Aussage über das autobiographische Wesen des Werkes gemacht wird, soll zunächst der Begriff der Autobiographie geklärt werden. Laut Georg Misch, einem deutschen Philosophen und Historiker, bedeutetAutobiographie„die Beschreibung (graphia) des Lebens (bios) des Einzelnen durch sich selbst (auto)” (Marszalek 1). Es ist schnell erkenntlich, dass nach dieser Definition autobiographische Züge inVoyage au bout de la nuitenthalten sind. Dennoch wäre es falsch, das Werk sofort als ein rein autobiographisches Werk zu bezeichnen. Dass dies nicht der Fall ist, ist beispielsweise daran zu erkennen, dass Céline im Jahr 1914 zwar auch verletzt wurde, allerdings am Arm und nicht am Kopf, wie Bardamu.[6]Ebenfalls können nicht alle Gedanken und Erlebnisse des Protagonisten kommentarlos auf Céline übertragen werden. Dennoch lassen sich einige Überschneidungen zwischen Célines Leben und den Erlebnissen Bardamus feststellen. Erste Erkenntnisse vermitteln daher den Eindruck, dass sichVoyage au bout de le nuitnicht als ein rein autobiographisches Werk beschreiben lässt, sich aufgrund der Parallelen jedoch durchaus als autobiographisch „angehaucht” zeigt.
[...]
[1]vgl. Arte France
[2]vgl. Céline, Voyage au bout de la nuit, 137
[3]Van Gorp 425
[4]Schweikle 125
[5]Van Gorp 430
[6]Bitter 163