Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Theorie der Schrift
1.1 Konstitutive Merkmale von Schrift
1.2 Typisierendes Modell der Schriftentwicklung
2.Ökologische und religiöse Hintergründe der Schriftentwicklung
3. Vorläufer der Schrift
3.1 Die Gegenstandsschrift
3.2 Höhlenmalereien der Eiszeit
3.3 Bilder- und Ideenschriften
4. Die Geburt der Schrift: Entwicklung einer sprachlich gebunden Lautschrift
4.1 Das Rebusprinzip
4.2 Die sumerische Keilschrift
4.3 Die ägyptischen Hieroglyphen
4.4 Die japanische Katakana - und Hiragana -Silbenschrift
5. Die Revolution des Alphabets
5.1 Die Vollendung des Alphabets in der griechischen Schrift
5.2 Unsere heutige Lateinschrift
5.3 Grenzen der modernen Alphabetschrift
Zusammenfassung und Ausblick
Literaturverzeichnis
Anhang
Einleitung
„ Wer das Alphabet erschaffen hat, hat uns den Faden unserer Gedanken und den Schl ü ssel der Natur in die Hand gegeben. “
Antoine de Rivarol
Mit Recht wird die Schrift zu den größten geistigen Schöpfungen und wichtigsten Kulturgütern der Menschheit gezählt. Dennoch sind sich die meisten Menschen ihrer Wirkungsbreite und Bedeutung nicht bewusst und halten sie für etwas Selbstverständliches. Dies mag daran liegen, dass wir, nachdem wir uns die Schrift mühsam in der Schule angeeignet haben, uns ihr als etwas Alltägliches bedienen und kaum mehr über den geistigen Vorgang an sich nachdenken. Wenn wir unsere Ideen und Gedanken zu Papier bringen, sind wir uns kaum der Tatsache bewusst, welche Möglichkeiten die Schrift der Menschheit eröffnet hat und welche langwierige Entwicklung sie bis zu ihrem heutigen Standpunkt durchlaufen hat. Schließlich war die Entfaltung des Alphabets ein komplizierter und andauernder Prozess, der sich über die Jahrtausende hinweg vollzog. Erst wenn wir ein Schriftstück in einer uns unbekannten Schrift versuchen zu verstehen, rufen wir uns nachdrücklich ins Gedächtnis, welche Leistung wir und die Menschheit vergangener Zeiten geleitet haben. Gerade der Anblick ausgestorbener Schriften, wie die ägyptische Hieroglyphenschrift oder die Keilschrift der Sumerer wecken in uns eine gewisse Faszination und drängen danach, das „Mysterium Schrift“ zu verstehen: Wie kam es zur Entstehung der Schrift? Wir entwickelte sich unser heutiges Alphabet? Und gibt es Zusammenhänge zwischen den gegenwärtigen Schriften und denen vergangener Zeiten? Diese spannenden Fragen zum Anlass, wird der zentrale Gegenstand meiner Arbeit die evolutionsgeschichtliche Entstehung, des für uns heute so selbstverständlichen Kommunikationsmittels, der Schrift, sein. Die Thematik umfasst selbstverständlich einen breites Spektrum, jedoch erfordert der Rahmen der Arbeit eine gewisse Konzentration, weshalb es nicht Ziel ist, einen Überblick über alle Schriften geben, die den Weg der Schriftentwicklung im Laufe der Jahrtausende kreuzten. Vielmehr möchte ich auf die treibenden Kräfte, die zur Entwicklung der Schrift beitrugen und die wichtigsten Etappen der Schriftentstehung und Weiterentwicklung, eingehen. Hierfür werde ich zu Beginn kurz auf die Theorie der Schrift eingehen und die grundlegenden Merkmale der Schrift klären. Weiterhin wird ein exemplarisches Modell der Schriftentwicklung vorgestellt, welches im Laufe der gesamten Arbeit immer wieder als Vergleich herangezogen wird. Anschließend werde ich auf verschiedene Aspekte eingehen, die als Motivation für die Herausbildung der Schrift dienten. Im weiteren Verlauf der Arbeit vertiefe ich mich auf die chronologische Abfolge der Schriftentwicklung, angefangen mit den Vorstufen der Schrift und hinübergehend zu den frühesten Schriftschöpfungen der Menschheit, den ägyptischen Hieroglyphen und der sumerischen Keilschrift. Ebenfalls Thema wird hier eine noch gegenwärtige Schrift sein, die Parallelen zu einer frühen Entwicklungsetappe aufweist. Schließlich rückt die Thematik des Alphabets in den Vordergrund und damit auch zentral unsere heutige Lateinschrift und ihr Ausgangspunkt, das griechische Alphabet. Eine kritische Betrachtung des Alphabets als „höchste Stufe“ der Schriftentwicklung wird die Arbeit schließlich abrunden.
1. Theorie der Schrift
Bevor ich einen Überblick über die wesentlichen Phasen der Schriftentwicklung gebe, sollen vorab zwei bedeutende Aspekte geklärt werden. Zum einen gilt es zu fragen, unter welchen Voraussetzungen visuelle Abbildungen als Schrift bezeichnet werden können; zum anderen soll ein Modell erläutert werden, das unabhängig von den spezifischen Sprachen, die einzelnen Etappen der Schriftentwicklung skizziert.
1.1 Konstitutive Merkmale von Schrift
Wann eine Darstellung als Schrift definiert werden kann, spielt für die Betrachtung der Schriftentwicklung eine bedeutende Rolle. Eine universale Antwort kann hierfür nur schwer geliefert werden, zu sehr unterscheiden sich die Begriffsbestimmungen diverser Wissenschaftler und Autoren. Für die Annäherung an eine allgemeine Definition, lassen sich jedoch maßgebende Merkmale zusammenfassen.
Doblhofer zu Folge liegt Schrift erst dann vor, wenn die Ausübung einer zeichnerischen Tätigkeit, sowie die Mitteilung als Sinn des Geschriebenen als Voraussetzung gegeben sind. Dies bezieht sich sowohl auf einen anderen Leser, als auch auf den Schreiber selbst, in Form einer Erinnerungshilfe. Ein weiteres Merkmal, welches nur bei vollständig entwickelten Schriftsystemen greift, setzt eine „ […] durch Konventionen fixierte Beziehung zu der Sprache, die sie ausdrück[t]“1 voraus. Dürscheid hingegen nennt den Sprachbezug an erster Stelle. Sie versteht unter Schrift eine Repräsentation des Gesprochenen. So seien Zeichen „[…] glottographisch […], wenn sie sowohl auf einen bestimmten Inhalt als auch auf eine bestimmte sprachliche Form verweisen würden […]“2. Die Nähe zur Sprache wird ebenfalls in Gelbs Definition deutlich. Für ihn liegt Schrift im eigentlichen Sinne erst vor, wenn die visuellen Darstellungen auf die Sprache des Schreibers bezogen sind.3 Ein zusätzliches Merkmal bildet, laut Coulmas, das „Kriterium der Lesbarkeit“4. Demzufolge handelt es sich um Schrift, wenn Texte durch Grapheme so fixiert werden, dass die Lesbarkeit eindeutig gewährleistet ist.5
1.2 Typisierendes Modell der Schriftentwicklung
Welche generalisierten Stufen in der Schriftentwicklung möglich sind, veranschaulicht das im Jahr 1983 von Schenkel entworfene Modell der ‚idealtypischen Schriftentwicklung‘6. Es liefert einen exemplarischen Überblick über die Entwicklungsphasen verschiedenster Sprachen und die Herausbildung unserer heutigen Alphabetschrift. Dabei versteht Schenkel unter den einzelnen Abstufungen allerdings keine lineare Abfolge unterschiedlich hoch entwickelter Schriften, sondern eine standardisierte Darstellung der Sprachentwicklung. In der folgenden Ausführung des Modells beziehe ich mich auf die leicht abgeänderte Form von Dürscheid.
Nach Dürscheid entspricht die erste Stufe des Modells der Vorstufe von Schrift. Dem „ semasiographischen Prinzip “ zu folge, werden bestimmte Objekte durch eine entsprechende Abbildung dieses Objekts dargestellt, z.B. für Brille. Darauffolgend kann auch eine Menge an bestimmten Objekten durch ein veranschaulichendes Abbild repräsentiert werden. In der letzten Phase dieser Stufe werden Objekte, sowie eine Menge von Objekten, durch ein Symbol dargestellt, welches das darstellende Objekt nicht direkt abbildet, z.B. ♥ für Liebe. Kennzeichnen dieser Phase ist, so Dürscheid, dass sich die semasiographischen Zeichen nicht auf Lexeme, sondern auf Objekte beziehen.
Die zweite Stufe, das „ semasiographische und phonographische Prinzip “, löst sich von der offensichtlichen Kohärenz zwischen Zeichen und sinntragender Bedeutung. Dieser Vorgang wird als Rebusprinzip bezeichnet. Hierbei wir ein Begriff durch eine lautlich ähnlich klingende, aber thematisch nicht verwandte Abbildung eines Begriffs dargestellt; z.B. das Adjektiv arm durch die Abbildung eines Armes. Das Zeichen bildet somit nur den phonographischen Aspekt, semasiographisch birgt die Darstellung jedoch eine andere Bedeutung. Dieses Prinzip kann soweit ausgedehnt werden, dass die einzelnen Silben eines Wortes durch Abbildungen dargestellt werden, die phonographisch dem Teil des Wortes entsprechen, z.B. die Abbildung einer Kuh und eines Buses, um den Begriff Kubus darzustellen. Die letzte Steigerung dieses Prinzips zeichnet sich durch eine Zusammenstellung von bestimmten Zeichen aus, die in der Lage sind, alle in einer Sprache vorhandenen Phoneme zu repräsentieren, um nicht für jedes Wort einen Rebus finden zu müssen.
Das „ orthorgraphische Prinzip “ der dritten und letzten Stufe umfasst die Normierung einer Schrift. Darunter versteht man die Festlegung einer einheitlich gültigen Rechtschreibung für eine bestimmte Reihe an Phonemen, wie z.B. < Fuchs > für [ fʊks ]. Laut Dürscheid sei die dritte Stufe jedoch keine Phase der Schriftentwicklung, da der Vorgang der Normierung bereits von einer vollständig entwickelten Schrift ausgeht.7
2. Ökologische und religiöse Hintergründe der Schriftentwicklung
Neben der Form der ersten Schriftzeichen bildet die Motivation für deren Verwendung einen Erklärungsansatz für den Ursprung unserer heutigen Schrift. Zunächst muss daran erinnert werden, dass die ökologischen und sozialen Hintergründe in früheren Kulturen anders waren, als in der Moderne. Informationstechnologien zeichnen sich heutzutage durch die Charakteristika aus, einen Fluss von Informationen schnellstmöglich und massenübergreifend zu verbreiten. In früheren Zivilisationen hingegen spielte diese Breitenwirkung keine Rolle.8 Stattdessen entwickelte sich die Schrift ‚als unmittelbare Folge der zwingenden Anforderungen einer wachsenden Wirtschaft‘9. Dies belegen früheste Inschriften von Kulturen des Alten Orients: Laut den Untersuchungen von Nissen, Damerow und Englund bildeten die frühen archäologischen Funde in Form von Zählsteinen und Tontafeln in erster Linie Hilfsmittel zur Kontrolle von wirtschaftlichen Vorgängen.10 So stellte die Verwendung von Schrift eine Form der Tempeladministration und Kontrolle über die steuerlichen Einkünfte dar.11 Aber auch Handwerker und Kaufleute, Gläubiger und Landeigentümer konnten durch die Schrift den Handelsverkehr und die Verwaltung kalkulieren und deren Ausgaben und Einnahmen protokollieren. So wertvoll die Schrift für die wirtschaftlichen Interaktionen war, hatte sie aber auch eine religiöse und zeitüberdauernde Bedeutung. Dies bezeugen über vier Jahrtausende alte Inschriften auf Gräbern ägyptischer Pharaonen und anderer bedeutender Amtsträger.12 Ebenso bildete Schrift in Alteuropa und dem alten China ein religiöses Medium. Der Schriftgebrauch stand dieserorts in enger Verbindung mit der Durchführung ritueller Zeremonien und Handlungen. Nicht die Informationsspeicherung für ökonomische Zwecke stand hier im Vordergrund, sondern Inschriften auf Skulpturen und ähnlichen religiösen Objekten dauerhaft zu fixieren. Eine ähnliche Verwendung von Schrift findet sich in Altchina, etwa 1200-800 v. Chr. Hier war Schrift den Hohepriestern und Herrschenden vorenthalten und fand vorwiegend im Orakelwesen Verwendung.13
Die überlieferten Schriftdenkmäler, ob wirtschaftlicher, politischer oder religiöser Natur, machen deutlich, dass geschichtliche Veränderungen und religiöse Bräuche und Riten das Bedürfnis nach einer schriftlich fixierten Mitteilungsform weckten. „Was […] zum Schreiben zwingt und zur Schrifterfindung führt, ist der Geist der beginnenden Geschichte, der nach Überlieferung verlangt und Mittel sucht, das Erlebte so, wie es sich erzählen läßt, monumental und unverlierbar festzuhalten […]“14.
Unbeeinflusst davon, ob die ersten Schriftzeichen ökonomischer oder religiöser Kultur waren, hatten die Schriftformen der Alten Welt jedoch eine Motivation gemein: Im Vordergrund stand nicht, Sprachlichkeit zu verschriftlichen, sondern den Inhalt von bestimmten Informationen zu fixieren, wobei die sprachliche Fixierung des Ausdrucks noch im Hintergrund stand.15
3. Vorläufer der Schrift
Die Sprache ist so alt wie die Menschheit selbst und stellt eine der grundlegendsten Wesenszüge des Menschseins dar. Anders verhält es sich jedoch mit der Schrift, dem zweiten substanziellen Kommunikationsmittel des Menschen, das wir heute wie selbstverständlich verwenden. Die Schrift an sich existiert erst seit etwa 5000 Jahren und ist gemessen an der Bevölkerung der Erde durch den Menschen vergleichsweise jung. Jahrtausende lang lebte und entwickelte sich die Menschheit ohne Schriftverkehr und selbst in unserem Zeitalter existiert noch eine Großzahl an Menschen, die weder lesen noch schreiben können. Das ausgedehnte Bestehen oraler Kulturen verwundert nicht, denn bis vor rund 10000 Jahren prägten kleine Gruppen von Jägern und Sammlern, später einfache dörfliche Zusammenkünfte, die
[...]
1 Doblhofer, E.: Die Entzifferung alter Schriften und Sprachen. 2008, S.13.
2 Dürscheid, C.: Einführung in die Schriftlinguistik. 2006, S.99.
3 Vgl. Gelb, I.J.: Study of Writing. 1963, S.24, in: Günther, H.: Schriftliche Sprache . Strukturen geschriebener Wörter und ihre Verarbeitung beim Lesen. 1988, S.19.
4 Coulmas, F.: Theorie der Schriftgeschichte. 1994, S.258, in: Günther, H; Ludwig, O.: Schrift und Schriftlichkeit. 1994, S.256-264.
5 Vgl. ebd.
6 Schenkel, W.: Wozu die Ägypter eine Schrift brauchten. 1983, S. 54, in: Assmann, J., et al.: Schrift und Gedächtnis. Archäologie der literarischen Kommunikation I. 1983, S.45-63, zitiert nach: Dürscheid, S.99f.
7 Vgl. Schenkel, W., zitiert nach: Dürscheid, S.99f.
8 Vgl. Haarmann, H.: Geschichte der Schrift. 2002, S.16f.
9 Robinson, A.: Die Geschichte der Schrift. 2004, S.11.
10 Vgl. Coulmas, S.257.
11 Vgl. Haarmann, S.30.
12 Vgl. Claiborne, R.: Die Erfindung der Schrift. 1975, S.17ff.
13 Vgl. Haarmann, S.22.
14 Schott, S.: Hieroglyphen. Untersuchungen zum Ursprung der Schrift, 1951, zitiert nach: Földes-Papp, K.: Vom Felsbild zum Alphabet. Die Geschichte der Schrift von ihren frühesten Vorstufen bis zur modernen lateinischen Schreibschrift.1987, S.39.
15 Vgl. ebd., S.35.